Die Schwestern von Applecote Manor - Eve Chase - E-Book

Die Schwestern von Applecote Manor E-Book

Eve Chase

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Beschreibung

Eine Familiensaga, wie man sie sich schöner nicht wünschen kann!

England 1959. Die vier Schwestern Margot, Dot, Flora und Pam reisen zu ihrer Tante und ihrem Onkel auf das Landgut Applecote Manor, um dort den Sommer zu verbringen. Doch es wird kein unbeschwerter Besuch, denn vor fünf Jahren verschwand ihre Cousine Audrey spurlos. Während das Land von einer Hitzewelle erschüttert wird, machen sich die vier Mädchen auf, das Geheimnis um ihre Cousine zu enthüllen …
50 Jahre später: Jessie und ihr Mann Will wollen mit ihren beiden Töchtern von London aufs Land ziehen. Als Jessie Applecote Manor zum ersten Mal sieht, ist sie sicher, dass sie hier endlich Ruhe und Frieden finden werden. Doch das Landgut birgt ein altes Geheimnis …



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Seitenzahl: 492

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Buch

England 1959. Die vier Schwestern Margot, Dot, Flora und Pam reisen zu ihrer Tante und ihrem Onkel auf das Landgut Applecote Manor, um dort den Sommer zu verbringen. Doch es wird kein unbeschwerter Besuch, denn vor fünf Jahren verschwand ihre Cousine Audrey spurlos. Während das Land von einer Hitzewelle erschüttert wird, machen sich die vier Mädchen auf, das Geheimnis um ihre Cousine zu enthüllen … 50 Jahre später: Jessie und ihr Mann Will wollen mit ihren beiden Töchtern von London aufs Land ziehen. Als Jessie Applecote Manor zum ersten Mal sieht, ist sie sicher, dass sie hier endlich Ruhe und Frieden finden werden. Doch das Landgut birgt ein altes Geheimnis …

Autorin

Eve Chase wollte schon immer über Familien schreiben – solche, die fast untergehen, aber irgendwie doch überleben – und über große, alte Häuser, in denen Familiengeheimnisse und nicht erzählte Geschichten in den bröckelnden Steinmauern weiterleben. Eve Chase ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Oxfordshire.

Von Eve Chase bereits erschienen

Black Rabbit Hall. Eine Familie. Ein Geheimnis. Ein Sommer, der alles verändert

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EVECHASE

Die Schwestern von Applecote Manor

Roman

Deutsch von Carolin Müller

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Vanishing of Audrey Wilde« bei Michael Joseph, a division of Penguin Random House UK, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2017 by Eve Chase

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © Evelina Kremsdorf/Trevillion Images

Umschlagillustration: www.buerosued.de

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-23037-1V001www.blanvalet.de

Für Ben

Ich weiß ’nen Hügel, wo man Quendel pflückt,Wo aus dem Gras Viol’ und Maßlieb nickt,Wo dicht gewölbt des Geißblatts üpp’ge SchattenMit Hagedorn und mit Jasmin sich gatten …

William Shakespeare, Ein Sommernachtstraum

Prolog

M

Applecote Manor, Cotswolds, England. Am letzten Augustwochenende 1959

Keine von uns wagt die so schrecklich intime Geste, seinen Gürtel zu berühren. Und während wir ihn dann über den Rasen schleifen, gräbt die Schnalle Furchen in die Erde. Obendrein ist er schwerer, als es sein Anblick vermuten ließe. Alle paar Schritte halten wir inne, um Atem zu schöpfen. Im ersten Licht der Morgendämmerung schauen wir uns voller Entsetzen an, fordern uns mit Blicken heraus, hinunterzusehen auf die unglaublich wuchtige Tatsache seines Körpers, auf seine scheinbar in kindlicher Unbekümmertheit ausgestreckten Arme.

Inzwischen haften Gänseblümchen an ihm, ihre rosa-weißen Blüten öffnen sich im Lichte der hinter dem Obstgarten beunruhigend schnell aufgehenden Sonne. Diese Gänseblümchen, kleine Sterne in seinen dunklen, verklebten Haaren, wirken zutiefst unangebracht. Dot beugt sich vor, als wolle sie sie herauszupfen, um später einen Kranz daraus zu flechten. Falls sie es wirklich täte, würde das die Situation auch nicht befremdlicher machen.

Nach ein paar weiteren strauchelnden Schritten verliert Dot ihre Brille. Sie beginnt, danach zu tasten. Wir sagen ihr, sie soll es lassen. Uns bleibt keine Zeit. Mit einem Male fangen die Vögel an zu singen, eine Geräuschexplosion, eine Spirale der Angst.

Ich versuche, die wilde Panik in mir zum Schweigen zu bringen: Wir sind noch immer dieselben Mädchen wie zu Beginn dieses langen, heißen Sommers. Applecote Manor ragt noch immer hinter uns auf und blickt schläfrig über das Tal. Und auf der Wiese jenseits des Gartentors steht die lieb gewonnene Runde aus prähistorischen Steinen, unverändert und beständig. Wir müssen ihn noch viel näher zu diesen Steinen schaffen, weg vom Haus, und das schnell – das Glasdach der Orangerie glänzt schon in den ersten Sonnenstrahlen und ist noch näher, als wir dachten.

Unter einer Woge der Übelkeit krümme ich mich zusammen. Ich huste, die Hände auf die Knie gestützt. Flora legt den Arm um meine Schulter. Als ich ihr Zittern spüre, blicke ich auf, versuche, sie beruhigen, doch es gelingt mir nicht. Ihre leuchtenden Augen sind voller Angst, und sie blinzelt mehrmals, als wäre ein Ausdruck in meinem Gesicht, den sie zuvor noch nie gesehen hat.

Mit zusammengebissenen Zähnen zerrt Pam an seinem Ärmel. Doch der Stoff ist der Totlast seines Armes überhaupt nicht gewachsen und reißt mit einem grässlichen Geräusch. Dot unterdrückt mit vor den Mund gepresster Hand ein Schluchzen.

»Schon gut, Dot …« Ich stutze, als ich einen Blutspritzer auf ihrem Finger bemerke. Ich senke den Blick, um meine eigenen Hände zu kontrollieren. Floras. Pams. Mein Magen rebelliert erneut. Unsere Sommerkleider sind Schlachterschürzen. Jetzt sehen wir alle so aus, als hätten wir ihn getötet, nicht bloß eine von uns. Schwestern. Von Blut zusammengeschweißt.

1

M

Gut fünfzig Jahre später

Kriminalität. Menschenmassen. Die Art, wie die Großstadt Mädchen zwingt, zu schnell erwachsen zu werden, sie ihrer Unschuld beraubt. Für die Familie ist es Zeit, London zu verlassen, irgendwohin zu ziehen, wo es freundlicher zugeht, harmloser. In den vergangenen drei Monaten haben sie bereits eine Reihe von Häusern besichtigt – der Maklerauftrag lautete: ländlich, geräumig, gern renovierungsbedürftig – , doch bei keinem der Häuser hatte Jessie bisher das Gefühl, dass es ein Zuhause werden könnte. Bis zu diesem Moment: Auf Applecote Manor an einem Nachmittag Ende Januar fühlt sie sich wie von Sonnenlicht erfüllt.

Natürlich ist es ziemlich heruntergekommen. Sonst könnten sie sich solch ein Haus unmöglich leisten. Immergrüne Pflanzen drängen sich eng an die Orangerie, drohen, die Fenster einzudrücken und ihre giftigen Beeren wie Perlen über die hölzerne Fensterbank zu verstreuen. Die Steinplatten am Boden bäumen sich in der Mitte des Raumes auf, als versuche sich irgendein Geschöpf aus der Erde zu erheben. Doch Jessie stellt sich bereits baumelnde Orangen vor, warm und schwer in der Hand, und durch die geöffneten Glastüren dringen die Hochstimmung des Sommers und das helle Tönen wilden Mädchenlachens herein.

Mit weichem Blick folgt sie dem Scheibenmuster der Gewächshausfenster bis zu deren geometrischem Scheitelpunkt, eine meisterhafte viktorianische Konstruktion, die selbst im englischen Klima neben flauschigen Äpfeln der Sorte Cox Orange auch kräftig duftende mediterrane Früchte verspricht. Etwas an diesem Optimismus – Kontrolle durch Begrenzung, eine Art zwanghafte Fürsorge – spricht sie flüsternd an: Versucht sie nicht etwas Ähnliches, bloß mit ihrer Familie?

Jessie wirft einen Blick auf Bella, die auf der Fensterbank hockt und eine Textnachricht in ihr Handy tippt. Mit ihren langen Beinen und den tiefschwarzen Haaren ist ihre Stieftochter das offenkundige Ebenbild ihrer verstorbenen Mutter, der ersten Mrs. Tucker. Sie spürt Jessies fragenden Blick, hebt ihr blasses Adlergesicht, kneift die Augen zusammen und erwidert ihn voll erbitterter Ablehnung.

Jessie ist froh, dass Will ihn nicht mitbekommen hat, diesen Blick. Mit in den Manteltaschen vergrabenen Händen schaut ihr Mann in die düstere angrenzende Küche, und seine rührend gerunzelte Stirn verrät sein Bemühen, den Traum vom Landleben – eine urbane Männerfantasie von Holzhacken und möglicherweise Sex im Freien – mit dem gespenstischen Geräusch flatternder Vögel in höhlenartigen Schornsteinen und dem Gefühl klammen Dunstes in Einklang zu bringen.

Unter dem Wollfutter ihrer Lieblingslammfelljacke im Siebzigerjahre-Stil, der gut zu der rauen Umgebung passt, schlägt Jessies Herz schneller. Zum wiederholten Male schiebt sie ihr herbstrotes Haar hinters Ohr, ordnet ihre Gedanken. Denn sie weiß, dass ein gewaltiger Unterschied besteht zwischen der Besichtigung eines alten Landhauses an einem Winternachmittag – wenn trübes Licht durch Baumskelette dringt, missmutig und fremd wie etwas aus einem Traum – und dem Stress eines Umzugs hunderte von Kilometern weit weg, für den man seine Stadthaut abstoßen muss. Es wäre ein Akt waghalsigen Vertrauens, so wie damals, als sie sich in Will verliebte. Doch das Haus fühlt sich einfach richtig an – so wie Will von Anfang an – und auf eine Art, die sie nicht erklären kann, wie für sie bestimmt.

Und wirklich, die Größe von Applecote Manor ist perfekt. Sie würden sich darin nicht verloren fühlen. Im Vergleich zu ihrer Londoner Doppelhaushälfte ist es zwar riesig, aber dennoch ein Puppenhaus, verglichen mit den richtigen alten Anwesen in der Gegend, und der Zusatz »Manor« ist definitiv übertrieben. Es ist eher rustikal als herrschaftlich mit seinem knorrigen, holzwurmzerfressenen Gebälk, mit all den schiefen Kanten und den bauchigen Wänden, die einem das Gefühl geben, es atme. Ein Pelz aus Efeu bedeckt die Außenwand aus Cotswolds-Kalkstein, so dass das Haus von der Straße aus nicht sofort sichtbar ist. Jessie gefällt das, diese Zurückhaltung, dass Applecote die üppige Umgebung nicht dominiert, sondern sich in sie einfügt wie eine feine ältere Dame, die im hohen Gras vor sich hin döst. Jessie kann sich vorstellen, dass Bella hier ein wenig zur Ruhe kommt, und sieht bereits vor sich, wie ihre eigene Tochter, Romy, erlöst von Spielplätzen mit elastischen Gummiböden, auf echte Bäume klettert.

Romy mit den erdbeerblonden Locken scheint sich schon wie zu Hause zu fühlen und stupst mit ihren knubbeligen Kleinkindfingern gegen den fleischigen Kuss einer Schnecke, die sich auf der anderen Seite des Fensters festgesaugt hat. Jessie ist sich sicher, dass ihr kleines Mädchen, genauso wie sie selbst als Kind, die Freiheit des Landlebens lieben wird, all die verwinkelten Ecken der Kindheit, klitzekleine Welten, für die Augen Erwachsener unsichtbar. Als die Schnecke sich schaumig vorwärts schiebt, kichert Romy und blickt hoch: Jessie sieht die Miniaturversion ihrer eigenen elfenhaften Züge, die türkisgrünen Augen mit den Kupferwimpern ihrer irischen Familie, Wills volle Lippen. Sie grinst zurück, Romys Freude ist ihre. Ihre Verbindung ist noch durchlässig wie eine Nabelschnur, das Gegenteil ihres Verhältnisses zu Bella, die sich hinter einer Mauer, so dick wie die von Applecote, verbarrikadiert zu haben scheint. Hin und wieder kann Jessie einen Blick darüber erhaschen. Nicht oft. Sicher nicht heute.

Es ist nun drei Jahre her, seit Jessie mit ihrem sich unter ihrem Mantel wölbenden Fünfmonatsbauch – der weltglücklichste Unfall – ans andere Ende der Stadt zu Will zog. Zwei Jahre nach Mandys Tod. Da sie sich nicht in sein Leben oder das seiner Tochter drängen wollte, hatte sie so lange wie möglich an ihrer eigenen Unabhängigkeit und ihrer WG in Dalston festgehalten und dem Mann, in den sie sich unsterblich verliebt hatte – »Ich will keine Minute meines Lebens mehr ohne dich vergeuden. Ich brauche dich, wir brauchen dich, Jessie.« – , widerstanden, bis es albern und nicht mehr praktikabel wurde. Damals wollten sie Bella nicht noch zusätzlich mit einem Umzug verunsichern, nicht während ein neues Baby unterwegs war. Und blauäugig hatte Jessie geglaubt, dass sie das scheue Mädchen mit dem gequälten Blick, das an der Hand seines Vaters hing, als wäre er der letzte lebende Mensch auf Erden, letztendlich für sich gewinnen und wie ihr eigenes Kind lieben würde. Sie hatte damals keine Vorstellung davon, dass der Versuch, Bella zu lieben, geschweige denn ihr ein Elternteil zu sein, während Bella sich in einen zornigen Teenager verwandelte, in etwa so aussichtsreich war, als versuche man ein wildes Tier zu umarmen, das einem eigentlich nur seine scharfen Zähne in den Hals bohren will. Dass ihr das Eindringen in Bellas vertraute Welt mit ihrem Vater womöglich niemals verziehen würde und auch nicht die Freude, der Lärm und die Störung, die mit Romy einzogen, Bellas Rivalin um die Zuneigung ihres Vaters und der peinliche Beweis für sein neues Liebesleben. Und wer könnte es der armen Bella auch verdenken?

Kommt Zeit, kommt Rat, heißt es doch immer. Doch die Zeit schien für Bella in London alles nur noch schlimmer zu machen statt besser, wie bei einem empfindlichen Objekt, das in der verschmutzten Stadtluft Schaden nimmt. In den letzten Monaten war es besonders schlimm gewesen, hormonbedingt explosiv, mit einem beunruhigenden Höhepunkt, der sie zum Handeln zwang. Jessie und Will waren sich einig, dass Bella, ob sie wollte oder nicht – natürlich wollte sie nicht – , einen Neustart benötigte.

Sie musste weg von den Kifferpartys und ihrem problematischen Freundeskreis, weg von dem, was sie mit diesem Mädchen gemacht hatte, weg von allem, was geschehen war. Da nützte es nichts, einfach nur in einen anderen Londoner Stadtteil zu ziehen. Wenn sie es schon angingen, dann musste es ein radikaler Schnitt sein, eine vollkommene Neuausrichtung ihres Lebens. Also würden sie die Stadt gegen einen harmloseren, friedlicheren Ort eintauschen. Und welcher Ort könnte unschuldiger sein als Applecote Manor?

Und dennoch.

Das zweigeteilte Spiegelbild in der Fensterscheibe hat eine beängstigende Symbolkraft und erinnert Jessie daran, dass es noch andere, dunklere Gründe gibt, warum Applecote sie lockt: Will, der versucht, einem Bild zu entkommen, dem Bild eines Lasters, der links abbiegt, des zerstörten Körpers seiner wunderschönen Frau auf dem Asphalt. Wie könnte sie Will sagen, dass sie sich nie ganz wohlgefühlt hat im stilsicher eingerichteten Haus seiner toten Frau, in einem häuslichen Leben, das niemals ihres war? Dass sie oftmals gegen das schrecklich kindische Bedürfnis ankämpfen muss, die elegant grauen Wände mit einem Rausch aus Farben zu übermalen? Dass dies zwar seine zweite Ehe ist, okay, aber eben ihre erste, ihre einzige, und sie möchte, dass sie auf ihre Art einzigartig ist. Und dass es vor der wunderbaren Mandy Tucker in deren Londoner Haus kein Entkommen gibt. Erst letzte Woche zog Jessie hinter dem Heizkörper im Flur einen von Mandys Schals heraus. Auf der Treppe sitzend, spürte sie die drängende Last der grauen Wände und fragte sich, was sie nun mit dem roten Seidentuch, das welk in ihren Händen hing und den teuren Duft einer anderen Frau verströmte, tun sollte. Am Ende ließ sie es ratlos wieder hinter dem Heizkörper verschwinden und fühlte sich schrecklich dabei. Jessie wusste einfach, dass Mandy immer in diesem Haus sein und ihre Ehe mit Will beobachten würde.

Auf Applecote Manor wäre das nicht so. Dort lauern keine Geister der Vergangenheit.

»Mir scheint, in Gedanken bist du schon hier eingezogen«, sagt Will. Sie zuckt zusammen und schiebt schuldbewusst die Gedanken an Mandy beiseite.

Sie kann ihr eigenes Lächeln in seinen goldbraunen Augen sehen. »Und mir scheint, du bist in Gedanken noch auf der Autobahn. Irgendwo vor London.«

Ein polterndes Lachen kommt aus seiner Kehle. »Ich könnte mich überreden lassen abzufahren.«

Es verlässt ihn also der Mut. »Könnte?«

»Wir können uns das nicht leisten, Jessie. Nicht wenn man all die Arbeit mit einkalkuliert, die wir noch reinstecken müssten. Es sei denn, du möchtest wie ein Hausbesetzer leben.«

Selbst das hat für sie einen romantischen Reiz. Sie sieht sie alle vor sich, zusammengedrängt vor einem knisternden Feuer, um sich aufzuwärmen; wie sie Kakao trinken und sich gegenseitig Geschichten erzählen.

»Die Pendelstrecke zum Büro in London wird eine Tortur sein«, sagt Will. »Wir kennen hier keine Menschenseele. Genau genommen gibt es hier keine Menschenseele. Da könnten wir genauso gut auf den Mars ziehen.«

Aus dem Augenwinkel sieht Jessie, wie Bella voller Eifer nickt. Sie denkt an die Fahrt vorhin aus der Stadt heraus, durch verschlafene Vororte, anonyme Trabantensiedlungen und Postkartenidylldörfer, wie sich der kalte Himmel aufklarte, immer blauer wurde, bis sie den Punkt überschritten, an dem ein tägliches Pendeln nach London »ohne Midlife-Crisis undenkbar« wäre, wie Will finster scherzte, und der Weg sie immer noch weiter führte, eine Reihe von Landstraßen entlang, immer wieder gesprenkelt von den aufgeblähten Kadavern von Füchsen und Fasanen, bis hin zu einem schmalen Weg, der sich zwischen Hecken hindurchzwängte und an dessen Ende sie ein verlassenes, altes Haus erwartete. Auf eine Art, die sie selbst nicht recht versteht, fühlte es sich an wie eine Fahrt tief in ihr eigenes Inneres. Für sie gibt es kein Zurück.

»Totaler Irrsinn.« Um Wills Mund zuckt ein Lächeln. »Aber …« Er ist der einzige Mann, den sie je kennengelernt hat, der allein mit den Augen verführen kann. »… es ist wild und schön, so wie du.«

Bella stöhnt: »Oh Gott.«

»Und außerdem hast du diesen leicht durchgeknallten, entschlossenen Blick, der mir sagt, du könntest so oder so hierherziehen, ob ich nun mitkomme oder nicht.« Er grinst sie unter seiner dichten Mähne an, die er gern immer etwas zu lang trägt. Ein wenig Rock ’n’ Roll, ein kleiner rebellischer Akt, den er seinen neunundvierzig Jahren – neun älter als sie selbst – entgegensetzt und den Anforderungen des wachsenden Logistikunternehmens, das er vor fünfzehn Jahren zusammen mit seinem alten Collegefreund Jackson gründete. Jackson ist ein großer, lauter Junggeselle und war Trauzeuge bei Wills erster Hochzeit (riesig, ganz in Weiß) und nicht dabei bei seiner zweiten (nur im Familienkreise, Jessie in einem grünen Kleid, mit scharlachrotem Lippenstift und einem Baby auf dem Arm).

»Also, ja, es besteht die Chance, dass du mich überredest. Eine sehr kleine Chance.« Er zieht sie an sich und legt ihr leicht die Hand auf den Po.

Jessie wünscht sich, sie könnten sich hier und jetzt lieben, ihr Revier abstecken. Sie schmiegt sich an sein stoppeliges Kinn. Entsetzt über jegliche Zurschaustellung körperlicher Zuneigung – und als würde sie es wittern – , blickt Bella abrupt auf und fixiert die rechte Hand ihres Vaters. Jessie spürt das Zucken in Wills Fingerspitzen. Sie rückt von ihm ab, um es ihm leichter zu machen. Der mit Stickereien versehene Saum ihres Rockes streift raschelnd ihre kniehohen Lederstiefel. »Was meinst du, Bella?«, fragt sie, vielleicht etwas zu fröhlich.

Bella vergräbt ihren Blick wieder in ihr Smartphone. »Ich würde mich eher mit ’nem Gürtel am Türrahmen aufhängen, als hierherzuziehen.«

»Tu dir keinen Zwang an. Sag uns nur frei heraus, wie du dich fühlst«, sagt Will in dem tapferen Versuch, ihre Laune mit Humor zu tragen. Bellas Gesicht bleibt unbewegt, absolut ausdruckslos.

Romy, die bis eben eine am Boden entlangkrabbelnde Kellerassel beobachtet hat, schaut mit großen blauen Augen zu ihrer Mutter auf, als spüre sie, dass etwas nicht stimmt.

Jessie tastet nach ihrem liebsten Besitz, einem goldenen Anhänger in Form eines Lebkuchenmannes, der um ihren Hals hängt, eine Kette, die Will ihr zu Romys Geburt geschenkt hat. Das von der Haut gewärmte Metall beruhigt sie zuverlässig wie immer. Sie hat es in den vergangenen Monaten oft berühren müssen, weil ihre Sorge um Bella und die unter der Oberfläche verborgenen Risse in dieser schnell zusammengeflickten Familie ihren Alltag in Aufruhr bringen.

»Bell-Bell.« Romy stampft auf Bella zu und präsentiert ihr mit hoffnungsvollem Grinsen die auf ihrer Handfläche zusammengerollte Kellerassel als Geschenk. Bella weicht angewidert zurück und wirft einen dieser frostigen Blicke auf Romy, die Jessie immer erschaudern lassen. In Bellas Blick liegt manchmal etwas, das überhaupt nicht geschwisterlich ist, nicht mal menschlich. Aber das würde sie Will niemals so sagen.

»Sollen wir dann wieder los, Bärchen?« Will hebt Romy schwungvoll auf seine Schulter, wo sie mit den Füßen strampelnd ganz aufrecht sitzt wie ein Elefantentreiber. Er versucht mit Jessie zu reden, während Romy ihm mit den Händen die Augen zuhält. »Ich bin am Verhungern, Schatz.«

»Noch einen letzten Blick?« Jessie beschleicht ein bedrückendes Gefühl, wenn sie daran denkt, nach London zurückzukehren. Beinahe fürchtet sie, Applecote könnte sich in Luft auflösen, sobald sie gehen. »Ich bin sicher, dass es im obersten Stockwerk noch ein Zimmer gibt, das wir nicht angeschaut haben. Wahrscheinlich ist es bloß ein Abstellraum oder so, aber ich möchte ihn mir noch anschauen. Der Makler hat uns vorhin dran vorbeigedrängt, oder, Bella?«

Bella zuckt mit den Schultern. Aber Jessie erinnert sich, dass Bella sich immer wieder nach dem obersten Stockwerk umgedreht hat, als sie wieder nach unten gingen.

»Dann bleibt mir wohl keine andere Wahl, als mich an diesen leckeren kleinen Füßchen zu laben.« Will tut so, als wolle er Romys Stiefelchen verschlingen. Romy quietscht los. Jessie kehrt noch einmal zurück in das schummrige alte Herz des Hauses, im Stillen überrascht darüber, Bellas Schritte hinter sich zu hören.

Jessie bleibt in dem alten Salon stehen, wo das Licht die Farbe von Guinness hat und die Fenster mit einer pelzigen Staubschicht bedeckt sind. Sie späht hinaus zu der unkrautüberwucherten Kiesauffahrt, den ungestutzten Lavendelsträuchern und sieht Will, der sich gerade mit dem Makler unterhält, ohne zu bemerken, dass sich seine kleine Tochter Steine in die Manteltaschen stopft. Sie hofft, er versucht herauszufinden, ob es preislich noch Verhandlungsspielraum gibt. Darin ist er gut, überraschend unbeirrbar in geschäftlichen Dingen, wenn man bedenkt, was für ein weiches Herz er im Umgang mit den Mädchen hat. Aber er hatte schon immer eine äußere Schutzhülle, die nur jene Menschen durchdringen, die er liebt.

»Hat hier ernsthaft mal jemand gewohnt?«, fragt Bella und reißt Jessie damit aus ihren Gedanken. Mit ihren pinken Converse zeichnet sie eine Straße in den Staub am Holzboden. »Ich mein, so. Nicht hergerichtet oder so?«

»Ja. Eine Mrs. Wilde. Eine Witwe. Sie lebte hier jahrzehntelang allein, bis sie weit über neunzig war. Stell dir vor! Das muss eine besondere Frau gewesen sein.«

»Ich wette, man hat ihre mumifizierte Leiche vor dem Fernseher gefunden, angefressen von ihrem Schoßhündchen. Solche Sachen passieren doch auf dem Land, oder?« Bella grinst sensationslüstern. »Hier hört einen jedenfalls niemand schreien.«

»Die Wahrheit ist weniger spektakulär, fürchte ich.« Jessie erwidert Bellas Grinsen. Bellas trockener schwarzer Humor schafft kleine verbindende Momente in ihrer ansonsten angespannten Beziehung. Jessie freut sich immer, wenn sie schimmernde Risse in Bellas Panzer findet. »Das Haus wurde ihr einfach zu viel. Sie ist auf der Treppe gestürzt und musste vor gut neun Monaten in ein Pflegeheim ziehen. Seitdem steht Applecote zum Verkauf. Ich verstehe bloß nicht, warum es sich nicht längst jemand geschnappt hat.«

»Nicht?«, fragt Bella übertrieben verblüfft.

»Mir gefällt einfach, dass es in einer anderen Zeit stehengeblieben zu sein scheint wie eine Taschenuhr.« Jessie betrachtet die breiten Eichendielen – richtige Baumscheiben, nicht zu vergleichen mit den reflektierenden Laminatböden in ihrem Londoner Haus – , die William-Morris-Tapeten, die sich in eingerollten Streifen wie Apfelschalen von dem Wänden gelöst haben und dort, wo früher Bilder hingen, verblasste Quadrate aufweisen. Im Kaufpreis inbegriffen sind einige braune Möbelstücke, Sekretäre, schwarz lackierte Pflanzenständer, sogar eine zerknüllte Häkeldecke auf einem Sessel, etwas, das Frauen in Jessies Vorstellung früher an verregneten Nachmittagen gemeinsam im Gemeindehaus gehäkelt haben. »Man muss bloß ein bisschen dran rumbasteln, dann fängt sie wieder an zu ticken.«

Bella stöhnt leise und lehnt sich an einen Schreibtisch, der dadurch leicht ins Wanken gerät. Dabei verrutscht ein großer Briefbeschwerer aus Glas in seinem oberen Fach. Sie nimmt ihn hoch und hält ihn gegen das Licht, wo er dumpf glitzert wie eine Jahrmarktskristallkugel. Jessie rechnet halb damit, Applecotes Geschichte darin wirbeln zu sehen: Picknicks, Krocket auf dem Rasen, Mädchen in Vichy-Karo-Kleidern.

»Dad spielt da niemals mit, Jessie.« Bella seufzt, ohne den Blick von der Glasfigur zu wenden. »Viel zu viel Arbeit.«

»Ach, es braucht bloß ein bisschen Farbe«, meint Jessie und spürt, schon während sie es sagt, dass das wohl eine ziemlich optimistische Einschätzung ist. Ihre Mutter hat ihre Häuser immer selbst renoviert und die protestierende Jessie mit eingespannt: Geld war knapp, und da es keinen Mann gab, der diese Dinge übernommen hätte, kaufte ihre Mutter einfach ein Heimwerkerhandbuch und machte es selbst, wobei sie nur ein einziges Mal beinahe einen tödlichen Stromschlag bekommen hätte.

»Wohl eher eine gute Bank. Dad meint, finanziell ist es ein Fass ohne Boden.«

»Ich mach mir gern die Hände schmutzig.«

»Ziemlich schmutzig, würde ich sagen.«

»Ja. Auf jeden Fall.« Jessie wird bewusst, wie sehr sie sich nach einer Herausforderung sehnt, nach irgendeinem Projekt, im Anschluss an die warme und süße Zeit, die sie für Romy zu Hause geblieben war und sich hatte treiben lassen. Zwar war sie ihres Jobs im Verpackungsdesign schon länger überdrüssig geworden, frustriert von den normativen Vorgaben, blockiert von Gewohnheit, dem Zwang, Rücklagen für den Kauf ihrer eigenen Wohnung zu bilden – gespartes Geld, das sie bisher nicht verwendet hat und das nun von unschätzbarem Wert ist – , aber sie vermisst das Kreative, Fokussierte des Jobs. Und sie kann nicht anders, als dieses Haus und auch die gesamte Familie im Geiste umzugestalten, und sieht beides bereits wie ein dreidimensionales Modell vor ihrem inneren Auge auftauchen. »Ich hasse diese übertriebenen Landhäuser sowieso. Ein Zuhause sollte schon ein paar Ecken und Kanten haben.«

»Aber es wird niemals unser Zuhause werden«, sagt Bella mit unerwarteter Heftigkeit. »Dad wird es nicht riskieren, so weit aus London wegzuziehen. Nicht hierher.«

Jessie antwortet nicht. Ja, ein Umzug wäre ein Risiko, denkt sie, nicht zuletzt für Bella, aber es wäre ebenso riskant, dort zu bleiben, wo sie sind. In London könnte Bella ganz leicht immer weiter abdriften, bis sie sie komplett verloren hätten. Jessie stellt sich vor, wie sie und Will einst auf diesen Tag zurückblicken und denken, dass alles hätte anders verlaufen können, wenn sie nur mutiger gewesen wären. Und warum sollte es Jessie nicht möglich sein, eine freiberufliche Karriere vom Lande aus zu starten, wenn Romy erst ein bisschen größer wäre? Es verwundert sie immer wieder, dass so viele begabte Städterinnen keine Veränderungen wagen – beim Wohnen, in Beziehungen oder im Job –, als ob dieses geschäftige Leben in London sonst ins Wanken geriete und als könnte durch die kleinste Schräglage sofort alles krachend in sich zusammenfallen. Sie weigert sich, so zu werden.

»Wollen wir jetzt mal nach oben gehen oder nicht?« Bella stellt den Briefbeschwerer etwas zu hart wieder zurück auf den Tisch und durchbricht damit die Stille im Zimmer. »Vielleicht finde ich da oben ja doch noch die Leiche, man kann nie wissen.«

»Ja, man kann nie wissen«, sagt Jessie, und ein unvermutetes Unbehagen durchfährt sie.

Im dachbodenartigen obersten Stockwerk angekommen, ist es gleich kälter, und es riecht muffiger. Die frühere Dienstbotenetage, vermutet Jessie. Die Zimmertüren gehen in einer Reihe vom dunklen, engen Flur ab.

»Das ist das Zimmer«, sagt Bella mit gedämpfter Stimme und zeigt auf eine verschrammte weiße Tür am hinteren Ende des Flurs.

Jessie braucht einen Moment, um zu realisieren, dass der Flur sich nach hinten leicht verjüngt und so der Eindruck entsteht, das Zimmer sei weiter weg, als es in Wahrheit ist.

Der Türknauf lässt sich nur widerwillig mit einem kratzenden Geräusch drehen. Als die Augen sich an das Zwielicht gewöhnen und der Staub sich legt, nimmt der Raum Gestalt an, reglos und düster wie das Gemälde eines niederländischen Malers, eine in sich geschlossene, bedeutungsschwere Welt.

Es ist kein Abstellraum.

Die dicken, schwarzen Dachbalken lenken ihre Blicke auf ein kleines Bullaugenfenster aus violett fleckigem Glas – ein kunstvolles Muster aus Trauben und Reben –, das mit dem hereinfallenden Licht bläuliche Kleckse an die Wand wirft. Es gibt noch ein weiteres Fenster, größer, quadratisch, mit zerschlissenen erdbraunen Seidenvorhängen, die in Falten bis auf den Boden fallen und Jessie an ein altertümliches, zerfleddertes Ballkleid erinnern. Doch das Seltsamste ist ein schlittenartiges, säuberlich gemachtes Bett: mit einem Haufen Kissen, einer mottenzerfressenen, am Ende umgeschlagenen rosa Decke, deren Ränder mit einem Satinband eingefasst sind. Daneben stehen ein hölzernes Schulpult mit einem Tintenglas und einem füllervernarbten Deckel; eine nierenförmige Frisierkommode mit Spiegel ähnlich der, die Jessies verstorbene Großmutter besessen hatte.

Hier drinnen sind Jessies Schritte viel zu laut. Der Raum fühlt sich persönlich an, bewohnt. Es ist, als würde man mitten im Wald auf eine verlassene alte Hütte stoßen und noch warme Asche im Kamin finden. Sie blickt zu Bella hinüber, die noch immer zögernd in der Tür steht und sich am Rahmen festhält, als ob sie so der Kraft entgegenwirken müsse, die sie hineinzieht. Ihre Augen wirken riesig, die Pupillen geweitet, wachsam.

»Also, das ist jetzt eine Überraschung.« Jessie weiß nicht genau, warum sie flüstert. Sie winkt Bella herein. Der Spiegel der Frisierkommode reflektiert das Bild der beiden wie schemenhafte Geister. Argwöhnisch betritt Bella den Raum, mit der flachen Hand streift sie die verblichene Blumentapete, bevor sie innehält und das Bett intensiv betrachtet.

»Gefällt es dir?« Jessie lächelt, erfreut, Bellas mürrische Gleichgültigkeit abgelöst zu sehen von absoluter Gebanntheit. In diesem Raum sieht das Mädchen ganz anders aus, ihre ebenmäßige Schönheit wirkt alles andere als modern.

Bella blickt hoch, überrascht, als habe sie vollkommen vergessen, dass Jessie da ist. »Was?«

»Ich glaube, an diesem Zimmer steht dein Name, Bella.«

Bella errötet, offenbar beim selben Gedanken ertappt. Manchmal, in seltenen, wertvollen Momenten wie diesem, bekommt Jessie einen flüchtigen Blick auf das Mädchen, das Bella vor dem Tod ihrer Mutter gewesen sein muss, weniger abgekapselt, lesbarer. Sie wünschte, sie hätte diese Bella kennengelernt, und sie wird niemals den Versuch aufgeben, sie wiederzufinden.

»Falls wir hierherziehen, ist es deins. Wir können es zusammen einrichten, genau so, wie du es möchtest. Und … und du kannst auch das Zimmer nebenan haben, als Arbeitszimmer oder so. Und du hättest hier oben sogar dein eigenes Bad! Stell dir das mal vor, ein Badezimmer ohne Romys Armada aus Gummientchen.«

Bella nickt abwesend, scheinbar ohne Jessie zuzuhören, aber dafür jemand anderem, den nur sie hören kann, der die falsche Tonlage für erwachsene Ohren hat.

Jessie wartet ab, macht eine Kopfbewegung in Richtung Bett. »Das kannst du auch haben. Aber wahrscheinlich müssen wir neues Bettzeug besorgen.«

Und in diesem Moment fährt Bella herum, schnalzt zurück in die Gegenwart und ist wieder Bella Tucker, ein Teenager, der nicht hier sein will, den die Welt tierisch über den Tisch gezogen hat. Und Jessie weiß, was jetzt kommt: der plötzliche unkalkulierbare Wutausbruch. »Du entscheidest nicht, was mir gehört! Was wir kaufen können!« Bellas Stimme zittert. »Du hast kein Recht, unser Haus in London zu verhökern.«

Jessie atmet tief durch. »Bella, ich stecke auch mein gesamtes Erspartes da rein. Aber hier geht es nicht um Geld, es …« Sie bremst sich. Sie erwähnt Bellas Benehmen in London besser nicht: Der Umzug hierher soll nicht wie eine Strafe aussehen. »Dein Vater möchte eine Veränderung.«

»Erzähl mir nicht, was Dad will.« In einer bedrohlichen Darbietung von Stärke baut sie sich vor der zarteren, sommersprossigen Jessie auf. »Als würde ich ihn nicht besser kennen als du.«

Jessie umschließt mit den Fingern ihren goldenen Anhänger und kann spüren, dass sich ihr Herzschlag auf die Kette überträgt. »Er kann die meiste Zeit der Woche von zu Hause aus arbeiten. Dann siehst du ihn öfter, wir alle werden ihn öfter sehen.« Sie versucht sich zu beruhigen, tief durchzuatmen. »Er möchte sein Leben etwas entschleunigen.«

Bella faucht: »Alles, was Dad will, ist Mum zurückhaben. Kapierst du das nicht?«

Jessie zuckt zusammen, weicht zurück. Die Eichendielen ächzen, als wäre ihr Gewicht – ihre Beziehung, die komplizierte Familienkonstellation – zu schwer zu tragen. Sie versucht, die leise Stimme in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen, die fürchtet, Bella könnte vielleicht recht haben, dass sie womöglich wirklich weniger geliebt wird als Mandy, dass sie und Will sich einfach zu früh nach Mandys Tod kennengelernt haben, als dass ihre Liebe echt wäre.

Bella taxiert sie. »Du glaubst, Dad zieht hierher, und dann vergisst er Mum einfach, oder?«

»Bella …«, setzt sie an, ohne zu wissen, wie der Satz enden wird. Heiße Schuldgefühle machen sich unter ihrer Haut breit. Es ist unmöglich, Bella anzulügen, selbst wenn sie es wollte. Dafür ist das Mädchen zu clever.

»Tja, das wird er nicht, Jessie. Und er wird dich niemals so lieben, wie er meine Mutter geliebt hat. Das hat er auch noch nie. Wir wissen doch alle, dass er dich bloß wegen Romy geheiratet hat. Und allen ist klar, dass dieser Umzug eine Vollkatastrophe wird.« Mit hocherhobenem Kinn wendet sie den Blick ab.

Jessie blinzelt heftig, Bella soll verdammt noch mal nicht ihre Tränen sehen. Es ist nicht das erste Mal, dass ihr Bella diese Dinge sagt, aber deswegen tut es nicht weniger weh. »Mir geht es lediglich darum, was gut für uns ist, für dich. Wo wir glücklich sein könnten.«

»Ich bin glücklich, wo ich bin!«

»Bist du das?«, fragt Jessie ruhig. Die Frage verändert etwas. »Wirklich? Denn aus meiner Sicht sieht es nicht so aus.«

Bellas Mund öffnet sich, als wolle sie etwas sagen, aber es kommt kein Wort heraus. Sie dreht sich zu dem quadratischen Fenster um und reißt grob den Vorhang auf. Sie stützt sich auf dem Fensterbrett ab, die fohlenhaften Beine überkreuzt, und sieht plötzlich genauso jung und verletzlich aus, wie sie noch einen Moment zuvor bedrohlich gewirkt hatte. Sie tut Jessie schrecklich leid.

Jessie wartet, bis das Schlimmste dieser Stimmungsschwankung vorüber ist – ein körniger Sandsturm, der alles für einige Momente verschwimmen lässt, der einem den Atem nimmt und sich dann wieder verflüchtigt – , bevor sie zaghaft zu Bella ans Fenster tritt, sorgsam darauf bedacht, das erhitzte, wütende Mädchen bloß nicht zu berühren, denn traurigerweise sind Berührungen in ihrer Beziehung ein Tabu: Bella hat sehr deutlich klargestellt, dass jede Form des körperlichen Kontaktes mit Jessie absolut unerwünscht ist.

Beim Blick aus dem Fenster wird Jessie wieder etwas leichter ums Herz: die wilde Weite des Gartens, das genaue Gegenteil von ihrem winzigen Kunstrasenstück in London, für die Nachbarn gut einzusehen, die in Jessie eine junge Kuckucksdame sehen, die das Nest einer anderen Frau in Beschlag genommen hat. Ihr Weg durch Applecotes Garten ist von hier aus auch besser ersichtlich. Sie zeichnet ihn mit dem Blick nach: das Glasdach der Orangerie, der bewaldete Bereich, der seinen Spitznamen »Wildnis« zu Recht trägt, der kleine, von einer Mauer umgebene Obstgarten, das schwarze Rechteck des verlassenen Swimmingpools, optisch etwas störend, wie ein Vakuum. Ganz am Ende des Gartens, obwohl sie es von hier aus nicht richtig sehen kann, stellt sie sich das Eisentor vor, an dem sie gestanden und hinübergeblickt haben auf die herrlich weitläufige Wiese mit dem altertümlichen Kreis aus kniehohen Steinen, die aussehen wie winzige wilde Ureinwohner. (»Nicht schlecht, was?«, schnaubte der Makler, ein Geschäft witternd. »Nicht gerade Scheiß-Stonehenge«, setzte Bella trocken entgegen.) Und am Rande dieser Wiese, gleichsam in sie eingegraben, das ferne Glitzern des Flusses. Oh, und ein Greifvogel. Ein Milan, schätzt Jessie, mit diesem gegabelten Schweif. Sie und Bella schauen dem Sturzflug gemeinsam zu, für einen Moment vereint im Akt des Sehens, eine kleine Annäherung zwischen ihnen.

»Beunruhigt dich sonst noch etwas, Bella?«, erkundigt sich Jessie sanft. »Ich meine, abgesehen von alldem hier natürlich.«

Bella drückt ihre Finger mit den abgekauten Nägeln gegen das kalte Glas. »In diesem Haus haben sich schlimme Dinge abgespielt.« Ihre Stimme ist dünn, ausgelaugt von ihrem Gefühlsausbruch zuvor. »Das habe ich gleich gespürt, sobald ich dieses Zimmer betreten habe.«

Jessie schaut Bella forschend an, sie weiß, es ist bloß Bellas supersensibles Teenagergehirn, das seine eigenen diffusen Ängste nach außen projiziert. »Kannst du das näher beschreiben?«, ermuntert sie sie sanft, in der Hoffnung, dies sei eine Möglichkeit, über all die Gefühle zu sprechen, die Bella in sich verschlossen hat.

Bella runzelt die Stirn. »Ist nur so ein komisches Gefühl. Irgendwie scheint die Vergangenheit hier festzusitzen, das ist alles. Oder irgendwer. Ich weiß nicht, es fühlt sich seltsam an.«

Bella umschreibt ihren eigenen Kummer, und Jessie hütet sich, ihn direkt anzusprechen. »Das Haus steht schon lange leer und wurde vernachlässigt. Aber sobald eine neue Familie einzieht …«

»Selbst wenn wir hier einziehen, wird dieses Haus niemals unseres sein«, unterbricht Bella sie nun wieder mit fester Stimme. Draußen schießt der Milan hinab. Ein Schwarm Vögel fliegt auf: alle schwarz und winzig wie eine Handvoll Nägel, die in den blassblauen Himmel geworfen werden. »Genauso, wie ich niemals deine Tochter sein werde, Jessie.«

2

M

Chelsea, London, Mai 1959

Ma lässt sich mit dem Sterben Zeit. Seit zwei Tagen liegt sie nun schon auf der Chaiselongue neben dem Fenster und rührt sich kaum, außer wenn sie nach einer Zigarette greift oder nach dem klebrigen Glas Gin mit Orangensaft, während sie den Blick unter schweren Lidern auf die Straße unten gerichtet hat, wo der Wind die Blüten wie einen Konfettiwirbel von den Bäumen peitscht. Nachdem sie verkündet hat, ihr Herz sei »nur noch ein verschrumpeltes Hammelnierchen, kaum mehr in der Lage zu schlagen«, ist sie nun wild entschlossen, »im Kreise meiner vier geliebten Töchter sanft zu entschlafen«.

Das stellt uns vor ein Problem. Es ist Montag. Unser Wochenende zu Hause ist vorüber, und wir müssten eigentlich wieder in die Schule gehen. Wir werden nicht nur bestraft werden, weil wir zu spät kommen, sondern meine Klassenkameraden, die in meiner Mutter sowieso schon eine Art Zirkusnummer sehen und ihre Gesichter gegen die Schulfenster pressen, wenn das Gerücht kursiert, sie habe nicht vergessen, uns abzuholen, werden uns für noch verwilderter halten. Davon können wir sowieso schon ein Lied singen: »Ach ja, Bunnys Töchter«, sagen die Leute aufgeregt und missbilligend zugleich und laufen bei der Erwähnung von Mas Namen rot an. Ich möchte ihnen sagen, dass wir gar nicht so anders sind. Dass es in der unbeständigen Welt meiner Schwestern und meiner Mutter auch nicht anders zugeht als in hunderten normaler Familien mit all ihren Aufregungen und Zankereien, nur dass sie ohne Pa gleichsam reduziert ist, zu etwas Intensiverem und Salzigerem, wie eine Soße.

Ma hält sich die Hand an die Stirn. Ihr schönes Gesicht ist eine Studie poetischen Leidens. Ich bezweifle, dass sterbende Menschen so aussehen. Oder karmesinroten Lippenstift tragen. Pam meint, wir sollen sie einfach bei einem Glas heißer Zitrone mit Honig allein lassen und in den Zug steigen. Doch Mas Portemonnaie enthält nicht genug Geld für unsere Fahrkarten – wir haben nachgesehen – , und auch wenn keine von uns Mas Schmierenkomödie Glauben schenkt, bleibt doch die quälende Sorge, dass sie dennoch sterben könnte, denn Ma schafft fast alles, was sie sich in den Kopf gesetzt hat.

Ich werfe einen Blick auf den Reisewecker auf dem Kaminsims, der Minute um Minute verschlingt. Soeben hat meine Französischstunde begonnen. Madame Villiot wird mit pudriger Kreide an den Fingerspitzen meinen Namen aus dem Klassenbuch aufrufen, während ihre Rubinohrringe zitternd über ihrem weißen Spitzenkragen baumeln. Es fällt schwer, nicht wenigstens ein bisschen verliebt zu sein in Madame – wie alle anderen – , da es am Squirrels Ladies College keine Jungs gibt, in die man sich verlieben könnte, außer vielleicht noch in die Schulsprecherin mit den Botticelli-Haaren. Ich schaue wieder zu Ma hinüber und spüre, wie sich meine Stirn in Falten legt: »Bist du sicher, dass wir keinen Arzt kommen lassen sollen?«

»Werd nicht hysterisch, Margot.«

Bedrückt starre ich auf Fang hinunter, das mottenzerfressene Tigerfell am Boden, und frage mich, was wohl als Nächstes zu tun ist. Pam kommt ins Zimmer gestampft, dass die Gläser auf dem Servierwagen klirren – »Gebaut wie ein Panzer der Boches«, sagt Ma immer – , und reißt das Fenster auf. Blüten flattern herein und setzen sich wie Schmetterlinge auf den schwarzen Holzboden. Ma zuckt gequält zusammen und bedeckt ihre Augen mit den Händen.

Bunny Wilde ist keine Frischluftfanatikerin. Ihr natürlicher Lebensraum ist die rauchige Welt nach achtzehn Uhr, sie liebt einzig die von den Natriumdampflampen in den Theatern des Westends erzeugten Schatten, die Soiréen in den Clubs von Chelsea und Mayfair, flackernden Kerzenschein, Kronleuchter und die Blicke ihrer Bewunderer. Ma verabscheut ländliche Gegenden und toleriert das Tageslicht höchstens in einem Künstleratelier, wenn sie nackt Modell steht für Jack Harlow, den Maler, in den sie unsterblich verliebt ist – ein gutaussehender, dunkler, krähenartiger Mann, der stets nach Farbe und Pernod riecht. Er hat sie wieder einmal betrogen – was allein meine Mutter überrascht – und macht nun einer neuen Muse den Hof: »Irgendein dahergelaufenes Mannequin«, zischte Ma am Freitag, denn es war zu schrecklich, um es laut auszusprechen, wie russische Atomwaffen oder eine Blasenentzündung.

Unfairerweise richtete sich der Torpedo aus Vorwürfen, der eigentlich durch die hohe Glaskuppel von Jacks Atelier krachen und eine prächtige Explosion aus Ölfarbe anrichten sollte, auf uns. Letzte Nacht lallte Ma in unruhigem Schlaf etwas davon, dass Jack sie schon vor Jahren geheiratet hätte, wenn sie nicht so viele Töchter hätte … als ließe sich die unbedeutende Tatsache ihrer Nachkommenschaft verändern wie etwa die Form ihrer Augenbrauen. Deshalb bin ich auch dankbar, dass ich es nicht alleine bin – »meine liebe, sonderbare Margot«, sagt sie gern zu mir, als wäre ich vom Mond in den Salon gefallen – , die ihrem Glück im Weg steht, sondern dass es vier von uns Schwestern gibt und die Schuld in vier kleinere Portionen aufgeteilt werden kann.

Flora, Pam und ich waren alle immer bloß eine Schuhgröße auseinander, ein paar Zentimeter Kleidersaum: siebzehn, sechzehn und fünfzehn sind wir mittlerweile. »Völlig unmöglich, nicht schwanger zu werden mit deinem Vater in der Nähe«, sagt Ma auf verschmitzt verharmlosende Art, angesichts etwas so Erschreckendem, das in der Schule mittels Schaubildern von sich paarenden Nutztieren gezeigt und von Mädchen im Taxi mit Jungs auf dem Heimweg von Tanzabenden erforscht wird. (An Weihnachten ließ ich mich an der linken Brust berühren. Es war weniger aufregend, als ich gehofft hatte.) Und als Ma schon dachte, sie wäre damit durch, ihre Figur gerettet, kam Dot hinterher, drei Jahre nach mir. Dot sieht uns anderen nicht besonders ähnlich, sie ist dunkel, während wir hell, winzig, während wir hochgewachsen sind. Sie sieht auch nicht aus wie zwölf. Ihre Brille ist zu groß für ihr Gesicht. Eine Spätzünderin, wie ich eine war, mit einer Brust, die nur aus Rippen besteht wie die eines Jungen. Sie kann recht gut lesen – sie liebt Lesen, und ihre kakaobraunen Augen weiten sich, wenn sie bei der Geschichte mitfiebert – , aber rechnen kann sie überhaupt nicht. Wir glauben, es liegt an dem, was geschehen ist. Wie es mit Dot anfing.

Ma war mit Dot schwanger, als der Motor von Pas Wagen mitten auf dem Bahnübergang aus ging, Sekunden, bevor der 14:07er aus Edinburgh kreischend heranraste. Der Polizist nahm an der Tür den Hut ab – ich erinnere mich noch daran und an den eisigen Winterhauch, als die Tür aufging, an den nicht in die Jahreszeit passenden Schweißfilm auf seiner eckigen Stirn. Und dass Ma ihm nicht glaubte, den Kopf schüttelte, sich den harten Ballon ihres Bauches hielt und schrie, nein, nein, nein, nicht ihr Clarence, nicht nachdem er den Krieg überlebt hat, ihm ein Daumen weggerissen wurde und danach noch die Sache passierte, die ihn in manchen Nächten unter dem Bett kauern ließ. Noch am selben Tag setzten bei Ma die Wehen ein, sechs Wochen zu früh, und heraus glitt Dot, blau wie die Piccadilly Line. Danach lag Ma monatelang reglos im Bett. Wenn Dot schrie, beruhigte ich sie. So wie Freunde von uns kleine Katzen hatten, hatte ich eine Babyschwester, das erste Ding, das ich ganz arg liebte und beschützen wollte. Noch heute, wenn Dot krank ist – ihre Lunge pfeift im Winter und braucht den Dampf einer Badewanne wie ein zerknittertes Kleid – , ruft sie nach mir und nur selten nach Ma.

Bei mir dagegen ist es im Schlaf fatalerweise Pa, nach dem ich rufe. Ich war sein Liebling, behauptet Ma. Er nannte mich Wirbelwind Margot, weil ich immer so fröhlich und emsig war und immer Fragen stellte, die ihn zum Lachen brachten: »Wo hört der Himmel auf und beginnt das Weltall?« – »Wenn Gott überall ist, ist er dann auch in den Borsten meiner Haarbürste?«

Mir gefiel, dass Pa mich Wirbelwind Margot nannte. Es war die Bestätigung einer anderen Version von mir, des unbeschwerten kleinen Mädchens, das ich auch war, wie auf dem Foto, in dem ich in den Kensington Gardens im Regen auf seiner Schulter ritt und Pa lachte. Außerdem viel besser als seltsame Margot, auch wenn Ma und meine Schwestern beharrlich behaupteten, es sei bloß ein liebevoller Spitzname.

Der Verlust von Pa ist noch immer gewaltig, aber dennoch vollkommen undurchsichtig. Meine Erinnerungen sind zufällig wie bei einer Tombola. Ich erinnere mich an sein Gesicht, das kräftige Kinn, das sich in all den Porträts wiederholt, die an den Wänden von Applecote Manor hängen, Pas alter Familienresidenz. Aber an seine Stimme kann ich mich nicht erinnern: Sie vermischte sich mit Stimmen aus dem Radio, Stimmen in meinem Kopf. Ma sagt: »Es würde uns vernichten, wenn wir uns an alles erinnern könnten, Margot.« Ich denke, das ist ihre Art, sich Details der Vergangenheit herauszupicken wie Pralinen aus einer Schachtel und die mit der scheußlichen Kaffeecremefüllig beiseitezulassen.

Manchmal glaube ich, dass ein Teil von mir vergessen oder verloren gegangen ist. Und ich weiß nicht, ob ich ihn jemals wiederfinden kann. Aber noch lieber würde ich wissen, ob meine Haut jemals so sein wird wie die meiner Schwestern, glatt wie Seife. Die roten, juckenden Flecken in meinen Kniekehlen traten am Tag von Pas Beerdigung auf und heilten einfach nicht mehr. Wenn die wunden Stellen nässen und meine Klassenkameradinnen in der Dusche darauf starren, frage ich mich, warum ausgerechnet ich damit geschlagen bin, ob meine Haut eine Strafe für irgendein schreckliches Vergehen ist, das ich noch nicht begangen habe. Und was das sein könnte.

Meine Haut ist das Einzige, mit dem mich meine Schwestern nicht aufziehen würden, insgeheim erleichtert, dass ich davon betroffen bin und nicht sie. Es führt zu überschwänglichen Anfällen von Nettigkeit. Dot überlässt mir das kühlere Bett beim Schlafzimmerfenster. Flora schmiert mir Wundsalbe auf die Stellen, die ich selbst nicht gut erreichen kann. Pam erinnert mich eifrig daran, dass ich wenigstens klug sei – »was zumindest ansatzweise deinen Mangel an gesundem Menschenverstand ausgleicht« – und dass jeder etwas an sich habe, das er nicht möge, außer Flora, fügt sie trocken hinzu, denn Flora sei makellos.

Das bringt mich jedes Mal zum Lachen. Manchmal brauche ich meine Schwestern mehr als Ma.

Es ist nicht so, dass Ma keine gute Mutter wäre. Sie ist einfach nur anders als andere Mütter, die ihre Ehemänner nicht bei schrecklichen Unfällen verloren haben, die nicht in hohen, schmalen, windschiefen Häusern in der falschen Ecke von Chelsea wohnen, mit verrußten Stuckfassaden und innen – dem englischen Wetter und dem guten Geschmack trotzend – in den leuchtenden Farben eines afrikanischen Papageis gestrichen, die Zimmer übersät mit Federboas, Lockenwicklern und Büchern.

Nichts funktioniert hier richtig. Der Kühlschrank ist lauwarm. Wir können fernsehen – Ma hat den Fernseher mit großem Trara gekauft, um die Krönung zu verfolgen – , aber nur wenn wir die alten Verdunklungsgardinen aufhängen. Der Staubsauger schmollt anklagend in einer Holzkiste unter der Treppe vor sich hin in Erwartung eines Bastlers, der seine Dienste kostenlos im Austausch gegen ein Lächeln meiner Mutter feilbietet. Im Laufe der Jahre hat ihr Lächeln schon alle möglichen Handwerker überzeugt.

Ma hasst es, für irgendetwas zu bezahlen, wenn es irgendwie anders geht. Sie hält nichts davon, im Laden ihre Schillinge in den Cash Carrier zu werfen und abzuwarten, wie er am Draht entlang zur Kasse schwirrt. Sie kauft alles auf Kredit. Sie hat überall in London ellenlange Rechnungen offen. Außerdem hat sie die längsten Beine westlich des Sloane Square. Das hilft.

Glücklicherweise zahlen die Wildes – Pas älterer Bruder Perry und seine Frau Sybil, die auf Applecote Manor leben – für Squirrels, unser Internat in Oxfordshire, wo wir eigentlich gerade sein sollten. (Für ihre eigene Tochter wählten sie ein vornehmeres im viel wärmeren Dorset, aber auch das rettete sie nicht.) Doch die Wildes würden keinen Schilling direkt an Ma geben. Es ist kein Geheimnis, dass sie sie nicht akzeptieren – Pas Eltern wollten, dass er ein nettes, solides Mädchen aus dem Landadel heiratet, doch stattdessen lockte die forsche Tochter eines Theateragenten aus Bloomsbury, ihre persönliche Wallis Simmons, ihren zweiten Sohn auf Abwege. Außerdem kümmert sich Ma nicht so sehr darum, was andere Leute von ihr halten, und das macht sie ziemlich bedrohlich.

In dem Sommer, in dem Großmama Wilde auf ihrem Liegestuhl starb, noch eine Stunde fröhlich in der Sonne badend, bevor es irgendwer bemerkte, sagte sie zu mir, Ma würde uns »aufziehen wie Katzen«. Ich nickte und schlürfte meine Limonade. Denn es fühlt sich an, als hätten wir ebenso viele Leben. Wir sind gezwungen, unser Benehmen und unsere Loyalitäten den verschiedenen Welten anzupassen, nicht zu viel zu offenbaren, wenn wir uns zwischen Mas wenig bürgerlichem Haushalt, der soliden Beständigkeit des Squirrels Ladies College oder den vornehmen Salons unserer schicken Londoner Freundinnen bewegen, geschützt nur durch das Erbe unseres Familiennamens. Flora und ich haben gelernt, unterschiedliche Varianten unserer Selbst an- und abzulegen wie Socken. Ich habe sowieso noch nicht entschieden, wer ich sein möchte – ich fühle mich von einem Tag zum anderen wie ein vollkommen anderer Mensch –, und Flora fügt sich einfach in die Gesellschaft ein, in der sie sich gerade befindet, immer die Erwartungen erfüllend. Dots Strategie ist süßes Schweigen: Sie beobachtet ihr Umfeld aufmerksam, bevor sie mitspielt, und verbirgt ihre wahren Gefühle in ihren Schürzentaschen. Doch Pam kann immer bloß Pam sein. Sie gestikuliert stets zu heftig, redet zu viel und zu laut, ihre Konturen sind einzigartig und fest.

Pam ist auch diejenige, die den Wildes brühwarm erzählt, wie sich unser Salon mit dem Gelächter von Mas Musikerfreunden füllt, Männern mit Haut in der Farbe von verbranntem Zucker, mit fremdartigem, üppigem Akzent, deren Finger wie Vögel über die hölzernen Verzierungen ihrer Banjos fliegen. Dass Ma die Gesellschaft von Künstlern und Schauspielerinnen aus Chelsea den angespannt lächelnden Hausfrauen aus Kensington vorzieht, die sich an sonnigen Straßenecken über ihre neuen (kalten) Kühlschränke unterhalten. Dass sie von Lucky Strikes zu leben scheint und von den kläglichen Versuchen unseres Dienstmädchens, Elizabeth Davids kalte Tomatensuppe zu zaubern, Gazpacho.

Wir hassen Gazpacho ungemein: Es macht uns anders als andere Mädchen. Immer wenn wir aus der Schule nach Hause kommen, schütten wir die scheußliche Suppe in die Spüle, und Flora macht uns stattdessen einen altmodischen englischen Braten. Dafür lieben wir Flora. Sogar Ma kann sich nicht verkneifen, die Augen zu schließen und vor Freude zu schnurren, als wäre der Braten etwas lange verloren Geglaubtes, eine Kostprobe eines einfacheren, konventionelleren Lebens. Sie sagt Flora, dass sie einmal eine wundervolle Ehefrau abgeben werde – schon bald, hoffe sie, für einen erstgeborenen Sohn, nicht für einen verarmten Zweitgeborenen wie sie selbst, sie dämliche Gans. Der Gedanke daran, dass Flora heiratet, lässt mich jedes Mal mitten im Kauen verharren. Ich weiß nicht, wie wir Schwestern überleben würden, wenn wir uns nicht gegenseitig ergänzen könnten. Nimmt man eine weg, verlieren wir alle das Gleichgewicht, als würde man einem Küchentisch ein Bein absägen.

Aber ich will auch, dass Flora glücklich ist. Glück steht ihr gut zu Gesicht – ich dagegen kann ihm nie richtig trauen, ich verlasse mich lieber aufs Denken – , und für Flora bedeutet Glück, einen Ehemann zu bekommen, Kinder und »ein komfortables Haus, wo ich im Winter nicht friere, mit einer Haushälterin, ein klein wenig Luxus, das ist alles«.

Auch Ma verbringt viel Zeit damit, über unsere künftigen Ehemänner nachzudenken (obwohl sie nicht mal selbst einen hat), über vier bislang noch unbekannte Männer, die in unserer Zukunft bereits auf uns lauern wie Schatten in einer langen, schmalen Londoner Gasse. Mit diesem Ziel lässt Ma uns auch in unserem Salon auf und ab stolzieren, vor den wahnsinnig grünen Augen ihrer Royal-Ballet-Freundin Patty, die uns sofort mit einem Schildpattschuhlöffel auf die Waden schlägt, wenn wir krumm laufen. Meine guten Noten werden eher als störend empfunden: »Zu schlau zu sein ist unklug, Margot.« Pams Traum, Krankenschwester zu werden (unwahrscheinlich angesichts ihrer Ungeduld, wenn jemand krank ist), wird liebevoll verworfen: »Ich bin sicher, es gibt einen einfacheren Weg, deine Mutter zu verärgern, wenn du dich ein wenig anstrengst, Pam.« Tatsächlich erscheint dieser Wunsch nebensächlich angesichts ihrer sportlich-kräftigen Figur, die sich auch von den Gummimiederhöschen, in die Ma sie steckt, nicht überspielen lässt.

»Eure Gesichter müssen es wettmachen, Kinder«, seufzt Ma schulterzuckend. »Ich will euch nichts vormachen.«

Das Problem ist bloß, dass ich kein solcher Hingucker bin wie Flora. Und ich weiß auch nicht, wie man die Aufmerksamkeit in einem Raum auf sich zieht wie Pam. Dabei bin ich nicht unansehnlich, ich bin bloß nicht besonders einprägsam, weshalb ich Ma vorschlug, dass es für mich wohl vernünftiger wäre, einen Job anzustreben, zu unterrichten beispielsweise, eben etwas, bei dem mein Gesicht keine große Rolle spielt. »Oh Margot, habe ich dir denn gar nichts beigebracht?« Sie wirkt verblüfft. »Sieh mich an, zur Selbstständigkeit gezwungen! Darum kannst du mich doch unmöglich beneiden. Heiraten ist viel einfacher.« Sie sagt, dass die Zeit, in der sie mit Pa verheiratet war, die glücklichste ihres Lebens gewesen sei. Ich habe eine bruchstückhafte Erinnerung daran, willkürlich zusammengeflickt wie die verschiedenfarbigen sechseckigen Stoffstückchen in dem Quilt in meinem Schlafzimmer: meine Eltern, die sich im Flur umarmen; Ma, die zärtlich den glatten roten Stumpf von Pas Daumen küsst. Aber in Wahrheit hat keine von uns vier Schwestern eine Ahnung, wie der Ehealltag aussieht, wie es sich anfühlen muss, mit einem Mann zusammenzuleben. Basierend auf so dürftigen Beweisen, müssen wir einfach daran glauben wie an das Alte Testament. Aber insgeheim glaube ich weder an das eine noch an das andere.

»Margot.« Flora zieht mich in den Flur, reißt mich aus meinen Gedanken. Mit einer geschmeidigen Hüftdrehung schließt sie die Tür zum Salon. »Ma hat jetzt seit zwei Tagen weder richtig geschlafen noch gegessen.«

»Entschuldige, aber Ma könnte monatelang nur von Gin und Luft leben.«

Pam stürmt mit einem Stück Marmeladentoast vorbei, mal wieder in einer dieser Stimmungen, in denen sie uns ständig aufspürt, um uns dann demonstrativ zu ignorieren.

»Ich verstehe, dass sie sauer ist, Flora«, sage ich, nachdem Pam ihre Zimmertür so laut wie möglich zugeknallt hat.

»Lass uns nicht zu hart mit ihr sein.« Flora ist noch dazu nett, die Netteste von uns. Pam betont zwar immer, dass es mit einem Gesicht wie Floras ein Leichtes sei, nett zu sein. Schon als kleines Kind zog Flora mit ihren veilchenblauen Augen und ihrem Schmollmund die Aufmerksamkeit auf sich. Und jetzt mit siebzehn hat sie etwas an sich, das Männer dümmlich stottern lässt. Wenn sie die Stirn runzelt, sieht sie nicht etwa mürrisch aus, sondern es verleiht ihrem strahlenden Gesicht Komplexität und Tiefe. »Es ist nicht Mas Schuld.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Aber sie lässt sich immer wieder mit Jack ein, und dann passiert es erneut.« Ich bemerke eine Bewegung am oberen Treppenabsatz, blicke hoch und sehe Dot ans Geländer gelehnt hocken, die Arme um die spindeldürren Beine geschlungen. Sie wirkt, als könnte sie sich im wässrigen Frühlingslicht auflösen wie ein Zuckerwürfel, und zurück bliebe bloß ihre Schildpattbrille. Ich frage mich, wie lange sie schon dort ist.

Als sie sieht, dass sie bemerkt wurde, lächelt sie hoffnungsvoll. »Margot, spielst du mit mir Schach?« Eine Partie Schach vorzuschlagen ist eine ganz typische Art von Dot, eine Krise zu umschiffen. »Ich habe Pam gefragt, aber die meinte, da würde sie lieber ihren Fingernägeln beim Wachsen zusehen.«

»Zehennägeln!«, brüllt Pam hinter der verschlossenen Zimmertür.

»Jetzt nicht. Tut mir leid. Wir überlegen gerade, was zu tun ist, Dot«, sage ich mit der sanften Stimme, die meiner kleinen Schwester vorbehalten ist.

Dot hört zu, während Flora und ich unser Dilemma von allen Seiten abklopfen. Nach einer Weile murmelt Flora etwas von Omeletts und verschwindet in Richtung Küche. Auch Dot stiehlt sich davon.

Ich sehe nach Ma, die eingeschlafen ist, ihre Zigarette wie einen Zauberstab aus grauer Asche noch zwischen den Fingern. Ich stehe da und betrachte sie eine Weile, meine Mutter in ihrem eiswürfelblauen Satinmorgenmantel auf der verschlissenen Chaiselongue, die leichten Fältchen um Augen und Mund, die sie mit Feuchtigkeitscremes und Fingerkneifen bekämpft, obwohl sie sie nicht weniger schön machen. Mas Verletzlichkeit berührt und verunsichert mich. Ich schließe schnell die Tür und mache mich wieder auf die Suche nach Flora.

Von hinten betrachtet, könnte Flora beinahe Ma sein, gertenschlank, groß, langbeinig, bloß dass Ma eher einen fast aufgebrauchten Lippenstift einschmelzen und seine Lebensspanne mit Speisefett ausdehnen würde, statt Mittagessen zu kochen.

»Hol mal das Geschirr, Margot.« Flora dreht sich nicht um. Wir können uns gegenseitig am Geräusch unseres Schnaufens und unserer Schritte erkennen, dem speziellen Rascheln eines bestimmten Beines in einem bestimmten Rock.

Pam und Dot kommen zu uns an den Tisch, und innerhalb von Sekunden haben wir die Omeletts verputzt. Wir wollen uns gerade über Bettys Rührkuchen hermachen, dicke Stücke, die meine Mutter entsetzen würden, die ihre Taille größtenteils den Jahren der Rationierung verdankt, als ihre Stimme zu uns herüberplätschert: »Mädchen?«

Zu unserem Erstaunen und unserer Erleichterung finden wir Ma aufrecht sitzend vor, die nackten Füße auf den Boden gepflanzt, die Finger am Nacken unter ihren Locken. »Ich könnte ein Tasse Tee vertragen.« Ihre Stimme klingt quakig von den Zigaretten, ihr Lächeln wirkt verlegen.

»Ich mache dir eine«, sagt Flora und wendet den Blick nicht von Ma, während sie in den Flur zurücktritt. Ohne die Anwesenheit unserer älteren Schwester herrscht ein Gefühl der Unvollständigkeit. Nur um bis zu ihrer Rückkehr irgendetwas zu tun, setze ich die Nadel auf das Grammophon: Mas amerikanischer Jazz.

Ma klopft sich zum Rhythmus sanft aufs Knie. »Oh, dieser Song bricht mir einfach das Herz«, sagt sie mit einem wehmütigen Lächeln, als wäre traurig zu sein besser, als gar nichts zu empfinden.

»Tee, Ma.« Durch Floras leichtfüßige Rückkehr löst sich etwas. Sie schiebt das Tablett auf den wackeligen Beistelltisch aus Bambus: eine Serviette, eine Tasse Tee im richtigen Braunton, ein mit Zucker bestäubter Löffelbiskuit.

Ma nippt, und ein kleines Teeblatt legt sich wie ein Schönheitsfleck auf ihre Lippe. Sie klopft neben sich auf die Chaiselongue. »Hier. Setzt euch neben mich, Kinder. Ich möchte mit euch reden. Ich bin sicher, wir haben alle Platz. Ja, sogar du, Pam.«

Wir rücken zusammen, behaglich gedrängt. Ma schiebt den Ärmel ihres Morgenmantels hoch und verströmt den Duft von Orangen, Zigarettenrauch und Blue Grass von Elizabeth Arden. »Ich hatte die letzten zwei Tage etwas Zeit nachzudenken.«

»Und zu trinken.« Pams marineblaue Augen blitzen unter den schweren Brauen.

Ma schaut auf ihre Hände in ihrem Schoß. »Es tut mir leid, wenn ich euch Sorgen bereitet habe. Wirklich.«

»Hast du nicht«, sagt Pam scharf, denn Ma wirkt nicht reumütig genug. »Es war vollkommen klar, dass du nicht stirbst.«

»Bitte sei nicht so sauer, Pam.« Ma umfasst ihre Wade und lehnt sich ein wenig zurück, so dass der Satin sich schimmernd über ihrem Schienbein spannt. »Möchtest du mein Löffelbiskuit?«

Pam schüttelt den Kopf, ohne den Blick davon zu wenden.

»Du siehst wirklich besser aus«, sagt Flora strahlend und versucht, einen aufziehenden Sturm abzuwenden. Denn unsere Streitereien sind bis auf die Straße zu hören, und wenn die Nachbarn gegen die Wand hauen, haut Ma mit dem Blasebalg für den Kamin zurück.

»Aber wir müssten jetzt eigentlich in der Schule sein«, stelle ich klar. »Es ist Montag.«

Ma schlägt sich die Hände vor den Mund. »Was für ein Dussel ich bin! Aber lasst euch von dem griesgrämigen Rhinozeros von Direktorin nicht bestrafen. Schiebt die Schuld auf mich.«

»Das werden wir«, sagt Pam streng.

Ma wartet einen Moment, bis sich Pams Worte gesetzt haben. Dann stellt Ma klirrend ihre Teetasse ab und sagt: »Nun ja, zunächst sollt ihr wissen, dass ich vorhabe, noch ein bisschen länger zu leben. Was eine Erleichterung ist, zumindest für mich, wenn auch vermutlich nicht für Pam.«

Pam verzieht mürrisch das Gesicht, kann aber dennoch das winzige Zucken eines Lächelns nicht verbergen. Im nächsten Augenblick macht sie sich über das Löffelbiskuit her, was wir alle als eine Art Vergebung interpretieren.

Ermutigt setzt sich Ma wieder aufrecht hin. »Zweitens: Wer erinnert sich an die Beamishes? Alte Freunde eures Vaters? Die verrückte Sophie Beamish? Rothaariger Ehemann, Außenministerium. Enorme Ohrläppchen.« Sie streckt die Finger einige Zentimeter auseinander.

Wir zucken mit den Schultern, voller Argwohn, die Beamishes könnten eine Unterhaltung vorantreiben, die noch immer jeden Moment, einem Fahrrad ohne Bremsen gleich, in die falsche Richtung davonschießen könnte.

»Sie haben mich nach Marrakesch eingeladen!« Ma senkt verschwörerisch die Stimme und schaut jede von uns abwechselnd mit großen Augen an. »Stellt euch vor. Bunny in der roten Stadt.«

Flora und ich tauschen alarmierte Blicke, denn das wollen wir uns lieber nicht vorstellen.

Ma holt Luft, bevor sie weiterspricht, dann sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus: »Sie haben mir eine Stelle im Sekretariat des Konsuls angeboten, Kinder. Eine schicke Wohnung und Hausangestellte inklusive.«

Das Löffelbiskuit zerbröselt, als Pam hineinbeißt.

»Sekretariat?«, stoße ich hervor. Mit ihren Tippfehlern könnte meine Mutter einen Dritten Weltkrieg auslösen. »Warum um alles auf der Welt …«

»Danke, Margot«, schneidet Ma mir das Wort ab. »Sie meinten, ich bringe etwas Farbe hinein, bringe Leben in die Bude. Und ich spreche gut Französisch. Fürs Tippen und so weiter gibt es ein Mädchen.«

»Du hast natürlich abgelehnt?«, sagt Flora.

»Nun ja …« Mas Stimme bebt, verrät Bedenken und Begeisterung, wie bei einer Braut, die einen Mann heiraten wird, den sie weniger gut kennt, als sie sollte.

»Du liebe Zeit«, ächzt Pam.

Sofort fangen die Innenseiten meiner Knie heftig an zu jucken.