Die Schönheit der Chance - Hilmar Bender - E-Book

Die Schönheit der Chance E-Book

Hilmar Bender

4,9
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tomte gehören zu den Lieblingen des Feuilletons. Die Kritik bescheinigt ihnen wohlwollend 'Großstadtpoesie'. Ihrer treuen, ständig wachsenden Fangemeinde haben sie sich auf kleinen und großen Bühnen während der letzten Jahre in die Herzen gespielt. Und sie gründeten eine der kreativsten Keimzellen deutscher Musik der Gegenwart, das Plattenlabel 'Grand Hotel van Cleef' in Hamburg. Die Musiker von Tomte und Kettcar vereinigten sich für den Film 'Keine Lieder über Liebe' (mit Heike Makatsch und Florian Lukas) zur Hansen Band, die mit Frontmann Jürgen Vogel ein eigenes Album einspielte und jetzt auch durch Deutschland tourt. Das war aber nur ein Zwischenschritt für Tomte auf dem Weg zum kommenden eigenen Album, mit dem ein labelinterner Wettbewerb gewonnen werden soll: höher in die Charts einzusteigen als Kettcar. Der Autor lädt die Leser ein, im Tourbus mitzufahren auf einer Reise, bei der die Liebe zur Musik der Motor ist. Die Band hatte Hilmar Bender mit auf Tour genommen, um unterwegs den Merchandise-Verkauf zu übernehmen. Integriert in den engsten Kreis hat der Autor die Chance genutzt, ein intimes Portrait zu zeichnen. Er beschreibt nicht nur, was in der Zeit zwischen den Auftritten passiert, sondern schildert auch Begegnungen aus der Vergangenheit, in der die Auftrittsorte noch so groß wie Fertiggaragen waren. Das Buch erzählt von der Zeit, in der man sich noch ohne Krankenversicherung durchschlug, von den Dreharbeiten zum Kinofilm 'Keine Lieder über Liebe' bis hin zu triumphalen Festivalauftritten im Sommer 2005.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 317

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hilmar Bender

DIE SCHÖNHEIT DER CHANCE

Tage mit Tomte auf Tour

Schwarzkopf & Schwarzkopf

Für meine kleine Familie: Nina und Senya

ZUALLERERST

Vor zehn Jahren lag ich mit Marcus Wiebusch am Strand von Ventura Beach und habe Henry Rollins’ faszinierendes »Get In The Van – On The Road With Black Flag« buchstäblich verschlungen. Das beste Tourtagebuch aller Zeiten.

Fünf Jahre später saß ich bei Thees Uhlmann auf dem Klo und habe »Wir könnten Freunde werden«, seine Tocotronic-Tourtagebücher, gelesen.

Anschließend ergab es sich, dass Thees mit Tomte auf Tour gehen sollte, und ich bekam die Gelegenheit mitzufahren.

Auch wenn wir die explosive Intensität der 80er nicht mehr unmittelbar erleben konnten, sind wir doch von der Energie beeinflusst, die Bands wie Black Flag verströmt haben. Als Kinder der Hardcore-Szene tragen wir einen Restfunken in unserem Jahrzehnt weiter.

»Man muss den Leuten ja auch erklären, warum die Musik gut ist«, sagt Thees, wenn eine Rezension mal wieder schrecklich oberflächlich geblieben ist. Aber das kann nur er selbst, nicht dieses Buch. Schließlich ist er es, der für die Musik lebt.

Ich kann die Leser lediglich einladen – wie auch ich eingeladen wurde. Im Tourbus mitzufahren auf einer Reise, bei der die »Liebe zur Musik« der Motor ist und man nie weiß, was hinter der nächsten Kuppe kommen wird.

Hilmar Bender

VORWORT VON THEES UHLMANN

Im Inneren des Orkans ist gut Feuermachen, denn es ist ganz windstill dort.

Seit ein paar Tagen ist unsere Band auf den Covern von Musikmagazinen, und Menschen, von denen man selbst nur gelesen hat, interessieren sich plötzlich für uns! Das ist ein gutes, aber auch ein wildes Gefühl.

Sie wollen wissen, wie es ist, und man selbst liegt in Scherben und versucht in fünf Minuten zu erklären, was man seit vielen Jahren macht, ohne zurück- oder vorzuschauen. Vielleicht, weil man schon seit Jahren im Inneren des Orkans lebt. Aber dennoch ist da Wille zu dokumentieren, zu teilen, mitzuteilen, wie es ist. Gerade dann, wenn man nicht alles daran setzt, aus sich – und dem, wofür man lebt – ein Mysterium zu machen. Das haben wir nie, das können wir gar nicht und ehrlich gesagt will das auch keiner. Sie nicht, und wir auch nicht.

Der eher ruhige Timo Bodenstein sagte einmal in einem seiner großen Momente, dass Tomte einfach irgendwann aus dem Publikum auf die Bühne gestiegen sind. Das ist beinahe perfekt nahe an dem, wie alles ist. Niemand fühlt sich hier privilegiert, niemand ist etwas Besonderes. Es ist einfach das, was man für sich wählte. Und dennoch umgibt die Sache ein Geist eines 1:100.000-Spiels. Tomte ist mein Lotto des Lebens und ich bin am Gewinnen. Es ist ein wunderbares Gefühl.

Das Land hat sich verändert, seit wir es mit Bussen durchfahren, um Musik zu machen. Als wir anfingen, gab es bei Aldi noch keine Computer und höchstens zehn Windräder im Vorbeifahren zu sehen. Globalisierung hieß »Eine-Welt-Laden« und es gab in jedem vierten Ort ein Jugendzentrum, in dem ambitionierte Anfangzwanziger Konzerte mit nichts anderem als Herzblut veranstalteten. Es gab kein Internet und keine CD-Brenner. Hong Kong war noch Britpop und Kohl noch Präsident!

Es war bei weitem nicht besser – es war nur anders. Und wissen Sie was? Es ist schön zu sehen, wie die Zeit vergeht. Nostalgie ist die Vorstufe zum Konservatismus. Es war schön früher, es ist schön heute. Und die vergangene Zeit ist eine gutmütige Decke, die sich über das Schlechte legt. Anders könnte man ja gar nicht leben.

Und jetzt haben wir unser eigenes Bandbuch. Ich habe es noch nicht gelesen. Das macht Sie und mich zu Komplizen. Ich habe dazu gerade nicht die Kraft oder Muße, wie man auf Norddeutsch sagt. Es würde das Fass zum Überlaufen bringen. Denn ich weiß, dass Hilmar Bender uns kennt wie kein Zweiter und dass er seine Umgebung beobachtet wie ein Jäger auf dem Hochsitz. Er ist unter anderem der beste freie Werbetexter ohne Anstellung dieses Landes. Er hat mir mal einen Text über Porzellan einer bestimmten Marke geschickt und nach dem Lesen kam es mir vor, als ob mein Leben ohne dieses Porzellan ärmer wäre. So viel zu seinen Qualitäten.

Aber es geht um viel mehr. Es geht um das unnostalgische Festhalten von Auftritten und den Dingen, die drumherum passierten. Und das haben wir als Tomte hiermit in der Hand. Wir werden nicht vergessen.

Vielleicht können Sie in fünf Jahren sagen: »Damals, als ich dieses Buch zum ersten Mal in der Hand hielt, wurde drei Monate später alles gut!« Das wäre nicht das Schlechteste: Einschnitte und die Symbole, an denen man das festmacht. So war das bei mir schon immer. Fünfzig Stellen müsste ich Ihnen in diesem Buch zeigen können.

Thees Uhlmann

P.S.: Wenn Sie dieses Buch zum Geburtstag geschenkt bekommen, möchte Ihnen die Band sagen: Alles Gute zum Geburtstag. Mögen die besten Tage ihres letzten Lebensjahres die schlechtesten ihres neuen sein!

P.P.S.: Wenn Sie dieses Buch zu Weihnachten bekommen, wünschen wir Ihnen – auch wenn das ein hehrer Anspruch ist – ein ruhiges und besinnliches Weihnachtsfest!

P.P.P.S.: Nicht vergessen: Nur wer sich siezt, kann sich später duzen!

DIE PROTAGONISTEN

(nach Gewicht geordnet)

Marcus Wiebusch ist der Größte im Grand Hotel van Cleef. Hat als Erster an Tomte geglaubt und zieht seither alle Fäden des Labels im Hintergrund. Wird auf St. Pauli daher auch »der Pate« gerufen.

Gerne Poets hat Kfz-Mechaniker gelernt, danach Polizist, anschließend Punkrock und vor kurzem ein Sozialpädagogikstudium abgeschlossen, ohne jemals ein Buch zu lesen. Misst gefühlte zwei Meter zehn. Musste mit diesen Voraussetzungen Manager von Tomte werden.

Timo Bodenstein, zärtlich »Super-Oi« genannt, sagt nie mehr als notwendig, verzichtet sogar auf Haupthaar. Familienvater und Deutschlands bestaussehender Profi-Koch ohne TV-Sendung. Schon immer Schlagzeuger von Tomte.

Thees Uhlmann, Großmaul, singt und schreibt die Texte. Dieses Buch ist nichts anderes als eine Liebeserklärung an ihn. Es geht nicht um Schönheit oder Wohlklang, sondern um brillante Auffassungsgabe und positive Energie. Hat jeden Zynismus überwunden und kann deshalb den Menschen so vieles geben.

Dennis Becker, schlagfertige Stimmungskanone mit einfallsreichem Wortwitz. Haut situationsbedingt Dinger raus, da schnallt man ab. Weiß bis heute nicht, von wem er die schlechten Augen geerbt hat. Bester Gitarrist bei Tomte.

Olli Koch, wie Dennis aus Rendsburg. Der Mann mit dem mitreißendsten Lachen südlich von Dänemark. Unglaublich liebenswürdiges Kraftpaket. Will tatsächlich zu Ende studieren. Heute Bassist von Tomte.

Maxe Schröder, norddeutsch stilles, sensibles fünftes Mitglied der Band. Heißt wie der ehemalige Kanzler, ist aber mehr sexy. Heute für Keyboards und Gitarren bei Tomte zuständig. Kann eigentlich jedes Instrument.

Stemmi, Tomte-Gründungsmitglied aus Hemmoor, erster Bassist der Band. Ausgestiegen, bevor es richtig losging. Heute Toningenieur bei Radio Hamburg.

BREMEN, 15.05.03

»Bist du eigentlich krankenversichert?«, fragt mich Thees. Wir stehen vor dem Tower in Bremen. »Na klar, ich bin doch arbeitslos«, ist meine überraschte Antwort. Ein Sekundenbruchteil betretenen Innehaltens, zwei stumme Blicke treffen sich. Thees erfasst die Lage wie immer blitzschnell. Mit einem bittersüßen Lächeln schiebt er hinterher: »Wir zahlen mir beim Grand Hotel 300 Euro aus, meine Miete kostet 350.«

Acht Jahre früher treffen wir uns zum ersten Mal. Fanzinetreffen in Neuss am Rhein. Man hat sich geschrieben vorher. Schreiben hieß zu jener Zeit, eine Postkarte oder einen Brief in die Post zu geben. Vielleicht mit einem Tape drin, einer Audiokassette, ganz vielleicht auch mit einem Fanzine, das ein Review von einem dieser Tapes enthält.

Ich komme von der Pommesbude zurück auf das von Grün umgebene Gelände. Die Geschwister Scholl haben der inzwischen ehemaligen Schule ihren Namen gegeben. Unser Punkhumor interpretiert die Vornamen sofort in Ahmed und Mehmet um. Drinnen tagt eine Art Buchmesse für selbst gebastelte Hefte, deren fotokopierter Humor so krude ist wie der der Macher im echten Leben. Die Oberhausener Tapeshow-Legende Franz (eigentlich Frank) Herbst ist der Erste, der mit einem veritablen Schweineschnitzel in der Hand vor dem Stand der Veganer, die in einer Endlosschleife Anti-Schlacht-Videos zeigen, herumkaspert. Die »Szene« muss auch nach innen viel aushalten können.

Eine Halfpipe, in der ich später nächtigen werde, steht schräg vor dem alten, massiven Gebäude, das, wie all diese Gebäude, Ruhe und Sicherheit ausstrahlt und einem eine wohlige Art von Respekt einflößt.

Rechts am Portal stehen zwei Jünglinge, die Köpfe eng zusammengesteckt. Der Größere, mit nackenlangem blonden Haar, wirkt, als ob er gerade mit seinen Alten an der dänischen Küste den Sommerurlaub verbracht hätte. Die Strahlen der Sonne schimmern noch in seinem Haar und scheinen bis hierher ins Rheinland mitgebracht worden zu sein.

Der Kleinere trägt etwas längeres, aber ebenso blondes Haar. Von weitem denke ich: »Ein Mädel«, beim Näherkommen: »Oh, ein Kerl!« Beim Aufeinandertreffen in Sprechweite haben sowohl die beiden Blonden als auch ich das gegenseitige Mustern eingestellt und aufgelöst:

»Hi, du bist bestimmt Thees.« – ›Dann ist Thees Uhlmann wohl schwul‹, denke ich. – »Hi, du bist bestimmt Hillu«, erwidert Thees und denkt: ›Oh, wie süß, der schminkt sich die Augen mit Kajal!‹

Vielleicht nennt er mich auch Hillary, je nachdem, welches meiner Staatschef-Gattinnen-Pseudonyme zu der Zeit gerade aktuell ist. Das ist heute nicht mehr zu ergründen.

»Das ist Stemmi, unser Bassist.«

So stehen wir drei schüchternen Typen in der Sonne bei Ahmed und Mehmet vor der Tür und unterhalten uns über punk-typische Themen.

Meine »geschminkten« Augen kommen nicht zur Sprache, erst viele Jahre später. Und obwohl ich in einer Bergarbeitersiedlung aufgewachsen bin, war ich, im Gegensatz zu dem Großteil meiner Kameraden, nie tatsächlich Bergmann, sondern Sohn aus dem Dorf, nicht aus der »Siedlung«. Und hatte demzufolge nie den schwarzen Schatten aus Kohlenstaub um die Augen, den die »Püttrologen« in der Waschkaue so schwer entfernt bekamen und häufig einfach gewähren ließen, um sich die Augen nicht zu zerreiben. Kosmetisch geschminkt waren meine Augen allerdings auch nie.

»Jaaaaahaa«, sagt Thees in seiner vertrauenerweckenden, lang gezogenen, norddeutschen Art, die er immer auflegt, wenn es um wichtigere Fragestellungen, insbesondere organisatorischer Art, geht: »Das klappt! Wir buchen einfach acht Leute durch, und das geht dann schon.«

›Mach dir keine Sorgen‹ klingt da mit, und man hört der Stimme an, dass sie absolut verlässlich ist. In einer Welt, die grundsätzlich, und einer Szene, die insbesondere auf Laber-Rhabarber und tagtäglichem Beschiss basiert, trifft man nicht mehr viele Typen, denen man instinktiv vertrauen mag.

Irgendwann im Winter war der alte Plan, der nicht viel mehr war als eine Idee, konkreter geworden. Die Mischung aus Jugendtraum und Schnapsidee hatte Kontur angenommen.

In knapp zwanzig Jahren Punk hatte ich schon fast alles einmal mitgemacht: all die Konzerte in Squats, Discos und Abfalleimern. All die Musiker, die wir in Beschlag genommen, vollgequatscht und denen wir das Backstage-Bier weggetrunken hatten. Gedived, gepogt, gesoffen und eingepennt. Angerotzt, mit Bierbechern – vollen selbstverständlich – geworfen, Stagedivern die Schuhe ausgezogen, all den Blödsinn hatte man sich gegönnt, entfesselt wie einen der jugendliche Wahn manchmal agieren lässt. Man hatte Fanzines gekauft, geschrieben, geklebt und verschickt. Tausende von Tapes, Singles, EPs und LPs gehört, kopiert – nein, aufgenommen sagte man –, getauscht und abgefeiert. Chaostage organisiert und zelebriert, den Staat in seinen Grundfesten erschüttert und die Polizei provoziert. Und sogar selbst einmal auf der Bühne gestanden. Wirklich nicht der Rede wert, aber abgehandelt das Thema, sozusagen. Immerhin.

Nur eine Band, vielleicht sogar Freunde oder besser noch Helden, auf einer Tour zu begleiten, das war bislang ein unerfüllter Jugendtraum geblieben.

Der Schnapsidee-Part der Geschichte war dann ziemlich primitiv. Stefan, genannt StErn, spricht ihn aus in Berlin, kurz vor dem Jahreswechsel 2002/2003. Er selbst war kurz zuvor zusammen mit Marcus Wiebusch und den Kanadiern von Propagandhi in Südeuropa unterwegs gewesen. Bands auf Touren begleiten, macht er, im Gegensatz zu früher, heute nur noch sehr sporadisch. Jetzt schreibt er Bücher über amerikanische DDR-Barden oder versucht ein anderes Ersatzmittel für seine früher ziemlich intensive Fanzine- und Comicschreiberei zu finden.

Wir sitzen also in einem dieser edlen Kreuzberger Esslokale, in denen man sich als Wessi immer wie ein feudaler Herr vorkommt, sobald man die Preise auf der Speisekarte wohlwollend registriert hat. Ich komme ins Schwärmen, rede von dem Typen, der die Tocotronic-Tourtagebücher geschrieben hat – es ist unser gemeinsamer Freund Thees Uhlmann. Nach der x-ten Berliner Weiße spuckt StErn es in seiner Kreuzberger Herr-Lehmann-Art über den Tisch: »Du bist der Typ, der ein Tourtagebuch schreibt über die Band von dem Typen, der das Tourtagebuch von Tocotronic schrieb.«

Ich bin sofort einverstanden. »Jetzt müssen Tomte nur noch auf Tour gehen. Meinst du, da geht noch mal was?«

HAMBURG, 21.11.97

»...But Alive und Tomte spielen heute in Hamburg!«, ruft Szene-Scout Henna durchs Telefon. Seit ich mit ihm und Marcus Wiebusch, damals noch Frontmann von ...But Alive zwei Jahre zuvor Kalifornien bereiste, habe ich Marcus nicht mehr gesehen. Wir tingeln also kurz entschlossen von Bremen aus an den Südstrand der Elbe – nach Wilhelmsburg.

Irgendwo, mittendrin in einem riesigen, unwirtlichen Hafen- oder Industriegelände, in das sich nicht einmal mehr die berüchtigte Wilhelmsburger Asi-Szene verirrt, steht die Honigfabrik. Betritt man die ehemalige Insektenmaloche, umgibt einen sofort die wohlige Wärme eines Jugendzentrums. Honig in jeder Form scheint gut für die Seele zu sein. Wir haben Henna und Fobs eingeladen und heute den Oi!-Schalk im Nacken. Bereits nach dem zweiten Lied fangen wir an, lautstark »Oi!Oi!Oi!« zu brüllen, und stören immer wieder die Pausen zwischen den Liedern.

Damals schon wurde, völlig punk-untypisch, von Herrn Uhlmann die Unterbrechung nach dem Ende eines jeden Songs genutzt, um die Gitarre immer wieder aufs Neue zu stimmen. Warum es keine stimmstabilen Gitarren gibt, frage ich mich heute noch. Vielleicht ist dieser Moment aber auch eine geheime Absprache unter Gitarristen, die sich damit ein gewisses Etwas an erhabener Distanz verschaffen.

In der gebeugten Haltung, die dieser wiederkehrende Prozess erfordert, mit also nach unten auf die Anzeige des Stimmgerätes gerichtetem Blick, muss Thees das Gespräch mit dem Publikum erfunden haben.

Heute Abend ist es noch ein Dialog, da Thees unsere dummen Sprüche – Henna ist von dem Rumgeprolle nicht so angetan – parieren und toppen muss. »Mir läuft die Suppe aus dem Kopf«, zitiert er Das Bo von den Fünf Sternen Deluxe. Ein bis heute stehender Begriff in Band und Umfeld: die Suppe, die aus dem Kopf läuft. Blut, Rotze, Schwitze – je nach Situation kann sie alles sein.

An diesem Abend hat HipHop-Slang Einzug gehalten in die bandinterne Konversation und ist damit nicht die einzige Reminiszenz an diese Szene geblieben. Man kann sogar sagen, dass Tomte schon immer einen ganz eigenen Bezug zum HipHop hatten. Diese nach außen nahezu unsichtbare Erscheinung soll über all die Jahre bestehen bleiben.

Auf den Abend zurückblickend gesteht Stemmi, dass Tomte ein ziemlich schlechtes Konzert spielten. Was die Band nicht davon abhält, ihre bis dahin höchste Gage einzustreichen.

Marcus Wiebusch erinnert sich: »Ja, das Konzert in der Honigfabrik, das erste gemeinsame Konzert von ...But Alive und Tomte, das war nicht wirklich spektakulär, oder ziemlich schlecht sogar, aber ICH WUSSTE, als ich Thees auf der Bühne sah – das klingt jetzt echt ein bisschen prätentiös –, aber ich wusste, dass er für mehr bestimmt ist.«

Ein paar Wochen vorher hatte das Fanzine Komm Küssen mit Marcus ein Blinddate gemacht: »Da waren just auch Tomte mit ›In Köln und dann in meinem Zimmer‹ dabei. Das ist so ein Boxhamsters-artiger Powersong. Es war solch eine Wohltat, diesen Song zu hören – zwischen all diesen Indie-Schrammel-Bands, die den Kopf nach unten hängen lassen. Eindeutig war das die beste Band auf dem Tape. Ich habe mir dann vom Komm Küssen die Adresse und Telefonnummer von Tomte besorgt, angerufen und denen gesagt: ›Ich bin so begeistert von eurem Song, ich würde euch gerne mal einladen für ’ne Show, damit wir uns mal kennen lernen‹.

Ich wusste schon, als ich den Song gehört habe, dass ich das gerne auf meinem Label B.A. Records hätte.«

Gleich nach dem Auftritt in der Honigfabrik fragt Marcus Wiebusch die Band, ob er das erste Tomte-Album veröffentlichen dürfe.

Stemmi freut sich über Marcus’ Angebot, muss aber zugeben, dass die Band das Ganze nicht besonders ernst nimmt. Zumindest so lange, bis Marcus wenige Tage später anruft: »Was ist denn nun mit der Platte?« Abermals wenige Tage später stehen Tomte bei Christian Mevs, dem Gitarristen der Punklegende Slime, im Soundgarden-Studio. In Thees’ Erinnerung ist das Konzert in Wilhelmsburg seitdem als »der Abend, an dem Marcus uns gesignt hat« einsortiert.

Der Abend ist nach dem Auftritt von ...But Alive noch lange nicht zu Ende. Zunächst geht es nach St. Pauli in den Letzten Pfennig. Die legendäre FC St. Pauli-Fan-Kneipe im Penny-Markt-Layout liegt gleich gegenüber dem Stadion. Draußen ist es ungemütlich kalt, wie selbstverständlich kocht drinnen die Stimmung.

Tür auf, rein in die gute Stube, und schon hat man das Gefühl: »Hurra, wir erleben noch ein weiteres Konzert heute Abend!« Noch eins von diesen herrlichen Winterkonzerten, die die unwirtliche Jahreszeit in Norddeutschland vergessen lassen. Das wohlige Gefühl, das einen sofort umarmt, wenn man einen von Körperwärme erhitzten Schuppen betritt. Sich fühlt wie in Mutters Schoß, oder das, was man dafür halten mag.

Unzählige identisch aussehende schwarze Bomberjacken werden auf den gleichen Haufen neben der Theke geworfen, das nennt sich hier Garderobe. Die Paulianer trinken Sangria-Verschnitt mit langen Ballermann-Trinkhalmen aus einem Plastikeimer, der inmitten des Raums auf einem Barhocker thront und mehrfach nachgefüllt werden muss. In einer Ecke wird ein Schnurrbartträger unter großem Gejohle glattrasiert. Er hat eine Wette verloren, vielleicht aber auch nur im Suff etwas Falsches gesagt.

Die Stimmung erreicht ihren absoluten Höhepunkt, als der DJ die alte HSV-Single »Wer wird deutscher Meister?« auflegt. Ausnahmslos alle Kneipenbesucher können gar nicht anders, als sich der Polonaise anzuschließen. Wie ein brodelnder Suppentopf, der der Choreographie ringförmig lodernder Gasflammen gehorchen muss, pumpt sich der wabernde Körperklumpen durch die kleine Hütte. Kondenswasser und unverdünnte Schwitze laufen an den Scheiben herunter. Völlig ironiefrei brüllt dieses infernalische Tollhaus wie aus einer Kehle die Antwort auf die Frage, die von der Platte schallt: »Wer wird deutscher Meister?« – »Ha, Ha, Ha, Ha Es Vahau.« Der Wahnsinn gastiert heute Abend in der Annenstraße. Bis es kracht.

Merkwürdig kracht. So ein Krachen, wie man es eigentlich nicht kennt und deshalb instinktiv weiß, hier läuft etwas ganz und gar falsch. Die Musik wird ausgeschaltet, jemand brüllt: »Hools!« Und sofort weiß ein jeder wieder ganz genau, was zu tun ist. Raus auf die Straße, den HSV-Hools hinterher, die, nach der Heimniederlage von »Euch Uwes« Club gegen Borussia Dortmund an diesem Abend, den weiten Weg von der Müllverbrennungsanlage bis nach St. Pauli gemacht haben, um im voll besetzten Letzten Pfennig die Scheibe einzuschmeißen. Diesen Mob gilt es mit möglichst üblen Revanche-Fouls umzutreten.

Hinterm Tresen werden Stuhlbeine ausgegeben. Dass die zu bösen Einsätzen kommen, verhindert allein die Tatsache, dass die Eingangstür vom Pfennig einen sehr schmalen trichterartigen Durchlass darstellt.

So gut wie keiner der drängelenden und nicht gerade schmächtigen Paulianer kommt zeitig durch das Nadelöhr. Urplötzlich hat die eben noch ausgelassen tobende Masse ihren Humor vollkommen verloren und würde jetzt allzu gerne körperliche Verweise austeilen.

Die Angreifer allerdings geben reichlich Kniegas und verschwinden auf flotter Sohle in die Nacht. Die ersten Polizeiwagen rollen an. Die Party ist vorbei.

GRAZ, 30.06.03

Endlich ist es so weit. Endlich rein in den Tourbus und das erleben, was DJ Koze vom Hamburger Fischmob in einem Interview mit nur einem beeindruckenden Satz auf den Punkt brachte: »Völlig egal, wie intellektuell und gebildet die Mitglieder einer Band sind, im Tourbus herrscht spätestens zehn Minuten nach der Abfahrt ein Proll-Niveau, das weit niedriger ist als in jeder Bundeswehrkaserne.«

Um Mitternacht soll es losgehen. Wir chillen in Hamburg im Grand Hotel. Aus der Fusion von Marcus Wiebuschs und Reimer Bustorffs Plattenfirma B.A. Records mit Thees Uhlmanns Label Hotel van Cleef entstand das, was sich seitdem, so hochtrabend wie auch wohlklingend, Grand Hotel van Cleef nennt. Drei Männer aus zwei Bands tun im Jahre 2002 das, worüber Ale »Sexfeind« Dumbsky, Entdecker der Absoluten Beginner und seit 15 Jahren Betreiber des legendären Buback-Labels, sagt: »Ihr seid doch die Wahnsinnigen, die auf die Idee gekommen sind, Ende 2002 ein Label zu gründen?« Seitdem der ehemalige Schlagzeuger der Goldenen Zitronen dieses verklausulierte Lob ausgesprochen hat, rangiert das Grand Hotel van Cleef bei den Leserpolls in »Spex« und »Intro« auf Platz 1.

Im allgemeinen Insider-Sprachgebrauch wird das Headquarter des Grand Hotel van Cleef, vis-à-vis vom Bunker Feldstraße gelegen, schlicht Grand Hotel genannt. Man kann sich das Leben so einfach schön machen. Wir können sagen, wir treffen uns im Grand Hotel. Andere Menschen gehen ins Büro.

Kurz vor Mitternacht lungern wir im Grand-Hotel-Büro. Vertreiben uns die Zeit mit Gala, dem Hochglanz-Society-Fanzine, und portugiesischen Internetseiten, die der Welt lächerlichste, mundgemalte Nazitattoos präsentieren. Wir lachen herzlich über den Unsinn, den Thees da gerade aus dem Netz befördert.

Dann geht es endlich los. Im mickrigen 60er-Jahre-Fahrstuhl runter zum Bus, der gar keiner ist, sondern ein Volvo 40 Kombi. Die beiden Superlangen falten sich vorne in die erste Reihe: Gerne am Steuer und Timo sitzt bei. Hinten, im winzigen Raum zwischen den beiden Riesen und der übervollen Gepäckablage, kauern Maxe, Thees und ich. Was für eine Scheiße, was für ein winziger Kombi, und wie soll hier um 0:10 Uhr die formidable Stimmung aufkommen, die Cozy Koz, alias DJ Koze, heraufbeschworen hatte?

Auf der Fahrt hören wir Coldplay und Buzzcocks, ich schlafe darüber ein. Und wache wieder auf – bei Tomte. Die CD im Player springt fürchterlich.

Jetzt ist die ›Hinter all diesen Fenstern‹ noch relativ neu. Und wird auch von der Band selbst im Bus gern mal gehört.

Zusammengekrümmt, im Halbschlaf, überlege ich, warum genau dieses Album nicht mal mit einem klassischen Orchester eingespielt wird? Doch die wenigsten Halbschlaf-Ideen, unbedeutend, ob sie während einer Autofahrt oder im bequemen Bett geboren werden, sind tatsächlich brauchbar. Es sei denn, man ist Metallica. Weil Metallica solche Ideen dann auch tatsächlich umsetzen und ein Album in der Philharmonie einspielen. Am Ende heißt die Gosse, in der man landen kann, Smirnoff – die Hölle der Kartoffelschnaps-Komposition. Fragen Sie zum Thema doch einfach mal James Hetfield.

Thees sitzt (mindestens genauso krumm wie ich) neben mir auf der Rückbank. Diese modernen Autos haben im Grunde genommen gar keine Rückbank mehr. In der Mitte des Fahrzeuges hat die Sitzbank immer eine Wulst, eine Erhebung. Als Kind in Vaters Renault R4 hätte man das sicher toll gefunden, um besser mit den Eltern vorne sprechen zu können. Oder hinaussehen auf die Fahrbahn und den Verkehr voraus. Mit drei erwachsenen Kerlen auf der Rückbank allerdings wünscht man sich eins von den durchhängenden Autosofas, aus denen man mit dem Arsch kaum mehr hochkommt.

Laufend versendet der Herr Uhlmann SMS. Ein Phänomen! Wir fahren schon mindestens zwei Stunden Richtung Süden, und der schickt und erhält eine SMS nach der anderen. Permanent blinkt seine alte Funkpeitsche, die er ergonomisch geschickt zwischen die Hände gesteckt hat. Kauernd nach vorne gekrümmt fallen ihm die Haare ein wenig ins Gesicht, bis ich endlich bemerke, dass er schläft. »Oh Mann, der schläft schon die ganze Zeit! Das Telefon blinkt einfach nur, weil es in Betrieb ist … Jesus!«

In diversen Stellungen, in allen Stellungen zu schlafen ist eine Fähigkeit, die man bei der Bundeswehr lernt. Ich selbst war nie in der Armee, weiß aber von meinem Bruder, dass er bei der Marine gelernt hat, selbst auf dem laufenden Schiffsdiesel im Maschinenraum zu schlafen. Mit Geschick kann man diese Fähigkeit auch im Tourbus lernen. Zumindest in den verschiedenen Fahrzeugen dieser Österreich-Tour.

In Bayreuth treffen wir am frühen Morgen am Zielobjekt ein. Timo und Max fallen aus dem Auto direkt auf eine Wiese und bleiben dort liegen.

Eine mittelalte Dame führt ihren kleinen Köter durch das hässliche 70er-Jahre-Universitätsambiente, in das uns die nächtliche Reise gespuckt hat. Baracken, die dauerhafte Einrichtungen zu sein scheinen, und Betongebäude, die mit bunten, an die Fassade montierten Stahlrohrelementen eine architektonische Idee vorschützen sollen, sind die Kulisse, mit der sich Studenten in Bayreuth arrangieren müssen. Und mit mittelalten Damen, die frühmorgens ihre Hunde an der Leine ausführen. An kaum getourten und doch gerädert auf der Wiese liegenden jungen Männern vorbei.

Aus der Baracke um die Ecke kriechen Minuten später ein paar fertige Gestalten. Sind das Studenten oder Dozenten? Die Baracke, die hier als Studentenclub dient, lässt eine üble Mischung aus schalem Bier, kalten Kippen und studentischem Fußgeruch in die Morgenfrische strömen. Die jungen Männer mit der spärlichen Frische im Antlitz sind Marr, es sind André Frahm, Jan Elbeshausen, Dennis Becker und Olli Koch.

Dennis Becker und Olli Koch sind neben Marr aber auch Tomte. Die Schnittmenge aus Tomte und Marr heißt Olli und Dennis. Dennis und Olli. Becker und Kochwurst. Oder wie Gerne sagt: die Brillos. As in: »Wo sind denn jetzt schon wieder die Brillos?«

Heute Morgen löst sich diese Konstellation wie folgt: Mischer Mauffi, der unausgeschlafene Dennis und der schwer gezeichnete Olli bilden mit der gesamten Volvo-Besatzung die Crew für die nächsten acht Tage. Der Volvo wird aus- und wieder voll gepackt und reist mit Jan und André zurück nach Hamburg.

Der Bus, der Marr nach Bayreuth gebracht hat, fährt weiter nach Österreich. Er ist laut Vermieter auf seiner letzten Reise. Schön, wenn man bei so einem Ereignis mit dabei sein darf.

Ein Scheinwerfer des Mietfahrzeuges ist mit Tesafilm geklebt, ein Rücklicht muss mit gezielten Handkantenschlägen reaktiviert werden, und die achtzig Pferdestärken unter der Haube dieses frühen 208er Sprinters sind nicht wirklich ausreichend, um damit die Berge zu erobern.

Schon in Bayern quält sich die alte Krücke mit sechzig Stundenkilometern die Steigungen hoch. Der Ritt nach Graz wird länger dauern als gedacht. Gerne und Timo steuern den Trümmerhaufen. Dann sitzt Timo wieder hinten, auf einer der wahllos in den Bus gewürfelten Rückbänke, die von unterschiedlichen Herstellern zu stammen scheinen. Seine Schwiegermutter hat ihm ein Wunderwerk der Paramedizin beim Homeshopping-TV ergattert: eine Schaumstoff-Nackenkrause mit Vibrationsfunktion. Man legt sich diesen wirbelunterstützenden Kragen um den Hals und verschließt ihn mittels Klettband. Stellt man allerdings die Vibration, in der Produktbeschreibung hieß es garantiert »Massage«, ein, werden einem derart die Gehirnzellen zerwirbelt, dass man auf der Stelle dumm wird. Zum Glück sind nach nicht einmal zwei Stunden die Batterien alle, und die Krause wird fortan ohne Strom getragen. Am besten steht sie Timo, in Kombination mit seiner Frisur gibt sie ein außergewöhnlich gutes Bild ab.

Der Tag wird heiß. Olli rollt sich neben der Schiebetür auf dem Boden zusammen und holt Schlaf nach. Er hatte nur eine halbe Stunde gehabt. Verkehrssicherheitstechnisch vielleicht nicht ideal, aber zumindest für ihn erholsam, liegt er da. Um 14 Uhr nimmt er schließlich sein Frühstück ein. Gestärkt von Almdudler und einem Brötchen berichtet er vom Vorabend. Bevor Marr ihre Zugabe spielen, musste Olli schnell von der Bühne aufs Klo rennen, abkotzen, zurück auf die Bühne. Mundabputzen, weitermachen. »Früher, als ich in zwei Hardcore-Bands hintereinander gespielt habe, hatte ich das auch oft.« – »Vor Aufregung?« – »Keine Ahnung, vom Alkohol jedenfalls nicht, da war ich nämlich noch straight edge. War aber super gestern«, urteilt er mit kindlich enthusiastisch aufgerissen Augen und schickt ein entwaffnendes Lächeln hinterher. Ich fange an, diesen Typen zu mögen. Allein wie der aussieht: Übernächtigt, in seinem von Batteriesäure angefressenen braunen Mantel, der vielleicht vor dreißig Jahren mal schick war, lugt er durch eine Stahlrohrbrille aus der Kapuze hervor. Herrlich!

Endlich Graz. Die reine Fahrzeit von Hamburg liegt jetzt bei 13 Stunden. Tomte spielen auf den Jugendsportfesten aller Länder der Welt. Oder so ähnlich. Wir steuern das Gelände an, sehr viele junge Leute tummeln sich zwischen Sportplatz und Schwimmbad in dem Festzelt. Die Vorfreude im Bus auf der Fahrt ins Hotel ist groß: »Das glaubt uns heute wieder keiner: Hunderte von jungen Mädchen – mit kaum was an!«

Im Hotelfoyer direkt am Bahnhof spielt sich die mit Nachdruck auf Eindruck machende Rezeptioneuse vor einem großen Foyer-Spiegel in den Haaren herum. In den Sesseln gegenüber lungern wir acht ausgelaugten Deutschen. Das heißt, mindestens zwei von ihnen liegen auf dem dicken Lobby-Teppich herum, weil nicht ausreichend Ledermöbel zur Verfügung stehen. Ein schönes Bild, leider kommen um die Uhrzeit nur wenige andere Gäste durch die Drehtür. Nach zwanzig Minuten ist endlich geklärt, das »Tomdä« doch zwei ganze Nächte lang, die überdies schon bezahlt sind, in diesem Etablissement wohnen dürfen. Eine Klimaanlage gibt es nicht, Ventilatoren werden auf Wunsch im Zimmer aufgestellt.

Im Foyer des Hotels zur Post in Graz folgt eine kurze, aber weittragende Auseinandersetzung zwischen Timo und Thees. Timo sagt bei der Schlüsselvergabe kurz und trocken: »Komm, Max, wir nehmen ein Zimmer.« Das bringt den Uhlmann auf die Palme. Wie eine abgelegte Ehefrau, nach zwanzig Jahren gemeinsamem Ehebett, fällt er aus allen Wolken: »Was soll das denn, Bodo? Das ist ja wohl nicht dein Ernst!«

Wie oft wir die Rezitation dieses Momentes in den nächsten Monaten, sogar Jahren, noch hören sollen! Bei jeder Schlüsselvergabe, in jedem neuen Hotel eigentlich, wird Thees daran erinnern, wie Timo ihn in Graz abserviert hat. Mit nur einem Satz. Und der unfassbar lapidaren Begründung: »Thees, ich hab da kein Bock mehr drauf.«

Nicht lange zuvor war Thees mit einem halben Bier in der Hand im Hotelbett eingeschlafen. Dabei hat sich die Bierflasche langsam und unbemerkt geneigt und schließlich in das gemeinsame Bett der Herren Uhlmann und Bodenstein ergossen. Diese Bierpfütze hat auf ewig einen Keil zwischen die beiden getrieben.

Mein persönlicher Dank geht an dieser Stelle raus an Beck’s Bier, den Abfüller der schicksalsbestimmenden grünen Flasche. Von dem Tag an, an dem Timo mit Thees Schluss gemacht hat, wegen Bier, durfte ich nämlich mit Thees das Zimmer teilen. Das Verschütten von Bierflüssigkeit im Bett hat sich übrigens bis heute nicht wiederholt.

Zumindest hier in Graz wäre es auch schwierig geworden, mich im Halbschlaf mit Bier anzufeuchten, sind die beiden Einzelbetten doch weit auseinander, an gegenüberliegende Wände gerückt.

Sollten Österreicher etwa prüde sein? Neben dem Hotel steht ein riesiges Old-School-Pornokino, in dessen Auslage das zwei Meter breite Bild einer nackten Dame zu sehen ist. Zwischen ihren gespreizten Schenkeln, ähnlich der Ritze auf Hamburg St. Pauli, aber nicht gemalt, sondern fotografiert, hat jemand ein großes Loch ausgespart.

Genau dort wurde ein Minifernseher platziert, Bildschirmdiagonale geschätzte 9,8 cm, auf dem ein paar ausgewählte Pornoszenen als immer wiederkehrender Loop abgespielt werden. Ich habe keine Ahnung, wie katholisch man hier ist.

Vielleicht stehen die Betten in unserem Hotelzimmer aber auch nur deshalb so weit auseinander, weil die Zimmer auf »Starmania« gebucht sind. So begrüßt uns das Hotel-Infosystem am Bildschirm – der etwas größere im Hotelzimmer, nicht der kleine im Kinoschaufenster. »Starmania« ist übrigens die Abkürzung für »Österreich sucht den Superstar«.

Ich reiße das Fenster auf für ein bisschen frische Luft in dem stickigen Zimmer in der stickigen Stadt und schaue über den Bahnhofsvorplatz. Sieht merkwürdig leer aus. Thees erklärt mir die drei wichtigsten Tour-Regeln: »Erstens: What’s in the bus stays in the bus, da dringt nichts nach draußen!« Das Zweitens habe ich vergessen, und bei Drittens hatte der Schalk die Ernsthaftigkeit des (um Diskretion bemühten) Bandleaders Uhlmann schon wieder überwunden. Mit Blick aus dem Fenster fordert er:

»Drittens: Österreicher verarschen!« Während ich Zweitens ja ohnehin vergessen habe, nehme ich mir fest vor, Erstens zu missachten. Worüber soll ich denn sonst berichten? Ein Tourtagebuch muss doch Innereien preisgeben, Geschichten erzählen und Geheimnisse ausspucken. Da sollte doch etwas passieren, das interessiert doch sonst niemanden. Nachher endet die Geschichte bei 19-Zoll-Gerede, Gitarren-Tabulatoren und irgendwo im Themenspektrum des »Fachblatt Musik Magazin«.

Abends im Zelt ist es immer noch brütend heiß. Es gab kaum lokale Promotion für den Gig, auch sind die meist jugendlichen Sportler schon zurück in ihren dezentral liegenden Unterkünften. Die Stimmung ist dennoch gut, der Auftritt ist okay. Als T-Shirt-Verkäufer werde ich um Autogramme gebeten.

Ui, was für ein Anfang. Es soll in der Folge aber nur noch ein weiteres Mal vorkommen, dass ich nach einer Unterschrift gefragt werde. Tomte hat es »total Spaß gemacht. Wir sind 13 Stunden gefahren, nur um für euch zu spielen!« So viel Sportsgeist kommt an. Nach Tomte steigen Angelika Express aus Köln auf die Bühne. Zu den beiden Feierkönigen vom Vorabend, Dennis und Olli, gesellt sich für die heutige Nacht Maxe Schröder hinzu.

In der Tiefe der tagähnlich warmen Nacht spielt Dennis mit seinem Jutebeutel, vom sportlichen Ambiente inspiriert, Hammerwerfen. Genaueres lässt sich später nicht mehr rekonstruieren. Auf jeden Fall hat Dennis seinen Beutel, gar nicht aus Jute, sondern so ein herkömmlicher Baumwoll-Einkaufssack, weggeschleudert. In hohem Bogen. Inklusive Geldbörse und Hotelschlüssel. Anderthalb Tage später taucht alles wieder auf.

Die klügste Entscheidung des Abends trifft Maxe. Von zahlreichen im Zelt aufgebauten Promotion-Inseln für weiß der Geier welches Produkt entwendet er einen schicken orangefarbenen Stoff-Strandstuhl mit einer ansteckbaren Fußablage.

Unser Dank gilt dem unbekannten Sponsor, der eigentlich im Zelt mit ein bisschen Sand und Palmen und eben diesen orangefarbenen Stühlen eine Relaxo-Atmosphäre schaffen wollte. Aufgrund der langen Finger des Visionärs Schröder landete der Stuhl allerdings in unserem Tourbus, leistete von da an unbeschreibliche Dienste und lehnt bis zum heutigen Tage zusammengeklappt und aufrecht lagernd, aber jederzeit einsatzbereit im Grand Hotel van Cleef. Für den Fall, dass Tomte noch einmal einen Uralt-Sprinter erwischen sollten, dessen dritter Sitzplatz vorne total unbrauchbar ist, weil der Schaltknüppel mit langem Schaft aus der frühen Baureihe genau da verankert ist, wo die Füße des neunten Mannes hin sollen … Dass es solche Autos heute überhaupt noch gibt!

Der nächste Tag in Graz ist das, was man einen Off-Day nennt. Ein unsichtbarer Tag, ein nicht vorhandener Tag. Ein Tag ohne Auftritt halt. Musiker-Wochenende. Samstag gehört Vati uns. Off-Tage sind wirtschaftlich für Bands nicht gut. Sie mögen willkommen sein, wenn einem eine lange Strecke oder mehrere Tourwochen in den Knochen stecken. Aber selbst dann sind solche unproduktiven Pausen eher ein notwendiges Übel.

Normalerweise wird irgendjemand krank an einem Off-Day. Erkältung oder ähnliche Lästigkeiten treten auf. Man kommt aus dem Rhythmus, lässt die eigenen Disziplinzügel ein wenig schleifen, und schon dankt es einem der Körper mit Ausfallerscheinungen.

Nach nur einem Tag Tour schon einen Off-Day zu haben, ist natürlich nicht ganz so gefährlich. Um uns selbst zu gefährden, gehen Timo und ich in das riesige Freibad und setzen uns, ohne Sonnencreme zu applizieren, auf die Betontribüne. Wie herrlich dieses zum Bersten gefüllte 70er-Jahre-Schwimmbad anmutet. Kindheitserinnerungen an frühere Urlaube werden wach. Wenn man mit den Eltern in der deutschen Provinz war, dort, wo es keine Baggerseen gab, sondern zur Erlösung von der Sommerhitze ein künstliches Freibad.

Millionen von Bikinis tummeln sich um uns herum. Eine famose Geräuschkulisse, steiersche Tätowierkunst für das Auge und klassische Bademeister, die so tun, als würden sie den Überblick im Getümmel behalten.

Die Lichtreflexionen auf dem Wasser im himmelblauen Becken nehmen einem fast das Augenlicht. Ich mag diese Momente, in denen man drogenlos weggeflasht wird. Wir reden stundenlang über das Kochsein und Kochen, Kinderhaben und -kriegen und Timos Standbein für die Zukunft, seine Idee von einem Supreme-Imbiss. Eine Edel-Pommesbude, etwas in der Art. Ich habe nur eine vage Vorstellung, wie das sein könnte, aber es könnte gut werden.

Graz selbst ist in diesem Sommer Kulturhauptstadt Europas, dieser Status schwingt an allen Ecken und Enden mit und hat nicht zuletzt auch uns hierher gebracht. Das merkwürdige Gebäude, der Kunstpalast, ist noch nicht fertig, das schwimmende Gebäude im Fluss dagegen ausgerechnet heute nicht geöffnet. Begnügen wir uns also damit, den herkömmlichen alten Schlossberg, schwitzend wie die Schweine, zu erklimmen. Von hier oben hat man Aussicht auf das Arnold-Schwarzenegger-Stadion. Seit den letzten Hinrichtungen überlegen die Grazer, das Stadion umzubenennen. Es ist heiß. Immer noch.

Alles ist Kunst und Kultur in der Stadt, wirkt aber auch irgendwie aneinander gereiht. Beim Einkauf sind wir mehr oder weniger erfolglos, amüsieren uns aber über spezielle Entdeckungen wie »Po-sitiv denken« und Gummineger.at, ein renommiertes Geschäft aus der Branche der Aufblasartikel. Bei einem Imbisswagen – nicht edel, aber mit Social Distortion-Sänger Mike Ness als Verkäufer – gönne ich mir eine von diesen Würsten mit Eiter. Sie schmeckt sehr gut.

Abends auf dem Zimmer lerne ich kennen, was abends auf dem Zimmer bei Tomte auf Tour immer passieren soll. Die Hotels unserer Preisklasse haben durchweg keine Hotelbars, also zumindest keine, die zu Tomte-Zeiten, das heißt bis weit nach Mitternacht, geöffnet sind. Selbst wenn sie es sind, dann halten sie einen mit völlig abtörnendem Ambiente erfolgreich fern: ein Barkeeper, der bereits demonstrativ die Gläser poliert und mit nach außen gekehrter Miene rechtschaffene Müdigkeit signalisiert. Dazu meist abgedunkeltes Licht, damit ja keine Fliegen, geschweige denn Trinkwütige zu später Stunde auf die Existenz dieses Ausschankes aufmerksam werden. Nichts, aber auch gar nichts von dem, was sich immer so spannend anhört: Das haben Udo Lindenberg und Bruce Springsteen tief in der Nacht an der Hotelbar ausgetüftelt. Völliger Unsinn.

Bei Tomte ist wundersamerweise immer ausreichend Bier auf einem ausgewählten Zimmer. Dieses Zimmer ist drolligerweise meist das von Thees und mir (weil bei uns Rauchen erlaubt ist). Und hier findet dann der gesellschaftliche Teil des Abends statt, der sich oft bis zum frühen Morgen hinzieht.

So weit waren die zwei Tage Graz ja ein netter Urlaub. Doch jetzt wär’s mal wieder Zeit für eine gehörige Portion Rock and Roll.

WIEN, 02.07.03

Der Weg nach Wien ist warm. Wir werden in der Metropole mit einem veritablen Vier-Spuren-Stau empfangen. Richtig abartige Staus dieser Art sollen selten wieder vorkommen. Der Berufsverkehr für Musiker hat andere Zeiten als derjenige der Büromenschen.

Es geht in den legendären Fürstenhof. Drei Etagen mondänes Hotel von gestern mit einem Fahrstuhl von vorvorgestern. Die Nachtportiers dieses Familienhotels sind bekannt für ihren Durst, und bislang hat noch jede Band ihre CD am Tresen abliefern müssen. Das finden die gut, die Portiers. Und die Bands selbst auch.

Fährt man mit dem Aufzug ganz nach oben, kommt man an die Tür eines mysteriösen »Institut für wissenschaftliche Schicksalsforschung«. Max und ich sind höchst interessiert und wollen gerne erfahren, was sich hinter der Tür verbirgt, allein die Zeit dazu haben wir nicht.

Wir müssen zum Chelsea, der Club liegt einen kurzen Fußweg vom Hotel entfernt. Heute gibt es Brötchen und Buy-Out zu essen. Letzteres bedeutet im Rock’n’Roll-Latein, das in erster Linie aus englischen Wörtern besteht, dass es kein Abendessen für die Band gibt. »Hier sind 12 Euro für jeden, kauft euch selbst was an der Ecke!«

Ich entscheide mich abermals für eine »Eitrige«, also eine Käsekrainer, bei der nächstgelegenen, derbe asigen Würstchenbude. Kostet auch nur 3,20 Euro, der Genuss. Dabei ist der Aufpreis für das brötchenähnliche Beistück schon inbegriffen. Auffuttern, der Hunger treibt’s hinein, und dann schnell runterspülen mit einem der warmen Biere aus dem Club.