Die Seele des Bösen - Anschlag auf die Freiheit - Dania Dicken - E-Book

Die Seele des Bösen - Anschlag auf die Freiheit E-Book

Dania Dicken

0,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In Los Angeles erhält Profilerin Sadie seit kurzem tatkräftige Unterstützung von ihrer früheren FBI-Kollegin Cassandra. Die kann sie auch gut brauchen, denn sie ist gerade wegen einer Zeugenaussage im Gericht in Downtown Los Angeles, als ganz in der Nähe ein schrecklicher Anschlag stattfindet: In einer Metro-Station wurde das hochgiftige Saringas freigesetzt, es gibt viele Tote. Als Sadie und Cassandra zur Ermittlungseinheit des FBI stoßen, die den Giftgasanschlag auf die Metro untersuchen soll, kommt ihnen bald ein ungeheurer Verdacht: Ein noch viel schlimmerer Anschlag könnte bevorstehen, den sie mit allen Mitteln zu verhindern versuchen. Aber auch privat hat Sadie ein Problem, das sie vor Matt zu verheimlichen versucht …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2017

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Die Seele des Bösen

Anschlag auf die Freiheit

 

Sadie Scott 9

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Preis der Freiheit ist stetige Wachsamkeit.

 

Thomas Jefferson

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Montag

 

Matt zerrte an seiner Krawatte herum und versuchte, eine möglichst unbeteiligte Miene zu machen. Sadie wusste, wie sehr es hasste, sich förmlich herausputzen zu müssen, um ein bestimmtes Bild zu erfüllen. Aber er war nun einmal Bundesagent und musste als solcher eben auch vor Gericht erscheinen. Schließlich war es seine Ermittlung, die hier verhandelt wurde.

Ihr selbst machte es nichts aus, sich in Schale zu werfen und vor Gericht eine Aussage zu machen. Sie liebte es nicht besonders, aber sie hatte nicht dieselbe Abneigung wie Matt.

„Das ist Zeitverschwendung“, raunte Matt ihr zu.

Sadie grinste unwillig. „Ist es nicht. Er wird einfahren und das ist dir zu verdanken. Deine Aussage trägt dazu bei.“

„Ich weiß, aber das ist trotzdem die absolute Zeitverschwendung. Die wissen doch längst alles!“

„Ja, aber wir haben ein paar Leute angeschossen oder sogar erschossen“, erinnerte Sadie ihn.

„Ich weiß ... war reine Theatralik meinerseits.“

Sadie griff nach seiner Hand und lächelte. Sie konnte ihn verstehen. Sie wäre jetzt auch lieber nicht im Gericht gewesen – es war nicht so, als hätte sie Gerichtssäle besonders gemocht. Damit verband sie nichts Gutes.

Schräg vor ihnen saß Baker und rührte sich nicht. Es war mehr Sicherheitspersonal im Saal, als Sadie das üblicherweise aus Gerichtsverhandlungen kannte, aber das wunderte sie nicht.

Außer bei ihrem Vater, da war immer viel Polizei vor Ort gewesen.

Baker und sein Anwalt steckten die Köpfe zusammen. Der Anwalt war ein gewiefter Hund, er hatte schon versucht, Matt wegen Polizeibrutalität anzuzeigen, war damit aber gegen eine Wand gerannt. Er kannte sich aus, war bereit, sämtliche Register zu ziehen. Aber so leicht würden sie es ihm nicht machen.

Amelia saß rechts von ihr. Sie war nervös, wackelte immer mit dem Fuß. Sadie warf ihr einen mitfühlenden Blick zu und lächelte. Im Augenblick saß Phil im Zeugenstand. Er hatte sich pingelig frisiert und trug ebenfalls einen Anzug, von dem Sadie schon amüsiert festgestellt hatte, dass er nicht mehr richtig saß. Durch das regelmäßige Training bekam Phil ein immer breiteres Kreuz.

Die Befragung durch den Staatsanwalt endete gerade und Bakers Anwalt stand auf, um Phil nun ins Kreuzverhör zu nehmen. Er begann, Phil einige Fragen zu stellen und unterbrach ihn immer wieder.

„Haben Sie sich von Ihrem Alleingang vielleicht auch Rache erhofft?“, bohrte der Anwalt schließlich nach. Er war ein gelackter junger Anzugträger aus einer der Top-Kanzleien der Stadt, bei dem Sadie sich immer noch fragte, wie Baker ihn sich leisten konnte. Die Antwort wollte sie vermutlich gar nicht wissen.

Phil ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich wollte keine Rache. Ich wollte nur signalisieren, dass ich keinen Ärger will.“

„Aber ich gehe richtig in der Annahme, dass Ihnen bewusst war, wie gefährlich Ihre eigenmächtige Handlungsweise der offiziellen Operation werden konnte?“

„Nein, das hat sie eben nicht getan. Ich wusste ja, was geplant war und habe beschlossen, der Operation nicht in die Quere zu kommen. Ich wollte nur einfach nicht dabei sein.“

„Wie mir zu Ohren gekommen ist, sind Sie für inoffizielles Handeln bekannt. Der Tod des Pittsburgh Stranglers Sean Taylor ... das waren auch Sie. Und Special Agent Matt Whitman“, fuhr der Anwalt fort und drehte sich zu Matt um, der keine Miene verzog.

„Was auch immer Sie damit andeuten wollen ... aber ja, Taylor geht auf mein Konto“, gab Phil unumwunden zu.

„Kommen Sie zum Punkt“, forderte der Richter Bakers Anwalt auf.

„Das ist der Punkt“, sagte der Anwalt. „Mein Mandant hatte es hier mit willkürlicher Staatsgewalt zu tun!“

„Haben Sie noch Fragen an den Zeugen?“ Der Richter war hörbar gelangweilt.

Der Anwalt schüttelte den Kopf, deshalb war Phil entlassen.

„Als Nächstes rufe ich Special Agent Sadie Whitman in den Zeugenstand.“

Erstaunt blickte Sadie zu den anderen, stand dann aber auf und ging nach vorn. Sie hatte damit gerechnet, dass zuerst Matt oder Amelia befragt wurden, aber offensichtlich war dem nicht so.

„Ihren vollständigen Namen, Geburtsdatum und Wohnort, bitte“, sagte der Richter ziemlich gelangweit. Sadie zählte alles auf, dann übernahm der Staatsanwalt. Schließlich war sie Zeugin der Anklage.

„Sie sind Special Agent beim FBI. In welcher Funktion?“, fragte er.

„Ich bin Profilerin“, sagte Sadie.

„Und Sie waren anwesend bei der Verhaftung von Baker am achtundzwanzigsten März dieses Jahres.“

„So ist es.“

„Wie ist es dazu gekommen? Sie gehören ja nicht zu der Abteilung, die ursprünglich gegen Baker ermittelt hat“, fragte der Staatsanwalt und ließ Sadie erzählen. Schließlich lenkte er die Unterhaltung auf die Ereignisse, die zu Bakers Verhaftung geführt hatten.

„Haben Sie Mr. Richardsons Alleingang kommen sehen?“

„Nicht direkt, nein. Aber es hat mich nicht gewundert, als es passiert ist, und ich wusste auch, dass er den Kontakt zu uns nicht abbrechen würde.“

„Wie haben Sie das eingeschätzt?“

„Ich wusste, es ging ihm nur um Amelia. Trotzdem hat er darauf gehofft, dass wir und seine Kollegen ihm den Rücken freihalten.“

„Hatten Sie Kontakt während der Aktion?“

„Ja, wir haben manchmal telefoniert.“

„War Ihr Handeln von offizieller Seite abgesegnet?“

„Ja, SSA Warner wusste Bescheid. Weil das SWAT-Team in diesem Moment angegriffen wurde, hat er uns gebeten, dranzubleiben.“

„Okay ... und dann sind sie auf dem Schrottplatz eingetroffen. Was haben Sie vorgefunden?“

Sadie begann, die Situation zu beschreiben. Zwar hatten sie das alles so ähnlich gerade schon von Phil gehört, aber das spielte keine Rolle.

„Wir sind dazugestoßen, als Baker Mr. Richardson vor die Wahl gestellt hat, entweder sich erschießen zu lassen oder Amelia zu opfern.“

„Haben Sie ihm das geglaubt?“

Sadie nickte. „Als ich am Vorabend mit ihm telefoniert habe, hat er klargemacht, dass er es zu Ende bringen würde. Das hat er genau so gesagt.“

„Bullshit“, zischte Baker von der Bank.

„Der Angeklagte möge sich bitte mäßigen“, sagte der Richter und seufzte. Baker hielt wieder den Mund.

Der Staatsanwalt wandte sich Sadie wieder zu. „Sie sind also davon ausgegangen, dass entweder Phil Richardson oder Amelia Graham sterben würden.“

„Ja“, sagte Sadie und nickte. „Daran hatte ich keinerlei Zweifel.“

„Hat Mr. Baker den Befehl gegeben, Miss Graham zu erschießen?“

„Ich habe gesehen, wie er seinem Komplizen zugenickt hat. Daraufhin hat mein Mann geschossen, um Miss Graham zu retten.“

„Soweit ich weiß, hat das FBI Ihr Handeln überprüft und keinerlei Grund zur Beanstandung gesehen.“

„So ist es“, sagte Sadie.

„Gut ... über die tödlichen Schüsse werde ich gleich mit Ihrem Mann sprechen, aber fürs Erste bin ich durch.“ Der Staatsanwalt nickte dem Richter zu, der Bakers Anwalt ansah.

„Möchte die Verteidigung die Zeugin befragen?“

„Selbstvertständlich“, sagte Bakers Anwalt und erhob sich. „Special Agent Whitman ... ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie ziemlich inoffiziell vor Ort waren, als mein Mandant festgenommen wurde.“

„Nein“, erwiderte Sadie. „Wie ich bereits sagte, SSA Peter Warner wusste Bescheid. Er hat uns gebeten, abseits der offiziellen Operation des SWAT-Teams ein Auge auf Mr. Richardson zu haben.“

„Wer ist uns?“

Sadie ließ sich nicht anmerken, wie überflüssig sie die Frage fand. „Mein Mann und ich. Special Agent Matt Whitman.“

Der Anwalt drehte sich zu Matt um. Auch Baker wandte den Kopf und grinste frech in die Richtung der anderen. Sadie entging nicht, dass Phil düster zurückstarrte.

„Und wie Sie sagten, haben Sie dafür einen Privatwagen benutzt. War das autorisiert?“, fragte der Anwalt weiter.

„Ich kann wirklich nicht erkennen, wohin das führen soll“, unterbrach der Richter ihn. „Die Zeugin hat den Tathergang doch bereits ausführlich dargelegt.“

„Einverstanden ... ich habe noch eine andere Frage: Als Sie die Lagerhalle erreicht haben, in der mein Mandant sich mit den anderen Männern und Miss Graham aufgehalten hat, haben Sie und Mr. Whitman nicht auf Verstärkung gewartet, sondern sofort agiert, und das, obwohl Sie deutlich in der Unterzahl waren. Ist das nicht gegen die Vorschriften?“

Sadie versuchte, weder gereizt noch gelangweilt zu klingen. „Wie Sie vermutlich wissen, wurde Miss Graham in diesem Augenblick mit einer Waffe bedroht, ebenso wie Mr. Richardson, und wie Sie vermutlich ebenfalls nicht vergessen haben, war fast die gesamte Verstärkung durch einen Sprengsatz außer Gefecht gesetzt. Nun war es jedoch so, dass Ihr Mandant Mr. Richardson ein Ultimatum gestellt hat ...“

„Das muss Ihnen bedrohlich erschienen sein, jedoch hat er mir versichert, dass er niemandem geschadet hätte.“

Sadie sagte erst einmal nichts, sondern starrte den Anwalt einfach nur an. „Sie glauben auch noch an den Weihnachtsmann, oder?“

Während Gelächter im Saal laut wurde, klopfte der Richter auf sein Pult. „Ruhe! Ich muss doch sehr bitten, Agent Whitman. Mäßigen Sie sich.“

Er sagte das nicht ohne ein leichtes Grinsen im Mundwinkel, aber Sadie nickte trotzdem. „Entschuldigung, Euer Ehren.“

Der Richter nickte dem Anwalt wieder zu. Der Anzugträger war immer noch rot im Gesicht und versuchte, sich zu sammeln.

„Worauf ich hinaus will: Sie haben ohne Vorankündigung oder Warnung auf meinen Mandanten geschossen“, sagte er.

„Ja, weil mein Mann und ich, wie Sie ja bereits festgestellt haben, deutlich in der Unterzahl waren. Hätten wir uns erst noch offiziell angekündigt, hätte man vermutlich am Folgetag etwas über im Dienst erschossene FBI-Agenten in der Zeitung lesen müssen“, erwiderte sie trocken.

„Mein Mandant wurde ernsthaft verletzt“, entgegnete der Anwalt, ohne auf ihre Spitzen einzugehen.

„Nun, und seine Komplizen sind nun sogar teilweise tot, soweit ich gehört habe“, sagte Sadie.

„Was die Sache nicht besser macht.“

„Sie verteidigen doch Baker. Er lebt noch. Mr. Richardson und Miss Graham leben auch noch, genau wie mein Mann und ich. Das ist doch ein zufriedenstellendes Ergebnis.“

„Nun, über die tödlichen Schüsse werde ich gleich ebenfalls mit Ihrem Mann noch sprechen müssen ...“

„Aber nur, wenn Sie mir verraten, was das zur Sache tut“, unterbrach der Richter ihn. „Haben Sie noch Fragen an die Zeugin?“

Sadie konnte dem Anwalt ansehen, dass er überlegte. Eigentlich hatte er noch Fragen, aber dann schüttelte er den Kopf und entließ sie aus dem Zeugenstand. Sie stand auf, strich ihre Hose glatt und ging an Bakers Anwalt vorbei, ohne eine Miene zu verziehen. Er warf ihr einen Blick zu, der ziemlichen Frust verhieß.

„Als nächsten Zeugen rufe ich Special Agent Matthew Whitman auf“, sagte der Richter. Matt begegnete Sadie auf halbem Weg und ließ ebenfalls die ganze offizielle Prozedur über sich ergehen. Schließlich war es soweit, dass der Staatsanwalt loslegen konnte. Er befragte Matt ausführlich zu den Ermittlungen, seiner Undercoverarbeit und vor allem dem Moment, als Ernesto ihn gewarnt hatte, dass Baker jemanden auf Phil angesetzt hatte, um ihn zu liquidieren. Matt legte die Ereignisse aus seiner Sicht ausführlich dar und schilderte schließlich ebenfalls, wie er Phils Alleingang und Bakers Festnahme erlebt hatte.

„Sie haben zwei Männer erschossen“, sagte der Staatsanwalt. „Haben Sie das in Kauf genommen?“

Matt zögerte mit seiner Antwort. „Mehr oder weniger, ja. Ich hatte nicht viel Zeit. Wir beide hatten das nicht, meine Frau und ich. Sie hat auf Baker geschossen und ich habe sofort nachgelegt, ich wollte Druck machen und signalisieren, dass wir jetzt die Kontrolle übernehmen. Das war schwierig, denn Baker und seine Männer waren bewaffnet und in der Überzahl. So kam es, dass ich einen Mann verletzt und einen erschossen habe, bevor die anderen sich ergeben haben. Alle bis auf einen.“

„Das war Mr. Miles, der Amelia Graham weiterhin mit einer Waffe bedroht hat“, sagte der Staatsanwalt.

Matt nickte. „Genau. Ich habe ihn aufgefordert, Amelia gehen und die Waffe fallen zu lassen, was er nicht getan hat. Ich habe ebenfalls gesehen, wie Baker ihm zugenickt hat, so wie meine Frau es vorhin schon beschrieben hat.“

„Wie haben Sie diese Geste interpretiert?“

„Als Aufforderung, Miss Graham zu erschießen. Deshalb habe ich nicht lange gezögert und Mr. Miles erschossen.“

„Das FBI hatte diesbezüglich nichts zu beanstanden?“

Matt schüttelte den Kopf. „Das war eine angemessene Reaktion.“

„Sie haben Mr. Baker dann festgenommen?“

„Ja, auch wenn er sich gesträubt hat.“

„In Ordnung, das war es auch schon.“ Der Staatsanwalt trat zur Seite und der Richter rief Bakers Anwalt auf, der sich räusperte, als er aufstand. In diesem Moment huschte ein Gerichtsdiener nach vorn zum Richter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Richter nickte und schlug mit dem Hammer aufs Pult.

„Die Sitzung ist für einen Moment unterbrochen“, sagte er. Ein Raunen ging durch den Saal und Bakers Anwalt gestikulierte frustriert. Matt, der immer noch im Zeugenstand saß, warf den anderen einen irritierten Blick zu, doch Phil zuckte nur mit den Schultern. Sadie schaute sich um und versuchte, in den Gesichtern der anderen Anwesenden, besonders denen des Sicherheitspersonals, irgendeine Regung zu entdecken.

Der Richter und der Gerichtsdiener sprachen immer noch miteinander, doch das Sicherheitspersonal hatte noch keine Ahnung, worum es ging.

„Was ist denn los?“, fragte der Staatsanwalt schließlich.

„Ich muss Sie alle bitten, den Saal nicht zu verlassen“, ließ der Richter verlauten. Das Gemurmel schwoll wieder an.

„Ich habe nichts damit zu tun“, rief Baker. Niemand nahm Notiz von ihm.

„Was soll das alles?“, raunte Phil Sadie zu. Sie beobachtete, wie der Staatsanwalt mit dem Richter sprach, aber der schüttelte immer nur den Kopf.

„Wenn er die Sitzung unterbricht und niemand den Saal verlassen darf, ist etwas passiert“, sagte Sadie.

„Aber was?“

Sie überlegte konzentriert. Sie waren in Downtown, in der Nähe war so gut wie alles – die Union Station, das Dodger Stadium, zahllose öffentliche Parks und Gebäude. Und das Gericht selbst war natürlich auch kein uninteressantes Ziel.

„Vielleicht ist etwas hier im Gebäude passiert“, murmelte Phil. Sadie zuckte mit den Schultern und beobachtete weiter die anderen Anwesenden, aber das alles verriet ihr nichts. Kurzerhand stand sie auf und ging nach vorn.

Der Richter musterte sie fragend. „Special Agent?“

„Ist hier im Gebäude etwas passiert?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

„Was ist los?“, fragte sie weiter.

„Es ist noch zu früh.“

„Zu früh wofür?“ Sadie verstand kein Wort.

Der Richter seufzte. „Noch ist nicht klar, ob wir evakuieren sollten oder besser nicht.“

Sadie kniff die Augen zusammen. „Ein Anschlag, richtig?“

Der Staatsanwalt machte ein schockiertes Gesicht und der Richter rollte mit den Augen.

„Sie sind ja Profilerin“, erinnerte er sich.

„Was ist hier passiert?“

Er beugte sich vor und sagte mit gesenkter Stimme: „Noch ist nichts Genaues bekannt, aber nebenan in der Grand Park Station hat es Tote gegeben. Niemand weiß, was passiert ist, deshalb habe ich beschlossen, abzuwarten.“

„Okay, danke“, sagte Sadie. „Darf ich draußen vor der Tür telefonieren?“

„Von mir aus“, sagte der Richter. „Aber nicht weglaufen.“

Sadie nickte und ging an den Bänken vorbei zur Tür. Fragend blickten die anderen ihr hinterher. Als sie die Tür erreichte, wurde sie nicht gleich durchgelassen, aber der Richter gestattete es ihr noch einmal ausdrücklich und die Sicherheitsleute ließen sie raus.

Sie suchte Cassandras Nummer heraus und rief sie an. Tatsächlich war Cassandra gleich am Telefon.

„Bist du nicht in der Verhandlung?“, fragte sie überrascht.

„Doch, eigentlich schon. Hast du irgendwas von der Grand Park Station gehört?“

„Grand Park? Nein ... warte, das ist bei euch um die Ecke passiert?“

„Was denn?“, fragte Sadie angespannt.

„Ich habe vor ein paar Minuten mitbekommen, dass es in einer Metro-Station Tote gegeben haben soll. Ein Anschlag. Gerade stehen hier alle Kopf.“

„Ein Anschlag?“Also hatte Sadie recht gehabt.

„Ja ... warte, da kommt McNamara.“ Dem Rascheln entnahm Sadie, dass Cassandra das Telefon zur Seite hielt.

„Was ist los?“, hörte Sadie die Stimme ihres Chefs.

„Es ist Sadie. Sie ist doch im Gericht in Downtown.“

„Das Telefon.“ Augenblicke später richtete McNamara sich gleich an Sadie. „Kannst du mich verstehen, Sadie?“

„Ja, alles gut.“

„Wir haben gerade die Info bekommen, dass in der Metro ein Anschlag verübt wurde. Soweit ich das mitbekommen habe, ist es die Grand Park Station.“

„Der Richter hat gerade die Verhandlung unterbrochen und will niemanden vor die Tür lassen“, erklärte Sadie.

„Unsere Experten sind schon unterwegs. Nach allem, was wir wissen, liegen Tote am Bahnsteig. Sie sind erstickt, haben Schaum vor dem Mund.“

Sadie wurde eiskalt. „Was kann das sein?“

„Wir sind da noch nicht sicher, aber Anthrax kann es nicht sein, dafür ging das alles zu schnell. Wir vermuten Giftgas“, sagte Hank McNamara.

„Du liebe Güte.“ Für einen Moment hielt sie die Luft an.

„Tu dir selbst einen Gefallen und bleib, wo du bist. Dort solltet ihr relativ sicher sein.“

„Ja, aber ... Giftgas? Das ist hier um die Ecke!“

„Ich weiß noch nicht, was wirklich los ist. Bleibt drinnen. Ich melde mich bei dir, wenn ich mehr weiß.“

Schon war er wieder verschwunden und Cassandra war wieder am Apparat. „Alles okay bei euch?“

„Ja, schon ... das ist doch verrückt. Giftgas?“, wiederholte Sadie.

„Ich weiß auch nicht mehr. Kann ich irgendwas für dich tun?“

„Halt mich einfach auf dem Laufenden. Ich gehe wieder rein.“

„Okay, bis später.“

Sadie legte auf und steckte das Handy wieder weg, dann kehrte sie in den Gerichtssaal zurück und ging unter den neugierigen Blicken aller wieder nach vorn. Der Richter winkte sie heran und beugte sich vor.

„Mit wem haben Sie gesprochen?“, fragte er.

„SSA McNamara, Major Crimes Unit. Ich hatte gehofft, dass er weiß, was los ist.“

„Was hat er gesagt?“

So leise wie möglich sagte Sadie: „Die Kollegen vermuten Giftgas.“

Der Richter machte große Augen. „Hat er Ihnen etwas geraten?“

„Er sagte, wir sollen einfach bleiben, wo wir sind. Er meldet sich.“

„Geben Sie Bescheid“, bat der Richter. Sadie nickte und kehrte auf ihren Platz zurück.

„Der Zeuge darf den Zeugenstand verlassen“, sagte der Richter in Matts Richtung. Matt nahm ihn sofort beim Wort und kehrte zu den anderen zurück. Sadie beobachtete, wie der Richter, der Staatsanwalt und der Gerichtsdiener leise diskutierten.

„Was ist denn los?“, fragte Matt ebenso leise.

„Ich habe mit McNamara gesprochen“, sagte sie. „Es gab einen Anschlag auf die Metro, hier um die Ecke. Tote am Bahnsteig. Sie vermuten Giftgas.“

„Ach du Scheiße“, entfuhr es Phil. Sadie merkte, dass viele im Saal sie beobachteten und hofften, etwas aufzuschnappen, aber dafür sprachen sie zu leise.

„Und jetzt?“, fragte Matt.

„Wir sollen bleiben, wo wir sind. Hank meldet sich.“

In diesem Moment verließ der Gerichtsdiener den Saal.

„Was ist hier eigentlich los?“, fragte Bakers Anwalt.

„Es scheint einen Anschlag gegeben zu haben, nicht weit von hier entfernt“, sagte der Richter unpräzise.

„Einen Anschlag? Was soll das heißen?“

„Genaueres wissen wir noch nicht. Bewahren Sie einfach Ruhe und verlassen Sie nicht den Saal.“

„Also ist es gefährlich“, sagte der Anwalt.

„Ich werde es Ihnen sagen, sobald ich mehr weiß“, sagte der Richter.

„Jetzt bin ich noch nervöser als ohnehin schon“, murmelte Amelia gedämpft.

„Wer weiß, ob die Verhandlung überhaupt fortgesetzt wird“, sagte Matt.

„Hoffentlich ... sonst müsstest du noch ein zweites Mal hier antanzen!“, raunte Phil.

„Und wenn schon. Diese linke Bazille von Anwalt kann mich mal“, erwiderte Matt mit einem Blick in Richtung von Bakers Anwalt.

Sadie spürte das Vibrieren ihres Handys und zog es aus der Tasche. Sie hatte eine Nachricht von Cassandra erhalten. Die anderen steckten die Köpfe zusammen.

Sie haben einen Schnelltest gemacht. Es war Sarin. Geht bloß nicht raus ... die Umgebung wurde weiträumig abgesperrt.

Wortlos sahen die anderen einander an und Sadie ging mit ihrem Handy nach vorn zum Richter. Kommentarlos zeigte sie ihm Cassandras Nachricht und er nickte.

„Was ist los?“, fragte Bakers Anwalt.

Der Richter räusperte sich. „Scheinbar hat es einen Giftgasanschlag gegeben, deshalb bleiben wir alle, wo wir sind. Die Verhandlung wird vertagt.“

Ein Raunen ging durch den Saal. Baker sah alles andere als zufrieden aus, aber darauf achtete niemand. Phil legte einen Arm um Amelias Schultern und Matt stand auf, als Sadie zu ihnen zurückkehrte.

„Können wir nichts tun?“, fragte Matt.

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Da lassen sie uns doch jetzt sowieso nicht hin.“

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte Phil zu. „Das ist ja großartig ...“

 

Etwa nach zwei Stunden sorgten Matt, Sadie und Phil dafür, dass sie als Angehörige des FBI das Gericht verlassen durften. Phil hatte Amelia unauffällig mit hinausgeschleust und als sie das Gerichtsgebäude endlich verließen, offenbarte sich erst das ganze Ausmaß des Anschlags.

Auf den Straßen fuhren außer Einsatzfahrzeugen von Polizei und Feuerwehr keine Autos, Sirenen hallten durch die Häuserschluchten, auch Fußgänger waren fast keine zu sehen. Den Freunden war es gleich, sie waren mit ihren Marken unterwegs und deshalb erwarteten sie keinen Ärger. Sie arbeiteten sich zum Auto vor und fuhren zum Wilshire Boulevard zurück. Unterwegs schaltete Matt das Radio ein, in dem sich die Meldungen überschlugen.

„Die Behörden haben soeben bestätigt, dass es um 10.18 Uhr Ortszeit in Los Angeles zu einem Giftgasanschlag gekommen ist. In der Grand Park Metro Station in Downtown Los Angeles haben Unbekannte eine tödliche Menge des Giftgases Sarin freigesetzt, wie ein Schnelltest ergeben hat. Bis jetzt ist von zahlreichen Todesopfern die Rede, die Behörden sprechen von mindestens zwanzig Toten. Zahlen über Verletzte liegen noch nicht vor, aber es könnten Hunderte sein, die gerade in umliegenden Krankenhäusern behandelt werden. Die Gegend wurde weiträumig abgesperrt, die Metro-Station wird zur Zeit untersucht und dekontaminiert. Bislang hat sich noch niemand zum Anschlag bekannt, die Ermittlungen laufen.“

Als Sadie einen Blick in den Rückspiegel warf, bemerkte sie bei Phil und Amelia betroffene Gesichter. Matt konzentrierte sich aufs Fahren und ließ sich nicht anmerken, was er dachte.

„Sarin?“, murmelte Phil schließlich. „Wer auch immer das war ... wo haben die das her?“

„Gute Frage“, sagte Matt.

„Das riecht doch schon förmlich nach Liebesgrüßen aus dem arabischen Raum. Syrien hat doch noch Sarin, wie wir jetzt wissen.“

„Und sie sind vermutlich nicht die einzigen. Wir müssen sehen, wer dahintersteckt und was das alles soll. Vielleicht können wir helfen.“ Matt blickte zu Sadie. „Vielleicht kannst du helfen.“

„Ich?“, fragte sie überrascht. „Hältst du das für eine Profiler-Sache?“

„Wer weiß. Ich dachte eigentlich, die Phase hätten wir hinter uns gelassen ... Scharmützel und Anschläge mit Bin Laden und seinen Gefolgsleuten.“

Sadie schüttelte den Kopf. „Das hört nicht mehr auf. Jedenfalls nicht so bald. Wir sind in der arabischen Golfregion einmarschiert, haben alles verwüstet, haben versucht, alle Despoten unschädlich zu machen ... und als Dank gab es den Elften September. Seitdem schieben sich doch alle gegenseitig den schwarzen Peter zu.“

„Gut gesagt“, murmelte Phil.

„Wir tragen auch eine gewisse Schuld daran. Das sieht nur keiner.“

„Ob das wirklich aus der Ecke kommt?“, überlegte Matt. „Es hätte ja auch niemand je mit einem Comeback der Russen gerechnet.“

„Vielleicht ist das überhaupt nicht politisch motiviert“, sagte Sadie.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Phil.

„Ich bin zwar zu jung, um mich selbst daran zu erinnern, aber Mitte der neunziger Jahre hat eine japanische Sekte in der Tokioter U-Bahn einen ähnlichen Anschlag verübt“, sagte Sadie.

„Eine Sekte?“, fragte Phil. „Noch nie gehört.“

„Ich erinnere mich daran“, sagte Matt.

„Alter Mann“, ärgerte Phil ihn.

„Damals muss ich vierzehn oder fünfzehn gewesen sein“, sagte Matt, ohne auf die Stichelei einzugehen. „Das war eine ähnliche Geschichte.“

„Vielleicht gehört das hier in dieselbe Kategorie“, sagte Sadie.

„Wunderbar. Ein Comeback der Verrückten und Übergeschnappten“, brummte Matt und lenkte den Challenger auf den Parkplatz des FBI. Im Gebäude und davor ging es zu wie in einem Bienenstock. An der Sicherheitsschleuse kümmerte Phil sich darum, dass Amelia einen Besucherausweis bekam. Staunend schaute sie sich um, während sie zu viert zu den Aufzügen gingen und nach oben fuhren. Dort herrschte ebenfalls Hochbetrieb. Unverzagt folgten die anderen Sadie in ihr Büro, wo Cassandra gleich aufsprang, als sie ihre Freunde sah. Erleichtert umarmte sie Sadie und begrüßte auch die anderen.

„Da seid ihr ja“, sagte sie.

„Das ist Amelia“, stellte Phil seine Verlobte vor.

„Ah, jetzt lernen wir uns auch mal kennen! Ich bin Cassie“, sagte Cassandra und schüttelte Amelias Hand. „Ein Glück, dass euch nichts passiert ist! Ist ganz Downtown nicht immer noch abgesperrt?“

„Ja, man kommt nicht rein. Raus ist ein bisschen einfacher“, sagte Matt.

„Habt ihr denn irgendwas davon mitbekommen?“, fragte Cassandra.

„Nein, nichts“, sagte Sadie. „Man hat drinnen nichts gehört. Bis der Richter benachrichtigt wurde, hatten wir keine Ahnung.“

„Im Moment steht hier alles Kopf, das habt ihr sicher schon bemerkt ... Soweit ich weiß, sind im Moment alle da – Polizei, FBI, Homeland Security, einfach jeder. Sie hatten wohl gleich Sarin oder ähnliches vermutet und haben schnell darauf getestet. Meine letzte Info ist, dass es dreiundzwanzig Tote gibt, Tendenz steigend ... und keiner weiß, wieviele Verletzte.“

„Das ist Wahnsinn“, sagte Sadie.

„Allerdings. Alle drehen völlig durch. McNamara telefoniert dauernd, er sagte, dass niemand einen Hinweis auf einen derartigen Anschlag hatte. Es gibt auch noch kein Bekennerschreiben oder Ähnliches.“

„Gibt es denn eine Vermutung?“, fragte Matt.

„Ich glaube, die NSA kennt heute keinen Feierabend ... aber nein, bisher weiß niemand etwas.“

„Das ist doch verrückt“, sagte Phil. „Niemand kommt einfach so an Sarin! Und das bereitet man auch nicht unentdeckt vor.“

„Ja, das habe ich mir auch gedacht. Ich bin bloß froh, dass es euch nicht erwischt hat ...“

Matt nickte ernst. „Ich werde mal zu meiner Abteilung gehen.“

„Ich schaue auch mal beim SWAT vorbei“, sagte Phil und blickte zu seiner Freundin. „Kommst du mit?“

„Störe ich nicht?“, fragte Amelia.

„Werden wir sehen. Bis später.“

Sie verabschiedeten sich voneinander, dann war Sadie mit Cassandra allein. Die beiden gingen zu dem Fernseher, der kurz vor dem Ausgang an der Wand hing. Einige andere Kollegen waren ebenfalls dort, um sich die aktuellsten Berichte anzusehen.

Hubschrauber flogen über Downtown, um das Chaos von oben zu filmen. Es gab Aufnahmen der abgesperrten Metro-Station, dann wurde die Nachrichtensprecherin wieder eingeblendet. Lauftexte am unteren Bildschirmrand verkündeten die neuesten Informationen. Dann folgten Aufnahmen aus einem verwackelten, etwas unscharfen Handyvideo, das jemand in der Metro-Station gedreht hatte.

Der Bahnsteig war nicht mehr so voll wie zur morgendlichen Rush Hour, aber es waren immer noch zahlreiche Leute dort. An keinem der beiden Gleise stand ein Zug. Plötzlich brachen die ersten Menschen zusammen. Andere standen an die Wand gelehnt da und schnappten nach Luft. Sadie bemerkte, dass jemand direkt an den Gleisen stand und sich übergab. Die ersten Menschen, die am Boden lagen, krampften und hatten heftige Zuckungen. Als es immer mehr Menschen wurden, brach Panik aus.

„Zur Stunde überprüfen die Behörden die Überwachungsaufnahmen aus der Metro-Station“, sagte die Nachrichtensprecherin, die wieder eingeblendet wurde. „Bislang ist immer noch nicht bekannt, wer hinter diesem grauenvollen Anschlag steckt. Ermittler des FBI vermuten, dass das Sarin in den Abfalleimern auf dem Bahnsteig versteckt war. Vom ersten Kontakt mit dem Gift bis zum Tod dauert es etwa zehn Minuten. Glücklicherweise verflüchtigt sich das Gift in der Luft schnell, so dass die Metro-Station bald keine Gefahr mehr darstellen dürfte.“

„Ich kann mich noch an die Anschläge in Tokio erinnern“, sagte Cassandra.

„Da war ich noch zu klein“, sagte Sadie. „Ich glaube, in dem Jahr bin ich in die Schule gekommen.“

„Das war 1995. Wer tut denn sowas?“

„Gute Frage“, sagte Sadie und ging wieder zu ihrem Schreibtisch. Cassandra folgte ihr langsam und beobachtete, wie Sadie die FBI-Datenbank öffnete und die Kampfstoffdatei auswählte. Sie war überrascht, festzustellen, dass es etwas gab, das noch giftiger war als Sarin. VX-Giftgas wurde als hundertmal giftiger eingestuft als Sarin, wirkte aber nicht ganz so schnell und verflüchtigte sich auch langsamer. Sie kannte es bloß aus dem Fernsehen, aus dem Actionfilm The Rock, in dem sich jemand mit VX-bestückten Raketen auf Alcatraz verschanzt hatte.

Aber damit hielt sie sich nicht länger auf, sondern widmete sich der Beschreibung von Sarin. Cassandra schaute ihr über die Schulter, während sie las.

Sarin war ein hochwirksames Nervengift, bei dem schon das Einatmen winzigster Mengen tödlich wirken konnte. Zwar war die Substanz als Massenvernichtungswaffe geächtet und verboten, aber das hatte mutmaßlich die syrischen Machthaber zuletzt auch nicht davon abgehalten, es gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Das bloße Einatmen genügte, um innerhalb weniger Minuten Atemnot, Schweißausbrüche, Zuckungen und Krämpfe zu entwickeln und schließlich durch eine Atemlähmung zu ersticken.

Etwas weiter unten fand Sadie den Verweis auf andere Kampfeinsätze des Giftes. Der Irak hatte Sarin während des Golfkriegs gegen den Iran eingesetzt und ein längerer Absatz befasste sich mit dem Anschlag der japanischen Aum-Sekte in Tokio 1995. Die Sekte selbst hatte es nicht unbedingt als Anschlag verstanden – die verquere Idee dahinter war, dass die durch das Gas getöteten Menschen durch ihre Ermordung auf eine höhere spirituelle Stufe aufsteigen sollten.

Sadie vertiefte sich weiter in die Beschreibungen des Anschlags. Es konnte kein Zufall sein, dass auch jetzt Sarin in einer U-Bahn-Station freigesetzt worden war. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte.

Die Aum-Sekte hatte das Sarin selbst hergestellt, viele gebildete Menschen waren darin Mitglied – bis heute. Allerdings war das Sarin von keiner guten Qualität gewesen, deshalb hatte es nicht sehr effektiv gewirkt. Nichtsdestotrotz waren damals dreizehn Menschen gestorben und über sechstausend verletzt worden. Sadie staunte angesichts dieser Zahl. Die Drahtzieher hinter den Anschlägen hatte man zum Tode verurteilt.

Sarin war im Dritten Reich in Deutschland erstmals synthetisiert worden und die Nazis hatten es massenhaft hergestellt, aber nicht eingesetzt. Später hatten Amerikaner und Russen während des Kalten Krieges Sarin eingelagert – nur für den Fall. Der chilenische Diktator Pinochet hatte ebenfalls Sarin herstellen lassen und gegen die Opposition eingesetzt. Das Nervengift sorgte dafür, dass Nervenzellen unter Dauerbeschuss standen – zumindest verstand Sadie den Absatz entsprechend, der die Funktionsweise des Giftes beschrieb. Sie musste tief in ihrem Wissen aus der allgemeinen Psychologie und dem Biologieunterricht kramen, um sich die Fachbegriffe vor Augen zu führen.

Als Gegenmittel konnte Atropin eingesetzt werden, das dieses Dauerfeuer in den Nervenbahnen unterbrach. Allerdings war Atropin selbst giftig und konnte in entsprechenden Dosen ebenfalls tödlich wirken. Sadie wusste, dass Soldaten früher mit Atropin ausgestattet worden waren, um sich im Notfall retten zu können.

„Wer soll das gewesen sein?“, überlegte Cassandra neben ihr. „Wenn man der Kriegswaffenkonvention folgt, dann müssten doch die Bestände hierzulande vernichtet worden sein.“

„Wahrscheinlich ... aber vielleicht ist es ja jemand wie diese japanische Sekte“, sagte Sadie.

„Glaubst du das? Vielleicht kommt es auch aus Syrien. Ist noch nicht so lang her, dass es dort benutzt wurde.“

„Meinst du?“

Cassandra zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Mal sehen, wer sich bekennt.“

„Ja, das interessiert mich auch ...“ Nachdenklich stand Sadie auf und ging auf die Suche nach ihrem Chef. Sie fand Hank McNamara in seinem Büro am Telefon und wollte schon wieder verschwinden, aber er hob die Hand und signalisierte ihr, zu bleiben, deshalb wartete Sadie im Türrahmen. Er winkte sie herbei und sie nahm vor seinem Schreibtisch Platz.

„Ja, ich verstehe. Kein Problem. Sie melden sich. Wiederhören.“ Er legte auf und lehnte sich seufzend zurück. „Gerade balgt Homeland sich mit uns um die Zuständigkeit in dem Fall.“

„Warum das?“, fragte Sadie.

„Sie beharren drauf, dass die NSA Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund hatte. Attentäter aus dem Ausland. Ich sagte, dass es solange nicht ihr Fall ist, wie das nicht bewiesen ist ...“

„Eben“, sagte Sadie. „Seit wann reißen die sich so um einen Fall?“

McNamara zuckte mit den Schultern. „Hab ich mich auch gefragt. Und das, wo die NSA doch gerade Prügel bezieht, denn eigentlich wusste sie überhaupt nichts.“

„Doch nicht?“

„Nichts Handfestes. Nichts, das irgendwas beweisen oder einen Einsatz von Homeland rechtfertigen würde. Aber sei’s drum ... was kann ich für dich tun? Ich bin ja froh, dass euch nichts passiert ist und dass ihr es auch heil wieder aus Downtown herausgeschafft habt. Cassandra sagte mir zwischendurch, dass du dort bist. Ich hatte die Gerichtsverhandlung gar nicht mehr auf dem Schirm.“

„Wir haben ehrlich gesagt gar nichts mitbekommen, bis die Verhandlung unterbrochen wurde. Mein Mann wird nochmal hin müssen, Bakers Anwalt wollte ihn eigentlich gerade ins Kreuzverhör nehmen.“

McNamara lachte. „Na wunderbar. Aber du bist durch?“

„Ja, ich habe meine Aussage gemacht. Bakers Anwalt ist ein ... nein, das sage ich jetzt nicht. Ich bin gut erzogen.“

„Ich mag deinen Sarkasmus“, stellte er grinsend fest.

Sadie lachte. „Wie du dir denken kannst, wollte er darauf hinaus, dass wir inoffiziell unterwegs waren und die Männer ganz ohne Not erschossen haben.“

„Na, das wüsste ich aber ... aber du bist doch nicht hier, um das mit mir zu besprechen.“

„Nein, natürlich nicht. Eigentlich wollte ich fragen, ob es irgendetwas gibt, das ich in dem Sarin-Fall tun kann ... oder Cassandra und ich.“

„Hm“, machte McNamara und legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Ich weiß es nicht, Sadie. Ich weiß deinen Einsatz zu schätzen, aber gerade sind andere Einsatzkräfte gefragt. Im Moment sehe ich da keinen Profiling-Fall.“

„Ich, ehrlich gesagt, auch nicht ... Ich wollte nur meine Hilfe anbieten. Wenn du sie brauchen kannst, sag Bescheid.“

„Natürlich. Ich bin übrigens froh, dass Cassandra jetzt in unserem Team ist. Sie macht ihre Sache gut, aber das hatte ich auch nicht anders erwartet.“

Sadie lächelte fröhlich. „Das ist schön zu hören. Ich habe mich schon drüben in Virginia immer gut mit ihr verstanden.“

„Ist Dormer es nicht eigentlich langsam leid, dass ihm dauernd die guten Kollegen durch irgendwelche Verrückten abhanden kommen?“

Sprachlos sah Sadie ihn an. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet.

McNamara lächelte und studierte die Maserung des Tisches. „Ich habe absichtlich nie etwas gesagt, aber wahrscheinlich hast du dir längst gedacht, dass ich es weiß.“

„Wenn sogar Warner es weiß ...“ erwiderte Sadie uneindeutig.

„Das ist hier kein großes Thema. Warum auch? Du hast auch nie eins draus gemacht.“

„Wusstest du es von Anfang an?“

Er nickte. „Schon als ich dein Foto gesehen habe. In deiner Akte steht ja auch dein Mädchenname, das war also nicht schwer herauszufinden.“

„Danke, dass du nie etwas gesagt hast“, murmelte Sadie leise. Sie spürte, wie die Röte in ihr aufstieg.

„Ich dachte mir, dass dir das nicht recht ist. Kann ich auch verstehen. Diese Schlammschlacht in den Medien letztes Jahr war unwürdig. Übrigens, wenn du es wissen willst, war es für mich eher ein Grund dafür als dagegen. Ich wusste, dass du gut bist.“

„Ich bin nicht gut darin, Verlegenheit zu verstecken“, gab Sadie zu.

McNamara lächelte. „Entschuldige, das wollte ich nicht. Ich wollte dir eigentlich nur ein Kompliment machen. Ich bin froh, dich und Cassandra zu haben.“

„Danke.“ Weil niemand mehr etwas sagte, stand Sadie schließlich auf und verließ McNamaras Büro wieder. Sie hatte ihren Schreibtisch noch gar nicht ganz erreicht, als Cassandra sie neugierig in Augenschein nahm.

„Du bist ja knallrot“, stellte sie grinsend fest.

„Hör bloß auf“, sagte Sadie und nahm wieder neben ihr Platz. „Er hat mir gerade gesagt, dass er von Anfang an wusste, wer ich bin.“

„War doch klar“, erwiderte Cassandra trocken.

„Ich war auch nicht wirklich überrascht ... aber er hat mich ziemlich gebauchpinselt. Uns beide. Er ist zufrieden mit uns.“

„Was wolltest du denn von ihm?“

„Ich habe ihm unsere Hilfe abgeboten, aber noch sieht er keinen Profiler-Fall darin.“

„Ich auch nicht, ehrlich gesagt ...“ Cassandra seufzte. „Ich kann mich wahnsinnig schwer konzentrieren.“

„Geht mir auch so.“

Es herrschte eine laute, unruhige Stimmung im Büro, niemand arbeitete wirklich konzentriert. Es wurde telefoniert, die Kollegen redeten durcheinander. Die Major Crimes Division, zu der Sadie und Cassandra gehörten, hätte zwar grundsätzlich in einem solchen Fall ermitteln können, aber im Moment waren noch Forensiker und Spurensicherung vor Ort. Experten für Massenvernichtungswaffen, Terrorismusexperten, Innere Sicherheit – noch waren die Experten für Schwerverbrechen nicht an der Reihe.

Sadie war froh, als die Zeit für den Feierabend gekommen war. Sie hatte gerade erst überlegt, ihren Rechner auszuschalten, als Matt in der Tür erschien, um sie abzuholen. Cassandra war ebenfalls damit beschäftigt, Feierabend zu machen.

Sadie winkte ihr zu und verabschiedete sich, bevor sie zu Matt ging und mit ihm den Aufzug betrat. Zu ihrer Überraschung waren sie allein.

„Sehen bei euch auch alle nur fern?“, fragte Matt.

„So ziemlich ... McNamara kann uns gerade sowieso nicht brauchen.“

„Ja, wir haben ehrlich gesagt auch nichts zu tun. Wir sind die falsche Abteilung für diese Angelegenheit. Ich habe vorhin geklärt, wann ich wieder im Gericht antanzen muss ... habe ich eine Lust.“

„Und?“, fragte Sadie.

„Nächste Woche. Diese Verhandlungen ziehen sich immer ewig.“

„McNamara sagte mir vorhin, dass er die ganze Zeit wusste, wer ich bin.“

Matt sah sie mit einem unbestimmten Gesichtsausdruck an. „Da hat er aber lange den Mund gehalten.“

„Er schätzt mich gerade deswegen.“

„Kann ich verstehen.“

„Das ist makaber“, sagte Sadie, während sie den Aufzug verließen.

„Ist es nicht. Du bist vom Fach. Wenn ich hier was zu sagen hätte, würde ich auch die Profilerin einstellen, die Serienmörder aus persönlicher Anschauung kennt.“

Sadie warf ihm einen schiefen Blick zu. „Na, danke.“

„Ach komm.“ Matt legte einen Arm um ihre Schultern. „Ist eben so. Sieh es als ... persönliche Expertise.“

„Klasse. Ich hätte lieber verzichtet.“

„Ja, ich weiß.“ Die Hitze traf sie wie immer heftig, als sie das klimatisierte Gebäude verließen. Auf den Straßen war noch nicht viel los und Matt riskierte, den Freeway zu nehmen, deshalb waren sie schnell zu Hause. Dort angekommen, beeilte er sich, nach oben zu kommen und sich den Anzug und die Krawatte vom Leib zu reißen. Als er nur noch in Shorts dastand, schmiegte Sadie sich von hinten an ihn. Auch sie sah zu, dass sie sich umziehen konnte und trug in diesem Moment nur noch eine Bluse, was Matt natürlich nicht verborgen blieb.

„Das ist jetzt aber schon ziemlich heiß“, sagte er und versuchte, hinterrücks nach ihr zu tasten. Sadie lehnte den Kopf an seine Schulter und seufzte. Als er die Hand in ihrem Slip verschwinden lassen wollte, hielt sie sie sanft fest.

„Nicht jetzt“, sagte sie.

„Okay.“ Matt zog die Hand zurück und drehte sich um. „Hätte ich jetzt gedacht.“

„Nein ... ich bin nicht in Stimmung. Allgemein nicht.“

„Nicht schlimm.“ Matt küsste sie auf die Stirn und verschwand im Bad. Sadie blickte ihm hinterher und zog dann auch ihre Bluse aus, um dann wie meist eine Trainingshose und ein Top überzuziehen.

Nein, sie war wirklich nicht in Stimmung. Ihr war nach Streicheleinheiten, aber nicht nach mehr. Glücklicherweise hatte Matt damit nie ein Problem. Inzwischen stand auch nicht mehr zwischen ihnen, was ein Jahr zuvor geschehen war, aber manchmal war Sadie eben auch ein wenig launisch – so wie Matt auch Tage hatte, an denen ihm der Sinn nach gar nichts stand.

Schließlich ging sie nach unten und fütterte die Katzen, die bereits hungrig in der Küche herumlungerten. Hunger hatte Sadie auch, aber sie hatte keine Lust, zu kochen. Sie fühlte sich wie verdreht und schielte in Richtung der Pinnwand, an der die Speisekarte von Gino’s Pizza hing. Matt betrat gerade die Küche und bemerkte, was ihr durch den Kopf ging.

„Gute Idee“, sagte er trocken.

„Ich will nicht kochen. Aber ich habe Hunger.“

„Pizza Capricciosa?“

Sadie nickte und hörte zu, wie Matt telefonisch bei Gino Pizza bestellte – Capricciosa und Thunfisch mit Zwiebeln. Das kannte Gino auch schon von ihnen, sie bestellten meistens dasselbe. Anschließend schaltete Matt die Nachrichten ein. Sie hatten beide das Bedürfnis, auf dem Laufenden zu bleiben.

Inzwischen wurde auch in den Medien munter darüber spekuliert, wer hinter dem Anschlag steckte. Als allererstes nannten alle Sprecher und Experten islamistische Terrorgruppierungen, nur selten wurden auch andere Möglichkeiten in Betracht gezogen. Schließlich wurden wieder Bilder aus der U-Bahn-Station und Downtown gezeigt. Tote, Verletzte, Chaos.

„Ich bin gespannt, wer es wirklich war“, sagte Matt.

„Bisher weiß ja niemand etwas.“

„Das habe ich schon mitbekommen. Aber Islamisten ... das glaube ich nicht. Das wäre zu einfach.“

„Ist das ein Kriterium für dich?“, fragte Sadie.

„Nein, so meine ich das nicht. Aber es gibt so viele Extremisten. Ich meine, damals in Japan war es eine Sekte und davon haben wir hier in den Staaten definitiv genug.“

„Das stimmt“, sagte Sadie zwischen zwei Bissen. Im Fernsehen kam gerade ein Sprecher der NSA zu Wort. Die ganze Überwachung hatte also nicht geholfen. Sogar im Fernsehen wurde darauf eingegangen, dass die Homeland Security und das FBI sich nicht einig waren, wer nun die Leitung der Ermittlungen übernehmen sollte. Es war ein einziges Chaos.

„Ich bin nur froh, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. Ganz schön verrückt, dass wir quasi um die Ecke waren, als es passiert ist.“

„Allerdings“, murmelte Matt und biss in sein Pizzastück.

 

 

Dienstag

 

Kaffeeduft lag in der Luft, als Sadie das Büro betrat. Es war ungewöhnlich still. Sadie ging zu ihrem Schreibtisch durch, fuhr den Computer hoch und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war ein wundervoller, sonniger Junitag. Los Angeles stand trotzdem Kopf.

Cassandra erschien im Büro und steuerte gleich auf Sadie zu. Ihre Schreibtische standen gleich nebeneinander, insofern war Sadie nicht überrascht, doch Cassies Gesichtsausdruck war unerwartet ernst.

„Hey“, sagte Sadie und lächelte ihr zu. Cassandra blieb vor ihr stehen und zog einen geöffneten Briefumschlag aus ihrer Tasche. Sadie erkannte einen Stempel vom Gericht in Washington und hatte einen Verdacht. Sie zog den Brief heraus und überflog ihn rasch. Cassandra wurde zur Zeugenaussage geladen, in der Hauptsache gegen Lucas Whittaker. Das Datum war der zwanzigste Juli.

Sadie nickte. „Okay. Bin dabei.“

Cassandra setzte sich auf ihren Stuhl und beugte sich vor. „Das war gestern in der Post. Ich habe heute Nacht fast kein Auge zugemacht.“

Wortlos legte Sadie den Brief beiseite, griff nach Cassandras Hand und seufzte. „Wir können es vorher üben. Ich bin immer bei dir. Denk einfach daran, dass er mithilfe deiner Aussage bestraft werden kann.“

Sie war nicht überrascht, dass Cassandra mit den Tränen kämpfte. „Das ist die Hölle, Sadie. Ich stelle mir vor, wie ich im Zeugenstand stehe und schildern muss, was passiert ist ...“

„Wir beantragen den Ausschluss der Öffentlichkeit. Das ist doch klar.“

„Ja, aber ich will es überhaupt nicht erzählen. Er wird dort sein. Ich habe einfach nur Angst.“ Cassandra schloss die Augen und rang mühsam die Tränen nieder.

Sadie drückte ihre Hand. „Du schaffst das. Du bist stark.“

Cassandra schluckte. „Ich fühle mich nicht so ...“

Es war zum Glück niemand in der Nähe, der ihnen zugehört hätte. Trotzdem sagte Sadie mit gesenkter Stimme: „Ich weiß, wie das ist. Das Gefühl kenne ich nur zu gut, aber ich lebe damit. Dass ich mich beinahe umgebracht hätte, hat mir die Augen geöffnet. Seitdem mache ich einfach weiter.“

„Ja, aber du machst das gut ... du kannst das. Ich meine, du hast danach geheiratet! Ich bin fürs Erste durch mit Männern ...“

„Kann man dir nicht verübeln. Und wenn du glaubst, dass es zwischen Matt und mir einfach war, hast du dich aber auch geschnitten.“

Cassandra lächelte unwillig. „Ich bin froh, dass ich mit dir reden kann.“

„Kannst du immer. Ich bin froh, dass du hier bist.“

Die beiden tauschten einen kameradschaftlichen Blick, dann fuhr auch Cassandra ihren Rechner hoch und holte sich einen Kaffee. Sadie steckte die Vorladung wieder in den Umschlag und legte sie auf Cassandras Tisch. Es würde bestimmt nicht leicht für Cassandra sein, im Gerichtssaal gegen ihren Vergewaltiger aussagen zu müssen. Aber sie würde es schaffen und Sadie half ihr dabei. Das hatte sie ihr angeboten und dazu stand sie.

Schließlich nahm Cassandra wieder neben ihr Platz. Sadie wandte sich ihrem Rechner zu und überlegte, was sie nun tun sollte. Die Stadt stand Kopf wegen des Anschlags am Vortag und sie selbst saß nur herum und starrte Löcher in die Luft. Das fühlte sich falsch an.

Ihr Blick fiel auf das Dokumentensymbol des Fachartikels, den sie vor kurzem begonnen hatte. Da hatte sie sich von der britischen Profilerin Andrea Thornton inspirieren lassen, die auch regelmäßig wissenschaftliche Essays über ihre Arbeit veröffentlichte.

Nach langen Überlegungen hatte sie sich dazu entschlossen, tatsächlich über ihren Vater zu schreiben. Sie hatte sogar vor, ihn unter ihrem neuen, richtigen Namen zu veröffentlichen. Nicht sofort, aber irgendwann vielleicht. Allmählich machte es ihr nichts mehr aus, wenn andere Menschen über ihre Identität Bescheid wussten, seien es Kollegen oder jemand anders. Die schlimmen Folgen, die sie immer daraus befürchtet hatte, waren nie eingetreten. Zwar ging sie immer noch nicht damit hausieren, die Tochter des Oregon Stranglers zu sein, aber sie beschloss, dazu zu stehen. Und die Fachwelt freute sich vielleicht darüber, dass sie als Profilerin und Angehörige so viel zu einem Serienmörder sagen konnte.

Doch sie konnte sich kaum konzentrieren und verwarf die Idee, an ihrem Essay zu arbeiten, schnell wieder. Der Grand Park-Anschlag ließ sie nicht los. Zwar hatte niemand sie um Hilfe gebeten, aber sie hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen. Und sie wusste auch schon, was.

Sie griff nach dem Telefon und wählte Nicks Nummer in Quantico. Cassandra, die neugierig auf Sadies Telefondisplay schielte, grinste wissend.

„Du rufst bei Nick an?“

„Ja .... Arbeitet seine Lebensgefährtin nicht in der BAU-Antiterroreinheit?“

„Sheila? Ja. Ah, jetzt verstehe ich ...“

Sadie grinste und hielt den Hörer an ihr Ohr. Zu ihrer Freude erreichte sie Nick problemlos.

„Hey, Sadie“, sagte er. „Dass du überhaupt Zeit hast, um zu telefonieren!“

„Ich bin nicht an dem Fall dran. Noch nicht.“

„Im Ernst?“, fragte Nick erstaunt, was wiederum Sadie überraschte.

„Ja ... warum wundert dich das?“

„Weil es immer noch kein Bekennerschreiben oder etwas Derartiges gibt. Da gibt es einige Ungereimtheiten, bei denen ich als Terrorermittler einen Profiler hinzuziehen würde.“

Sadie grinste belustigt. „Ich würde auch gern.“

„Das dachte ich mir. Rufst du deshalb an?“

„Ich wollte dich nach deiner Lebensgefährtin fragen. Arbeitet die nicht in der Antiterroreinheit?“

Nick lachte. „Du kennst Sheila noch gar nicht, oder? Aber ja, tut sie. Willst du mir ihr sprechen?“

„Du kennst mich. Ich habe sowieso gerade Leerlauf und deshalb meine Nase in den Fall gesteckt. Ich dachte, ich könnte ja mal mit jemandem vom Fach sprechen ...“

„Ach, du fehlst mir hier! Cassandra übrigens auch. Wie geht es ihr?“

„Sie sitzt gerade neben mir und verfolgt die Nachrichten. Es geht ihr prima. Sie hat sich gut eingelebt“, sagte Sadie. Cassandra drehte sich zu ihr und lächelte, als sie merkte, dass das Gespräch auf sie gekommen war.

„Bestell ihr liebe Grüße. Ich werde dir jetzt mal Sheilas Nummer geben, aber sei gewarnt. Wie du dir denken kannst, steckt sie heute in einer Menge Meetings. Vielleicht erwischst du sie zwischendurch und sie kann dir etwas sagen. Ihre Einheit macht sich natürlich auch Gedanken zu der Sache.“

„Klar, wer tut das nicht.“

„Habt ihr denn schon Erkenntnisse?“

„Ich weiß eigentlich nicht mehr, als in den Medien gesagt wird. Ich verstehe nur nicht, warum die Behältnisse mit Gift mit einem Fernzünder versehen waren und nach der Rush Hour gezündet wurden.“

„Siehst du, und deshalb sollten die dich ins Boot holen. Du stellst wie immer die richtigen Fragen.“

„Und du meinst, die Ermittler tun das nicht?“

„Nein ... ich fürchte, jetzt wird wieder eine Hetzjagd auf jeden Mann mit zu dunkler Hautfarbe, zu langem Bart und einem Turban veranstaltet, obwohl man noch überhaupt nichts weiß. Irgendwas ist mir an dem Fall auch noch nicht ganz klar, aber es ist nicht so, wie alle im Moment glauben.“

„Nein, das stimmt. Das glaube ich auch nicht. Mal sehen ... vielleicht erreiche ich Sheila ja.“

„Hast du was zu schreiben?“ Als Sadie bejahte, fuhr Nick fort und diktierte ihr eine Telefonnummer. „Sie heißt Sheila Hopkins und sie wird wissen, wer du bist. Sei nicht überrascht.“

„Bin ich nie. McNamara hat mich da gestern auch kalt erwischt. Er wusste auch immer Bescheid.“

„Das wundert mich nicht, aber von mir hat er das nicht.“

„Ich weiß. Danke, Nick.“

„Halte mich auf dem Laufenden“, bat er. Sadie versprach es, verabschiedete sich von ihm und legte auf.

„Viele Grüße“, sagte sie zu Cassandra.

„Danke. Ich muss ihn auch mal wieder anrufen. Lass mich raten, er vermisst mich?“

„Er vermisst uns beide. Armer Nick.“

„Ich vermisse die BAU auch ein bisschen, aber ich bin nicht sehr traurig, dass es hier doch ein wenig ruhiger zugeht. Weniger Reisetätigkeit, weniger krasse Fälle. Und ein Feierabend, mit dem man meistens rechnen kann ...“

„Das kenne ich und ja, darüber bin ich auch froh. Langeweile habe ich hier zwar nicht und irgendwie werden auch die Sadisten nicht weniger, aber es ist anders.“

Cassandra lachte sich kaputt. „Du bist wirklich eine Marke, Sadie. Ich habe dir gar nicht erzählt, dass ich in das Video reingeschaut habe, das dich im Verhör mit Cook zeigt.“

Sadie war erstaunt. „Nein, hast du nicht.“

„Ich musste wissen, wie du mit Cook gesprochen hast. Das hat mir keine Ruhe gelassen. Das war unglaublich, Sadie. Der hat dich überhaupt nicht beeindruckt. Nur deinen richtigen Namen hätte er nicht sagen dürfen.“

Mürrisch zog Sadie eine Augenbraue hoch. „Das ist nicht mein richtiger Name, das ist der Name, mit dem ich geboren wurde. Aber ich weiß, was du meinst. Da hat er mich erwischt, das kam unvorbereitet. Aber ja ... ich habe ihn auseinandergenommen.“

„Nur meinetwegen.“ Cassandra lächelte dankbar und Sadie erwiderte ihr Lächeln, bevor sie nach dem Hörer griff und die Nummer eingab, die Nick ihr gegeben hatte. Erwartungsgemäß ging niemand ans Telefon, aber Sadie beschloss, einfach abzuwarten und in der Zwischenzeit etwas zu recherchieren.

Sie hatte sich während ihrer Ausbildung früh in Richtung forensische Psychologie orientiert, auch an der FBI-Academy. Sie hatte alle klassischen Serienmordfälle studiert, wusste so ziemlich alles über Paranoia, Schizophrenie, Sadismus, Vergewaltigung, Mordmethoden und alles, was dazugehörte. Aber Terrorismus war eigentlich nicht ganz ihre Baustelle. Das war jedoch nicht schlimm, denn dafür gab es ja die FBI-Datenbank.

Sie war überrascht, zu sehen, dass es viele verschiedene Arten und Ausprägungen von Terrorismus gab. Darüber hatte sie bislang nie so sehr nachgedacht. Terrorismus konnte politisch motiviert sein und aus dem linken oder rechten Lager kommen. Als prominentes Beispiel für sozialrevolutionären Linksterrorismus wurde die deutsche Rote Armee Fraktion angeführt, die in den 1970er Jahren für gewaltige Unruhe in Europa gesorgt hatte. Zwar steckte eigentlich die palästinensische Terrorgruppe Schwarzer September hinter den Attentaten bei den Olympischen Spielen 1972 in München, aber ihr Ziel war gewesen, die deutschen RAF-Terroristen Ulrike Meinhof und Andreas Baader freizupressen.

Demgegenüber stand rechtspolitischer Terrorismus, für den ähnlich bekannte Fälle als Beispiel aufgeführt wurden, allen voran der Anschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma durch den inzwischen hingerichteten Timothy McVeigh. Auch wenn das Motiv nie ganz hatte geklärt werden können, nahm man Regierungsfeindlichkeit an.

Auch die Branch Davidians wurden aufgeführt – die sektenähnliche Religionsgemeinschaft war in Waco, Texas wochenlang belagert worden, nachdem die Behörden dort eine Durchsuchung hatte veranlassen wollen. Der Anführer David Koresh und weitere fünfundsiebzig Menschen waren schließlich ums Leben gekommen. Sadie kannte den Fall sehr gut durch Phil, der sich während seiner Ausbildung beim Hostage Rescue Team damit befasst hatte. Das HRT hatte damals auch den Einsatz geleitet. Eine Einordnung dieses Falles war jedoch aufgrund seiner Komplexität eher schwierig. Sadie hätte sich auch damit schwer getan, Waco dem religiösen Terrorismus zuzuordnen. Da dachte sie eher an Hamas, Hisbollah und Al-Qaida.

Ein eher neues Phänomen in dieser Richtung war der sogenannte Homegrown Terrorism, bei dem etwa im Ausland geborene Kinder von Immigranten ihre Wurzeln entdeckten und zu Terroristen wurden oder, was ein noch jüngeres Phänomen war, Mitglieder vollkommen fremder ethnischer Gruppen und Glaubensbekenntnissen plötzlich konvertierten und zu Extremisten wurden. In diese Kategorie fielen die Terroranschläge von London, bei denen die Attentäter Kinder von Immigranten waren.

Ebenfalls untrennbar mit Terrorismus verbunden waren Organsationen wie die kurdische PKK oder die irische IRA, die für die Unabhängigkeit ihrer ethnischen Gruppe eintraten und die bestens im öffentlichen Gedächtnis verankert waren. Terrorismus konnte aber auch von Lagern ausgehen, die im Gegensatz zu anderen Terroristen bestehende Rechtsordnungen nicht in Frage stellten, sondern sogar noch untermauern wollten. Als Beispiel dafür diente der Ku-Klux-Klan, der rassistisch und konservativ motiviert war.

Zuguterletzt wurde noch Staatsterror aufgeführt, für die die Diktatur Stalins oder die argentinische Militärdiktatur als Beispiel herangezogen wurden. Sadie musste feststellen, dass sie sich da nicht besonders gut auskannte, aber so hatte sie zumindest einen Überblick.

Sie hatte nur keine Idee, womit sie es hier zu tun hatten. Dazu fiel ihr spontan nicht viel ein. Sie klickte sich durch die Datenbank, informierte sich über Al-Qaida, las den Fall in Waco noch einmal nach, studierte Timothy McVeigh. Doch nichts erschien ihr zutreffend.

Sadie wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht passte. Ein Anschlag auf eine beliebige Metro-Station in Los Angeles – das war nicht das, was üblicherweise stattfand. Was man gewöhnt war, waren Anschläge wie die auf das World Trade Center, die sogar Sadie damals in der Trauer um ihre Familie erreicht hatten. Oder es hatte auch die Anthrax-Anschläge in Washington gegeben. Alles symbolträchtig. Aber die Grand Park Station ... das verstand Sadie nicht. Die Union Station lag weniger als eine Meile entfernt. Die hätte ein deutlich besseres Ziel abgegeben.

„Du siehst so aus, als sei dir eine Idee gekommen“, stellte Cassandra fest.

„Ich weiß nicht ... wer nimmt die Grand Park Station, wenn in einer Meile Entfernung die Union Station liegt?“

Cassandra kniff die Augen zusammen und überlegte. „Du meinst ... das war gar nicht das eigentliche Ziel?“

„Was, wenn das ein Probelauf war?“

„Meinst du?“

Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ja, über zwanzig Tote sind schlimm. Aber überleg mal, das Sarin hätte in den Mülleimern in der großen Halle der Union Station gelegen.“

Cassandra nickte ernst. „Das hätte Tausende getroffen.“

„Eben. Aber das ist nur eine Idee, ich meine ...“

„Ja, aber das ist keine dumme Idee, Sadie. Wir sind Profiler, wir sind darauf geschult, so etwas zu erkennen.“

„Willst du es McNamara sagen?“

„Sollten wir vielleicht, oder?“

Sadie nickte und ging zum Büro ihres Chefs, aber er war ausgeflogen. Sie beschloss, Ausschau nach ihm zu halten. Irgendwann musste er zurückkommen.

Bis zur Mittagspause klickte sie sich durch die Datenbank und überlegte stillschweigend. Cassandra blickte ihr immer wieder über die Schulter und überlegte mit, aber sie ließ Sadie weitgehend machen.

---ENDE DER LESEPROBE---