Die Schuld der Ökonomen - Frank Riedel - E-Book

Die Schuld der Ökonomen E-Book

Frank Riedel

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Beschreibung

Europäische Banken sind gesetzlich verpflichtet, bei ihren Geschäften strenge Regeln zur Risikoabwägung zu befolgen. Doch tatsächlich haben genau diese Regeln erst dazu geführt, dass die Finanzmärkte heiß liefen. Frank Riedel, Professor für Finanzmathematik, erklärt, wie es passieren konnte, dass eine einfache Risikoformel ein Auslöser für den Riesencrash werden konnte. Durch eine fehlerhafte Konstruktion beschwor sie genau die Risiken herauf, die sie eigentlich disziplinieren sollte. Kombiniert mit Marktmacht und falsch regulierten Märkten entwickelte eine in Banken alltäglich eingesetzte Formel die Kraft einer Atombombe. Riedel nimmt die Ökonomen für die strukturellen Fehler ihrer Zunft in Haftung. Mit praktischen Konsequenzen, etwa einer intelligenten Bankensteuer, möchte er die Finanzmathematik wieder zum Nutzen der Gesellschaft einsetzen.

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Frank Riedel

DIE SCHULD DER ÖKONOMEN

Was Ökonomie und Mathematikzur Krise beitrugen

Econ

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ISBN 978-3-8437-0594-3

© der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

Redaktion: Michael Schickerling, schickerling.cc, München

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

eBook: LVD GmbH, Berlin

Vorwort

Die Geschichte der wirtschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre ist inzwischen hinreichend beschrieben worden. Immobilien- und Hypothekenkrise, Verbriefungstricks und Staatsschulden sind uns so oft in den Medien begegnet, dass man kaum noch Lust hat, davon zu hören. Die strukturellen Ursachen all dessen sind aber noch nicht richtig aufgearbeitet. Es fehlt bei den beteiligten Akteuren – Banken, Politik und Wissenschaft – an Selbstkritik und Reflektion. Über Fragen der Schuld und der sich daraus ergebenden Konsequenzen auf ­Seiten der Banken, aber auch auf Seiten der Wissenschaft und der Politik, ging und geht man gerne zu eilig hinweg.

Auch wenn viele so schnell wie möglich zur Tagesordnung übergehen wollen, ist nicht zu leugnen, dass sich Wissenschaft, Banken und Politik neu aufstellen müssen. Wenn wir nicht rechtzeitig strukturelle Maßnahmen ergreifen, die das Bankenwesen neu strukturieren, Wirtschaftswissenschaft und Finanzmathematik eine neue Richtung geben und die Wirtschaftspolitik und ihre Beratung neu begreifen, wird aus der Krise dreier wichtiger Institutionen eine Krise, welche die Grundlagen unserer Gesellschaft erfasst und umwälzen kann.

Die Finanzmathematik spielt eine zentrale Rolle in der gegenwärtigen Misere. Wenn wir deren strukturelle Ursachen begreifen wollen, kommen wir daher nicht umhin, ein grund­legendes Verständnis für diese Wissenschaft zu entwickeln. Die Finanzmathematik gehört zu den großen wissenschaft­lichen Errungenschaften der letzten fünfzig Jahre. Sie ist die erfolgreichste ökonomische Theorie, die je entwickelt wurde. Aber in Verbindung mit Marktmacht und falsch regulierten Märkten hat sie das Potenzial, uns in den Abgrund zu ziehen.

In den Medien und selbst in vielen gut recherchierten Berichten und kenntnisreich geschriebenen Büchern von Wirtschaftsjournalisten und Volkswirten tritt die Finanzmathematik nur als mystisches Wesen komplexer mathematischer Formeln und Tricksereien auf. Das ist falsch, denn die Prinzipien der Finanzmathematik sind nicht übermäßig komplex und unverständlich, sondern eigentlich recht einfach.

In diesem Buch biete ich eine allgemein verständliche Darstellung der Finanzmathematik und erkläre ihre eigentliche, richtige Verwendung. Ferner zeige ich die natürlichen Grenzen der Theorie auf und erläutere, wie sie von Wissenschaftlern und Banken weiter und weiter überdehnt wurde. Zusammen mit einer letztlich fatalen Regulierung des Eigenkapitals wirkte sie als Katalysator des Bankenzusammenbruchs.

Ein großes Problem entsteht, wenn die Finanzmathematik, die implizit einen freien, gut funktionierenden Wettbewerb unterstellt, auf Marktmacht trifft. Wenn eine Bank Produkte selbst erstellen und bewerten kann, deren Wert wiederum von Parametern abhängt, die sie selbst beeinflusst, ist der Anreiz zur Manipulation unermesslich. Ich erläutere dies am Beispiel des LIBOR-Skandals: Hier trifft ein Konstrukt aus den Zeiten des Gentleman-Bankings auf die moderne Wissenschaft. Dass es nicht schon viel früher Manipulationsversuche gab, ist eigentlich aus strategischer Sicht ein Wunder.

Ein gewisser Kulturverlust hat sich ebenfalls bei den Banken breitgemacht. Ich sehe ihn allerdings weniger als ein Charakteristikum gieriger Banker per se oder als Ausfluss des kapitalistischen Menschenbilds, sondern eher als Folge der systematischen Fehler des Bankenwesens, welche die Entwicklung gewisser Produkte beförderten wie auch eine irrationale Nachfrage auf Seiten der Gesellschaft erzeugten. Dies erläutere ich am Beispiel gewisser Zinsderivate, die unverantwortlicherweise an viele Kommunen verkauft wurden und große Verluste verursachten. Das zeigt, dass die Institutionen der Finanzmärkte allesamt unter dem Aspekt strategischer Manipulationsmöglichkeiten durchleuchtet werden müssen.

Die gegenwärtige Krise ist auch eine Krise der Wissenschaft und ihrer Politikberatung. Ich erkläre, warum die Modelle der Wirtschaftsforschungsinstitute grundsätzlich nicht in der Lage waren, die Finanzkrise vorherzusagen oder auch nur zu erahnen. Ich diskutiere grundsätzliche Grenzen der (gegenwärtigen) globalen Wirtschaftsmodelle; hier ist auch eine Reform der wissenschaftlichen Politikberatung nötig.

Jede Krise bietet aber auch Chancen. Für die Wissenschaft besteht sie in einer Neuorientierung von Finanzmathematik und Volkswirtschaftslehre und einem entsprechenden Forschungsprogramm, das die wissenschaftliche Analyse von strategischen Konflikten und Marktmacht mit der Finanzmathematik vereint. Die wissenschaftlichen Grundlagen hierfür bietet die Spiel­theorie. Daraus ergibt sich ein faszinierendes Forschungsprogramm, das ich kurz skizziere.

Was die Politikberatung betrifft, so müssen wir meiner Ansicht nach fort von den heroischen, aber letztlich zum Scheitern verurteilten Versuchen, komplexe Wirtschaftsgebilde wie Deutschland oder die Europäische Union exakt vorhersagen zu wollen. Stattdessen sollte sich wissenschaftliche Politikberatung auf die Lösung konkreter gesellschaftlicher Einzelpro­bleme konzentrieren, die mit den gegenwärtigen Methoden beherrschbar sind.

Wie eine praktische Anwendung solcher Theorien aussehen könnte, zeige ich an Hand von zwei Beispielen. Ich diskutiere eine Bankensteuer, die nur die gesellschaftlich unerwünschte Spekulation bestraft, nicht aber den Mittelstand trifft oder die wirtschaftlich sinnvollen Aktivitäten der Banken erschwert. Ferner schlage ich eine Lizenzierung der Investmentbanken vor, wie dies auch in anderen Bereichen wie dem Mobilfunkmarkt erfolgreich geschehen ist. Marktmacht und Finanzmathematik erlauben es, hohe Renditen zu erzielen. Eine Lizenzierung durch Auktionen ermöglicht das Abschöpfen der Gewinne, ohne die eigentlich gewünschten Aktivitäten der Investmentbanken zu verzerren.

ERSTES KAPITEL

Reich durch Mathematik

Lassen Sie mich unsere Reise durch die Welt der Finanzmathematik und Wirtschaftswissenschaften mit einer persönlichen Anekdote beginnen. Als ich Ende der achtziger Jahre, noch vor der Wende und der Globalisierung, beschloss, Mathematik und Philosophie zu studieren, sagten mir viele, dass ich mich später bitte nicht ärgern möge, wenn andere im Alter von vierzig Jahren mehr Geld verdienten. Damals wies ich jeden Gedanken an das Studieren um des lieben Geldes willen empört von mir. Ich wollte kein »Brotstudent« sein, um Schillers Unterscheidung aufzunehmen, sondern um der Sache selbst willen studieren. Natürlich geht es für die meisten irgendwann doch auch um das liebe Geld oder die Brötchen, die sie für sich selbst und ihre Familie verdienen müssen, aber daran wollte ich damals nicht denken.

Wie das Leben so spielt, ergab es sich, dass man mit Mathematik reich werden konnte. Einige meiner Kommilitonen konnten sich inzwischen zur Ruhe setzen und sind als ehe­malige Trader, »Quants« oder »Goldmänner« nun Privatiers. Die anderen Finanzmathematiker aus der Gruppe von Studenten der Humboldt-Universität Ende des letzten Jahrhunderts, zu der ich gehörte, sind Professoren für Finanzmathematik oder mathematische Wirtschaftstheorie geworden: Wir kommen durch. Natürlich ist nicht allen vergönnt, Professor zu werden, und es ist seit jeher eine Lebensweise für ­Mathematiker, bei der man ein gutes Auskommen hat. Aber wir sind eben auf einem neuen Gebiet Professoren geworden, einem Gebiet, das es vielleicht in der Form der Zins- und Lebensversicherungsmathematik schon vorher gab, das aber an ernsthaften Forschungsuniversitäten kaum eine Rolle spielte.

In den letzten fünfzig Jahren ist eine eigene Wissenschaft der Finanzmathematik entstanden, welche die Welt ähnlich stark verändert hat wie die Atomphysik hundert Jahre zuvor. Finanzen, finanzielle Anlageformen, »komplexe Derivate«, wie man gerne liest, wurden verstanden, entwickelt und leider auch missbraucht.

Der Nobelpreisträger Paul Samuelson, der in diesem Buch noch des Öfteren zu Wort kommen wird, sagte einmal: »When today’s associate professor of security analysis is asked, ›Young man, if you’re so smart, why ain’t you rich?‹, he replies by ­laughing all the way to the bank or to his appointment as a high-paid consultant to Wall Street.«1 In der Tat: Während der praktische veranlagte Unternehmer den akademischen Elfenbeintürmler früher gerne spöttisch fragte, warum er denn nicht reich sei, wo er doch so schlau sei, lacht ihn der Finanzmathematiker heute aus und lässt ihn stehen auf seinem Weg in die Londoner City oder die New Yorker Wall Street.

Andererseits mag so manchem inzwischen das Lachen im Halse stecken geblieben sein. Zumindest die besseren unter meinen ehemaligen Kommilitonen fragen sich, warum es mit den Banken, die sie so gut bezahlten, so schieflaufen konnte, und welche Rolle sie selbst eigentlich dabei spielten. Andere fragen sich, warum die Wirtschaftsforschungsinstitute und hochrangigen Berater der Politik die Probleme nicht haben kommen sehen. Die angebliche »Blindheit« der Ökonomen wird gern, und nicht immer zu Unrecht, verspottet.

Es ist also an der Zeit, sich Gedanken über die Rolle der Wissenschaft in der Krise zu machen, wobei ich hier durchaus eine gewisse Doppeldeutigkeit intendiere: Einerseits wollen wir untersuchen, welche Rolle Mathematik und Wirtschaftswissenschaften bei der Entstehung der gegenwärtigen Finanz-, Banken-, Immobilien-, Staats- und all der anderen Krisen spielen, andererseits sind zumindest Teile der Wirtschaftswissenschaften selbst in der Krise, gerade dort, wo sie eigentlich gesellschaftlich relevant werden sollen: in der Prognose und Beratung von Politik.

Wir werden zunächst einen etwas anderen Blick auf die Finanzkrise werfen, als Sie es bisher gewohnt sind. Wir beginnen nicht mit den großen Zahlen, die meist zuerst genannt werden. Milliarden und Billionen verwirren den Geist nur unnötig, wenn man die Prinzipien verstehen will. Also blenden wir ­zunächst einmal Banken und Immobilien sowie Staaten und Eurokrisen aus.

Wir gehen anders vor. Wir stellen uns vor, dass wir vor der Titanic stehen, wie sie im Hafen von Southampton liegt. Aber im Gegensatz zu allen anderen staunenden Zuschauern ver­suchen wir, uns nicht von den Superlativen und den Schönheiten des neuesten und größten Schiffes aller Zeiten blenden zu lassen, sondern wir bitten darum, über die Reiseroute und den Wetterbericht zu reden. Das wird natürlich in der allgemeinen Begeisterung niemanden kümmern.

Für unser Buch werden die Rolle von Reiseroute und Wetterbericht von gewissen technischen Details der Regulierung übernommen. Während des Booms der Finanzmärkte war es in ganz ähnlicher Weise schwer, Banken und Politiker für diese technischen Seiten zu interessieren. Solange die Aktienmärkte und Immobiliengeschäfte blendend liefen, bestand wenig Bedarf, sich mit scheinbar schwierigen Details auseinanderzusetzen; für diese Dinge hatte man ja die Mathematiker und Physiker in den Banken und wollte ansonsten aber seine Ruhe haben.

Nun ist die Finanzwelt ebenso wie die Titanic untergegangen, und ich hoffe, dass inzwischen mehr Interesse besteht, sich nicht nur mit den großen Zahlen und moralischen Vorwürfen zu beschäftigen, sondern auch einmal gewisse technische Ursachen der Katastrophe zu betrachten. Daher beginnen wir unsere Analyse mit einem technischen Detail, das ein wichtiger Auslöser der Finanzkrise war: die Art und Weise, wie Risiko in den Banken gemessen wird, mit dem so genannten Value at Risk. Die Finanzkrise wurde nämlich nicht von allgemeinen Prinzipien des Kapitalismus wie der Haftungsbeschränkung oder einer moralischen Verwerflichkeit des Systems an sich ausgelöst, sondern von sehr konkreten Fehlkonstruktionen und Fehlentscheidungen. Eine dieser Fehlkonstruktionen ist Value at Risk.

Diese Art, Risiko zu messen, allein kann die gesamte Krise natürlich nicht erklären. Wie beim Untergang der Titanic kom­men weitere Faktoren hinzu. Die Rolle des Eisbergs übernimmt in meiner Analyse die Finanzmathematik. Denn ähnlich wie ein Eisberg wird sie kaum wahrgenommen, birgt aber ungeheures Potenzial. Sie hat es uns ermöglicht, Unsicherheit und Risiko in geradezu atomarem Detail zu verstehen. Dies bedeutet aber auch, dass man sie zu Dingen benutzen kann, für die eine Gesellschaft insgesamt sie idealerweise nicht benutzen sollte. Deshalb scheint es mir von äußerster Notwendigkeit, dass sich unsere Gesellschaft ein Bild der Finanzmathematik macht, um dann zu entscheiden, wie wir in Zukunft mit ihr umgehen wollen. Hierzu müssen wir sie natürlich zuerst einmal verstehen. Ich versuche, das im dritten Kapitel zu leisten und zeige anschließend ihre natürlichen Grenzen auf.

Zur Titanic gehören natürlich auch ein Kapitän und ein Erster Offizier, der das falsche Ausweichmanöver durchführt. Diese Rolle habe ich meinen Freunden und Kollegen von den Wirtschaftsforschungsinstituten vorbehalten; mit Recht wurde die »Blindheit« der Institute in den Zeitungen verspottet. Die Krise ist eben auch eine Krise der wissenschaftlichen Politikberatung, und wir Wissenschaftler sollten uns dem stellen. Ich versuche in diesem Buch zu zeigen, was Wirtschaftswissenschaft kann und eben auch nicht kann. Für die zukünftige Gestaltung der Märkte ist dies unentbehrlich.

Dann wollen wir uns an Bord wagen, die Titanic legt ab.

ZWEITES KAPITEL

Mit Finanzmathematik tricksen: Value at Risk und die Folgen

Wenige Menschen interessieren sich für gewöhnlich für die technischen Details eines Bauwerks oder eines Dampfers. Die statischen Feinheiten einer Architektur, die neuesten physikalischen Eigenschaften der verwendeten Materialien oder die letzten Errungenschaften der Schiffsbaukunst faszinieren nur eine Minderheit, werden weder von Medien noch Politikern gerne im Detail studiert, und die Einschaltquoten der Talkshows sänken bei dem Versuch, solcherlei schwierige und scheinbar lästige Kleinigkeiten zu erörtern. Und doch sind es zuweilen diese Details, die ein Bauwerk zu Fall bringen.

Im Falle der Finanzkrise lautet eines dieser »technischen Details« auf den englischen Namen »Value at Risk«, also in etwa »der Wert, der auf dem Spiel steht«. Value at Risk, abgekürzt VaR, soll das Risiko einer Bank oder eines Portefeuilles beziffern.

Dem Leser mag es wundern, dass ich eine mathematische Kennzahl an die Spitze meiner Analyse stelle, wo wir doch in den letzten Jahren deutlich genug gelernt haben, dass die Wirtschaftskrise, die wir durchlaufen, zunächst mit einer Immo­bilienkrise begann, die auf unverantwortliche Vergabe von Immobilienkrediten an nicht zahlungskräftige Kunden zurückzuführen ist. Sind nicht die gierigen Spekulanten, die Trader mit ihren riesigen Boni oder gar der »angelsächsische Kasinokapitalismus« insgesamt mit seinen komplexen Derivaten wie »Credit Default Swaps« und »Asset-backed Securities« Schuld? Und wie sieht es mit der Rolle der Ratingagenturen aus?

All diese Faktoren gehören natürlich zur Krise; im Gegensatz zu den meisten bisherigen Analysen möchte ich jedoch herausstellen, dass diese Ereignisse die Symptome sind, nicht die Ursache der Krankheit. Die Vergabe von Krediten an nicht zahlungskräftige Schuldner wäre ohne die Manipulationsmöglichkeiten, die Value at Risk bietet, nicht möglich gewesen. Stellen Sie sich einmal vor, dass in einem Meeting ein Banker vorschlägt: »Wir vergeben nun Kredite in großem Stil an Kunden ohne Arbeit und Einkommen und verlangen auch keine Sicherheiten.« Als Witz wäre es vielleicht noch durchgegangen, aber natürlich würde dies keine Bank der Welt auch nur in Erwägung ziehen. Es muss also subtiler zugegangen sein. Und mein Ziel ist es, diese subtileren Ursachen und Gründe aufzuzeigen.

Die im Grunde gute Idee hinter einem »Risikomaß« wie Value at Risk besteht darin, das Risiko von komplizierten und vielfältig gemischten finanziellen Anlagen auf einen Geldbetrag zu reduzieren. Einen Teil dieses Betrags sollte man sinnvollerweise zurücklegen und immer liquide haben, um im Krisenfall gewappnet zu sein.

Value at Risk begann seinen Siegeszug mit einer Reform der Bankenregulierung, die unter dem Namen »Basel II« bekannt wurde und eigentlich zum Ziel hatte, die Versorgung der Wirtschaft mit Kapital besser zu gestalten und die Anforderungen an das Eigenkapital der Banken auf den modernen Stand der Technik zu bringen. Die Entwicklung der Finanzmärkte, angetrieben durch die bahnbrechenden Erkenntnisse der Finanzmathematik und die dadurch entstandene Nachfrage nach Optionen und anderen Derivaten, hatte zu dem Bedürfnis geführt, Risiken besser zu quantifizieren und mit den modernen Techniken zu erfassen. Für das Management und auch die Bankenaufsicht war dies von großem Vorteil: Es war nicht mehr nötig, zu fragen, in welche Produkte der Händler investierte (was dann ja auch bedeutete, dass man diese Produkte verstehen musste), sondern man konnte sich auf die simple Frage beschränken: »Wie hoch ist sein VaR?«

Für den Mittelstand und kleinere Banken ohne Investment­abteilung war Basel II eine starke und oftmals als zu streng beklagte Regulierung. Für Banken und Institutionen, die sich Finanzmathematiker leisten konnten, war aber das Gegenteil der Fall: Mit Value at Risk war es ab sofort möglich, jegliche Regulierung auszuhebeln. So konnte man beliebig hohe Risiken einzugehen, ohne jegliches Eigenkapital zu hinterlegen.

Ich hoffe, diese Tatsache ist dramatisch genug, um Ihr Interesse zu wecken, Value at Risk und die Finanzmathematik, mit der man es aushebelt, besser kennenzulernen. Die Fortschritte der Finanzmathematik erlauben es, Unsicherheit und Risiko im atomaren Detail zu verstehen. Wenn man dann gewisse Hebel falsch legt, und einer dieser Hebel ist eben VaR, dann entstehen auch Katastrophen atomaren Ausmaßes.

Natürlich erfordert dies, sich näher mit den angeblich »technischen« Details der Finanzmärkte zu beschäftigen, als man üblicherweise gewohnt ist, sonst gelangt man leicht zu den falschen Schlussfolgerungen. So behauptet der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz in seinem Buch Der freie Fall etwa, dass die jahrelange Deregulierung der Finanzmärkte schuld an der Krise sei und dass es ein »Marktversagen« gegeben habe, weil der »Markt« Risiken falsch eingeschätzt habe. Wie ich hier zu ­zeigen versuche, ist in gewisser Hinsicht das Gegenteil der Fall: Die Regulierung ist schuld an der Krise, und der »Markt« hat in der Hinsicht funktioniert, als die großen Akteure des Marktes die Möglichkeiten, die Regulierung auszutricksen, sehr wohl erkannt und für sich ausgenutzt haben.

Wir treffen hier auf ein bekanntes Phänomen in den Wirtschaftswissenschaften: Es gibt eine reine, wenn man so will, »Newtonsche« Theorie der freien Märkte, in denen Angebot und Nachfrage im freien Spiel der Kräfte stets ein effizientes Gleichgewicht finden. Fehler wie das systematisch falsche Einschätzen von Hypothekenrisiken würden in dieser Theorie nicht auftreten. In der Wirklichkeit sind die Märkte natürlich gar nicht frei; man denke an die Vielzahl von Steuerregeln und Aufsichtsbehörden, welche die Märkte beaufsichtigen. Nun hat man das Problem, dass man bei einer Wirtschaftskrise nie genau weiß, woran es lag: am Mangel an Freiheit oder am Mangel an Regulierung? Die zumeist eher politisch rechten Anhänger der freien Märkte behaupten stets, dass die Märkte eben nicht frei genug gewesen seien, während eher linksliberale Wirtschaftspolitiker wie Joseph Stiglitz die Probleme für sich selbst nutzen wollen und der Deregulierung die Schuld geben.

Wichtiger ist es meiner Ansicht nach, zunächst einmal im Detail die Dinge zu verstehen, bevor man große Sprüche klopft. Ich möchte hier folgenden Punkt verdeutlichen: Die fatalen Wirkungen sind durch eine falsche Verbindung von Freiheit und Beschränkung entstanden. Die Regulierung setzte falsche Regeln durch, die sich ausbeuten ließen – und die Märkte hatten genügend Freiheit, diese Ausbeutung zu be­treiben. Die Kombination aus fehlerhafter Regulierung und freien Märkten bildet die Basis für das Verständnis der Finanzkrise.

Ich möchte aber auch den Schrecken vor der Mathematik nehmen, wenn dieses heroische Unterfangen denn im Bereich meiner beschränkten Möglichkeiten liegen sollte. Die Mathematik wurde nämlich durchaus benutzt und missbraucht, um von kritischen Nachfragen abzulenken und um gewisse Tricks zu verstecken. Zu leicht ließen sich alle von der Aussage blenden, dass es sich bei den Derivaten um »hochkomplexe mathematische Produkte« handle, die dem Laien nicht verständlich zu machen seien.

Ich werde Ihnen zeigen, dass die Grundprinzipien, die in der Finanzmathematik am Werk sind, sich auf recht einfache kleine Rechnungen zurückführen lassen, die Sie in der achten Klasse schon beherrschten. Es ist wichtig, dass unsere Gesellschaft dies versteht, damit sie sich in Zukunft nicht mehr blenden lässt. Dies gilt auch für die Banken selbst und gerade auch für die Bankenaufsicht, die zum Teil bewusst, aber zum Teil auch unbewusst ein falsches Bild der Finanzmathematik zeichnen.

Wenn wir die Ursachen und Auslöser der Finanzkrise verstehen wollen, kommen wir nicht umhin, uns ein wenig mehr mit den Details zu beschäftigen als üblich. Der Grundkonsens, der sich in Medien und Wissenschaft zur Krise eingestellt hat, greift in mancherlei Hinsicht zu kurz. Natürlich ist die Gier der Financiers dieser Welt eine menschliche Konstante, hat schon immer zu Katastrophen beigetragen und wird es auch in Zukunft tun. Wir werden aber den Willen der Menschen, Neues zu schaffen und dabei auch Geld zu verdienen, nicht abschaffen können, und wir sollten dies auch gar nicht erst versuchen.

Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff 2 etwa weisen die historischen Parallelen zu anderen Finanzkrisen nach und suggerieren dem Leser, dass solche Krisen eben zur Natur des Menschen gehören. Dies greift meiner Ansicht nach zu kurz. Für die kulturell-historische Einordnung ist es gut, sich vergangener Krisen zu erinnern, hilft aber nicht weiter. In unserer Zeit ist es gerade die Entwicklung einer neuen Wissenschaft, der Finanzmathematik, die wesentlich ist und die wir verstehen müssen, um weitere Desaster zu vermeiden.

Es greift meiner Ansicht nach ebenfalls zu kurz, alles auf das Prinzip der beschränkten Haftung zurückzuführen, wie dies Hans-Werner Sinn in seinem Buch Kasino-Kapitalismus andeutet. Im Wesentlichen behauptet er, dass entfesselte und ungezügelte, meist angelsächsische Banken das Prinzip der beschränkten Haftung ausgenutzt haben, um bedingungslos zu spekulieren. Aber dieses Prinzip existiert seit Anbeginn des freien Handels und bildet mit gutem Grund die Basis unseres Wirtschaftssystems, ohne dass die Unternehmen sich an den Rand des Ruins spekuliert hätten. Allein an der beschränkten Haftung kann es nicht liegen. Vielmehr liegen die Dinge tiefer.

Durch die wissenschaftliche Entwicklung der letzten vierzig Jahre ist ein ganz neuer Sachverhalt eingetreten: Finanzielle Unsicherheit lässt sich im Detail verstehen, handeln und bewerten. Auf dieser Basis ist eine eigene Ingenieurskunst entstanden, die immer größere Türme an Risiken aufbaute. Leider gingen die Kenntnisse dieser Ingenieurskunst fast vollständig am Mainstream der Volkswirtschaftslehre vorbei: Sie konnte sich zwar einer gewissen Ehrfurcht nicht erwehren, hielt es aber nicht für notwendig, sich näher damit zu beschäftigen. So kamen Gier, mathematisches Können und ökonomische Unvernunft an falscher Stelle zusammen. Lassen Sie uns versuchen, diese Dinge besser zu verstehen.

Ein Risikomaß, das Risiken erzeugt: Value at Risk

Worum geht es bei Value at Risk? Aus Sicht der Gesellschaft ist es wünschenswert, dass die Institutionen, die mit Risiken handeln, wie Banken, Versicherungen, Fondsgesellschaften et cetera genügend Eigenkapital vorhalten, um im Zweifel liquide Mittel vorweisen zu können. Klassischerweise gibt es hierfür gewisse Faustregeln; zum Beispiel kann man fordern, dass die Institutionen einen gewissen Prozentsatz ihrer Aktiva vorhalten sollten. Angesichts der neuen Möglichkeiten, die durch die Finanzmathematik entstanden waren, lag es nahe, darüber nachzudenken, ob man die Risiken eines Portefeuilles nicht besser messen kann. Dies sollte zu einem effektiveren Risikomanagement führen sowie auch die Kreditversorgung der Wirtschaft verbessern.

Traditionell wurde das Risiko im Investmentbereich durch die Varianz, also die Streuung um den Mittelwert, gemessen.3Nun ist die Varianz ein gutes Maß für die Unsicherheit einer Methode oder eines maschinellen Outputs, denn sie gibt an, wie stark etwa die Qualität eines Outputs vom langfristigen Mittelwert abweicht. Für Investitionen ist sie aber weniger geeignet, weil eine hohe Varianz im Allgemeinen hohe Ausschläge nach unten, aber auch nach oben bedeuten kann. Als Investor stört Sie aber eine Streuung nach oben nicht: Ungewöhnlich hohe Gewinne haben noch niemanden unglücklich gemacht. Mit anderen Worten geht es bei Investitionen um das Risiko hoher Verluste. Es gibt also gute Gründe dafür, asymmetrische Maße anzuschauen, die sich auf die Verluste konzentrieren und Gewinne nicht bestrafen. Value at Risk betont gerade diesen Standpunkt, indem es auf die Wahrscheinlichkeit schaut, mit der die Verluste eine gewisse Größe überschreiten.

Das ergibt zunächst einmal Sinn, und ohne plausible Eigenschaften wäre Value at Risk ja niemals auf breiter Basis eingeführt und durch die Bankenaufsicht unterstützt worden. Value at Risk wurde nach und nach in allen Investmentbanken installiert und ist bis heute das Standardmaß für das Risikomanagement. Anfang des neuen Jahrtausends beschloss eine Kommission, der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, dieses Risikomaß als regulatorisches Standardmaß zu installieren. Value at Risk gebührt damit das Privileg, es als eine der ersten mathematischen Formeln in einen juristischen Text geschafft zu haben. So sehr es das Herz des Mathematikers freut, dass Juristen beginnen, sich mit mathematischen Methoden zu beschäftigen, so traurig ist es doch, dass der erste Griff gleich ein solch dramatischer Fehlgriff war.

Value at Risk soll den Geldbetrag messen, der bei einer finanziellen Position auf dem Spiel steht. Die Kennzahl stammt aus den Investmentbanken selbst: Finanzmathematiker 4 bei JP Morgan haben diese Größe in den späten achtziger Jahren vorgeschlagen. Für einen Statistiker ist Value at Risk nichts Neues, sondern eine altbekannte Größe: Es handelt sich um ein sogenanntes Quantil. Es gehört zu den merkwürdigen Gesetzmäßigkeiten der Finanzwelt, dass der Erfolg von Value at Risk mit dem klingenden Namen zu tun hat; als »1-Prozent-Quantil« wäre es schnell wieder in der Versenkung verschwunden.

Wie funktioniert nun ein solches Quantil? Value at Risk gibt an, welche Verluste mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überschritten werden. Hierzu müssen wir zunächst einmal festlegen, was wir unter dem vagen Begriff »mit hoher Wahrscheinlichkeit« verstehen. Hierzu wählt man eine kritische Zahl, wie etwa 5 Prozent oder 1 Prozent oder 0,1 Prozent. Ereignisse, die mit dieser oder einer kleineren Wahrscheinlichkeit auftreten, deklarieren wir als »selten«. In der Wahl dieser kritischen Prozentschranke steckt natürlich auch schon eine gewisse Willkür; wenn man genau ist, muss man daher stets von Value at Risk »zum Niveau 1 Prozent« oder »zum Niveau 5 Prozent« sprechen.

Nun schauen Sie sich die Wahrscheinlichkeiten von Gewinnen und Verlusten an. Auch hier muss man natürlich erst einmal wissen, wie man bei einer gegebenen Investition diese Wahrscheinlichkeiten bestimmt – dies ist in der Tat gar nicht so leicht, wie wir später noch diskutieren werden. Für den Augenblick nehmen wir einmal an, dass Sie in der Bank vor Ihrem Computer sitzen, der Ihnen diese Wahrscheinlichkeiten angibt. Nun gehen Sie mögliche Verluste durch und fragen Ihren Rechner, wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür ist, so viel oder mehr zu verlieren. Sobald Sie Ihr kritisches Niveau erreichen, haben Sie Ihr Value at Risk.

Um es noch einmal zu wiederholen: Wir geben uns das Niveau 5 Prozent vor. Dann fragen wir den Rechner, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir mehr als 10 Millionen Euro verlieren. Der Rechner gibt uns 4 Prozent zurück – das liegt unter dem kritischen Wert von 5 Prozent. Dann fragen wir, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, mehr als 1 Million Euro zu verlieren. Antwort: 8 Prozent – das ist also zu hoch. Nächste Frage: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, mehr als 4 Millionen zu verlieren. Antwort: 5 Prozent. Damit haben wir die Antwort gefunden und melden unserem Risikomanagement, dass das Risiko unserer Position 4 Millionen beträgt.5

So einfach funktioniert also Value at Risk. Wenn eine Bank sagte, ihr Value at Risk in einem gewissen Bereich betrage 100 Millionen Euro, dann heißt dies, dass die Bank in 95 Prozent der Fälle weniger als 100 Millionen Euro verlieren würde. Und, was meinen Sie? Sollten wir diesem Maß vertrauen? Es ist eine solche Katastrophe, dass Value at Risk die Grundlage des Risikomanagements geworden ist, und es ist auch wichtig, zu verstehen, warum dies eine Katastrophe ist.

Ich bespreche im Folgenden zwei Dinge: Zum einen ist es gar nicht so leicht, die Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen, wie Sie vielleicht schon selbst gespürt haben: Wie kommt denn der Rechner überhaupt auf die Wahrscheinlichkeiten? Zum anderen, und das ist der viel wichtigere Punkt, kann man Value at Risk austricksen.

Beginnen wir mit den Wahrscheinlichkeiten. Offensichtlich muss man hierzu wissen, wie die Verteilung der zukünftigen Gewinne und Verluste aussieht, denn Sie wollen ja die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen ausrechnen. Dies ist in der Tat bei Aktien ein schwerwiegendes Problem; andererseits ist ja die Statistik gerade entwickelt worden, um uns bei solchen Fragen zu helfen. Am einfachsten ist es, wenn Sie annehmen, dass Ihre Gewinne und Verluste eine bekannte Verteilung haben, zum Beispiel normalverteilt sind – entsprechend der Ihnen vielleicht bekannten Glockenkurve, die auch nach dem berühmten Mathematiker Carl-Friedrich Gauß benannt ist.

Wir nehmen zunächst an, dass sich der Wert des DAX in der Zukunft aus dem langfristigen Mittel und einer zufälligen Störung mit einer gewissen Varianz ergibt. Dann müssen Sie lediglich den Mittelwert und die Varianz ihres Portefeuilles schätzen (was sie aus vergangenen Daten tun können) und anschließend das Quantil aus einer Tabelle ablesen. Heutzutage liefert Ihnen jedes einigermaßen versierte Programm diese Daten, selbst Excel wird Ihnen den Gefallen tun.

Nichtsdestotrotz ist die Annahme der Normalverteilung problematisch, eigentlich falsch, denn die Renditen sind, wie wir heute wissen, nicht normalverteilt; auf die statistischen Probleme, die nicht unerheblich sind, gehe ich ein wenig in einer Anmerkung ein.6 Diese Probleme wären aber im Prinzip beherrschbar. Gravierender sind andere Schwächen von Value at Risk.