Die Schwere des Seins -  - E-Book

Die Schwere des Seins E-Book

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Beschreibung

Die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2021 Tsitsi Dangarembga legt mit diesem Erzählband einen wichtigen und bisher nicht da gewesenen Einblick in das Leben der Menschen in postkolonialen Gesellschaften auf dem afrikanischen Kontinent vor. Dabei nimmt sie die Spirale von Gewalt in den Fokus und wirft einen schonungslosen Blick auf die Lebensrealität von Menschen in ihrem Heimatland – mit einem Ausblick für das Veränderungspotenzial. Es sind Geschichten aus dem Leben: Geschichten von Großeltern, Brüdern, Schwestern, Freund*innen, Geschichten aus der eigenen Kindheit. Geschichten voller Gewalt, aber auch Hoffnung. Sie berühren, wühlen auf, machen wütend und erlauben einen aus dem Inneren kommenden Blick auf die postkoloniale Gesellschaft in Simbabwe, die stellvertretend für viele andere steht. Unter der Leitung der Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels Tsitsi Dangarembga entstand im Rahmen des Projektes Breaking the Silence des ICAPA Trust gemeinsam mit fünf weiteren simbabwischen Autor*innen der vorliegende Erzählband. Die darin enthaltenen Geschichten basieren auf Berichten, die Menschen aus allen Teilen des Landes für das Projekt eingereicht haben. Sie geben Einblick in postkoloniale Gesellschaften auf dem afrikanischen Kontinent und zeigen schonungslos, wie sehr die Lebensrealitäten der Menschen von Gewalt, Unterdrückung, Korruption und Verfolgung bestimmt sind. Die Geschichten lenken den Blick auf die Gewalt im Land und beleuchten sie aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei machen sie deutlich: Wenn die Umstände es erfordern, sind alle zu allem fähig. »Die Schwere des Seins« stellt diese Probleme eindrucksvoll dar und zeigt, wie tief sie in jede Ebene der Gesellschaft eingeschrieben sind und sich weiter fortschreiben. Tsitsi Dangarembga und ihre Mitautor*innen wollen diese Spirale der Gewalt und das Schweigen darüber aufbrechen. Herausgegeben von Tsitsi Dangarembga, mit einem Vorwort von Madeleine Thien. Autor*innen: Tsitsi Dangarembga, Ignatius Tirivangani Mabasa, Yandani Mlilo, Elizabeth R. S. Muchemwa, Charmaine R. Mujeri, Karen Mukwasi »Echte Veränderung ist ein Rätsel. Sie erfordert Mut und Intelligenz vom Einzelnen, aber nicht einmal das ist genug. Letztlich erfordert echte Veränderung Mut und Intelligenz des Kollektivs.« aus dem Vorwort von Madeline Thien

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Tsitsi Dangarembga (Hg.)

Die Schwere des Seins

Postkoloniale Erzählungen aus Simbabwe

Aus dem Englischen von Anette Grube

vonTsitsi DangarembgaIgnatius Tirivangani MabasaYandani MliloElizabeth R. S. MuchemwaCharmaine R. MujeriKaren Mukwasi

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Madeleine Thien

Ziegen

Ignatius Tirivangani Mabasa

Familienporträt

Yandani Mlilo

Schlangen und Gift

Ignatius Tirivangani Mabasa

Der Ziegelstein

Tsitsi Dangarembga

Tanz mit Gestern

Elizabeth R. S. Muchemwa

Hunde des Kriegs

Charmaine R. Mujeri

Vor der Dämmerung

Karen Mukwasi

Über die Autor*innen

Über dieses Buch

Vorwort

Madeleine Thien

»Ich werde an der Quelle des Stromes leben,wo die Fragen aller Menschen beginnen.«

Dambudzo Marechera aus Das Haus des Hungers

1

Im November 2012 trafen wir uns zehn Tage lang in einem Bibliotheksraum der spanischen Botschaft in Harare. Der Raum befand sich in einem scheinbar provisorischen Gebäude, das durch Benutzung zu einer dauerhaften Einrichtung geworden war: eine Art Modul am hinteren Rand des Rasens der Botschaft. Unsere Gruppe von zehn Schriftsteller*innen, darunter Ignatius Tirivangani Mabasa, Tsitsi Dangarembga und ich selbst als Moderator*innen, trafen uns jeden Tag für sieben Stunden, um zu lesen, zu diskutieren und vor allem um zu schreiben.

Dieses Buch enthält sieben literarische Werke. Es wurde von über sechzig wahren Geschichten inspiriert – Erinnerungen, Testamenten, Zeugenaussagen, Geständnissen, Fragen, Bekenntnissen, Gegendarstellungen –, die uns per Post und über in ganz Simbabwe aufgestellte Sammelkästen erreichten.

»Ich bin eine fünfzig Jahre alte Frau«, beginnt Brief Nummer 10.

19 ist unterschrieben mit »Eine beunruhigte Mutter«.

20, 41, 44, 45, 50: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

49: »Ich bin eine Großmutter. Soll ich es einfach vergessen?«

51: »Wie sollen wir das lösen, wenn sogar mein Leben bedroht ist?«

11: »Ich habe diese Vorfälle nie der Polizei gemeldet.«

41: »Von einer Person belästigt zu werden, schmerzt mehr als eine Krankheit.«

29: »Ich will dir von meinem Leben erzählen.«

34: »Mein Herz blutet.«

Alle Verfasser*innen wollten eine Wahrheit zum Ausdruck bringen, und sie wollten, dass diese Wahrheit gehört wird. Viele äußerten auch den Wunsch – das Bedürfnis –, sich selbst zu akzeptieren, wie sie jetzt sind, heute, nach zutiefst traumatischen Erfahrungen.

2

An einem Nachmittag gab uns Tsitsi die Anweisung, uns auf dem Rasen der Botschaft zu verteilen und über einen Akt der Gewalt – physischer, emotionaler oder psychologischer Gewalt – nachzudenken, den wir selbst begangen hatten. Ich saß allein da und dachte über etwas nach, das ich als Jugendliche getan hatte, und ich zwang mich, fünfzehn oder zwanzig lange Minuten aus der Perspektive des Opfers darüber nachzudenken. Ich sah viele Dinge, die ich vor mir selbst verborgen hatte. Als sich die Gruppe wieder versammelte, war ich die Einzige, die ihre Geschichte nicht erzählte. Bis heute denke ich über die Ereignisse nach, die die Gruppe diskutierte, und werde davon verfolgt, und ich erinnere mich, wie mich der Gedanke entsetzte, dass Tsitsi mich auffordern würde zu sprechen. Ich bin überzeugt, dass ich nichts hätte sagen können.

3

Mehrere Male am Tag lasen wir Entwürfe unserer Geschichten laut vor. Die Gruppe dachte über den Wortlaut nach. Wir stellten den Verfasser*innen und uns gegenseitig Fragen. Konnte es wirklich so sein?, fragten wir uns. Jemand von uns war in Haft gewesen und gefoltert worden; alle verstanden, was Gewalt bedeutete. Wir tauchten ein in Geschichten, schöne und schreckliche Geschichten, Geschichten von Großeltern, Brüdern, Schwester, Freunden, Geschichten aus unserer eigenen Kindheit. Das Wissen im Raum reichte tief. Wir entdeckten Gemeinsamkeiten und auch Meinungsverschiedenheiten. Marechera schrieb: »Das Leben der kleinen Leute ist wie ein Spinnennetz; es hängen winzige Skelette der Größe darin.« Wir suchten nach den unmerklichen Details im individuellen Leben; wir schauten uns an, was einzelne Menschen geworden waren und was sie hätten werden können. Wir waren auf der Suche nach der Fülle der Menschheit, gleichgültig, wie schwer es fiel hinzusehen.

4

Briefe aus ganz Simbabwe. In den Schreiben ist jede Form des Ausdrucks zu hören: Schreie, Geflüster, Weinen. Manche Stimmen sind sachlich, andere stehen noch unter Schock. Viele stellen unbeantwortbare Fragen. Das Haus eines Mannes wird niedergebrannt. Die Tochter mit Trisomie 21 wird vom Sohn eines einflussreichen Mannes vergewaltigt. Eine zweiundzwanzigjährige Frau wird regelmäßig von dem Mann geschlagen, den sie liebt. Eine Mutter sagt: »Er schlug mit dem Ziegelstein auf meine Tochter ein, bis sie tot war.« Ihr erschütternder Brief ist nur zehn Zeilen lang.

Brief 41: »Sie sagen, ich soll zu meinem Vater und meiner Mutter gehen, damit sie mir etwas zu essen geben. Aber ich weiß nicht, wo mein Vater und meine Mutter sind, denn sie sind tot. Also bleibe ich bei meinem Hunger.«

Wir lasen und lasen noch einmal. Die Fantasie wird nie ausreichen, aber wir versuchen dennoch, es uns vorzustellen.

Zu Beginn des Workshops bringe ich Spiegel der Abwesenheit des syrischen Dichters Faraj Bayrakdar mit. »Ich habe gesagt: Du mein Ebenbild,/ sei Wasser oder Stein,/ ein mit Fata Morgana benetzter Sand,/ ein Grün bis es schmerzt,/ Vogel mit zögernden Flügeln/ oder ein Stück Himmel,/ der so verzweifelt ist,/ dass er nicht kleiner werden kann!/ Aber sei,/ sei kein Nichts.«

5

Wie sollte eine Gruppe von zehn Schriftsteller*innen als Bürger*innen von Simbabwe und als Künstler*innen – aber als Fremde für die Briefschreiber*innen – nehmen, was ihnen gegeben worden war, und es klug nutzen?

6

Überhaupt zu sprechen, ist ein unermessliches Risiko. Die Sprache eines anderen mit der eigenen Sprache zu kontern, ist ein Akt der Verwegenheit. In einer gespaltenen Gesellschaft zu sprechen, Dinge zu beschreiben, die die Gesellschaft lieber begraben möchte, ist beängstigend.

Die Geschichte von jemand anderem zu erzählen, diese höchst persönlichen Briefe zu nehmen und sie als Literatur neu zu imaginieren – auch das ist belastend. In seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises argumentiert Orhan Pamuk, dass ein Schriftsteller »die Kunstfertigkeit besitzen muss, die eigenen Geschichten zu erzählen, als wären es die Geschichten anderer Leute, und die Geschichten anderer Leute, als wären es die eigenen, denn das ist Literatur«.

»Ich stoße die Jungen herum, betone jedes Wort mit einem Schlag ins Gesicht. Der Schmerz hätte meiner sein können. Das Geheimnis liegt in dem Wissen, dass er es nicht ist«, schreibt Charmaine R. Mujeri in Die Hunde des Kriegs. Yandani Mlilo meint: »Ihr unbewusstes Lachen war voller Schmerz.« In Karen Mukwasis Vor der Dämmerung kümmert sich eine Ärztin um eine Frau namens Ruth: »Ihre Freundlichkeit erreichte die andere Ruth auf eine Weise, wie es die Folter nicht getan hatte.«

Gewalt durchzieht diese Seiten wie die Nähte und Flicken in Marecheras Haus des Hungers. Ich gebe zu, dass ich die Erzählungen immer wieder beiseitelegte. Die Schriftsteller*innen in unserem Workshop – Elizabeth R. S. Muchemwa, Yandani Mlilo, Karen Mukwasi, Charmaine R. Mujeri, Moses Semwayo, Kudakwashe Chisango, Tsitsi Dangarembga und Ignatius Tirivangani Mabasa – bemerkten eine Spirale, die einen Gewaltakt mit einem anderen verband, Akte, die die Täter im Sinne der Gerechtigkeit nicht nur für unvermeidbar, sondern für notwendig hielten. Die Geschichten in Die Schwere des Seins sind entschlossen, diese Spirale zu stören, indem sie die Welt durch die Augen der Täter betrachten, indem sie eingestehen, dass wir alle zu allem fähig sind.

Wenn Gewalt vorherrscht, wie kann sich dann eine denkende, fühlende Person davon abwenden? Werden die, die auf Gewalt zurückgreifen, nicht immer im Vorteil sein gegenüber denen, die sich dafür entscheiden, »nichts zu tun«? In ihrer Geschichte »Tanz mit Gestern« bahnt sich Elizabeth schreibend einen Weg durch dieses Dilemma: »Ein Freund hat mir einmal erzählt, dass Rache süß schmeckt, bevor sie verübt wird, doch einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Rache mag bittersüß sein, aber sie ist stets magisch. Ich sage, dir ist Unrecht geschehen, füge auch du Unrecht zu. Punkt.« Die Geschichten blicken tief in die Funktionsweise von Gesellschaft und vernachlässigen, wie wir sie uns wünschen. Um das Warum zu verstehen, müssen wir zuerst das Wie verstehen – wirklich verstehen.

Echte Veränderung ist ein Rätsel. Sie erfordert Mut und Intelligenz vom Einzelnen, aber nicht einmal das ist genug. Letztlich erfordert echte Veränderung Mut und Intelligenz des Kollektivs.

7

An einem Morgen untersagte uns das Personal der spanischen Botschaft, die rückwärtige Tür zu öffnen – was uns Durchzug ermöglicht hätte. Ich war sehr verärgert. Wenn wir gezwungen waren, diese Tür zu schließen, wie es die Mitarbeiterin der Botschaft verlangte, würde die Luft im Raum stehen und die Hitze unerträglich werden. Sie verschloss die Tür, aber kaum war sie gegangen, schloss ich sie wieder auf und öffnete sie.

Wir brauchten zwei Fenster, nicht eins. Wir brauchten zwei, damit Licht, Wind und Geräusche herein- und auch hinauskonnten.

8

Am Abend, bevor ich Simbabwe verließ und nach Kanada zurückflog, interviewte ich Tsitsi auf ihrem Balkon unter dem nächtlichen Himmel.

Maddie: Im dritten Buch deiner Trilogie ist die weiße Vorherrschaft beendet, Simbabwe ist ein neues Land, aber der Krieg hat sich nach innen verlagert. Tambudzai bricht zusammen, aber kurz davor heißt es: »Du weißt, dass sie nichts über Biologie wissen wollen … in diesem Fall erhalten deine Schülerinnen eine Lektion in Gewalt.«

Tsitsi: Wirklich? So habe ich es geschrieben?

Maddie: In Überleben.

Tsitsi: Ich glaube, dass es für die Leute schwierig war, Verleugnen zu lesen, aber Überleben wird wirklich schwierig, weil ich von den Lesenden verlange, gewisse Verbindungen herzustellen. Ich bin überzeugt, dass wir diese Art von Narrativ brauchen, das Fragen aufwirft und dabei hilft, dich ein paar Schritte weiterzubringen. Das war auch die grundlegende Idee des Workshops, das Schweigen zu brechen. Alle diese Geschichten von Gewalt: Nehmen wir sie einfach so hin? Stellen wir keine Verbindungen her, weil das einfacher ist? Was können wir da tun? Deswegen war für mich das Ende des Workshops so emotional. Es war wirklich ein ganz besonderer Moment, als diese acht Personen, neben dir und mir, im Raum waren. Und das Gefühl zu haben, dass wir alle die Bedeutung, die Notwendigkeit verstanden haben.

9

Während der zehn Tage des Workshops und der Monate danach versuchte ich, meinen eigenen Beitrag zu Die Schwere des Seins fertigzustellen. Aber gleichgültig, was ich tat, ich konnte nicht über Simbabwe auf die Weise schreiben, wie ich es mir wünschte – mit der Vertrautheit und der Wahrhaftigkeit, die auf intimen Kenntnissen eines Orts beruhen. Etwas zu sehen braucht lange, und hier in Harare war ich mir akut bewusst, dass ich vieles nicht sehen konnte; das heißt, ich wusste nicht einmal, was ich nicht wusste. Diese Unkenntnis kann zu außergewöhnlichen Flügen der Fantasie führen oder aber zu unangemessener Inbesitznahme. Deswegen gibt es hier keine Geschichte von mir; sie hätte nicht zu den Werken gepasst, die sich so eindrucksvoll und präzise einen Weg durch die Vergangenheit und die Gegenwart meißeln, sodass wir die Bedingungen sehen können, unter denen wir jetzt leben.

Wir bekamen sechzig Briefe. Die Verfasser*innen lebten darin und internalisierten sie, und jetzt will Die Schwere des Seins sie zu den Gemeinschaften zurückbringen, aus denen sie stammen. Das ist eine weitere Spirale, eine Spirale, mit der unser Wissen, unsere Fragen und unsere möglichen Antworten von Person zu Person weitergegeben werden.

Elizabeth schreibt in ihrer Erzählung: »Etwas stimmt nicht mit der Größe des Raums. Sie verändert sich – wie diese Männer sich auf so vielfältige Weise verändern. Deswegen können sie in diesem Zimmer stehen, so nahe bei mir, ohne zu bemerken, was ich halte. Warum sie so nah sind, aber uns doch nicht berühren können. Das ist der Grund, warum wir sie nicht zurückhalten können, warum wir sie nicht daran hindern können, Schmerz zuzufügen.« Auch Marechera schreibt über den Krieg, der internalisiert wurde. »Der Raum hatte meine Gedanken übernommen«, sagt er in Das Haus des Hungers. »Mein Hunger war zu dem Raum geworden. Wohin ich auch ging, herrschte eine dichte Dunkelheit. Es war ein Gefängnis – und die Gedanken wurden langsam zu dem Raum. Und der Raum – Decke, Boden, Mauern – wurde von anderen Räumen umschlossen.«

Während ich die Arbeiten der simbabwischen Autor*innen lese und noch einmal lese, beeindruckt mich: der hartnäckige Versuch zu erfahren, was man noch nicht weiß. Es gut auszudrücken. Es klar und zugleich menschlich zu machen, die Umrisse des Raums zu erkennen, damit wir die Mauern einreißen und den Raum öffnen können.

10

Wie eine Landkarte ist eine Geschichte eine Möglichkeit, unsere Sichtweise auf die Welt radikal zu verändern.

Ein Narrativ lässt die Zeit kollabieren und ist letztlich eine völlig andere Weise, etwas zu sehen. In einer Geschichte muss ein Satz auf den anderen folgen wie eine einzige Aufnahme, die vom ersten bis zum letzten Wort geht. Wir lernen die Gedanken einer anderen Person durch die Sprache einer anderen Person kennen. Das Geschichtenerzählen ist eine dringliche Kunstform, und es ist eine Kunstform, die wir brauchen, weil wir von dem Wunsch getrieben sind, die Geschichte zu verstehen, in die wir hineingeboren werden, und die sinnlichen Dimensionen, die uns eigen sind, die flüchtigen Erinnerungen, Gedanken und Gefühle, die mit unserem Körper verschwinden, wenn wir diese Welt verlassen.

Wie zwei Türen gestattet ein Narrativ den Lesenden, zu kommen und zu gehen.

Wohin zu gehen? Was mitzunehmen?

Nur die Lesenden können das sagen, aber ich glaube, dass niemand von diesen Geschichten ungerührt und unberührt bleiben kann. Die Schwere des Seins ist ein Zeugnis des Engagements, der Kunstfertigkeit, der Gewandtheit und Kraft dieser Autor*innen. Es ist wahrhaftig ein Buch der Unruhe.

Madeleine Thien

August 2014

Ziegen

Ignatius Tirivangani Mabasa

Meine Ziegen brachen aus und fraßen die Maisernte meines Nachbarn. Ich hatte meine Ziegen nicht damit beauftragt, und ich wollte nicht, dass sie es taten, insbesondere weil es dieser Tage regnet, als würde eine Heuschrecke spucken. Nzara yapfunya chisero muno mumusha. Der Hunger hat den Worfelkorb in meiner Hütte verschlungen, und jedes Korn zählt.

Es wurde dunkel, und nach einem langen Tag, an dem die Kinder vor Hunger geweint und alle nach Essen gesucht hatten, bereitete sich das Dorf auf den Schlaf vor. Kühe, Ziegen und Hühner machten es sich in ihren Pferchen bequem. Meine Katze putzte sich und interpunktierte das Spiel, das meine Enkel spielten, mit bettelndem Miauen. Es war eine dürre Katze mit warmen grünen Augen. In diesem Jahr der Trockenheit schienen sogar die Mäuse davongerannt zu sein. Infolgedessen hatten die Katzen nichts, um die mageren Mahlzeiten aufzubessern, die sie von ihren Besitzern bekamen.

Ich kochte auf einem feuchten und heftig rauchenden Feuer das Abendessen für meine zwei Enkel. Meine Finger schmerzten, als sie sich um den hölzernen Kochlöffel wanden. Dieser Tage haben meine Muskeln die Gewohnheit, sich zu verkrampfen, und ich schlafe nicht gut. Mein Körper widersetzt sich dem Hinlegen.

Rauch von dem feuchten Feuer brannte mir in den Augen und erschwerte mir das Atmen. Ich kämpfte gegen zu viele Dinge – gegen das nasse Feuerholz, brennende Augen, die rauchige Luft und den wässrigen Schleim, der mir hartnäckig auf die Oberlippe lief. Doch zuinnerst war ich stolz auf mich und zufrieden. Nicht viele Großmütter in diesem Dorf können ihren Enkeln wie ich zwei Mahlzeiten am Tag bieten. Nasses Feuerholz und schmerzende Muskeln würden mich nicht davon abhalten, meine Pflicht zu erfüllen.

Meine Enkel sangen das Rauchlied:

Rauch, Rauch, verzieh dich,

Meine Großmutter hat mich großgezogen!

Rauch, Rauch, verzieh dich,

Meine Großmutter hat mich großgezogen!

Ja, Kinder, die bei ihrer Großmutter aufwachsen, bekommen immer das Beste! Ich blies gerade ins Feuer, als Mubaiwa in meine raucherfüllte Hütte schoss wie ein Blitz. Er platzte in dem Augenblick in meine Hütte, als auch das Feuer zum Leben erwachte. Meine Enkel klatschten hocherfreut über das Feuer, hörten jedoch schnell wieder auf, um Mubaiwa zu begrüßen, der grunzend wie ein Schwein dastand.

»Manheru! Guten Abend, Großvater von Anna!«, sagten meine Enkel und klatschten asynchron wie platzende Maiskörner in die Hände.

Mubaiwa erwiderte nichts. Ich glaube, er bemerkte die Kinder gar nicht. In seinen Augen brannte ein Feuer. Er knurrte und spuckte einen Klumpen Schleim und Hass aus, der mit einem dumpfen Platschen in meinem Gesicht landete. Der widerliche stinkende Schleim lief langsam über das linke Auge zu meiner Nase. Ich hätte mich fast übergeben, bevor ich ihn mit meinem doek wegwischte. Ich verstand nicht, was passierte.

Noch während ich mich sammelte und um Fassung bemühte, schrie Mubaiwa, als würde er marodierende Paviane aus einem Maisfeld verjagen: »Hexe, heute gehe ich hier nicht weg, bis du mich umgebracht hast! Du hast deine Ziegen losgeschickt, damit sie meine Maisernte fressen und meine Familie verhungert. Du musst mich auch umbringen! Behaupten nicht alle im Dorf, dass du ein Mann bist? Du kannst dich selbst versorgen, und wie ich sehe, kochst du sogar ein Abendessen, wenn alle anderen im Dorf hungern!«

Die Sprache. Der Zorn. Die Abruptheit von alldem lähmte mich. Es schauderte mich kalt am ganzen Körper. Ich war verwirrt. Mit einer fremden krächzenden Stimme schickte ich meine Enkel aus der Hütte. Arme kleine Kinder! Auch sie waren erschrocken und betäubt von Angst. Ihre winzigen Gesichter waren lang und schlaff geworden wie ein von tropfendem Wachs verunstalteter Kerzenständer. Sie stolperten hinaus. Ich hörte sie draußen weinen. Auch die Katze hatte Angst, knurrte laut und sträubte das Fell, bevor sie ins Freie flüchtete.

Als meine Enkel draußen in Sicherheit waren, öffnete ich den Mund, aber es kamen keine Worte heraus. Instinktiv ging ich vor ihm auf die Knie und klatschte in die Hände. Ich wollte sagen, dass es mir leidtäte, aber er trat mit dem Fuß nach meinen Händen, und sie flogen auseinander wie erschrockene Tauben. Der Schmerz in meinen Fingern war schlimmer als damals, als ich sie aus Versehen mit heißem Wasser verbrüht hatte. Ich geriet in Panik. Etwas in meinem Herzen sagte mir, dass mich der Mann umbringen wollte.

Ich entschuldigte mich, gebrauchte dabei sein Totem und sagte, dass ich seinen Verlust erstatten wolle. Er grinste höhnisch und erwiderte: »Du Hexe, hast du deswegen deine Ziegen meine Ernte fressen lassen? Damit alle Welt erfährt, dass du dir mühelos einen Ausweg aus so einer Lage erkaufen kannst? Ja, bezahle mich, aber heute wirst du mir auch sagen, warum ein Hund zwar grinsen, aber nicht lachen kann!«

Er hob die Hand, um mich zu schlagen, und ich schrie. Das machte ihn noch tollwütiger. Er überraschte mich mit einem bösen Tritt ins Gesicht, der meine Unterlippe spaltete. Schmerz malte mit meinem Blut ein Bild auf den Boden. Ich fiel um, und Dunkelheit überwältigte mich.

Ich konnte nicht glauben, dass es bei alldem nur um die Ziegen ging. Ich stand langsam wieder auf. Als ich saures Blut ausspuckte, spuckte ich auch einen Zahn aus. Ich rechnete mit einem weiteren gemeinen Tritt, deswegen schützte ich meinen Kopf mit den Armen. Ich bat ihn, mich nicht mehr zu schlagen. Ich bat ihn, mich zum Chief oder zur Polizei zu bringen. Er lachte und sagte: »Ich will auf meine Weise Gerechtigkeit. Behaupten nicht alle, dass du was Besseres wärst als ich! Du bist eine Frau, die sich selbst versorgen kann. Zeig mir, woraus du bestehst.«

Er stieß mich zu Boden und entblößte dabei meine Oberschenkel und meine Unterwäsche. Ich versuchte, meine Scham zu bedecken, aber er trat meine Hände beiseite. Er stieß ein kaltes Lachen aus und sagte: »Du bist also doch eine Frau, was? Steh auf, wenn du ein Mann bist! Du solltest wissen, dass wahre Männer stehen bleiben.«

Seine Worte schnitten meine Seele in dünne Streifen. Als er meine Unterwäsche sah, wurde er aufgeregt, und ich fürchtete, dass er mich vergewaltigen würde. Stattdessen schlug er mich mit der bloßen Hand auf den Hintern, als würde er eins seiner Enkelkinder versohlen. Er berührte mich, wo mich kein Mann, der nicht mein toter Mann ist, berühren sollte.

Dann hielt er plötzlich inne und schaute sich in meiner Küche um. Sein Blick fiel auf meine Katze, die vermutlich zurückgekommen war, um nach dem Abendessen zu sehen. Er griff rasch nach ihr wie nach einem Lumpen und schleuderte sie an die Wand. Ich sah entsetzt zu, wie sie auf die Mauer zuflog wie ein vom Wind gepeitschter Maisstängel. Dann traf sie auf die Mauer und stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, bevor sie auf den Boden fiel wie ein leerer Sack. Sie blutete aus Maul und Nase und starb sofort. Mittlerweile war es dunkel, und mein Feuer war erloschen.

Als die anderen Dorfbewohner eintrafen, pisste er auf mich, und ich wollte nur noch, dass er mich umbrachte. Sein warmer, stinkender Urin zischte zornig und zielte auf meinen Kopf. Und ich weiß, dass das nichts mit den Ziegen zu tun hatte. Etwas in mir verrottete, und ich kann den Gestank noch immer riechen.

Als sie ihn fesselten und fortbrachten, wehrte er sich mit aller Kraft und fluchte.