Die Seele der Alpen - Kurt Derungs - E-Book

Die Seele der Alpen E-Book

Kurt Derungs

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wo Himmel und Erde sich treffen.

Die Alpen: kristallklare Bergseen, raue Schluchten, blühende Wiesen und schneebedeckte Gipfel. Kurt Derungs fängt die Magie dieser archaischen Landschaft ein, indem er von uralten Bräuchen erzählt, deren Wurzeln bis in die vorchristliche Zeit zurückreichen. Denn hinter so mancher vertrauten Tradition steckt viel mehr, als wir denken. Erfahren Sie die Ursprünge nächtlicher Umzüge mit schaurigen Masken, von hell lodernden Osterfeuern, oder dem grünen Mann und der Frau Percht. Dieses Buch nimmt Sie mit zu Festen, Kulten und magischen Orten in Bayern, Österreich und der Schweiz. Lassen Sie sich durch dieses bildreich gestaltete Buch zu Ritualen inspirieren, die im Einklang mit den Jahreszeiten ihre magische Kraft entfalten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 174

Veröffentlichungsjahr: 2015

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



KURT DERUNGS

DIE SEELE DER

Alpen

Magische Rituale mit der Kraft von Sonne, Stein und Wasser

INHALT

Einleitung

DIE KRAFT DER ALTEN BRÄUCHE

Salige und Schicksalsfrauen

Kelten, Räter und Noriker

Von Sennerinnen und Hirten

Rituale und Naturgaben

RITUALE UND ORTE IM JAHRESKREIS

Allerseelen und Anderswelt

Martinstag und Bauernwinter

Krampus und Nikolausfrau

Bärbele- und Klausentreiben im Allgäu

Lichterschwemmen und Lutzelfrau

Weihnachtsblock und Rauhnacht

Rauhnächte und Zwölften

Die mythische Frau Percht

Die tanzenden Tresterer

Neujahrsbräuche

Perchtnacht und Dreikönig

Lichtmess und Brotwerfen

Scheibenschlagen und Feuerkult

Tschäggättä und Schurten

Osterfeuer und Eierlesen

Walpurgisnacht und Pfingstkönig

Sonnenwende und Johannisbrauch

Der Korngeist als letzte Garbe

Schlusswort

Literaturauswahl

Quellen

Bildnachweis

Der Autor

© LOOK, München (O. Seehauser Südtirolfoto)

Einleitung

Dieses Buch möchte Sie auf eine kulturelle Entdeckungsreise durch die Alpenregion mitnehmen und bietet Ihnen zugleich die Möglichkeit, eine persönliche Erkundungstour in die Welt der Bräuche zu machen, die Sie vielleicht schon als Kind erlebt haben und heute wieder pflegen.

So ist zu erfahren, was hinter dem Nikolaus oder dem Krampus steckt, oder warum die Heiligen Drei Könige eingeführt wurden. Der Feuerkult an Ostern lässt sich kaum allein durch die christliche Tradition erklären. Ebenso verbirgt sich hinter Lichtmess und Allerseelen eine ältere Glaubenswelt, die von den Kelten geprägt wurde. An Weihnachten erschien einst nicht das Christkind oder der Weihnachtsmann, sondern eine geheimnisvolle Mittwinterfrau mit ihren Gaben: Die Frau Percht, die auch den Rauhnächten und Zwölften vorsteht sowie als Orakelwesen der dunklen Zeit angerufen wird. Vielleicht erinnern sich manche unter Ihnen auch an das Entfachen des Johannisfeuers oder an die letzte Strohgarbe auf dem Feld, die im Erntebrauch als mystische Gestalt galt. Kaum einer wird sich dem Zauber dieser urtümlichen Bräuche entziehen können. Dieses kulturelle Erbe wird uns umso wertvoller, je mehr wir seinen tieferen Sinngehalt verstehen.

In meiner langjährigen Beschäftigung mit den urtümlichen Bräuchen im Alpenraum ist mir immer wieder aufgefallen, dass Menschen, die ein Jahresritual pflegen, häufig sehr wenig über dessen Ursprung und seine Bedeutung wissen. Fragt man sie danach, lautet die Antwort oft: »Warum wir das machen? Weil es immer schon so war – aber früher, da haben unsere Vorfahren es noch etwas anders gefeiert.« Das Wissen um die Inhalte und die Herkunft der Traditionen ist also eher bruchstückhaft, obwohl heute das Interesse an der Ausübung der jahreszeitlichen Rituale sowie der regionalen Bräuche wieder stärker ausgeprägt ist.

Die Rituale wurden also von den Einheimischen nicht selbst erfunden, sondern sie tragen diese Traditionen weiter. Die Anfänge der Bräuche verlieren sich oft im Dunkel der Geschichte, auch wenn es in historischen Quellen manchmal eine erste schriftliche Erwähnung gibt. Doch auch naturmagische Riten sind im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen. Um etwas über ihre tiefere Bedeutung zu erfahren, müssen wir also die richtigen Fragen stellen.

Das beginnt schon mit der Erkenntnis, dass die Jahresbräuche aus einem Sammelsurium von kulturellen Einflüssen bestehen und der eigentliche Kern nur anhand unterschiedlicher Zugänge herausgearbeitet werden kann. So vereinen Alpenbräuche oftmals moderne, mittelalterliche, christliche, germanische, römische, keltische oder alteuropäische Schichten miteinander, die es zu ihrem besseren Verständnis zu unterscheiden gilt.

Manchmal werde ich gefragt, woher wir überhaupt etwas über die frühen Bräuche unserer Vorfahren wissen können. Tatsächlich gibt es zahlreiche Wissensgebiete, aus denen die Brauchtumsforschung zusätzliche Erkenntnisse gewinnt. Dort wo es keine unmittelbare Überlieferung gibt, setzt sich das umfassendere Bild eines Brauches notgedrungen aus verschiedenen Mosaiksteinen zusammen. Das liegt zum einen an dem langen Zeitraum, den es zu überblicken gilt, zum anderen aber auch an den einschneidenden Veränderungen über die Zeit: In Europa haben unzählige Kriege, Untergänge von Völkern und Kulturbrüche in den letzten 2500 Jahren eine lückenlose Tradierung verhindert. Man denke nur an die Auswirkungen der Inquisition und die Hexenverfolgung ab dem 15. Jahrhundert. Doch schon in den frühchristlichen Konzilen der spätrömischen Zeit wurde die alte Naturverehrung verunglimpft, die in der antiken Welt Europas sowohl bei den unterworfenen Völkern als auch außerhalb des Römischen Reiches sehr verbreitet war. Immer wieder wurden die Naturrituale als »heidnisch« diffamiert und die Menschen, die eine Naturreligion pflegten, mit üblen Strafen verfolgt oder sogar zum Tode verurteilt. Die Kirchenväter folgten dabei dem Vorbild ihrer Vorväter, deren Vorgehen gegen die altsemitischen Naturreligionen im Alten Testament beschrieben wird. Ein Beispiel dafür ist die altorientalische Göttin Ashera, die man im Nahen Osten in einem heiligen Hain als Kultpfahl (Baum), Quelle oder Stein verehrte und deren Kultstätten der Reihe nach zerstört wurden. Als der römische Kaiser das Christentum im Römischen Reich offiziell zur Staatsreligion erhob, wurde aus der ehedem friedliebenden Minderheit eine mächtige Institution. Bald war es mit der religiösen Toleranz vorbei, und die Kirchenväter befahlen heilige Bäume zu fällen, Ahnensteine zu zerschlagen und Bildnisse zu vernichten. Trotz aller Drohungen ließen die Menschen deshalb noch lange nicht von ihrem alten Glauben und ihren Riten ab, denn in der alteuropäischen Mythologie wurden vielfach die Kräfte der Natur, die schützenden Ahnen und die göttliche Ahnfrau verehrt, die den Menschen, Tieren und Feldern alljährlich Fruchtbarkeit schenkte. Wer diese alten Praktiken weiterhin pflegte – entweder offen oder insgeheim – wurde von den Bischöfen zum unbelehrbaren und abergläubischen Volk gezählt.

Eine bedeutende Quelle, um das Brauchtum unserer Vorfahren zu erschließen, ist das Missionsbüchlein des Wanderpredigers Pirmin. Dieser lebte etwa von 670 bis 753 und wirkte unter anderem auf der Insel Reichenau am Bodensee und im Alpenrheintal. Sein Büchlein, das unter dem Titel »Scarapsus« bekannt ist, enthält viele Beschreibungen alter Rituale, die auch im Alpenraum gepflegt wurden und teilweise bis heute fortleben. So berichtet er davon, dass man zum Beispiel Brot in den Brunnen warf, was an die Gabe an die Elemente unserer Zeit erinnert, wenn dem Wind, dem Wasser oder der Erde Weihegaben entboten werden, oder die Menschen vermummten sich mit Hirschfellen, wie sie es heute noch bei zahlreichen Umzügen in der Mittwinterzeit tun.

© LOOK, München (O. Seehauser Südtirolfoto)

»Die Seele der Alpen« ist eine Entdeckungsreise durch den Alpenraum, in der die jahreszeitlichen Bräuche und naturbezogenen Kulte im Vordergrund stehen. Dabei ist es überraschend, wie viele archaische Spuren noch vorhanden sind und mit welcher Hingabe unzählige Menschen diese Rituale pflegen. Daher habe ich aus der Fülle dieses unschätzbaren Kulturerbes eine Auswahl getroffen, die eine anschauliche Abfolge der Bräuche im Jahreslauf erlaubt. Wichtig war mir zudem, dass diese Traditionen heute noch gelebt werden und jeweils Zusammenhänge zu deren kulturellem Hintergrund bestehen. Denn eine meiner zentralen Fragestellungen ist, warum die Rituale genau in diesem zyklischen Abschnitt des Jahres ausgeübt werden. Ebenso interessierte mich besonders, ob diese Rituale mythologische Spuren aufweisen und es Hinweise auf eine außerchristliche Tradition gibt. Es sind dabei oft die einfachen Fragen, die zu erstaunlichen Einsichten führen. Überblickt man die beschriebenen Rituale in diesem Buch, so gibt es durchaus gemeinsame Merkmale. So stehen die Bräuche alle in Verbindung mit den Vorgängen in der Natur und sind eng an die Verehrung der Ahnen gebunden. Die Bedeutung der Ahnenwesen ist ein zentraler Ansatzpunkt, um jahreszeitliche Feste zu verstehen. Vielfach wird dieser Aspekt bei der Beschäftigung mit den Bräuchen kaum oder gar nicht beachtet, doch die Anderswelt und die Totenpflege spielen eine derart bedeutende Rolle, dass sie einen Schlüssel zum Verständnis der geheimnisvoll anmutenden Bräuche darstellen.

In diesem Sinn ist dieses Buch sogar mehr als eine Entdeckungsreise zu den ursprünglichen Ritualen der Alpen. Es ist eine Reise zu den Wurzeln alteuropäischer Traditionen, denn die Ahnen- und Naturverbundenheit pflegte man einst in ganz Europa. Nur haben diese Bräuche in unwegsamen Gebieten wie den Alpen länger überlebt. Zudem wird durch die Darstellungen deutlich, dass Rituale nicht nur im Jahreskreis bedeutsam sind, sondern auch eine persönliche Erfüllung bewirken.

Die Kraft der alten Bräuche

© LOOK, München (Andreas Strauß)

Die Alpen sind seit jeher eine faszinierende Welt aus schroffen Felsen und weißen Berggipfeln. Als sich am Ende der letzten Eiszeit die Gletscher allmählich zurückzogen, entstanden fruchtbare Täler und Hochebenen, wo die ersten Menschen aus der Frühzeit reichlich Wild und Pflanzen fanden. Höhlen und Felsvorsprünge boten ihnen Schutz vor Wind und Wetter, am Lagerfeuer stellten sie Werkzeuge her und teilten sich die Nahrung. Es ist davon auszugehen, dass sich diese frühen Alpenbewohner schon damals sowohl über ihr Dasein in der Gemeinschaft als auch über die sie umgebenden Naturphänomene Gedanken gemacht haben. Davon zeugen Fundstücke von Ausgrabungen, Kultplätze, Felszeichen und frühgeschichtliche Inschriften. Aber auch Sagen, alte Bräuche und jahreszeitliche Naturrituale erzählen davon. In der archaischen Glaubenswelt spielten die Geister der Ahnen und die Naturwesen eine zentrale Rolle. Oft kommt in diesen Vorstellungen eine Große Ahnfrau vor, von der die Menschen abstammen. Oder es ist die Rede von einem weiblich-männlichen Ahnenpaar, das die ersten Menschen erschaffen haben soll. Außerdem waren es die Ahnengeister der Verstorbenen, die den Sippen Schutz und Segen brachten, und die man in schamanischen Ritualen um Rat ersuchte. Eine Sippe lebte in dem spirituellen Bewusstsein, dass die Lebenden und Toten der Anderswelt zusammen eine Gemeinschaft bilden und zwischen den beiden Welten durch Rituale und Bräuche eine unmittelbare Wechselbeziehung hergestellt werden kann. Häufig gab es sogar die urtümliche Vorstellung, dass aus dem heiligen Schoß der Großen Ahnfrau die Menschen, Tiere und Pflanzen gekommen waren. So galten Natur- und Tierwesen sowie der Mensch als miteinander verwandt.

© LOOK, München (age fotostock)

Salige und Schicksalsfrauen

Im Alpenraum ist in zahlreichen Sagen der Jägerkultur immer wieder von einer Ahnfrau und Herrin der Tiere die Rede. In den Ostalpen erscheint sie als »Salige« oder in ihrer Dreiheit als »die saligen Frauen«, die in der Tiroler Sagenwelt im Inntal, Vinschgau und Ötztal lebendig geblieben sind. Ihre beliebtesten Aufenthaltsorte waren Felsen, Steinblöcke, Höhlen und Gletscher. Besonders häufig wurden sie in den im Inneren des Berges verborgenen Gletscherhöhlen vermutet, die als wunderbare Jenseitsparadiese beschrieben werden. Dort hausten sie, so erzählt man sich, in einem Kristallpalast, wo reichlich Speisen gereicht wurden und der Gast von lieblichem Gesang umgeben war.

So manchen jungen Burschen haben sie in ihre zauberhafte Höhlenwelt eingeladen, wo sie mit ihm eine fröhliche Zeit verbrachten – bis er irgendein Tabu brach, indem er beispielsweise eine ihrer Gämsen tötete. Die Gämsen sind nämlich die Haustiere der Saligen und ihnen deshalb heilig. Sie pflegten und hüteten die Tiere, und die Jäger mussten sich mit den Ahnfrauen gut stellen. Von ihnen kamen die Tiere, die als deren Schutzbefohlene galten. Die Jäger respektierten die Saligen und beachteten ihre Regeln. Eine davon lautete, dass sie nur eine gewisse Anzahl Tiere erlegen durften. Wurden aber derlei Anordnungen missachtet oder benahm sich ein Mensch sonst irgendwie frevelhaft gegenüber der Ahnfrau und ihren Tieren, drohte demjenigen Ungemach, oder er wurde sogar mit Wahnsinn gestraft.

Die Saligen selbst galten ansonsten als eher zurückhaltend, gutmütig, weise und hilfsbereit – die scheuen Wesen verabscheuten jeglichen Lärm. Es hieß, sie erschienen den Menschen in weißen Gewändern und hätten goldblondes Haar wie Flachs.

Als die Menschen allmählich sesshaft wurden und Ackerbau und Viehzucht betrieben, wurde aus der urtümlichen Hüterin der Tiere die Segensbringerin der Menschen – eine schützende Ahnfrau des gesamten Hofes, der Bäuerinnen und Bauern sowie des Gesindes. Seither gaben die weißen Frauen Rat bei der Aussaat, beim Ackerbau und bei der Pflege der Tiere. Mit ihrer Weisheit unterstützten sie die Menschen auch in Alltagsfragen und galten als Schicksalsfrauen. Besonders die Frauen hatten zu den Saligen eine enge Beziehung, denn die standen ihnen auch bei der Geburt ihrer Kinder bei. Die mythischen Frauen waren außerdem heilkundig und wussten alles über die wild wachsenden Heilkräuter der Natur. Vor allem an Mittwinter, in den Zwölften (24. Dezember bis 6. Januar) besuchten die Saligen die Häuser und Höfe, um mit den Frauen unsichtbar am Feuer zu sitzen und den Flachs zu spinnen.

Interessanterweise gibt es in Tirol nicht nur die Anschauung, dass die Saligen bei Steinen, Felsen und in (Gletscher)-Höhlen wohnen, sondern dass sie sich auch in einem Baum verkörpern könnten. Einst stand in Durnholz (Südtirol) die Drei-Saligen-Föhre, bei der aus einem größeren Baumstock drei Stämme wuchsen. Gemäß der Überlieferung war ein Stamm kleiner als die beiden anderen und symbolisierte das junge, mädchenhafte Leben der Saligen. Der mittlere Stamm hingegen war stark und mächtig und repräsentierte das volle Lebensalter. Der äußere Stamm wiederum war schon morsch geworden und stellte das greisenhafte Alter dar. Sie erschienen den Menschen als die drei Schicksalsfrauen – junges Mädchen, reife Frau und alte Weise –, wie sie in der europäischen Mythologie als schützende Ahninnen vorkommen. Meistens heißen sie dort einfach »die drei Frauen«, »die Geburtshelferinnen« oder »die Mütter«.

© iStockphoto, Calgary, Kanada (Andrea Izzotti)

Die Saligen wurden noch auf andere Art und Weise mit dem Baumkult verbunden: So war es bei den Holzfällern einst Brauch, nach dem Fällen eines Baumes auf dem flachen Baumstrunk ein Kreuz oder drei Kreuze einzuhauen. Der Baumstock mit dem magischen Zeichen galt dann als sicherer Sitz der saligen Frauen, die sich darauf ausruhen konnten. Auch Flachsfelder oder Wegkreuze zählten zu ihren bevorzugten Aufenthaltsorten.

Ebenso aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Name der Saligen: Die Bezeichnung »salig« hat wohl kaum etwas mit »selig« im christlichen Sinne zu tun. Entweder stammt diese Bezeichnung vom indoeuropäischen salin »Glück, Heil« ab, sodass die Saligen entsprechend Glücks- und Heilsbringerinnen sind. Oder es liegt eine Vermischung mit einem alten, sprachverwandten Wort vor, wie es im griechischen selas »hell, glänzend« tradiert ist. Dann wären die Saligen die »weißen Frauen«, die mit dem Mond verbunden sind; denn selas weist, wie in der griechischen Mythologie bei der Göttin Selene, auf den Mond hin. Wenn wir dabei an die Beschreibungen der anmutigen Frauen in weißen Gewändern und an ihre blonden Flachshaare denken, so scheint diese Deutung durchaus möglich.

© LOOK, München (Design Pics)

Kelten, Räter und Noriker

Die Mythologie der Alpenvölker ist zwar untergegangen, doch Reste davon sind immer noch vorhanden. Zu den urtümlichen Gottheiten der Alpen gehören auch eine Reihe mythischer Ahnenwesen, die oft mit den Elementen (Erde – Feuer – Wasser – Wind) oder mit Naturerscheinungen (Berge, Felsen, Gewässer, Bäume, Haine) verbunden wurden und teilweise noch werden. Leider haben uns die alten Völker wenig schriftlich überliefert, oder wir können, wie im Fall des Rätischen, die Botschaften nicht entziffern. So versuchen wir auf unterschiedlichste Weise etwas über die alte Götterwelt zu erfahren: ob durch die Deutung von Landschafts- und Ortsnamen, die Entschlüsselung von Inschriften oder Felszeichnungen, die Interpretation figürlicher Darstellungen oder bei der Untersuchung astronomischer wie geografischer Gegebenheiten. Dabei stößt man in den Alpen auf zahlreiche Spuren der Verehrung verschiedener Gottheiten.

POENINUS

Eine der wenigen schriftlich belegten Berggottheiten der Westalpen ist der keltische Poeninus. Sein Heiligtum stand auf der Passhöhe des Großen St. Bernhard, der das Aostatal mit dem Wallis verbindet. Berichte aus der römischen Antike erwähnen, dass die damals im Wallis siedelnden keltischen Stämme der Veragrer und Seduner den Poeninus auf dem höchsten Gipfel des Passes verehrten. Als Naturwesen wurde er von den Menschen anfänglich als Berg- und Schutzgeist des Ortes mit einer kleinen Gabe bedacht, die sie für ihn auf einen Stein legten. Sie dankten ihm so für den glücklichen Verlauf der bisherigen Wanderschaft, baten um seinen Segen und gute Witterung für die Weiterreise. Solche einfachen Altarsteine, an denen man Opfer an die Gottheit entrichten konnte, finden sich in vielen Bergregionen. Im Alpenraum ist es auch bis heute Brauch, auf einer Anhöhe Steine aufeinanderzulegen, bis schließlich weithin sichtbare Steintürme entstehen. Ob diese Steintürme als Wegmarken der Orientierung dienten oder zu Ehren der Ahnengeister entstanden sind, liegt im Dunkel.

Möglicherweise hat es auf dem Pass früher auch Schalensteine gegeben, auf denen Gaben abgelegt werden konnten. Bekannte Opfer waren Brot, Käse, Milch, Ähren oder auch Schmuckstücke wie Broschen oder Perlen. Noch kaum untersucht ist, ob in dieser Berggegend womöglich auch alte Felsritzungen erhalten sind. Die Vermutung, dass es sie gegeben haben könnte, rührt daher, dass Felszeichen nebst Schalensteinen im Wallis gleich mehrfach überliefert sind. Gut möglich also, dass man bei einer systematischen Untersuchung auch auf dem St. Bernhard derlei Spuren entdecken könnte. Im Wallis lässt sich zudem beobachten, dass viele der Schalensteine zu heiligen Bergen, wie zum Beispiel dem Matterhorn, weisen und womöglich als Altarsteine gedient haben.

Archäologen und Sprachforscher gehen heute davon aus, dass die Verehrung des Poeninus noch aus vorkeltischer Zeit vor mehr als 3000 Jahren stammte. Sie wurde dann von den Kelten übernommen, die diesen Naturort weiterpflegten und dort ein erstes kleines Heiligtum errichteten. Als dann die Römer auf die Kelten folgten, wiederholte sich diese Überprägung durch die neuen Herren: Die Römer bauten einen größeren Tempel, und neben Poeninus wurde nun auch der römische Gott Jupiter verehrt. Entsprechend nannte man in der Antike die Walliser Alpen »Alpes Poeninae«, und der Pass hieß bis ins Mittelalter »Mons Iovis« (Jupiterberg). Erst ab dem 13. Jahrhundert taucht dann allmählich der Name »Mont-Saint-Bernard« auf. Und heute thront nun anstatt Poeninus oder Jupiter die Statue des Heiligen Bernhard auf der Passhöhe. Die Erinnerung an Poeninus hat sich aber in den Landschaftsnamen erhalten. So zum Beispiel im italienischen Ortsnamen Valpelline, der aus einer älteren Form von Vallis Pennina entstanden ist, sowie im bekannten Apennin. All diesen geografischen Ortsbezeichnungen liegt die vorkeltische Sprachwurzel *pen zugrunde, die einfach »Berg« oder »Gebirgszug« bedeutet. So hat Poeninus bis in unsere Zeit seine Spuren hinterlassen.

BERGGÖTTINNEN ALPIBUS

Eine ganz andere alte Götterwelt begegnet uns in Thun-Allmendingen, wo der Ort zusammen mit dem Thunersee das geografische Tor zum Berner Oberland bildet. Archäologische Ausgrabungen ergaben, dass hier ab dem ersten Jahrhundert eine keltisch-römische Tempelanlage lag. Leider befindet sich an dieser Stelle heute ein Golfplatz mit dem fast schon ironisch anmutenden Namen »Tempel«, von der ehemaligen Kultstätte ist jedoch nichts mehr zu sehen. Vor fast 2000 Jahren dürfte dieser Platz jedoch das religiöse Zentrum der Region gewesen sein, die einst »regio lindensis« hieß – »die Gegend am Wasser«. Dort stand das Heiligtum mit acht Sakralbauten, die von einer Mauer umgeben waren. Im Tempel selbst verehrten die Menschen neben den zahlreichen römischen Gottheiten, darunter Jupiter, Diana, Minerva, Merkur oder Neptun, auch keltische Götterwesen, die einen Bezug zur mythischen Wasser- und Berglandschaft hatten. Das waren die Müttergöttinnen »Matronis« und die Alpengöttinnen »Alpibus«, die auf einem Inschriftenstein, der 1926 gefunden worden war, erwähnt werden. Der beschriftete Stein kann heute im Bernischen Historischen Museum bewundert werden.

© LOOK, München (Konrad Wothe)

Zum besseren Verständnis dieser alten Berggöttinnen lohnt eine kurze Betrachtung der besonderen Lage des Heiligtums. Der Tempel stand am nordwestlichen Ende des Sees auf einer kleinen Anhöhe, die gänzlich von Wasser umschlossen war: von den Flüssen Kander und Aare sowie vom Thunersee, der bei Hochwasser an den heiligen Bezirk heranreichte. Vom Tempel aus konnte man die Berge auf der anderen Seite des Sees gut erkennen. Allen voran die Dreiheit Eiger, Mönch und Jungfrau, die auch eine astronomische Bedeutung haben. Denn von Thun-Allmendigen aus sieht man heute noch bei der Wintersonnenwende am 21. Dezember die Sonne am Gipfel der Jungfrau aufgehen. Man kann also die mythische Wiederkehr des Lichts aus dem Dunkel beobachten – dieses Naturschauspiel wurde den drei »Matronis« sowie den »Alpibus« zugeschrieben, die im Tempel verehrt wurden. Somit steht die Wintersonnenwende hier mit den göttlichen Bergahnfrauen in direkter Verbindung, die sich in der Landschaft in den drei heiligen Bergen Eiger, Mönch und Jungfrau manifestieren. Der Standort des Tempels ist also von seinen damaligen Erbauern aufgrund der besonderen Naturgegebenheiten der Wasser- und Berglandschaft und der astronomischen Gegebenheiten mit Bedacht gewählt worden.

Es gibt aber noch ein weiteres natürliches Phänomen, das uns unmittelbar zur Symbolik der Ahnfrauen führt. Im Oktober und im März, also am Anfang und am Ende des Bauernwinters, zeigt sich jeweils bei Sonnenuntergang ein dunkles Kreuz im Gipfelbereich der Jungfrau, das durch einen speziellen Schattenwurf der umliegenden Felsvorsprünge bewirkt wird. Dieses »Kreuz der Jungfrau« ist von außerordentlicher Schönheit, insbesondere, wenn der schneebedeckte Berggipfel, der rote Fels und die schwarze Kreuzform eine Aura der Erhabenheit bilden. Und auch hier ist das Kreuz in der zauberhaften Bergwelt das Symbol göttlicher Ahnfrauen, der Alpibus oder Matronis, ähnlich wie es in den Ostalpen das Zeichen der Saligen und der Mittwinterfrau Percht war. Auf die letztgenannte mythische Ahnfrau werden wir im Folgenden noch ausführlich zurückkommen.

DER GEHÖRNTE

Ein weiteres Ahnenwesen im Alpenbogen, das bis heute als Sagengestalt, in Masken und bei Umzügen im heutigen Brauchtum auftritt, entdecken wir im norditalienischen Tal Val Camonica in einer Felszeichnung – der »Gehörnte« oder der »gehörnte Mann«.

In dem Tal wurden von der Steinzeit bis zur Römerzeit mehr als 200000 Zeichen in den Fels gehauen: unterschiedliche Symbole, männliche und weibliche Figuren sowie verschiedenartige Tiere kommen dort vor. Vielleicht waren diese Zeichen Ortsmarken, oder man trat mit diesen Bilddarstellungen rituell mit einer höheren Macht in Kontakt, um möglicherweise von der Herrin der Tiere oder den Ahnengeistern den Segen zu erbitten. Manche Sinnbilder könnten auch den Tod und die Wiedergeburt eines Tierahnen darstellen. Was diese Felszeichnungen genau bewirken oder darstellen sollen, ist bis heute unklar. Zweifellos waren diese Kultsteine aber einst heilige Stätten – gleichsam steinerne Kultstätten in freier Natur.

© LOOK, München (Andreas Strauß)