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So hat sich Jesus seine Geburtstagsfeier ganz bestimmt nicht vorgestellt Jahr für Jahr zur Weihnachtszeit sind die Zeitungen voll mit Geschichten, die eigentlich gerade an Weihnachten nicht passieren dürfen: Das Fest der Liebe artet aus zu einem Spektakel der Pleiten und Pannen und Peinlichkeiten. Die allerschönsten stehen in diesem Buch. Eine Million Touristen besucht jährlich die sogenannte Geburtskirche von Jesus Christus in Bethlehem. 2009 will auch eine Pilgergruppe aus Nigeria die Kirche besichtigen, allein: Die Türe bleibt verschlossen. Aus dem Inneren sind erregte Stimmen zu hören. Bald treffen Polizisten ein und verschaffen sich Zutritt, die Nigerianer folgen ihnen. Der Anblick könnte wundersamer nicht sein: Armenisch-apostolische und griechisch-orthodoxe Mönche schlagen mit Besen und Kehrschaufeln aufeinander ein. Ein uralter Zwist um das Hausrecht in der Geburtskirche, der alljährlich beim Hausputz an Weihnachten wieder ausbricht, ist die Ursache. Jörg Metes hat unglaubliche, aber wahre Geschichten von Weihnachtskatastrophen aus aller Welt gesammelt. Er erzählt von einer Haftanstalt in Arizona, in der die Häftlinge den Direktor verklagen, weil der sie den ganzen Tag mit Weihnachtsliedern beschallen lässt, von Riesenrädern, die auf deutschen Weihnachtsmärkten auch häufig dann schon stehen bleiben, wenn die Fahrt noch gar nicht beendet ist, und von einer 13 Meter hohen Weihnachtsziege im schwedischen Gävle, die seit 28 Jahren immer und immer wieder Feuer fängt. Man bekommt in einer höchst tröstlichen Fülle von Beispielen vor Augen geführt: Weihnachten geht auch bei anderen Leuten schief.
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Seitenzahl: 134
Veröffentlichungsjahr: 2010
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Inhalt
Vorwort
Sonderkommission PlätzchendiebstahlWeihnachtskatastrophen aus Deutschland
Die Auferstehung der WeihnachtsziegeWeihnachtskatastrophen aus Europa
Der Kirchenchor der HölleWeihnachtskatastrophen aus Afrika
Jingle Bells vor GerichtWeihnachtskatastrophen aus Amerika
Sternsinger unter Beschuß
Weihnachtskatastrophen aus Asien
Angriff der WeihnachtsmännerWeihnachtskatastrophen aus Ozeanien
Nachwort
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Vorwort
Weihnachten – ein Spiel mit dem Feuer
Alle Geschichten in diesem Buch sind wahr. Alle beruhen sie auf Meldungen und Berichten, die in seriösen Medien zu lesen waren. Alle handeln sie von Dingen, die schiefgegangen sind. Und alle haben sie sich in der Weihnachtszeit zugetragen.
Es gibt sehr vieles, was an Weihnachten – und nur an Weihnachten – schiefgehen kann. Weihnachtsbräuche bergen Gefahren, die anders sind als andere. Ärzte, Psychologen, Juristen, Polizisten, Versicherungsexperten und Feuerwehrleute sprechen Jahr für Jahr aufs neue Warnungen aus, aber das nötige Gehör finden sie nicht.
Die Liste der Bescherungsunfälle, mit denen es die Ärzte in den Notaufnahmen jedes Jahr zu tun haben, ist lang. Selbst einen einfachen Pullover mit Reißverschluß kann man sich falsch über den Kopf streifen – und, wie aus England berichtet wird, im Reißverschluß dann das Augenlid einklemmen. Ungeahnte Gefahren gehen, wie wir ebenfalls aus England hören, zum Beispiel von einfachen Fotokopiergeräten aus. Die Glasscheibe eines Kopierers, so warnt der britische Gewerkschaftsbund TUC, halte nicht jedem Körpergewicht stand. Wer, wie es bei britischen Betriebsweihnachtsfeiern offenbar nicht unüblich ist, eine Fotokopie seines nackten Hinterteils machen wolle, könne das Glas zum Brechen bringen und sich Schnittverletzungen zuziehen.
Was schiefgehen kann, das geht auch schief. Weihnachtsfeiern arten aus, Weihnachtsbäume stürzen in Weihnachtsmärkte, Weihnachtsmänner fallen aus der Rolle, Weihnachtsgeschenke entzweien Familien, Weihnachtsmusik treibt Menschen in den Wahnsinn. Weihnachtszeit ist Krisenzeit. Die Krisenspezialisten warnen, aber nicht einmal sie selbst bleiben verschont. Das vielleicht warnendste Beispiel von allen hat vor Jahren die Feuerwehr von Grand Blanc gegeben, einer Gemeinde im US-Bundesstaat Michigan.
Die Feuerwehr wollte vorführen, wie gefährlich Weihnachtsbaumbrände sind. Sie wollte es für die Kameraleute zweier lokaler Fernsehsender vorführen. Die Vorführung fand in einem leerstehenden alten Haus statt. Die Feuerwehrleute stellten in einem Raum im ersten Stock einen Weihnachtsbaum auf, setzten ihn in Brand und ließen die Kameraleute filmen. Der Brand freilich entwickelte sich heftiger als geplant. Er geriet außer Kontrolle, die Feuerwehrleute forderten die Kameraleute auf, das Haus sofort zu verlassen, doch die Kameraleute filmten weiter. Sie wandten sich erst zur Flucht, als sie vor lauter Rauch schon nichts mehr sehen konnten. Sie stolperten über ihre eigenen Kabel und stürzten die Treppe hinunter. Innerhalb einer Minute stand das gesamte Haus in Flammen. Für die Feuerwehr endete die Vorführung mit einem Großeinsatz, für die beiden Kameraleute, den Chef der Feuerwehr und einen seiner Männer im Krankenhaus.
Alle Geschichten in diesem Buch sind wahr. Alle sind sie für diejenigen, die in ihnen vorkommen, eher peinlich. Alle bieten sie gleichwohl zumindest den einen kleinen Trost: Es hat in ihnen zwar viele Verletzte gegeben, aber nicht einen einzigen Toten.
Weihnachten ist eine Katastrophe. Doch wir können sie überleben.
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Frankfurt/Main
Sonderkommission ermittelt in Plätzchendiebstahl
Es begann mit ein paar Weihnachtsplätzchen und wuchs sich zum wohl spektakulärsten Kriminalfall des Jahres aus. Vertrauliche Daten von 130000 deutschen Kreditkartenbesitzern gerieten in falsche Hände. Die Landesbank Berlin bildete einen Krisenstab, die Landeskriminalämter von Berlin und Hessen bildeten Sonderkommissionen, und der Unterausschuß Datenschutz des Berliner Abgeordnetenhauses trat zu einer Sondersitzung zusammen. Es war, wie ein Mitglied des Ausschusses es formulieren sollte, ein »Super-GAU«. Bei einer Frankfurter Tageszeitung war eine Paketsendung mit 130000 Kreditkartenabrechnungen auf Mikrofilm eingegangen, und eine Woche lang konnte niemand sich erklären, warum.
Den beiliegenden Dokumenten zufolge stammten die Mikrofilme von einer Datenverarbeitungsfirma in Frankfurt und waren für die Landesbank in Berlin bestimmt. Dem Adressaufkleber zufolge kamen sie von einem Unternehmen in Stuttgart und sollten an den Chefredakteur der Zeitung in Frankfurt gehen. Das Stuttgarter Unternehmen hatte weder mit der Datenverarbeitungsfirma noch mit der Landesbank etwas zu tun und konnte glaubhaft darlegen, dem Chefredakteur zwar in der Tat ein Paket geschickt zu haben, aber lediglich eines, das etwas Weihnachtsgebäck und Schokolade enthielt. Die Polizei stand vor einem Rätsel. Wie waren die Mikrofilme aus Frankfurt in ein Paket aus Stuttgart gelangt?
Die Polizei vernahm Mitarbeiter der Datenverarbeitungsfirma und der Bank sowie des Kurierdienstes, der das Paket mit den Mikrofilmen zugestellt hatte. Der Bundesdatenschutzbeauftragte kam zu der Einschätzung, daß auf dem Gebiet des Datendiebstahls eine »neue kriminelle Dimension« erreicht sei. Es war zwar eine Einschätzung, die nur eine Woche Bestand haben sollte, aber in dieser einen Woche teilte sie so gut wie jeder. Der stellvertretende Berliner Datenschutzbeauftragte verlangte eine Verschärfung des Datenschutzgesetzes, die Bundesjustizministerin forderte eine personelle Aufstockung der Datenschutzbehörden, der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion forderte gar die Einrichtung einer eigenen Datenschutzpolizei. Und alle waren sie entrüstet über den Leichtsinn der Datenverarbeitungsfirma: Die Mikrofilme für die Landesbank waren in einem ganz normalen Paket und auf dem ganz normalen Versandweg verschickt worden. In Zukunft, forderte der Berliner Beauftragte, müßten für einen Transport von sensiblen Kundendaten dieselben Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden wie etwa für einen Geldtransport.
Die Entrüstung schien berechtigt, doch bei der Lösung des Falls half sie nicht weiter. Wie und warum hatten die Datendiebe sich die Mikrofilme verschafft? Wie und warum hatten sie die Filme an den Chefredakteur weitergeleitet? Und wo war überhaupt das Weihnachtsgebäck aus Stuttgart abgeblieben, das der Kurierdienst dem Chefredakteur ursprünglich hätte überbringen sollen? – Während die Politik in Berlin über Datenschutz im allgemeinen diskutierte, interessierte die Polizei in Frankfurt sich mehr und mehr für den Kurierdienst und für die Wege, die ein Paket nimmt, wenn es von Stuttgart nach Frankfurt oder von Frankfurt nach Berlin verschickt wird. Während sich im Abgeordnetenhaus in Berlin die Mitglieder des Untersuchungsausschusses Datenschutz auf ihre Sondersitzung vorbereiteten, meldeten sich bei der Polizei in Frankfurt zwei Mitarbeiter des Kurierdienstes, die etwas zu gestehen hatten. Und während der Untersuchungsausschuß in Berlin noch tagte, verschickte die Staatsanwaltschaft in Frankfurt bereits eine Pressemitteilung. Des Rätsels Lösung hatte mit den Mikrofilmen gar nichts zu tun. Der Schlüssel zur Lösung war es gewesen, den Fall nicht als Daten-, sondern vielmehr als Plätzchendiebstahl zu behandeln.
Das Geständnis, das die beiden Mitarbeiter des Kurierdienstes ablegten, war umfassend. Wir wissen heute recht genau, wie es geschehen konnte, dass sich eine Paketsendung von Frankfurt nach Berlin in eine von Stuttgart nach Frankfurt verwandelt. Die Verwandlung hat in einer Sammelstelle des Kurierdienstes in Mainz stattgefunden. Die beiden Mitarbeiter waren Kurierfahrer. Sie hatten insgesamt sechs Pakete mit Mikrofilmen von der Datenverarbeitungsfirma abgeholt, sie hatten sie für den Weitertransport nach Berlin in die Sammelstelle gebracht, und sie hatten sich unter den Paketen, die dort wiederum zur Auslieferung in Frankfurt bereitlagen, nach einem umgesehen, das etwas Essbares enthielt. Die Fahrer waren hungrig. Dass das Paket für den Frankfurter Chefredakteur Weihnachtsgebäck enthalten musste, erkannten sie gleich; dass sich in den Paketen für die Berliner Landesbank vertrauliche Kundendaten befanden, ahnten sie nicht einmal. Im Gegenteil: Die Pakete für die Landesbank sahen aus, als käme es auf eines mehr oder weniger nicht an. Der Kennzeichnung zufolge enthielten sie lediglich Briefumschläge. Und also stahlen die Kurierfahrer das Plätzchenpaket und klebten, um für den Chefredakteur irgendeine Ersatzsendung zu haben, das Etikett aus Stuttgart auf eines der vermeintlich unwichtigen Pakete nach Berlin.
Die beiden Kurierfahrer sind offensichtlich nicht eben die hellsten Köpfe gewesen. Als einen Vorstoß in eine neue kriminelle Dimension konnte man ihre Tat nun wirklich nicht bezeichnen. Der angeblich größte Datenskandal des Jahres entpuppte sich als der in Wahrheit allergrößte Fehlalarm. Und sogar noch dümmer als die beiden Kurierfahrer standen mit einemmal alle diejenigen da, die den Alarm ausgerufen hatten: Politiker, Datenschützer und Journalisten.
Für ihre Dummheit freilich bestraft worden sind am Ende allein die beiden Kurierfahrer. Ein halbes Jahr später sprach sie das Amtsgericht Frankfurt des sogenannten Diebstahls geringwertiger Sachen schuldig und verurteilte den einen zu einer Geldstrafe von 720, den anderen zu einer von 960 Euro. Der Frankfurter Chefredakteur dagegen, der das angeblich »gigantische Datenleck« auf der Titelseite seiner Zeitung überhaupt erst öffentlich gemacht hatte, erhielt nicht einmal einen Bußgeldbescheid wegen groben Unfugs. Niemand erhielt einen. Kein Untersuchungsausschuss hat sich je mit der Frage befasst, inwieweit ein Datenschutzbeauftragter, der Kundendaten nur mehr in gepanzerten Fahrzeugen transportieren lassen will, überhaupt noch zurechnungsfähig ist. Die beiden Kurierfahrer wurden entlassen, die Politiker und die Datenschützer und die Journalisten dagegen sind Politiker und Datenschützer und Journalisten geblieben.
Nicht die Frankfurter Datenverarbeitungsfirma hat leichtsinnig gehandelt, sondern das Stuttgarter Unternehmen. Nicht auf die Mikrofilme hatten die Diebe es abgesehen, sondern auf die Plätzchen. Nicht der Versand von Kundendaten, sondern der Versand von Weihnachtsgebäck auf dem normalen Postweg gehört hinterfragt. Wer unbedingt strengere Sicherheitsvorschriften will, der sollte sie erst einmal für den Versand von Weihnachtsplätzchen fordern. Ein Untersuchungsausschuss Plätzchenschutz hat uns zwar gerade noch gefehlt, aber einen verlangen kann man ja trotzdem mal. Wenn wir es nicht tun, tut es eh irgendwann ein anderer.
Kassel
Spendenaktion verbittet sich Spenden
Die Idee war gut. Kinder, die in Armut lebten, sollten zu Weihnachten Wunschzettel schreiben; Erwachsene, die Geld hatten, sollten helfen, die Wünsche zu erfüllen. Ein Wohltätigkeitsverein in Kassel überlegte nicht lange und rief eine Spendenaktion ins Leben. Die Idee war sogar so gut, daß der Verein sie gleich auch beim Wettbewerb »Land der Ideen« in Berlin einreichte – einem Wettbewerb, der unter der Schirmherrschaft keines Geringeren als des Bundespräsidenten persönlich stand. Die vereinsinterne Kommunikation allerdings war weniger gut.
Vereinsintern gab es Streit. Spenden, die nach Ansicht des Kassenwarts den armen Kindern in Kassel zugestanden hätten, waren vom Vorsitzenden an die katholische Kirche in München weitergereicht worden. Der Streit nahm zu und drang ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit nach außen. Ein Saboteur machte sich an den Internetseiten des Vereins zu schaffen. Vorübergehend war auf ihnen plötzlich kein Spendenaufruf mehr zu lesen, sondern ganz im Gegenteil: eine Warnung. Wer etwas spenden wolle, der möge das bloß woanders tun.
Der Saboteur musste jemand aus den eigenen Reihen gewesen sein. Der Kassenwart beschuldigte den Vorsitzenden, der Vorsitzende den Kassenwart. Ein Jahr lang überzogen die beiden sich gegenseitig mit Klagen, einstweiligen Verfügungen und Anzeigen. Doch erst, als er wegen Datenveränderung schließlich vor Gericht stand, gab der Kassenwart alles zu. Jawohl: Die Spendenwarnung war sein Werk gewesen. Aber Reue zeigte er keine: Irgend jemand habe die Menschen einfach warnen müssen.
Unterdessen nahte schon wieder Weihnachten, und die Spendenaktion war abermals angelaufen. Viel Zuspruch fand sie unter solchen Umständen freilich nicht mehr. Wunschzettel kamen zur Genüge, Spenden so gut wie keine. Und das milde Urteil, zu dem das Gericht gelangt war, rückte den Verein nun vollends ins Zwielicht. Das Verfahren gegen den Kassenwart wurde wegen geringer Schuld eingestellt. Sein Tun, so die Begründung, sei zwar falsch, seine Motivation indes nicht verwerflich gewesen.
Als nächstes ermittelte der Staatsanwalt gegen den Vorsitzenden, diesmal wegen Veruntreuung. Die wenigen Sponsoren, die der Verein überhaupt noch gefunden hatte, rückten von ihm ab. Die Wunschzettel der armen Kinder von Kassel waren auch in diesem Jahr wieder lang, doch die Vorwürfe und Gegenvorwürfe, mit denen der Vorsitzende und sein Ex-Kassenwart einander inzwischen auf Dutzenden von Internetseiten bekämpften, waren um ein Vielfaches länger.
Die Idee war gut, aber am Ende fand sich nur im fernen Berlin noch jemand, der an sie glaubte. Der Wettbewerb »Deutschland – Land der Ideen« sprach der Spendenaktion seine Anerkennung aus und erklärte sie zu einer der 365 besten Ideen des Jahres 2009. Die »findige Idee« des Vereins, so hieß es am 25. Dezember in der Würdigung, sorge »in Kassel an Weihnachten für leuchtende Kinderaugen«. Von wegen. Die Idee des Bundespräsidenten, sich als Schirmherr für den Wettbewerb zur Verfügung zu stellen, erwies sich als eher nicht so gut.
Hamburg
Weihnachtsbaum stürzt in Einkaufspassage
200 Kilogramm schwer war ein Plastikweihnachtsbaum, der in fünf Metern Höhe an der Decke eines Einkaufszentrums in Hamburg-Wandsbek hing; allenfalls ein Drittel davon wog eine 78jährige Rentnerin, die am 24. November 2009 um 11 Uhr 52 arglos unter ihm hindurchging. Daß der Baum sich genau in dieser Minute aus seiner Halterung lösen und herabstürzen könnte, kam der Rentnerin nicht einmal in den Sinn. Niemandem wäre dies in den Sinn gekommen. Die Decke des Einkaufszentrums hing voller 200 Kilogramm schwerer Plastikweihnachtsbäume, und es war, wie später der Manager des Zentrums erklären sollte, natürlich eine Spezialfirma gewesen, die die Bäume dort erst wenige Tage zuvor angebracht hatte.
Aber der Manager hatte auch leicht reden: Der Baum ist an jenem Tag schließlich nicht auf ihn herabgestürzt. Es ist die arglose Rentnerin gewesen, die der Baum mit voller Wucht traf und unter sich begrub. Es ist die Rentnerin gewesen, die danach bewusstlos unter der Plastiktanne hervorgezogen und ins Krankenhaus gebracht werden musste. Die Bestürzung eines Managers ist nur ein schwacher Trost bei Schnittverletzungen, einer Sprunggelenksfraktur und einem Schädel-Hirn-Trauma.
Die Bäume an der Decke des Einkaufszentrums waren jeder für sich dreifach gegen Abstürze gesichert gewesen. Wieso die Absicherung in diesem einen Fall nicht funktioniert hatte, konnte der Manager nicht sagen. Wieso man überhaupt Weihnachtsbäume an die Decke hängt, allerdings auch nicht.
Als ob Weihnachtsbäume am Boden nicht schon gefährlich genug wären.
Erzgebirge
Preiskampf spaltet Weihnachtshauptstadt
Produktpiraterie macht auch vor Weihnachtsschmuck nicht halt. Ein Hersteller aus dem Erzgebirge, der in einer Fachzeitschrift eine Anzeige schaltete, um Geschäftskunden an seinen Stand auf der Frankfurter Frühjahrsmesse einzuladen, illustrierte diese Anzeige mit einer Figur aus seinem Angebot: einem holzgeschnitzten Räuchermännchen nach alter erzgebirgischer Art. Einige Wochen später jedoch, als der Hersteller eine Messe in Hongkong besuchte, entdeckte er dort bei chinesischen Anbietern ein Räuchermännchen, das dem seinen verdächtig ähnlich sah. Plagiatoren hatten seine Anzeige sofort als Vorlage benutzt. Der Hersteller hatte noch Glück: Die Plagiatoren hatten, weil sie kein Deutsch konnten, den Text der Anzeige für einen Weihnachtsgruß gehalten und auch diesen vermeintlichen Weihnachtsgruß im Übereifer noch eingebaut. Das nachgemachte Räuchermännchen hielt eine Tafel hoch mit einer Wegbeschreibung für das Frankfurter Messegelände. Was aber, wenn die Plagiatoren geschickter vorgehen und überdies einen Verbündeten in Deutschland haben?
Seit bald zwei Jahrzehnten liegen die mehr als zweihundert Weihnachtsschmuckhersteller im Erzgebirge im Streit mit einem Preisbrecher aus Westdeutschland. Die Hersteller verstehen sich als Künstler, der Preisbrecher versteht sich als Kaufmann. Die Hersteller schnitzen und drechseln und bemalen ihre Räuchermännchen und Weihnachtsengel und Nussknacker in alteingesessenen kleinen Werkstätten, der Kaufmann führt seine Figuren aus China ein. Besonders viele alteingesessene Werkstätten gibt es in der Gemeinde Seiffen, der heimlichen Weihnachtshauptstadt des Erzgebirges. Bis zu zehntausend Touristen kommen an einem Adventswochenende in den kleinen Ort, und über einhundert Andenkenläden haben dann für sie geöffnet.
Bis zum Jahr 2006 ging der Streit hauptsächlich um Urheberrechtsfragen: Der Preisbrecher aus dem Westen hatte Figuren aus Seiffen und Umgebung in China kopieren lassen und auf deutschen Weihnachtsmärkten zu einem Viertel des Originalpreises verkauft. Sieben Jahre waren allein über einen Prozeß ins Land gezogen, den ein Hersteller aus dem benachbarten Olbernhau gegen den Rivalen geführt (und am Ende auch gewonnen) hatte. Vom Jahr 2006 an aber ging es um mehr. Der Preisbrecher besaß die Kühnheit, ausgerechnet in Seiffen einen Verkaufsraum anzumieten.
Die Seiffener konnten es ihm nicht verbieten, aber sie wehrten sich. Sie mobilisierten ihre Abgeordneten im Land- und im Bundestag. Sie sammelten Unterschriften. Sie starteten eine Kampagne »Original statt Plagiat – Deutsche Handwerkskunst«. Sie klebten den Slogan gut sichtbar in ihre Schaufenster und Ladentüren. Sie versuchten alles, um den Eindringling von seinem Vorhaben noch abzubringen, doch es gelang ihnen nicht. Im September 2006 öffnete der Billigladen mitten in Seiffen seine Pforten.
Der Streit ging in eine neue Runde, und anfänglich sah es so aus, als würde dieses Mal der Kaufmann aus dem Westen gewinnen. Solange er es mit dem Kopieren nicht übertrieb, konnten die Seiffener ihm nichts anhaben. Der Kaufmann strengte sogar seinerseits einen Prozeß gegen die Kampagne »Original statt Plagiat« an, weil er sich von ihr kriminalisiert sah. Er erklärte seine Räuchermännchen und Weihnachtsengel und Nussknacker gleichfalls zur Handwerkskunst – wenn schon nicht zu einer aus dem Erzgebirge, dann eben zu einer »aus aller Welt«. Und vor allem zog er das Kaufpublikum auf seine Seite. Ohnmächtig mussten die Seiffener mit ansehen, wie die Touristen seinen Billigladen an manchen Tagen geradezu belagerten.