Die Scholems - Jay Howard Geller - E-Book

Die Scholems E-Book

Jay Howard Geller

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Beschreibung

Kaum eine Familie spiegelt die Geschichte der deutschen Juden des 19. und 20. Jahrhunderts in allen ihren Facetten, vom Glanz des Aufstiegs ins Bürgertum bis zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden so deutlich wie die der Scholems.

Ihre Geschichte beginnt in Schlesien: Von dort zogen Die Scholems Mitte des 19. Jahrhunderts nach Berlin und eröffneten eine Druckerei, die es zu einigem Wohlstand brachten. Arthur und Betty Scholem hatten vier Söhne, die alle einen unterschiedlichen Weg einschlugen: Reinhold, 1891 geboren, wurde im Kaiserreich zum deutsch-nationalen Juden; Erich, Jahrgang 1893, zum nationalliberalen, assimilierten Juden; Werner Scholem, 1985 in Berlin geboren, wurde zu einem prominenten Vertreter eines linken Sozialismus und saß in der Weimarer Republik für die KPD im Reichstag. Gerhard Scholem schließlich, 1897 geboren, bekannte sich früh zum Zionismus, lernte Hebräisch und wanderte 1923 nach Palästina aus, wo er als Gershom Scholem einer der bedeutendsten Forscher jüdischer Mystik wurde.

Jay Geller zeigt hier zum ersten Mal, wie sich in einer Familie sich vier ganz unterschiedliche Ausprägungen der deutsch-jüdischen Geschichte versammeln: Nationalismus wie Liberalismus, Sozialismus wie Zionismus.

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JAY HOWARD GELLER

Die Scholems

Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie

Aus dem Englischen übersetzt und für die deutsche Ausgabe bearbeitet von Ruth Keen und Erhard Stölting

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Einleitung

Erstes Kapitel Ursprünge. Von Glogau nach Berlin

Zweites Kapitel »Berliner Kindheit um

1900

«. Aufwachsen in der aufstrebenden Metropole

Drittes Kapitel Alles zerfällt. Der Erste Weltkrieg

Viertes Kapitel In revolutionären Zeiten. Die frühe Weimarer Republik

Fünftes Kapitel Die goldenen Zwanziger und danach. Verheißung, Wohlstand und Elend in der Zwischenkriegszeit

Sechstes Kapitel Im Gelobten Land. Neue Heimat Jerusalem

Siebtes Kapitel Der Mahlstrom. Jüdisches Leben in Nazideutschland

Achtes Kapitel »Die fünfte Welle«. Gershom Scholems Palästina in den

1930

er Jahren

Neuntes Kapitel Nachleben. Sydney und Jerusalem

Schluss

Danksagung

Bibliografie

Abbildungsnachweis

Personenregister

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Die Mitglieder der Familie Scholem

Marcus Scholem: gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Glogau geboren, zog nach 1812 nach Berlin

Ernestine Scholem (geb. Esther Holländer): Marcus’ Frau

Siegfried Scholem: Sohn von Marcus und Ernestine, 1837 in Berlin geboren, Gründer und Inhaber einer Druckerei

Amalie Scholem (geb. Schlesinger): Siegfrieds Frau

Arthur Scholem: ältester Sohn von Siegfried und Amalie, Gründer und Inhaber einer Druckerei

Betty Scholem (geb. Hirsch): Arthurs Frau, korrespondierte eifrig mit Gershom

Reinhold Scholem: ältester Sohn von Arthur und Betty, Mitinhaber der Druckerei Arthur Scholem, nationalliberal, deutscher Patriot

Käthe Scholem (geb. Wagner): Reinholds Frau

Erich Scholem: zweiter Sohn von Arthur und Betty, Mitinhaber der Druckerei Arthur Scholem, Liberaldemokrat

Edith Scholem (geb. Katz): Erichs erste Frau

Hildegard (»Hilde«) Scholem (geb. Samuel): Erichs zweite Frau

Werner Scholem: dritter Sohn von Arthur und Betty, kommunistischer Politiker

Emmy Scholem (geb. Wiechelt): Werners Frau, Kommunistin, nichtjüdisch

Gershom (zuvor Gerhard) Scholem: jüngster Sohn von Arthur und Betty, Universitätsprofessor, Erforscher der jüdischen Mystik, Zionist

Elsa (»Escha«) Scholem (geb. Burchhardt): Gershoms erste Frau, zweite Frau von Hugo Bergmann

Fania Scholem (geb. Freud): Gershoms zweite Frau, ehemalige Studentin Gershoms

Theobald Scholem: zweiter Sohn von Siegfried und Amalie, Mitinhaber der Druckerei Siegfried Scholem, Zionist

Hedwig (»Hete«) Scholem (geb. Levy): Theobalds Frau, Zionistin

Eva Scholem: Tochter von Theobald und Hedwig, Ärztin

Dina Waschitz (geb. Scholem): Tochter von Theobald und Hedwig

Max Scholem: dritter Sohn von Siegfried und Amalie, Mitinhaber der Druckerei Siegfried Scholem

Helene (»Lene«) Scholem (geb. Grund): Max’ Frau

Herbert Scholem: Sohn von Max und Helene, Drucker

Therese (»Esi«) Lacher (geb. Scholem): Tochter von Max und Helene

Georg Scholem: vierter Sohn von Siegfried und Amalie, Arzt

Sophie (»Phiechen«) Scholem (geb. Sussmann): Georgs Frau

Ernst Scholem: Sohn von Georg und Sophie

Kurt Scholem: Sohn von Georg und Sophie

Einleitung

Montag, 21. Februar 1938. Nach einer fünftägigen Reise, die in Cherbourg begann, läuft die Queen Mary an diesem kalten, klaren Morgen in den Hudson River ein. Unter den Passagieren, die darauf warten, am Pier der 50. Straße West in New York von Bord zu gehen, befindet sich ein schlaksiger Mann. Er trägt Schlips und Anzug; bis auf die stark abstehenden Ohren ist an ihm nichts auffällig. Der Eintrag des »Immigration and Naturalization Service«, der für Ein- und Ausreisen, Zuwanderung und Einbürgerungen zuständigen Behörde, bezeichnet ihn als Bürger Palästinas, hebräischer Rasse und gebürtigen Berliner, der in die USA gekommen sei, um Vorträge zu halten.

Sein Name ist Gershom Scholem.

Es ist sein erster Besuch in diesem Land, das er neugierig, aber auch etwas argwöhnisch betrachtet. In den nächsten Wochen wird er mehrfach vor großem Publikum sprechen, wissenschaftliche Bibliotheken aufsuchen und unter den emigrierten jüdisch-deutschen Intellektuellen alte Bekannte wiedertreffen. Aus seinen Vorträgen wird später ein Buch entstehen, das bei seiner Leserschaft die Wahrnehmung der jüdischen Mystik von Grund auf verändern und die Entstehung eines neuen Forschungsfeldes anregen wird.

Allerdings ist Gershom Scholem in manchen Kreisen schon jetzt berühmt. Er ist schließlich einer der wichtigsten Erforscher der intellektuell-religiösen Traditionen des Judentums und einer der prominentesten Gelehrten des jüdischen Palästinas, später Israels. Jetzt aber, als er die Gangway hinabgeht, freut er sich vor allem darauf, seltene Manuskripte in New York einzusehen und dieses fremdartige Amerika erkunden zu können.

*

Freitag, 1. Juli 1938. Während Gershom seine Zeit in New York genießt und sich im Glanz seiner erfolgreichen Vortragsreihe sonnt, läuft ein anderes Schiff, die aus Kanada kommende Aorangi, im Hafen von Sydney ein und entlässt seine Brüder Reinhold und Erich Scholem in ein neues Leben. Für Reinhold, den noch immer deutschen Patrioten, und Erich, den desillusionierten liberalen Demokraten, endet hier ihre Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland, die sie von Berlin aus über Southampton, Montreal und Vancouver hergeführt hat. Nach ihrer sechswöchigen Reise sind sie erschöpft, aber in Sicherheit.

Anders als Gershom in New York, werden diese beiden nicht von Mitgliedern der örtlichen jüdischen Intelligenz willkommen geheißen; es erwartet sie kein großzügiges Honorar, keine Arbeitsstelle, keine Wohnung. Sie haben in Australien weder Freunde noch Verwandte und geben bei der Einwandererbehörde die 1936 gegründete Jewish Welfare Society als Kontaktadresse an. Bis sie Fuß gefasst haben, wollen sie sich in einem Gasthaus einmieten.

Bevor die Nazis ihre Existenzgrundlage zerstörten, waren Reinhold und Erich Scholem Berliner und wohlhabende Druckereibesitzer. Bald werden die deutschen Behörden ihnen auch ihre deutsche Staatsbürgerschaft aberkennen und sie staatenlos machen. In Australien werden sie sich jahrelang abmühen, um neuen Wohlstand aufzubauen und sich zugehörig zu fühlen. Noch aber sind die beiden, die jetzt zum ersten Mal die berühmte Hafenbrücke Sydneys sehen, Einwanderer in einem fremden Land.

*

Samstag, 17. September 1938. Während Reinhold eine neue Wohnung in Sydney bezieht und Einwanderungsanträge für seine Mutter ausfüllt, treffen neue Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald ein: Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, als »Asoziale« bezeichnete Obdachlose und Straftäter. Sie unterschreiben Formulare und bestätigen die Übergabe ihrer persönlichen Dinge. Zu denen unter ihnen, auf die es die Nazis mit besonderem Hass abgesehen haben, gehört Werner Scholem, ein ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der KPD. Er hat die Partei als Abgeordneter im Reichstag vertreten und war als Redakteur der Parteizeitung Rote Fahne einer der einflussreichsten kommunistischen Intellektuellen in Deutschland. Er ist der Bruder von Gershom, Reinhold und Erich.

Die Welt der Konzentrationslager kennt er bereits, denn er wurde schon im April 1933, kurz nachdem die Nazis die Macht ergriffen hatten, unter dem Vorwurf der Wehrkraftzersetzung verhaftet. Die letzten fünf Jahre war er im Gestapo-Gefängnis Columbia-Haus in Berlin und dann in den Konzentrationslagern Lichtenburg und Dachau. Überall drangsalierten die Nazis den Kommunisten; diffamierend verbreiteten sie in der Presse seine äußere Erscheinung immer wieder als Beispiel des »jüdischen Typus«. Den kommunistischen Mitgefangenen, die in den Lagern eine strikt stalinistische Linie vertraten, galt er als einer jener Verräter, die 1926 wegen ihrer »Linksabweichung« aus der Partei ausgeschlossen worden waren.

Die Haftbedingungen der Konzentrationslager machten ihn krank. Er wünschte sich sehnsüchtig, mit seiner Familie wiedervereint zu werden. Die Familie ihrerseits, vor allem seine Mutter Betty, wandte sich unermüdlich an Sozialeinrichtungen, an nichtjüdische religiöse Hilfsorganisationen und an prominente politische Persönlichkeiten im Exil, um seine Freilassung zu erreichen. Denn einige seiner Mitgefangenen waren unter der Auflage, das Land zu verlassen, freigekommen. Werner Scholem war diese Möglichkeit offenkundig versperrt.

Bei seiner Ankunft im Konzentrationslager Buchenwald wusste er aber noch nicht, dass dies seine letzte Reise gewesen sein würde.

*

Mittwoch, 9. November 1938. Während Werner in Buchenwald eingesperrt ist, kommt es überall in Deutschland zu einem später verharmlosend »Kristallnacht« genannten antisemitischen Pogrom. SA-Männer und ihre Helfershelfer zerschlagen die Fensterscheiben Tausender Läden und plündern und verwüsten das Innere. Jüdische Männer werden zu Zehntausenden willkürlich verhaftet und in Gefängnisse oder Konzentrationslager verschleppt. Passanten, Feuerwehr und Polizei schauen zu, wie Hunderte von Synagogen niedergebrannt oder verwüstet werden, so auch das Innere der Synagoge in der Berliner Lindenstraße, die Betty Scholem gelegentlich aufgesucht hatte.

Nun befällt auch die bislang unerschrockene Betty die Angst. Gern wäre sie noch in Deutschland geblieben und hätte weiter für die Freilassung ihres Sohnes Werner gekämpft. Aber seine Frau Emmy, die inzwischen in London in Sicherheit ist, rät Betty dringend zur Flucht. Die ist nun dazu bereit, aber sie muss noch auf ihre Ausreiseerlaubnis und ihren Pass warten. Ihr Sohn Reinhold schickt ihr per Luftpost die Einreisegenehmigung für Australien. Eile ist geboten. Man weiß jetzt, dass jeder Jude und jede Jüdin, die Deutschland verlassen können, dies unverzüglich tun sollten. In ihrer verzweifelten Lage und angesichts immer neuer bürokratischer Schikanen erleidet sie einen Nervenzusammenbruch. Es ist unklar, ob sie eine Reise überhaupt antreten kann.

*

Vier Brüder, deren ungleiches Schicksal auch die Folge von vor Jahrzehnten gefällten Entscheidungen ist, und ihre Mutter, Mittelpunkt dieser auseinanderfallenden Familie.

Was hat sie an diese Weggabelungen geführt? Man könnte meinen, dass Geschwister, die in derselben Familie unter denselben Bedingungen aufgezogen wurden, gleiche oder wenigstens ähnliche politische Überzeugungen hätten.1 Politische Orientierungen stehen ja oft in enger Beziehung zu kulturellen und sozialen Erfahrungen: wie Menschen leben, welche sozialen Beziehungen sie aufbauen, wie sie die Welt überhaupt sehen, welche Werte ihnen wichtig sind. So gesehen könnte es ungewöhnlich erscheinen, dass Mitglieder ein und derselben Familie mit den Unterschieden ihrer jeweiligen politischen Position die Lebenswirklichkeit des deutsch-jüdischen Bürgertums im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts so beispielhaft veranschaulichen. Auf seine Jugend zurückblickend bemerkte Gershom Scholem: »Man kann vielleicht sagen, daß die ganz verschiedenen Entwicklungen, die wir vier Brüder in diesen folgenden Jahren nahmen, für die Welt des jüdischen Bürgertums typisch waren und zeigten, wie wenig doch eine anscheinend gemeinsame Umwelt für den Weg junger Menschen im Einzelfall bedeutet.«2 Die Historikerin Shulamit Volkov hat vier Orientierungen unterschieden, mit denen Juden im letzten Viertel des neunzehnten und im frühen zwanzigsten Jahrhundert auf den Antisemitismus reagierten: erstens mit einem erneuerten Bekenntnis zum Liberalismus, das üblicherweise eine Befürwortung des in ihrem jeweiligen Land vorherrschenden Nationalismus einschloss; zweitens mit der Ablehnung jeglicher Form von Nationalismus und einer rückhaltlosen Zustimmung zur sozialistischen Internationale; drittens mit dem Versuch, die jüdische Besonderheit zu bewahren und zugleich Europäer zu sein; und viertens mit dem Zionismus.3 Das sind die vier Wege von Reinhold, Erich, Werner und Gerhard.

Werner Scholem, als Reichstagsabgeordneter und an den erbitterten internen Richtungskämpfen der KPD prominent beteiligt, sah in seinem Kampf gegen die gesellschaftliche Ausbeutung der Arbeiterklasse auch die deutsch-jüdische Bourgeoisie als politischen Gegner. Gershom (Gerhard) Scholem war akademischer Gelehrter des Judentums und international geachteter, intellektueller Repräsentant der zionistischen Bewegung, aber auch sein Lebensweg war von Entscheidungen geprägt, die er als junger Mann getroffen hatte, mithin zu einer Zeit, als er die Lage der deutschen Juden aus nächster Nähe beobachtete und seine persönlichen Konsequenzen zog. Als Anhänger des Kommunismus einerseits und des Zionismus andererseits bewegten sich Werner und Gershom in den Kreisen gleich oder ähnlich gesinnter Juden. In Werners Fall waren dies linke Intellektuelle, von denen viele aus jüdischen Familien kamen; Gershom Scholem hatte es – kaum weniger konfliktreich – nach seiner Auswanderung nach Palästina vor allem mit deutschsprachigen Intellektuellen aus Mitteleuropa zu tun. Schon in seiner Jugend in Deutschland hatte er vor allem den Umgang mit solchen gesucht, für die ihr eigenes Jüdischsein im Zentrum ihres Denkens stand. In der deutsch-jüdischen Welt blieb diese Gruppe zunächst jedoch relativ klein. Wie sein Bruder Reinhold ihm gegenüber feststellte: »Von diesem Standpunkt aus gesehen, scheint mir, dass Deine Gefühle und Aussichten nicht mit der Majorität der deutschen Juden übereinstimmen … Umgekehrt bist Du ins Judentum oder Israelitum davongelaufen und die Juden sind nicht in der erhofften Menge gefolgt.«4 In politischer, kultureller, beruflicher und sogar religiöser Hinsicht waren die beiden älteren Scholem-Brüder Reinhold und Erich für die deutsch-jüdische Welt typischer. Sie sahen sich im wilhelminischen Deutschland, während des Ersten Weltkriegs und in der Weimarer Republik ausdrücklich in gleichem Maße als Juden und Deutsche. Diese Haltung teilte in diesen Jahren des Übergangs und schließlich der Bedrohung die deutsch-jüdische Mittelschicht. Überdies bestand die Familie Scholem aus mehr Personen als den vier Brüdern; ihre Eltern, Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, Großeltern und andere bekamen diese Zeiten ebenfalls zu spüren. Auch aus deren Schicksal erfahren wir vieles über das deutsch-jüdische Bürgertum und deutsch-jüdische Identität im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert.

Lange bevor es in alle Welt vertrieben oder in dem von Hitler beherrschten Europa vernichtet wurde, hatte das jüdische Bürgertum in Deutschland eine einzigartige Kultur ausgebildet. Wodurch zeichnete sie sich aus? Über welche Wahlverwandtschaften fühlten sich die Juden in Deutschland miteinander verbunden, besonders als die Religion ihre regulierende Kraft für sie verlor? Indem dieses Buch die jüdische Welt am Beispiel einer einzigen Familie beleuchtet, lassen sich die jüdische Teilnahme an der deutschen Politik und die innere Vielfalt dieser jüdischen Welt verdeutlichen. Fortschritt und Erfolg des Liberalismus ermöglichten zwar ein aktives Mitwirken von Juden am politischen Geschehen, andererseits waren sowohl der Liberalismus als auch das Auftreten von Juden in Politik und Gesellschaft weiterhin heftig umstritten. Auch unter den deutschen Juden gab es Konflikte. Hier stritten Zionisten und »Assimilierte« um Anhänger und Wählerstimmen. Unterschiedliche Interessengruppen wollten aus ihrer Sicht den Platz von Juden in der deutschen Gesellschaft festlegen, während die Vorläufer des Feminismus mehr Rechte für Frauen in den jüdischen Gemeinden forderten.5 Derartige Kämpfe wurden nicht nur in den Gemeinden, sondern auch innerhalb der Familien ausgefochten – bei den Scholems war es nicht anders.

Hinzu kam, dass deutsche Juden oft bestimmte Bildungs- und Berufswege bevorzugten, die sie in ihrer Häufung von anderen Deutschen unterschieden.6 Noch auffälliger waren bestimmte Sozialisationsmuster, Persönlichkeitsideale und kulturelle Vorlieben, die sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts herausbildeten und in den Jahren der Weimarer Republik noch verfeinerten.7 In vielerlei Hinsicht waren diese Menschen auf sehr spezifische Weise deutsch und jüdisch zugleich und bereicherten beide Welten.8 Die Scholems waren beispielhaft für diese gesellschaftliche Konstellation innerhalb Deutschlands und Europas.

Eine nähere Betrachtung der deutsch-jüdischen Gesellschaft vor 1933 kann deutlich machen, welche Kultur die Nazis zerstörten. Sie vertrieben nicht nur Albert Einstein, Erich Mendelsohn oder Kurt Weill, sondern Hunderttausende weniger bekannte deutsche Juden, deren Familien zum Teil seit Jahrhunderten im deutschsprachigen Mitteleuropa gelebt hatten. Wichtig aber war ihr überdurchschnittlich hoher Anteil am gehobenen Bürgertum Deutschlands. Gerade diese Gruppe war für die kulturelle Entwicklung besonders wichtig; ihr entstammten viele, die die moderne Kultur in Deutschland schufen; sie waren die Leser, die Kunst- und Theaterfreunde, sie machten zu einem wesentlichen Anteil das kompetente Publikum aus, ohne das die moderne Kultur nicht hätte entstehen und leben können. Die wohlhabenden Familien gehörten dabei zu den großen Mäzenen, ohne deren erhebliche Geldspenden nicht erst in der Weimarer Republik, sondern bereits im Kaiserreich vieles nicht entstanden wäre, dessen sich Deutschland noch heute rühmt.

Auch war das jüdische Bürgertum überdurchschnittlich in der Wirtschaft innovativ, in der Wissenschaft, im Journalismus, in Arzt- und Anwaltsberufen. Dieses Buch will die jüdischen Lebenserfahrungen innerhalb ihrer eigenen Sozialwelt und diese im Kontext der umgebenden deutschen Gesellschaft darstellen und schließlich auf die Welt des deutsch-jüdischen Bürgertums im Exil verweisen.

Während einige Schriftsteller, darunter Amos Elon, den Beginn der jüdisch-deutschen Epoche auf 1743 datieren, auf jenes Jahr also, in dem Moses Mendelssohn in Berlin eintraf, um dort die Haskala (die jüdische Aufklärung) des späten achtzehnten Jahrhunderts auf den Weg zu bringen, öffnete sich das Tor zur Moderne für Preußens Juden im Grunde erst richtig in den Jahren der napoleonischen Besatzung und der durch sie ausgelösten Reformzeit.9

1812 erließ König Friedrich Wilhelm III. sein »Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate«, das gewöhnlichen Juden Grundrechte verlieh und ihre allmähliche Integration in die Gesellschaft erlaubte.

Ohne den Anstoß der preußischen Reformer und ohne das französische Vorbild, das Napoleon den deutschen Staaten nahebrachte, wären weder die Scholems noch später Tausende anderer Juden vom Land in die Städte oder später aus den östlichen Provinzen Preußens nach Berlin oder in andere moderne deutsche Städte gezogen.10 Es ist also sinnvoll, die Darstellung des modernen deutschen Judentums mit der rechtlichen Emanzipation zu beginnen.

Ebenso wichtig für die Beschäftigung mit den Umbrüchen innerhalb der modernen deutsch-jüdischen Epoche ist die Frage, wann deren Niedergang kam. Es liegt nahe, die Zeit des deutschen Judentums mit der NS-Herrschaft enden zu lassen, und die meisten Studien zum Thema datieren dieses Ende entweder mit dem Aufstieg des Nazi-Staats 1933 oder dem Ende des Holocausts 1945. Aber der Widerruf der jüdischen Emanzipation war Anfang 1933 weder schon vollzogen noch unvermeidlich; andererseits existierte jüdisches Leben in Deutschland mit wenigen Ausnahmen schon lange vor 1945 nicht mehr. Die Nazis entrechteten die Juden schrittweise, isolierten und vertrieben sie aus dem Kulturleben, wollten ihren Beitrag vergessen machen, entfernten sie durch Hetze und mit Strafen aus dem deutschen Alltag, bevor sie mit dem Zweiten Weltkrieg auch den Völkermord in Gang setzten. Wie der israelische Historiker Saul Friedländer bemerkt, bestand im Januar 1939 keine »verbliebene Möglichkeit eines jüdischen Lebens in Deutschland oder eines Lebens von Juden in Deutschland«.11 Ihre Epoche war vorbei.

Historiker des modernen Europa sprechen von dem langen neunzehnten Jahrhundert, das mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. In ähnlicher Weise kann man von einem langen deutsch-jüdischen Jahrhundert sprechen, das mit der schrittweisen Emanzipation der Juden in Preußen und anderen deutschen Staaten begann und mit der dem Holocaust vorausgehenden Entrechtung endete. Die Zuerkennung von Bürgerrechten hatte die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft befördert, die Entrechtung schloss sie wieder aus. Die Phase dazwischen bildet den zeitlichen Rahmen dieser Untersuchung.

Das Ganze ist natürlich komplexer, denn die deutsch-jüdische Epoche verschwand nicht spurlos. Zwar wurde das jüdische Leben in Deutschland vernichtet, aber in der Emigration existierte die deutsch-jüdische Zivilisation weiter. Soweit möglich, und je nach Ort, setzte sie sich in Flüchtlingen wie den Scholems fort, die ihre sozialen Beziehungen, ihre kulturellen und religiösen Traditionen im Exil fortführten. Was das auch für die Länder bedeutet, in denen sie wieder eine Minderheit waren, dem widmet sich die Wissenschaft erst seit kurzem verstärkt.12 Über die Lage der deutschen Juden in Palästina und später in Israel wurde zuletzt ausführlicher geforscht.13 Hier folgen wir Betty, Reinhold und Erich nach Australien und Gershom nach Palästina, wo sie ihr Leben als Juden und Deutsche weiterführten.

Die Geschichte des deutschen Judentums lässt sich über längere Zeiträume betrachten. Studien über Institutionen oder zu einzelnen Themen veranschaulichen größere gesellschaftliche Strukturen, oft aber bleiben sie unpersönlich und sagen wenig über individuelle Lebenserfahrungen aus.14 Ich wiederum lade meine Leser ein, dem Weg einer einzigen Familie zu folgen und sie dabei in die umfassende Geschichte des Aufstiegs, der Entfaltung und des Untergangs des jüdischen Bürgertums im modernen Deutschland einzubetten. Eine einzige Familie über den Verlauf mehrerer Generationen zu begleiten ermöglicht eine einzige Erzählung.

Zwar gibt es bereits viele Studien über deutsch-jüdische Familien,15 aber so beeindruckend die historischen Porträts der Familien Cassirer, Mosse, Warburg und Wertheim auch sein mögen, sie beschränken sich auf die Erfahrungen der reichen und mächtigen Eliten. Diese Studie hingegen thematisiert das wohlhabende, aber keineswegs reiche deutsch-jüdische Bürgertum – dem die Mehrheit der jüdischen Familien in Deutschland angehörte.

Bürgerliche deutsche Juden wie die Scholems blieben durch gemeinsame Gebräuche und Vorstellungen über Religion, Politik und Kultur miteinander verbunden. Doch selbst jene, die sich von diesem Einverständnis weiter entfernten, wie der Kommunist Werner Scholem oder der Zionist Gershom Scholem, trugen immer noch die Merkmale des deutsch-jüdischen Bürgertums, dem sie entstammten, in sich. Hinzu kam, dass sich das Gefühl einer Zusammengehörigkeit unter dem antisemitischen Druck verstärkte. Nicht alle Wissenschaftler teilen diese Sicht der deutsch-jüdischen Vergangenheit. Till van Rahden unterstellt, dass Juden in Deutschland weniger eine spezifisch deutsch-jüdische Subkultur, also »eine Art zweite bürgerliche Gesellschaft neben der Gesellschaft der ›Mehrheitskultur‹« ausbildeten als vielmehr eine »situative Ethnizität«. Sie empfanden sich »in spezifischen Situationen, etwa im engeren Familienleben oder bei der Teilhabe am ethnischen Vereinsleben« als besonders jüdisch und nicht so sehr dort, wo »andere Zugehörigkeitsgefühle« im Vordergrund standen.16 Obgleich es zutrifft, dass die jüdische Identität bürgerlicher deutscher Juden zu manchen Zeiten eine geringere Rolle spielte als zu anderen, unterschieden sie sich in vielen Aspekten ihres häuslichen Alltags und ihres öffentlichen Auftretens von anderen Deutschen. Die Scholems schienen wenig gesellschaftlichen Kontakt zu Nichtjuden gepflegt zu haben. Allerdings schreibt der Historiker Fritz Stern über seine eigene Familie in Breslau: »Christen und Juden verkehrten miteinander, gleichgültig, welche unausgesprochenen Vorurteile sie hegen mochten«, selbst noch in den 1920er Jahren.17 Die Diskrepanz zwischen den Erfahrungen der Sterns und denen der Scholems könnte sich aus subtilen sozialen Abstufungen innerhalb des Bürgertums erklären. Die Sterns waren seit drei Generationen bekannte Ärzte und Mediziner gewesen und standen damit sozial über den Scholems, die ihre Armut noch nicht lange überwunden hatten. In Berlin, der preußischen und seit 1871 auch deutschen Hauptstadt, gab es sehr reiche, großbürgerliche jüdische Familien, die vielfältige Beziehungen zum Adel und damit auch zur Offizierskaste pflegten; ihr Zugang zum Hof war jedoch beschränkt. Gleichwohl bewahrten auch die Mitglieder des jüdischen Großbürgertums das Gefühl ihrer Besonderheit. Ihre engsten Beziehungen blieben auf ihr soziales Milieu beschränkt, auf Freunde, Verwandte und Geschäftspartner.18

Dieses Buch ist mehr als eine Sozialgeschichte des deutschen Judentums. Es ist die Lebensbeschreibung bestimmter Personen, allen voran von Gershom Scholem, dem vielleicht bedeutendsten Erforscher des Judentums im zwanzigsten Jahrhundert. Der Werdegang von Prominenten vor ihrer Berühmtheit ist für Leser oft von großem Interesse, aber Gershom Scholem unterscheidet von den meisten anderen namhaften Juden aus Deutschland, dass er sich auch ausführlich mit seiner Jugend beschäftigte, die seine intellektuelle Entwicklung und seine politischen Neigungen stark beeinflussten. Dieses Interesse an der eigenen Biografie entspricht dem an den historischen Erfahrungen des Judentums in Deutschland insgesamt. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts äußerte er sich öffentlich zu diesen Themen, und in den siebziger Jahren begann er seine Jugenderinnerungen zu veröffentlichen, aus denen später das Buch Von Berlin nach Jerusalem entstand.19

Gershom Scholem erzählt in diesen Memoiren die Geschichte seiner Familie und schildert prägende Ereignisse von seiner frühsten Kindheit an bis zu dem Zeitpunkt, als er im Alter von siebenundzwanzig Jahren Universitätsdozent in Jerusalem wurde. Daneben unterzog er das deutsch-jüdische Bürgertum einer kritischen Betrachtung. Cynthia Ozick meint: »Und es sind diese Juden – dieses bedauerliche Phänomen leidenschaftlich loyaler Bürger, die nichts anderes sein wollten als brave und friedliebende Deutsche – deren Geschichte den Subtext zu Von Berlin nach Jerusalem bildet.«20 Der Gedanke liegt nahe, dass dieser Erinnerungsband, der nach dem Holocaust entstand, eine Abrechnung mit jenen sein sollte, die Gershom Scholems Sicht auf das jüdische Leben in Deutschland nicht teilten. Vielleicht wollte er sich sogar seiner weisen Voraussicht rühmen, Deutschland lange vor der Nazizeit verlassen zu haben.

Die jüdische Welt in Deutschland, und damit auch die Familie Scholem, war vielfältig und komplex, aber solange die deutschen Juden einen festen Platz in der deutschen Gesellschaft anstrebten – ob nun als Liberale, wie Gershoms Eltern, oder als Sozialisten, wie sein Bruder Werner –, betrachtete Gershom sie mit einer Mischung aus Herablassung, Verachtung und etwas Mitleid. Ozick bemerkt dazu: »Es ist also mehr als nur paradox, es ist eine schwärende Wunde, dass Von Berlin nach Jerusalem, fraglos ein zionistisches Buch, den Bruderzwist fortführt.«21

Von Berlin nach Jerusalem wurde ungeheuer einflussreich. Fast jede Studie über Gershom Scholems Leben und Werk bezieht sich auf dieses Buch. Interessanterweise richtete die Forschung ihre Aufmerksamkeit erstmals auf Scholems Biografie und deren Beziehung zu seinem Werk, als er Von Berlin nach Jerusalem veröffentlicht hatte.22 Seit seinem Tod entstanden zahlreiche wissenschaftliche Studien zu Gershom Scholem, die ständig um neue ergänzt werden.23 Auch trägt die anhaltende Beschäftigung mit der deutsch-jüdischen Intelligenz vor dem Holocaust, mit Walter Benjamin und Hannah Arendt, zur weiteren Beachtung Scholems bei.24 Allein in den letzten Jahren wurden mehrere Bücher über ihn publiziert.25 Und in jüngster Zeit wandten sich Forscher auch Gershoms kommunistischem Bruder Werner zu.26

Gershom Scholem erlebte den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts. Er wurde 1897 in Berlin geboren und starb 1982 in Jerusalem. Die Erzählung seiner Familie beginnt aber viel früher, noch vor dem Berlin der Kaiserzeit Wilhelms II., Friedrichs III. und Wilhelms I., vor der Reichsgründung von 1871, vor der Revolution von 1848 und der Zeit der Reaktion nach dem Wiener Kongress. Sie reicht sogar zurück vor die Zeit der napoleonischen Besatzung, tief hinein ins achtzehnte Jahrhundert, in dem Schlesien zur preußischen Provinz wurde. Hier hatten die Scholems seit Generationen gelebt. Gershom war sich nicht nur der Berliner Vergangenheit seiner Familie, sondern auch ihres schlesischen Ursprungs bewusst. Wenige Wochen nach seinem fünfzehnten Geburtstag leitete er sein Tagebuch mit den Worten ein: »Ich stamme von Glogauer Juden ab.« Sechzig Jahre später schrieb er auf der ersten Seite seiner Memoiren: »Ich stamme aus einer Berliner Judenfamilie, die bis zum zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts in Glogau in Niederschlesien (›Großglogau‹) saß …«27 Die Geschichte seiner Familie, und damit auch seine eigene, war dann die eines seit langem in Berlin ansässigen Judentums und dessen Weggang. Für ihn endete die Geschichte in Jerusalem. Meine Erzählung aber wird in Glogau beginnen.

Kurz nachdem Gershom Scholems direkter Vorfahre die preußische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, verließ er Glogau, um nach Berlin zu gehen, wo er zu der wachsenden Zahl religiöser jüdischer Zuwanderer gehörte. Er wohnte nur wenige Schritte von der damals einzigen Synagoge der Stadt entfernt. Berlin war, vor allem nach dem Emanzipationsedikt von 1812, eine völlig andere Welt als das provinzielle Glogau. Hier eröffneten sich neue Horizonte und erschlossen sich ganz neue berufliche Möglichkeiten. Entscheidungen über die Wahl des Wohnorts, des Berufs und die Kindererziehung zeitigten die Herausbildung einer deutschen Identität und einen Wandel der jüdischen Selbstwahrnehmung. Nach achtzig Jahren beziehungsweise drei Generationen in der deutschen Hauptstadt waren die Scholems im deutsch-jüdischen Bürgertum angekommen.

In dieses Milieu wurden Gershom Scholem und seine Brüder hineingeboren. Inwieweit prägten Schulbildung und Jugend, Religion, Militärdienst, politische Bewusstwerdung und die Erfahrung des Antisemitismus ihre Sicht auf die Welt und die Möglichkeiten, die sie für sie bereithielt? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir bedenken, dass sie Berliner waren. Sie wuchsen in einer Stadt auf, die an Größe, Wohlstand, Macht und Anziehungskraft expandierte, was auch ihre jüdischen Bewohner prägte.28 Und so hatten Reinhold, Erich, Werner und Gershom, damals noch Gerhard, die Söhne von Arthur und Betty Scholem, in den Worten Walter Benjamins eine »Berliner Kindheit um 1900«.

Obwohl die Scholems zumeist ein harmonisches Leben führten, gab es innerhalb der Familie oft Diskussionen. Der aufbrausende und selbstgerechte Arthur geriet sowohl mit seinem eigenen Vater als auch mit seinen Söhnen aneinander. Reinhold und Erich, die beiden älteren, teilten viele, aber nicht alle politischen, sozialen und religiösen Ansichten ihres Vaters und folgten ihm beruflich. Dagegen hatten Werner und Gershom, die beiden jüngeren, das Temperament ihres Vaters geerbt, lehnten aber seine politischen und religiösen Vorstellungen ab. Als sie erwachsen wurden, hielten sie mit ihrer abweichenden Meinung nicht hinterm Berg, was die Spannungen in der Familie verstärkte. Wie beeinflussten ihr Widerspruchgeist und die Auseinandersetzungen ihren Werdegang? Obgleich sich die Mutter Betty und andere Verwandte bemühten, innerhalb ihrer vier Wände den Frieden aufrechtzuerhalten, war das Familienleben der Scholems voller Konflikte und zugleich in eine stabile Bürgerlichkeit gebettet.

Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Als Deutsche im August 1914 jubelnd durch die Straßen zogen, hofften die Wortführer der deutschen Juden, dass die Woge des patriotischen Einheitsgefühls auch die letzten Reste antisemitischer Vorurteile auslöschen würde. In den liberalen jüdischen Zeitungen, die Betty las, und selbst in den zionistischen Blättern, die Gershom las, standen Aufrufe an die deutschen Juden, zu den Fahnen zu eilen. Reinhold und Erich gehörten zu den jungen Männern, die in den Krieg zogen, während Werner, damals schon Sozialist, und Gershom, der mehr und mehr zum Zionismus neigte, sich dem Ruf des Vaterlands offen widersetzten. Wie kam es, dass sich am Ende dieses Krieges nichtjüdische und jüdische Deutsche, Scholem und Scholem feindselig gegenüberstanden?

Die Scholems überstanden die Schützengräben, die Strapazen, die Lebensmittelknappheit und die Spanische Grippe. Als der Krieg vorbei war, sehnten sie sich wie viele andere Deutsche nach einer Rückkehr zu Ruhe und Ordnung. Stattdessen erlebten sie fünf Jahre Chaos: bewaffnete Aufstände von links und rechts, Reparationen, eine Hyperinflation und die ersten Regungen des Faschismus. Aber sie erlebten auch die Entstehung der ersten Demokratie in Deutschland. Die deutschen Juden erfuhren die uneingeschränkte rechtliche Gleichstellung mit den nichtjüdischen Deutschen, zugleich aber stießen sie auf einen völkischen Antisemitismus, der sich immer ungenierter äußerte. Wie gingen deutsche Juden mit dieser neuen, auf einen vernichtenden und sinnlosen Krieg folgenden Situation um, wofür entschieden sie sich jetzt? Genau an diesem Punkt trennten sich die politischen Wege der vier Scholem-Brüder.

Mitte der zwanziger Jahre stellte sich eine Art neues politisches Gleichgewicht her. Wie wirkte sich die damalige politische und wirtschaftliche Situation in Deutschland auf die jüdischen Mittelschichten aus? Entschieden sich die bürgerlichen Juden während dieser Atempause für eine vollständige Assimilation oder suchten sie nach neuen Möglichkeiten, zugleich Juden und Deutsche zu sein? Die vier Brüder Scholem entschieden sich für Berufswege, die über ihr späteres Leben entscheiden sollten. Reinhold und Erich traten in die Fußstapfen der Eltern, übernahmen deren Druckereien und behielten deren kulturelle Gepflogenheiten bei. Werner hingegen sah seine Zukunft in der kommunistischen Bewegung, für die er politisch aktiv war. Gerhard wanderte nach Palästina aus und führte ein Leben als Gelehrter. Im Jahr1925 war allerdings noch keineswegs vorhersehbar, welcher Weg der sicherste sein würde, und in den dreißiger Jahren bedrohten Weltwirtschaftskrise und politische Konflikte – zwischen Freunden der Demokratie und ihren Feinden, zwischen Faschisten und ihren künftigen Opfern, zwischen Stalinisten und Antistalinisten, zwischen Arabern und Juden – alles, was die Scholems und die Juden insgesamt in Deutschland erreicht hatten.

Der seit längerem aufziehende Sturm brach 1933 aus, als die konservative Staatsspitze den Nazis die Macht übergab. Deren Schreckensherrschaft bedrohte erst die Lebensgrundlagen und dann das Leben der deutschen Juden, auch der Scholems. Welche Wege standen ihnen noch offen, als sich das Netz aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedrohungen immer enger zog? Mehr denn je bestimmten vor Jahren getroffene Entscheidungen, wer leben würde und wer sterben, wer Ruhe hätte und wer Unruhe. 1940 wütete der Krieg in Europa und der Welt, und weder die Familie Scholem in Berlin noch das eingesessene jüdische Bürgertum sollten in Deutschland weiter existieren.

Gershom Scholem, dem wenige Mittel zur Verfügung standen, seiner Familie zu helfen, beobachtete von fern deren Bedrängnis und aus der Nähe den Zustrom deutsch-jüdischer Flüchtlinge nach Palästina. Er hatte seine bürgerliche deutsche Welt als junger Mann verlassen und die nächsten zehn Jahre damit verbracht, eine neue jüdische Heimat in Palästina aufzubauen. In den 1930er Jahre aber kamen Tausende bürgerlicher deutscher Juden nach Jerusalem, Tel Aviv und Haifa, die den Jischuw (die jüdische Besiedlung Palästinas) und die Dynamik des arabisch-jüdischen Verhältnisses in Palästina gründlich veränderten. Während die Familie in Berlin durch Verfolgung erniedrigt wurde, wurde Gershom erhöht, vor allem in der akademischen Welt, und er genoss großes Ansehen unter den Zionisten.

Im Laufe der Jahre wurden die überlebenden Mitglieder der Familie Scholem zu Israelis und Australiern, aber sie behielten einige unverwechselbare Eigenheiten ihrer früheren Heimat, die ihnen umso wichtiger wurden, je mehr die Zeit voranschritt. Reinhold, Erich und ganz besonders Gershom Scholem setzten sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinander.

Dieser Bericht zeigt den Weg seiner Protagonisten von Berlin nach Zielorten auf der ganzen Welt, aber auch in die Konzentrationslager Europas. Vor allem aber zeichnet er ihren Weg von Glogau, Breslau und anderen Städten in die Metropole Berlin. Er beschreibt den Höhepunkt der einzigartigen Welt des deutsch-jüdischen Bürgertums und jene Kräfte, die es bedrohten und zerstörten.

Erstes Kapitel

Ursprünge

Von Glogau nach Berlin

Die Stadt Glogau (Głogów) im heutigen polnischen Niederschlesien liegt an den Ufern der Oder. Die rekonstruierte Altstadt lässt deren einstige Schönheit nur annähernd erahnen; leergeräumte Trümmergrundstücke, Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs, prägen noch immer Teile der Innenstadt. Zwar ist Głogów heute wieder Kreisstadt, von seiner einstigen Bedeutung und Vielfalt ist aber nichts geblieben. Deutsche und Juden gibt es dort nicht mehr. Nur ein Platz und eine Gedenktafel erinnern an die von den Nazis zerstörte Synagoge, der letzte jüdische Friedhof wurde 1966 beseitigt.1 In dieser Stadt beginnt die Geschichte der Scholems.

1742 eroberte der preußische König Friedrich II. den größten Teil Schlesiens, das bis dahin zum Königreich Böhmen und damit seit 1526 zu Österreich gehört hatte. Durch die Annexion Schlesiens gerieten Tausende Juden unter preußische Herrschaft; der jüdische Bevölkerungsanteil erhöhte sich noch Ende des achtzehnten Jahrhunderts, als Russland, Österreich und Preußen das Königreich Polen untereinander aufteilten und von der politischen Landkarte Europas verschwinden ließen. 1795, nach der letzten Teilung, lebten mehr als zweihunderttausend Juden unter preußischer Herrschaft.2

Die in Preußen ansässigen Juden waren Untertanen des Königs, unterlagen aber – anders als die Christen – Einschränkungen in Beruf und Wahl des Wohnorts; als Kaufleute durften sie nur eingeschränkt handeln. Sie mussten Silber an die königliche Münze liefern und »Schutzbriefe« kaufen, die sie an zwei Söhne vererben durften, und sie unterlagen bedrückenden Steuern und Abgaben. Zudem hafteten jüdische Gemeinden kollektiv für Schäden, die durch Konkurse oder den Ankauf gestohlener Waren entstanden.3

Im Herbst 1806 brach das Königreich Preußen einen Krieg gegen Napoleons Kaiserreich vom Zaun. In der Schlacht von Jena und Auerstedt im Oktober wurden die Preußen von Napoleons Truppen vernichtend geschlagen, die einige Tage darauf Berlin besetzten. Die schmachvolle Niederlage überzeugte viele in der militärischen und administrativen Führung Preußens, dass Reformen in Staat und Gesellschaft notwendig seien. Im Verlauf der nächsten Jahre wurde die Leibeigenschaft abgeschafft und für alle Bürger die freie Berufswahl und die Gleichheit vor dem Gesetz verfügt. Die Humboldt’sche Bildungsreform von 1810, die vor allem die Universitäten umgestaltete und das humanistische Gymnasium schuf, wollte gebildete Staatsbürger heranziehen.

Bald auch richtete die Regierung ihr Augenmerk auf die Juden. Am 11. März 1812 erließ König Friedrich Wilhelm III. das »Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate.« Juden seines Königreichs konnten nun die Staatsbürgerschaft beantragen, die ihnen dieselben Bürgerrechte zugestand wie preußischen Christen. Sie genossen die freie Wahl des Wohnorts, durften Grundbesitz kaufen, jedes Gewerbe ausüben, als Lehrer tätig werden und öffentliche Ämter bekleiden. Sie unterlagen keiner Sonderbesteuerung mehr. Im Gegenzug mussten sich die Juden einen festen Nachnamen zulegen, ihre betriebliche Tätigkeit und ihre Rechtsgeschäfte in deutscher Sprache dokumentieren; und sie unterlagen der neu eingeführten Wehrpflicht.4 Auch die neuen Rechte kannten allerdings Einschränkungen, und besonders Preußen setzte diese entschieden durch, insgesamt aber hatte in den deutschen Staaten ein neues Zeitalter begonnen. Es sollte fast 125 Jahre andauern.

In Gebieten, die erst nach 1812 zu Preußen kamen, galt Friedrich Wilhelms Edikt nicht; vor allem in der Provinz Posen und in Vorpommern war das jüdische Leben reglementiert. Das Edikt selbst wurde im Übrigen immer wieder verwässert, ergänzt und 1847 ganz ersetzt. In den 1840er Jahren besaßen die meisten preußischen Juden noch keine vollen Bürgerrechte.5 Dennoch war das Edikt ein erster Schritt auf dem Weg zu einer echten Emanzipation gewesen.

Um die preußische Staatsbürgerschaft zu erlangen, mussten Juden einen festen Nachnamen annehmen. Seit jeher benannten sie sich mit ihrem hebräischen Patronym, dem zufolge zum Beispiel Abraham, der Sohn von Mosche, schlicht Abraham ben Mosche und Abrahams Sohn Nathan Nathan ben Abraham hieß. Obgleich zu jener Zeit schon einige Juden Nachnamen trugen, hielten die Orthodoxen noch am Namen ihrer Vorfahren fest. Um der vollen Bürgerrechte willen nahmen nun auch sie in Preußen Nachnamen an. Eines Tages im Spätfrühling oder Sommer 1812 ließ sich Scholem, Sohn des Elias, bei der preußischen Verwaltung in Glogau eintragen. Nach seinem Namen gefragt, antwortete er »Scholem«, die jiddische Variante des hebräischen Namens Schalom. Auf die Frage nach seinem Vornamen entgegnete er entgeistert: »Scholem«. So wurde er zu Scholem Scholem und begründete eine Dynastie deutscher Juden.6

Zwar fand diese Begebenheit ihren Weg in die interne Familienchronik, aber die genauen Ursprünge der Familie Scholem verlieren sich im Dunkel der Geschichte. Gershom Scholem glaubte, dass es seine Urgroßmutter Zippora war, die mitsamt ihren fünf überlebenden Kindern den Vornamen ihres verstorbenen Mannes annahm, als sie sich für einen Nachnamen entscheiden musste, und eine »Scholem, Zipore, Wwe.« wird unter den Juden aufgeführt, die am 24. März 1812 in Glogau lebten.7 Die Familie könnte diesen Nachnamen auch schon früher erworben haben. Genealogische Nachforschungen der Familie Scholem stießen auf einen Abraham Scholem, der 1680 in Krakau geboren wurde, und preußische Archive verzeichnen einen Schutzjuden namens Abraham Scholem Mitte des 18. Jahrhunderts in Brandenburg.8

Scholem und seine Frau Zippora lebten gemeinsam mit 1500 anderen Juden in Glogau. In dieser Stadt waren Juden seit dem Mittelalter durchgehend ansässig gewesen, und wenngleich sie dort nicht immer willkommen waren, machten sie um 1800 fünfzehn Prozent aus, ein hoher Bevölkerungsanteil.9 Scholem arbeitete als Fuhrmann, und Zippora betreute Wöchnerinnen.10 Ihre jüdischen Nachbarn waren Kaufleute oder Kleinhändler, auch Verwalter von Brennereien oder Brauereien, die dem ortsansässigen Adel gehörten. Einige beschäftigte die jüdische Gemeinde, etwa als Lehrer, aber selbst sie mussten sich oftmals nebenher einem Geschäft widmen, um sich über Wasser zu halten. Glogau selbst, wo Behörden und die Garnison das Leben der Bewohner bestimmten, bot jungen Juden nur in begrenztem Maße ein Auskommen. Scholems Sohn Marcus, der zwischen 1789 und 1800 geboren worden war, absolvierte eine Bäckerlehre und machte sich irgendwann nach Napoleons Niederlage nach Berlin auf, der Hauptstadt des wirtschaftlich expandierenden Königsreichs Preußen. Ein weiterer, 1796 geborener Sohn namens Mathias ging 1817 ebenfalls nach Berlin, und ein dritter Sohn namens Lazarus, der 1808 auf die Welt kam, wurde Goldschmied in Breslau (heute Wrocław), der Hauptstadt der Provinz Schlesien.11 Mitte des 19. Jahrhunderts lebten noch etwa 950 Juden in Glogau; ihr Anteil an der Bevölkerung war damit auf 6,2 Prozent zurückgegangen. Demgegenüber hatte die jüdische Bevölkerung in den Großstädten rasant zugenommen. Die jüdische Gemeinde in Berlin wuchs zwischen 1800 und 1848 von 3300 auf 9600, die in Breslau von 2900 auf 7380.12

Berlin mag wohl ein Magnet für Leute gewesen sein, die ihr Glück machen wollten, im europäischen Vergleich aber war es keine besonders glanzvolle Metropole. Es besaß weder den Charme Wiens noch konnte es auf eine lange Geschichte wie etwa Rom zurückblicken. Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Hauptstädten galt es als traditionslos, rückständig und trist. Erste Urkunden, die die Existenz der nebeneinanderliegenden kleinen Handelsstädte Berlin und Cölln bezeugen, stammen aus den Jahren 1237 und 1244. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts wurde Cölln-Berlin Residenzstadt der Markgrafen von Brandenburg, die damals bereits zugleich Kurfürsten waren. Seit 1701 residierten hier die preußischen Könige. Sie machten Berlin zum Verwaltungszentrum ihres Reichs, wodurch sich die örtliche Wirtschaft auf den Hof hin ausrichtete. Es wurde zu einer wichtigen Garnisonsstadt, und die Regierung förderte die Ansiedlung und Entwicklung von Manufakturen wie die königliche Porzellanmanufaktur. Im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert wuchs die Stadt rasch; die Einwohnerzahl stieg von 6500 im Jahr1661 auf fast 61 000 im Jahr 1712, auf nahezu 120 000 im Jahr 1763 und auf mehr als 144 000 im Jahr 1783.13 Wegen seines rasanten Wachstums und seiner Abhängigkeit vom Hof besaß Berlin kein angestammtes patrizisches Bürgertum. Es war eine Stadt der Zuwanderer. Tausende kamen aus Böhmen und Holland, aber die bedeutendste Zuwanderergruppe bildeten Hugenotten, reformierte Protestanten, die vor der katholischen Verfolgung in Frankreich geflohen waren und nun einen wichtigen Teil der Bewohner Berlins ausmachten.

Die Alte Synagoge, ca. 1795. Nachdem Marcus und Mathias Scholem um 1817 nach Berlin kamen, wohnte der eine, möglicherweise auch der andere Bruder, dieser Synagoge schräg gegenüber. Fast hundert Jahre später zog Gershom Scholem es vor, hier und nicht in der liberalen Synagoge nahe der elterlichen Wohnung, den Gottesdienst zu besuchen.

Unter der neuen Bevölkerung der Stadt befanden sich auch Juden. Nachdem man sie in den 1570er Jahren vertrieben hatte, wurden sie 1671 wieder zugelassen. Friedrich Wilhelm, der »Große Kurfürst«, gestattete fünfzig kurz zuvor aus Wien ausgewiesenen jüdischen Familien, sich in Brandenburg und damit auch in Berlin niederzulassen, um nach den Verwüstungen durch den Dreißigjährigen Krieg die regionale Wirtschaft wiederzubeleben. Besonders freundlich wurden sie jedoch nicht aufgenommen. Anders als den Hugenotten zahlte man ihnen keine staatliche Unterstützung; sie durften keine Gotteshäuser errichten und das Recht, sich dauerhaft anzusiedeln, wurde ihnen ebenfalls verwehrt.14

Dennoch wuchs die Zahl der Juden. 1712 konnte eine eigene Gemeinde gegründet werden, als der König endlich den Bau einer allgemein zugänglichen Synagoge genehmigte, die 1714, zu Rosch ha-Schana, eröffnet wurde. Sie lag an der Ecke zweier Nebenstraßen, der Heidereutergasse und der Rosenstraße, und durfte nicht höher sein als die umliegenden Gebäude. Aus diesem Grunde verlegte man das Erdgeschoss unterhalb der Straßenebene. Ihr Äußeres blieb relativ schmucklos, doch im Innenraum erhoben sich eine gewaltige Decke und ein kunstvoll verzierter barocker Thoraschrein, der dem Altar einer Kirche ähnelte.15

Als Moses Mendelssohn1743 nach Berlin kam, gab es in der Stadt mit ihren 98 000 Einwohnern nur knapp 2000 Juden.16 Bis in die zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts hinein wurden es nie mehr als 3500 Juden, also ungefähr zwei Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen waren weder reich noch berühmt, doch brachten es einige zu einer gewissen Bekanntheit. So halfen Veitel Heine Ephraim und Daniel Itzig Friedrich dem Großen seit den 1750er Jahren, seine Kriege zu finanzieren, mit denen er das Territorium Preußens erheblich ausdehnte. Der Philosoph Moses Mendelssohn führte die Haskala an, die jüdische Aufklärung, die eine Modernisierung des Judentums und die Integration der Juden in die sie umgebende Gesellschaft zum Ziel hatte. In den Jahren, die auf diese Aufklärung folgten, vermittelte David Friedländer, der Schwiegersohn von Daniel Itzig und Student von Mendelssohn, zwischen der jüdischen Gemeinde und der christlichen Obrigkeit und trat für eine Erweiterung der Rechte von Preußens Juden ein. Mendelssohns Söhne Joseph und Abraham gehörten zu den führenden Bankiers der Zeit. Ihre Schwester Brendel (später bekannt als Dorothea) verkehrte mit den großen Gestalten der literarischen Romantik; sie heiratete später Friedrich Schlegel. An der Wende zum neunzehnten Jahrhundert wurden Rahel Varnhagen von Ense (geborene Levin) und Henriette Herz (geborene de Lemos) berühmt für ihre Salons, in denen sich gebildete Christen und Juden trafen.17

Aus der Sicht jüdischer Traditionalisten durchlebte die Gemeinde Berlins zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts eine schwere Krise. Die religiös orthodoxen Institutionen fanden immer weniger Zuspruch. Israel Jacobson, der schon in Seesen und Kassel Reformsynagogen gegründet hatte, errichtete in Berlin ein reformiertes jüdisches Gebetshaus, dessen Gottesdienste Hunderte anzogen. Als diese modernisierten Gottesdienste in eine im Haus von Jacob Herz Beer privat betriebene Synagoge verlegt wurden, besuchte sie über ein Viertel der jüdischen Bewohner der Stadt. Überdies setzte sich David Friedländer für wesentliche Veränderungen im religiösen jüdischen Leben ein. Von der Romantik beeinflusst, begehrten junge Juden gegen traditionelle soziale Konventionen auf, auch Liebesbeziehungen zwischen modernen Juden und Christen gab es. Viele Berliner Juden befolgten die jüdischen Speisegesetze nicht mehr und hielten den Sabbat nicht ein. Manche, die in den Ritualen ihrer Vorfahren keinen Sinn mehr sahen und dennoch zu den gehobenen Kreisen der Gesellschaft und entsprechenden beruflichen Möglichkeiten nach wie vor keinen Zugang fanden, konvertierten. Prominente jüdische Repräsentanten sprachen damals von einer Taufepidemie unter Berliner Juden.18 Angesichts der immer tieferen Kluft zwischen den älteren Traditionalisten und der jungen Generation herrschte Ungewissheit über die weitere Zukunft der Gemeinde. Das traditionelle Judentum befand sich in der Defensive. Dieser Trend kehrte sich aber bald wieder um, als sich mit Unterstützung König Friedrich Wilhelms III. das orthodoxe Judentum wieder neu organisieren konnte.19

Der König erfuhr von einem privaten Reformtempel und drückte seine Missbilligung aus, nicht weil es dort Reformgottesdienste gab, sondern weil der Tempel privat war und dem König private Zusammenkünfte jeglicher Art suspekt waren. Orthodoxe Juden lehnten den Gebrauch der deutschen Sprache und eine Orgelbegleitung während ihres Gottesdienstes ab. Obwohl prominente Vertreter der jüdischen Gemeinde und selbst der preußische Innenminister Friedrich von Schuckmann die Veränderungen gebilligt hatten, wandten sich die Traditionalisten an den König selbst, der im Dezember 1823 den Juden alle religiösen Neuerungen verbot. Es überrascht daher auch nicht, dass er den Juden etliche der ihnen 1812 zugestandenen Freiheiten wieder nahm. Sie durften trotz Militärdienst und Studium weder Lehrer noch Beamte werden. Viele Berliner Juden wurden der Religion gegenüber überhaupt gleichgültig, passten sich äußerlich der Orthodoxie an oder ließen sich taufen, was eine akademische oder juristische Laufbahn oftmals erleichterte. Gleichzeitig bewirkte ein Zustrom aus Preußens Ostprovinzen, dass die Zahl der Traditionalisten wuchs.20 Zwei dieser Neuankömmlinge waren Marcus und Mathias Scholem aus dem schlesischen Glogau.

Einiges in ihrem Alltagsleben zeugte von der veränderten Lage der Juden in Preußen und Berlin. Der eine, möglicherweise auch der andere Bruder, lebte in der Nähe der Alten Synagoge Berlins in der Heidereutergasse.21 Es gab zwar kein besonderes jüdisches Viertel, orthodoxe Juden jedoch waren gewöhnlich recht arm und wohnten in den ärmlichen Gegenden, in denen Juden seit Generationen Unterkunft gefunden hatten. Dazu gehörten die Jüdenstraße, die Rosenstraße und die Heidereutergasse.22 Indem Juden nun Staatsbürger geworden waren, unterlagen sie auch dem Wehrdienst. Mathias verbrachte ein Jahr beim Zweiten Garderegiment zu Fuß.23 Im Februar 1821 schloss Mathias in Berlin die Ehe mit Feile Isaac, deren Vater als Bote arbeitete. Marcus vermählte sich im Februar 1823 mit Esther Holländer. Ihr Vater Abraham war Kaufmann aus dem niederschlesischen Auras (heute Uraz) an der Oder, einem Dorf, das achtzig Kilometer von Glogau und weniger als fünfundzwanzig Kilometer von Breslau entfernt lag, wo ihr gemeinsamer jüngerer Bruder lebte.24 Da die meisten Ehen zu jener Zeit arrangiert wurden, überrascht es nicht, dass Marcus eine Frau heiratete, deren Familie aus seiner Heimatregion kam. Überdies war sie zum Zeitpunkt der Heirat schon achtundzwanzig oder neunundzwanzig, und er sogar noch älter. Derartig späte Eheschließungen waren bei Berliner Juden üblich, vor allem bei jenen, die nicht wohlhabend waren. Damals blieb fast ein Viertel der Juden über fünfzig unverheiratet; die meisten der ledigen Männer waren nach Berlin zugewandert und arbeiteten als Handlungsgehilfen.25 Die Scholems zählten nicht zur Elite der Berliner Juden, also jenen, die in dieser Stadt geboren und selbständig waren. Sie gehörten zu den vielen am unteren Ende der sozialen Hierarchie, traditionell religiös, die weiter Verbindungen zu den Juden ihrer Heimat unterhielten und sich auf sie verließen.

Mathias arbeitete für den jüdischen Kaufmann Hirsch Simon Glaser. Die öffentlichen Register führen »M. Scholem« mal als »Handelsmann«, mal als »Trödler«.26 Obwohl das königliche Edikt von 1812 Juden eine freie Berufswahl zugestand, konnten ihre Wahlmöglichkeiten eingeschränkt werden. Auf Beschwerden christlicher Bürger hin untersagte ihnen die Regierung, ein öffentliches Amt zu bekleiden oder einen staatlich geförderten Beruf zu ergreifen. Juden war es untersagt, in Vertretungskörperschaften, vor Gericht oder in schulischen Einrichtungen Macht über ihre christlichen Mitbürger auszuüben. Handwerksinnungen nahmen nach wie vor keine Juden auf. Immerhin war, anders als in vielen anderen deutschen Städten, das Wirtschaftsbürgertum den Juden gegenüber vergleichsweise offen, und die wohlhabenden unter ihnen konnten entsprechenden Vereinen und Verbänden beitreten. Tatsächlich blieb der Handel für Juden das wichtigste Betätigungsfeld; Aufstieg und Verbürgerlichung hatten jedoch schon eingesetzt. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war rund die Hälfte der Juden in den deutschen Staaten in irgendeiner Weise im Handel beschäftigt; zugleich hatte die Zahl der Juden, die ihren Lebensunterhalt als einfache Hausierer verdienten, erheblich abgenommen.27 Immer mehr Juden gründeten ein richtiges Geschäft an einem festen Ort. Dies galt auch für die Scholems.

Um das Jahr1841 herum eröffneten Marcus und seine Frau eine koschere Garküche in der Klosterstraße im Herzen der rasch expandierenden Stadt. Es war durchaus üblich, dass jüdische Ehepaare in ihrem Familienbetrieb Seite an Seite arbeiteten; und so führte Esther, die sich jetzt Ernestine nannte, nach dem Tod ihres Mannes im Februar 1845 die Wirtschaft allein weiter.28 Dass das Lokal noch zwanzig Jahre nach ihrem Weggang aus Glogau koscher geführt wurde, zeigt, wie langsam die Akkulturation noch Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verlief. Das Speiselokal wurde zu einem Ort für eben aus der Provinz eingetroffene Juden, darunter mehr als ein Mitglied der bald angeheirateten Verwandtschaft.29 Berlin zog immer mehr jüdische Migranten an, vor allem ungelernte oder angelernte Arbeiter, wie Marcus und Mathias es gewesen waren.

Auch in der Metropole hielten sie an vielen, wenn nicht den meisten, ihrer traditionellen religiösen und kulturellen Gepflogenheiten fest.30 Die Kinder wurden zwar erzogen wie einst ihre Eltern, aber ihnen gelang rasch die Aufnahme in eine westlich geprägte deutsche Gesellschaft und der Aufstieg in die gehobene Mittelschicht.

Das älteste Kind von Marcus und Ernestine kam am 16. Juni 1833 zur Welt. Gemäß jüdischer Tradition wurde er nach seinem verstorbenen Großvater Scholem benannt; die preußischen Beamten, die für Bewilligung und Registrierung der Namen eines jeden Neugeborenen zuständig waren, weigerten sich jedoch, den Namen »Scholem Scholem« anzuerkennen. So wurde der Junge offiziell Solm Scholem genannt. Er hatte eine Schwester, Jeanette, und einen Bruder, Abraham. Später nahm Solm Scholem den Namen Siegfried Scholem an und sein Bruder Abraham wurde Adolph – sichtbare Bekundungen ihres Übergangs in die deutsche Kultur. So galten schon bald einige »deutsche« Namen, etwa Siegfried und Siegmund, als »jüdisch«.31 Im Gegensatz dazu bestimmten ihre Eltern nach wie vor ihre Schulbildung. Während in den 1840er Jahren die meisten jüdischen Kinder in Berlin bereits nichtjüdische Schulen besuchten – was ihre Hinwendung zur deutschen Kultur, einschließlich der deutschen Sprache, noch beschleunigte –, ging der junge Solm in die Knabenschule der Berliner Jüdischen Gemeinde, die seit 1829 von dem Pädagogen Baruch Auerbach geleitet wurde. Damit gehörte er in Berlin bereits zu einer Minderheit, nicht aber in Preußen insgesamt. Denn 1864 besuchte noch fast die Hälfte aller jüdischen Kinder in Preußen jüdische Schulen.32 Das sollte sich später ändern.

Der Aufstieg in die sozial abgesicherte Mittelschicht war schwierig. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Hälfte der deutschen Juden immer noch arm; ein Drittel bis ein Viertel von ihnen befand sich in der niedrigsten Steuerklasse, lediglich fünfzehn bis dreißig Prozent hatten es damals schon in die mittleren und oberen Steuerklassen geschafft.33 Ein Schicksalsschlag konnte Jahre der Anstrengung zunichtemachen. Marcus Scholems Tod 1845 ließ seine Familie verarmt zurück; zwei Jahre später verließ Siegfried mit vierzehn die Schule. Aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen rieten damals führende Vertreter der Gemeinde jüdischen Männern ab, einen kaufmännischen Beruf zu wählen, und empfahlen ihnen stattdessen handwerkliche Berufe.34 Für Siegfried hatte sein Vormund ursprünglich eine Stellung im Modehaus Hermann Gerson vorgesehen, schließlich aber ging er beim Verleger Julius Sittenfeld in die Lehre. Fünf Jahre dauerte Siegfrieds Ausbildung zum Schriftsetzer in verschiedenen Druckereien Berlins und Breslaus. Als Gesellenstück gestaltete er eine Sammlung deutscher Lyrik. Am Ende bestand er die vorgeschriebene Prüfung und wurde als Lithograph zugelassen.35 Das Druckgewerbe war damals ein blühender Wirtschaftszweig.

Siegfried hatte seine Lehrzeit 1847 begonnen. Ein Jahr später, 1848, kam die Revolution und mit ihr gab es vermehrt Zeitungen, Pamphlete und Plakate. Zeitungen halfen außerdem Zuwanderern im ausgehenden 19. Jahrhundert, sich im Großstadtleben zurechtzufinden. Als Siegfried 1901 starb, gab es in Berlin Bücher, Zeitungen und Zeitschriften im Überfluss. Siegfrieds erster Arbeitgeber war der Verlag Julius Sittenfeld, der sich mit medizinischer Fachliteratur und Druckaufträgen für die Berliner Stadtverwaltung einen Namen machte. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts druckte Sittenfelds Firma auch religiöse jüdische Bücher.36

Das aufstrebende deutsch-jüdische Bürgertum war eine abgegrenzte Welt innerhalb der deutschen Gesellschaft. Die Aufsteiger drängte es, sich wie nichtjüdische Bürger zu kleiden, wie sie zu sprechen; sie heirateten jedoch fast immer untereinander. Manche Juden konvertierten und schlossen die Ehe in der Kirche, aber dann gehörten sie meistens zur wirtschaftlichen und kulturellen Elite; seit den 1830er Jahren stagnierte die Zahl der Berliner Juden, die zum Christentum übertraten; sie bewegte sich, nach einem kurzen Höhepunkt um 1840, steil nach unten.37 Siegfrieds Braut Amalie Schlesinger, die er im Oktober 1860 heiratete, kam aus ähnlichen Verhältnissen wie er. Ehen wurden nach wie vor vermittelt, wenn nicht vollständig nach finanziellen und familiären Kriterien arrangiert.38 Amalie wurde 1837 in einer religiösen jüdischen Familie im oberschlesischen Beuthen (heute Bytom) geboren. Ihr Vater David, der ursprünglich aus der Provinz Posen stammte, war in Beuthen und Lissa (heute Leszno) Uhrmacher gewesen, bevor er in der Berliner Jüdenstraße Wollhändler wurde.39

Siegfried wollte nicht ewig im Dienst anderer stehen. Am 1. April 1864 gründeten er und Amalie mit einem Kredit von 200 Talern ihre eigene Firma: die Buch- und Steindruckerei Siegfried Scholem. Damit folgten sie einem allgemeinen Trend, denn schließlich waren jetzt etwa siebzig Prozent der Berliner Juden selbständig, gegenüber einem Anteil von nur 38 Prozent bei der nichtjüdischen Bevölkerung.40 In Berlin war ein typisch jüdisches Unternehmen ein kleiner Familienbetrieb wie der Siegfrieds. Gleichwohl garantierte die Selbständigkeit nicht zwangsläufig einen Erfolg; tatsächlich kämpfte die Firma jahrelang um ihren Fortbestand. Laut Aussage von Siegfried belasteten gesundheitliche Probleme einerseits und die Auswirkungen der Bismarck’schen Kriege andererseits die Druckerei.41 Förderlich war aber sicherlich, dass Siegfried 1871, unmittelbar nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich, ein Programm für die Siegesparade der preußischen Armee entwarf und veröffentlichte.42

Mit der Zeit brachte Siegfried Scholem es zu beträchtlichem Wohlstand. Wie sechzig Prozent aller deutschen Juden seiner Zeit gehörte er zur mittleren oder oberen Steuerklasse.43 Deutschland erlebte nach dem Krieg von 1870/71 einen wirtschaftlichen Aufschwung; französische Reparationszahlungen kurbelten die Konjunktur an und das Wirtschaftswachstum setzte sich sogar noch fort, als der Gründerboom 1873 abbrach und die Wachstumsraten zurückgingen. Der Dienstleistungssektor – in dem viele jüdische Unternehmer tätig waren – ließ zwischen 1873 und 1895 die Entwicklungen in der Landwirtschaft und der Industrie weit hinter sich.44

Mit wachsendem Wohlstand übernahmen die Scholems auch einen bürgerlichen Lebensstil. Amalie Scholem erholte sich in Karlsbad und anderen europäischen Heilbädern.45 Und wie so viele Juden in den 1880er Jahren zogen Siegfried und seine Familie aus dem einst ummauerten Stadtkern Berlins fort und in neu errichtete, weniger beengte Stadtteile. Zu diesen neuen Vierteln gehörten die Spandauer Vorstadt, die Stralauer Vorstadt, die Friedrichstadt und die Luisenstadt, die einen Ring um das alte Zentrum bildeten. Nach mehreren Zwischenstationen ließen sich die Scholems um 1890 in der Sebastianstraße 20 in der Luisenstadt nieder, einem der neuen Wohn- und Geschäftsviertel. Ihre Wohnung kündete von ihrem Aufstieg ins gehobene Bürgertum; sie lag in einem prächtigen Steinbau mit vier Geschossen. In den oberen Etagen befanden sich Wohnungen und Büros, während das Erdgeschoss verschiedene Läden beherbergte, praktischerweise auch die Buchdruck-Utensilienhandlung von Emil Witt. Am Eingang des Gebäudes hingen die Schilder eines Silberschmieds, eines Hoflieferanten.46

Nach und nach bekamen Siegfried und Amalie vier Söhne: Arthur wurde 1863, Theobald 1873, Max 1875 und Georg 1877 geboren. Deren Generation würde an Aufbau und Modernisierung vollenden, was ihr Vater begonnen hatte. Gleichzeitig suchten sie nach einem Platz zwischen der deutschen und der jüdischen Welt. Selbst wenn sie sich der deutschen Kultur zuwandten, war eine völlige Abkehr vom Judentum selten; die meisten deutschen Juden bemühten sich um eine Synthese zwischen beiden Identitäten.47 Mit der Zeit bildete sich eine eigene bürgerliche deutsch-jüdische Kultur heraus, in der definiert war, was deutsch und jüdisch zu sein bedeutete.

Siegfried hatte die Grundschule der jüdischen Gemeinde im Schatten der Alten Synagoge besucht. Seine Söhne gingen, wie damals 62 Prozent der jüdischen Kinder Preußens, auf staatliche Schulen.48 Die Scholem-Jungen kamen nacheinander aufs Gymnasium, in ihrem Fall das Luisenstädtische Realgymnasium. Im neunzehnten Jahrhundert besuchten nur sehr wenige Jungen eine weiterführende Schule und von diesen machten noch weniger Abitur. Das lag unter anderem an den Kosten: Die weiterführenden staatlichen Einrichtungen erhoben Schulgeld. Für eine bürgerliche Familie, die drei oder vier Söhne auf eine höhere Bildungsanstalt schicken wollte, konnte das zu einer großen Belastung werden. Das Schulgeld für Georg betrug im Schuljahr 1895-1896 130 Mark. Damals verdiente ein Oberlehrer am Gymnasium jährlich gerade einmal 2700 Mark, ein Bahnhofsvorsteher Zweiter Klasse etwa 1800 Mark und ein Bauinspektor zwischen 3600 und 5700 Mark.49 Ein Arbeiter bekam natürlich wesentlich weniger. Dennoch scheuten viele jüdische Familien diese Kosten nicht, sogar dann nicht, wenn ihre Söhne gar nicht vorhatten, das Abitur abzulegen. Beim Besuch eines Gymnasiums ging es ihnen weniger um die allgemeine Hochschulreife als darum, Allgemeinbildung und jenen kulturellen Schliff zu erwerben, die jemanden als Mitglied des gehobenen deutschen Bürgertums auswies. 1886-1887 besuchten 22 Prozent der jüdischen Jungen in Preußen höhere Schulen, während dies auf weniger als fünf Prozent der nichtjüdischen Jungen zutraf.50 Als Max Scholem1886 im Luisenstädtischen Realgymnasium eingeschult wurde, waren dort von 526 Schülern 86 jüdisch, und entsprechend bot die Schule auch jüdischen Religionsunterricht an. Fünfzehn Jahre später war die Schülerschaft fast zu 25 Prozent jüdisch.51

Amalie Scholem (dritte von links) in Karlsbad, Juli 1899. Als arrivierte Bürger konnten die Scholems Erholungsreisen zu den Kurorten Europas unternehmen, wie hier ins damals österreichische Karlsbad. Selbst im Urlaub verkehrten sie fast ausschließlich mit ihresgleichen – deutschen Juden. Nahezu alle hier abgebildeten Personen sind jüdisch und kommen aus Berlin, Posen, Oppeln oder Beuthen in Schlesien.

Die Schulbildung der Familie Scholem entsprach etwa der des jüdisch-deutschen Bürgertums dieser Generation. Arthur, Theobald und Max besuchten das Luisenstädtische Realgymnasium, aber keiner von ihnen blieb dort bis zur Oberprima, dem letzten Jahr vor dem Abitur. Da sie ihrem Vater ins Druckergewerbe folgen und eines Tages die Firma übernehmen sollten, gingen sie früher von der Schule ab und machten eine Druckerlehre.52 Arthur arbeitete ein Jahr lang in London und wohnte bei einem Onkel; 1883 kehrte er nach Deutschland zurück. Offenbar lernte er in England die Sprache so gut, dass er den Manchester Guardian lesen konnte – eine Zeitung, bei der dann später sein eigener Sohn seine Ausbildung machen würde.53

Siegfrieds jüngster Sohn Georg schlug einen anderen Weg ein: er wurde Arzt. Für die älteren Söhne jüdischer Familien war es keine Seltenheit, ihre Berufswünsche zugunsten des jüngsten Sohns hintanzustellen, um ihm den Besuch eines angesehenen Gymnasiums und anschließend ein Universitätsstudium zu ermöglichen. Es kam auch vor, dass ältere Söhne die akademischen und beruflichen Ziele des jüngsten Bruders unterstützten, nachdem sie die wichtigsten Hürden ihrer eigenen Karriere schon genommen hatten, wie es beispielsweise in der Familie des berühmten Romanisten Victor Klemperer der Fall war. Dabei ging es sicher auch um das Prestige, das ein »Herr Doktor« oder »Herr Professor« einer Familie bescherte.54

Georg Scholems Brüder besuchten ein Realgymnasium, wo, anders als auf einem humanistischen Gymnasium, kein Altgriechisch und weniger Latein unterrichtet wurde. Sie brachen ihre Schulzeit vorzeitig ab, aber die Auswahl an Studienfächern wäre ohnehin begrenzt gewesen, denn das Abitur an einem Realgymnasium berechtigte nicht zum Studium der Medizin, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts bei jüdischen Studenten besonders beliebt war.55

Um Arzt werden zu können, musste Georg Scholem also das Abitur an einem humanistischen Gymnasium ablegen. Er begann daher am Luisenstädtischen Realgymnasium, wechselte aber im Alter von zwölf Jahren ans Köllnische Gymnasium, wo er auch Griechisch und Latein lernen konnte. Sein Abitur legte er im September 1895 ab.56 Damit gehörte er in Preußen zur Spitzengruppe von lediglich ein bis zwei Prozent aller Jungen seines Jahrgangs. Unter den vierzehn Schülern seiner Klasse waren sechs Juden. Drei, einschließlich Georg, wollten Medizin studieren, zwei Maschinenbau und einer Jura. Dagegen entschieden sich ihre nichtjüdischen Klassenkameraden für ein Studium der Jura, Militärmedizin, Philologie, Forstwissenschaft oder Theologie.57 Georg immatrikulierte sich an der Universität Berlin, wo er bei Rudolf Virchow studierte, dem Begründer der Zellularpathologie und Pionier der modernen medizinischen Ausbildung. Die längste Zeit, wenn nicht während seines gesamten Studiums, wohnte Georg bei seinen Eltern; auch schloss er sich keiner Studentenverbindung an, obgleich sie bei vergnügungssüchtigen Studenten beliebt und gesellschaftlich nützlich waren. Unklar bleibt, ob er ihnen bewusst aus dem Weg ging oder ob die Scholems das unseriöse Treiben ablehnten. 1901 schloss er sein Medizinstudium mit einer Dissertation über eine Behandlungsmethode der Syphilis auf der Basis von Quecksilber ab. Er widmete sie seinen Eltern in Dankbarkeit. Auf Georgs Studium folgte eine Zeit als Schiffsarzt, von der er als eindrucksvollstes Souvenir einen sprechenden Papagei namens Pedro nach Berlin mitbrachte.58

Druckerei Siegfried Scholem, frühes 20. Jahrhundert. Dieses Foto erschien ursprünglich in einem Prospekt der Druckerei Siegfried Scholem.

Siegfried starb 1901 und hinterließ seine Druckerei den mittleren Söhnen Theobald und Max. Da führte Arthur schon eine eigene Druckerei, so dass Berlin jetzt zwei Druckereien Scholem hatte. Ursprünglich war das so nicht vorgesehen. Nachdem er seine Lehre einschließlich des vorgeschriebenen Wanderjahrs absolviert hatte, war Arthur nach Berlin zurückgekehrt und in die Firma seines Vaters eingetreten, aber sie vertrugen sich nicht. Beide Männer hatten ein willensstarkes und aufbrausendes Temperament; schließlich machte Arthur sich 1892 selbständig, wobei ihm seine Frau Betty Hirsch zur Seite stand, die er 1890 geheiratet hatte.

Im Unterschied zu Arthurs Familie, die zur Geschäftswelt gehörte, waren Bettys Geschwister Intellektuelle, und ein Teil ihrer Verwandtschaft war recht wohlhabend. Sowohl ihr Bruder Hans als auch ihre Schwester Käte waren promoviert, er in Chemie und sie in Medizin. Beide ließen ihre Dissertationen bei ihrem Schwager Arthur drucken.59 Nach seinem Abschluss ging Hans in die Keramikindustrie und machte sich auf diesem Gebiet einen Namen in Deutschland.60 Käte, die ihren Doktortitel 1904 an der Universität Freiburg erworben hatte, war eine der ersten deutschen Hochschulabsolventinnen. Freiburg im relativ liberalen Baden hatte als erste deutsche Universität das allgemeine Immatrikulationsrecht für Frauen eingeführt, die meisten angehende Ärztinnen. Fast dreißig Prozent aller Ärztinnen waren zur Zeit der Weimarer Republik jüdisch.61