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Zwei Jahre sind vergangen, seit Stacy Gallagher beinahe Matts Leben zerstört und ihn umgebracht hätte. In diesen zwei Jahren ist es ihm fast gelungen, die verhängnisvolle Nacht im Krankenhaus zu vergessen, in der Stacy den Tod fand. So kommt es für Sadie und ihren Mann umso überraschender, als die Polizei Matt erneut wegen Mordes an Stacy verhaftet und eine Hausdurchsuchung veranlasst. Anfangs wähnt Matt sich noch in Sicherheit, doch die Durchsuchung fördert unvermittelt belastendes Material zutage. Plötzlich sitzt Matt in der Falle: Schweigt er weiterhin, riskiert er die Todesstrafe. Er muss gestehen, wenn er nicht sein Leben riskieren will, und droht damit alles zu ruinieren, was er sich mit Sadie aufgebaut hat. Diesmal scheint es keinen Ausweg zu geben …
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Blackout
Sadie Scott 17
Psychothriller
Man verzeiht im gleichen Ausmaß in dem man liebt.
François de La Rochefoucauld
Nach einer Idee von Olaf Unterschemmann
Sie sah noch immer sein Gesicht über sich, sein selbstsicheres Grinsen und das Glitzern in seinen Augen, während er die Messerklinge über ihre Haut gleiten ließ. Ihre Panik wuchs. Nur noch durch die Nase atmen zu können, machte es nicht besser. Das Klebeband auf ihren Lippen löste sich nicht, egal was sie versuchte.
Er würde es tun. Sie wusste es. Er würde sie vergewaltigen, wenn kein Wunder geschah. Flehend schloss sie die Augen und wünschte sich in diesem Moment, sie wäre doch gläubig gewesen, denn so hätte sie beten können. Aber mit Religionen war sie fertig. Sie war auf sich gestellt.
Zitternd riss Libby die Augen auf und brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie in ihrem Zimmer war, in Sicherheit. Sie lag in ihrem eigenen Bett, konnte im Dämmerlicht der Lämpchen ihres Laptops das Poster über sich ausmachen, das die Golden Gate Bridge zeigte.
Allmählich beruhigte ihr Atem sich wieder. Sie hatte nur geträumt. Es war nicht das erste Mal, dass sie Alpträume wegen Brian Leigh hatte und eigentlich ging es immer um denselben Moment, um dieselbe Furcht. Es änderte auch nichts, zu wissen, dass Brian tot war. Dass er es nicht getan hatte. Die Furcht saß einfach zu tief.
Und Sadie …
Beim Gedanken an ihre Adoptivmutter kamen dem Mädchen die Tränen. Sie drehte sich zu ihrem Nachttisch und schaute auf den Radiowecker. Halb vier.
Großartig. Sie war also auf sich gestellt. Sadie oder Matt zu wecken, kam nicht in Frage. Matt schon gar nicht, ihm wollte sie das nicht anvertrauen. Das wäre ihr irgendwie unangenehm gewesen.
Dann hatte sie eine Idee und begann zu rechnen. In London war man acht Stunden weiter, dort war es also schon kurz vor Mittag.
Sie würde es versuchen. An Schlaf war ja doch kein Denken mehr.
Libby schlug die Decke zurück und stieg vorsichtig aus dem Bett. Leise pirschte sie über den Flur, ging die Treppe hinab und griff an der Garderobe nach ihrer Sweatjacke, bevor sie sich im Wohnzimmer das Telefon holte und die Terrassentür öffnete.
Es war eine warme Sommernacht, die Tiefsttemperaturen in Los Angeles bewegten sich zu dieser Jahreszeit immer noch um zwanzig Grad. Trotzdem zog Libby ihre Jacke über, bevor sie sich auf die Hollywoodschaukel setzte und den Zikaden und dem Rauschen des Verkehrs lauschte. Als plötzlich ein maunzender Schatten zu ihr kam, erschrak sie nicht, sondern lächelte.
„Figaro“, sagte sie und klopfte neben sich, um den Kater anzulocken. Mit einem Satz hüpfte er neben sie und rollte sich zufrieden zusammen, als Libby ihn zu kraulen begann.
Dann wählte sie die Nummer der Familie Thornton in London. Vielleicht hatte sie Glück.
Sie hörte nur zwei Mal das Freizeichen, bis sich eine Frauenstimme meldete. „Andrea Thornton.“
„Hi, hier ist Libby Whitman. Ist Julie zu Hause?“
„Libby! Schön, von dir zu hören. Ist es bei euch nicht mitten in der Nacht?“
„Ja, ist es. Ich … ähm … kann ich mit Julie reden?“
„Es tut mir leid, Libby, sie ist mit einer Freundin in der Stadt“, sagte Andrea bedauernd. „Sie hat ihr Handy dabei.“
„Nein, ich … ich will sie nicht stören. Das würde länger dauern.“
„Soll ich ihr etwas ausrichten? Soll sie zurückrufen?“
„Nein … ich werde ihr einfach schreiben. Schon okay.“
„Alles in Ordnung?“
Libby wunderte sich nicht über die Frage. Andrea hatte dieselbe feine Profilerspürnase wie ihre Adoptivmutter.
„Ja, geht schon. Ich hätte nur gern mit jemandem geredet und hier schlafen ja alle“, erklärte Libby.
„Möchtest du mit mir reden?“
„Danke, aber …“ Plötzlich fehlten Libby die Worte. Sie wollte nicht unhöflich sein.
„Schon okay. Ich werde Julie sagen, dass du angerufen hast.“
„Danke, Andrea. Wiederhören.“
Andrea verabschiedete sich ebenfalls und Libby legte auf. Seufzend streichelte sie Figaro.
Verdammt. Mit Julie hätte sie jetzt wunderbar über alles reden können. Das hatte sie schon am Wochenende nach ihrer Entführung getan. Sie hatte in London angerufen und Julie erzählt, was passiert war. Das hatte sie gebraucht, es hatte ihr gut getan. In ihrer neuen Schule wollte sie das nicht ausbreiten. Dort hatte sie am ersten Tag gefehlt, was seltsam genug war, aber sie hatte es nicht begründet. So war Julie ihre einzige Verbündete und seit ihrer Entführung im Winter wusste Libby, dass sie der Engländerin vertrauen konnte. Julie war klug und verständnisvoll und lag mit ihr voll auf einer Wellenlänge.
Es hätte jetzt geholfen, ihr von dem Alptraum zu berichten. Libby hatte ihr schon erzählt, dass Brian sie fast vergewaltigt hätte. Julie hätte jetzt die richtigen Worte gewählt …
Seufzend stand sie auf und ging wieder ins Haus. Figaro folgte ihr hinein und die ganze Treppe hinauf bis nach oben in ihr Zimmer. Leise schloss Libby die Tür und setzte sich an ihren Laptop. Das Licht des Bildschirms erhellte das Zimmer. Figaro machte es sich mitten in ihrem Bett gemütlich, aber das störte Libby nicht. Vielleicht war er noch da, wenn sie fertig war und sich auch wieder hinlegte. Das hätte ihr gefallen. Ihre persönliche Schmusekatze.
Sie verzichtete darauf, Musik zu hören, während sie ihr Mailprogramm öffnete und die letzte Mail von Julie heraussuchte, um darauf zu antworten. So erfüllte nur das leise Klappern der Tastatur die Luft in dem ansonsten stillen Raum.
Hey Julie,
bestimmt wunderst du dich über meinen Anruf. Ich hatte vorhin einen Alptraum und ich wollte bloß mit jemandem reden, aber hier schlafen ja alle. Es ist halb vier nachts. Ich glaube aber, es tut auch gut, dir einfach nur zu schreiben.
Ich träume manchmal von Brian. Ich weiß, das ist kein Wunder. Vorhin habe ich ihn neben mir gesehen, eigentlich eher über mir, und er hat mich mit dem Messer bedroht. Das ist ja passiert … beschissenes Gefühl, das kann ich dir sagen. Aber du verstehst das ja.
Ich bin so froh, dass er tot ist. Nach allem, was er und Tyler getan haben, ist es jetzt wenigstens vorbei. Es hätte noch so viel schlimmer ausgehen können. Matt hätte sterben können, eigentlich wollten sie ihn ja umbringen. Es geht ihm inzwischen besser, aber er hat manchmal Probleme beim Sehen. Ich hoffe, das geht wieder weg.
Irgendwie will ich den beiden das auch gar nicht sagen. Bei Matt wäre es mir peinlich und bei Sadie erscheint es mir unangebracht. Ist wahrscheinlich albern, aber ich bin froh, dass du mir zuhörst und das verstehst. Das ist echt toll von dir.
Liebe Grüße
Libby
Für den Moment wollte sie es dabei belassen. Es wäre einfacher gewesen, am Telefon darüber zu sprechen, aber sie wollte am Nachmittag einen Ausflug mit Sadie und Matt unternehmen und bis sie zurück waren, lag Julie wahrscheinlich schon im Bett. Verdammte Zeitverschiebung. Unter der Woche schafften sie es wegen der Schule nie, zu telefonieren und manchmal klappte es auch am Wochenende nicht. Mails waren da deutlich einfacher.
Julie würde bestimmt antworten, wenn sie die Mail sah. Das reichte Libby in diesem Augenblick.
Wenige Augenblicke später schaltete sie ihren Laptop wieder aus und legte sich zu Figaro ins Bett. Dafür musste sie ihn erst schnappen und dann wieder neben sich ablegen, aber das ließ der geduldige Kater sich alles gefallen und blieb schnurrend vor Libby liegen.
Das Schnurren beruhigte sie. Libby streichelte Figaro noch ein wenig, bis die Müdigkeit sie wieder überfiel und schloss dann die Augen.
Am Morgen erwachte sie spät. Matt, Sadie und die Kleine waren schon auf den Beinen und bereiteten unten das Frühstück vor, als Libby verschlafen dazu stieß. Gähnend setzte sie sich an den Frühstückstisch.
„Alles okay?“, fragte Sadie, der Libbys geistesabwesender Gesichtsausdruck sofort auffiel.
„Ja, alles gut“, sagte Libby und lächelte, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen.
„Du siehst müde aus“, stellte Matt fest. „Soll ich uns Rührei machen?“
„Au ja“, sagte Libby begeistert, also verschwand er wieder in der Küche und begann, Eier und Speck zu braten. Als beides laut brutzelte, setzte Sadie sich ebenfalls an den Tisch. Auf ihrem Schoß saß Hayley und versuchte, aller Dinge vor ihr auf dem Tisch habhaft zu werden.
„Ich habe dich heute Nacht gehört“, sagte Sadie. „Du kannst mit mir reden, wenn du möchtest.“
Libby errötete und senkte den Blick. „Es ist nichts. Nur düstere Träume.“
„Verstehe. Überleg es dir. Wenn du ein offenes Ohr brauchst – ich bin da.“
„Danke“, sagte Libby und lächelte. Im Moment hatte sie jedoch kein Redebedürfnis mehr.
Sadie beließ es dabei. Sie konnte sich vorstellen, was Libby beschäftigte und ahnte auch, warum das Mädchen es ihr nicht sagen wollte, aber das fand sie unnötig.
Bis zum Mittag vertrieben sie sich die Zeit im Garten. Libby spielte mit Hayley und half ihr bei ihren beherzten Laufversuchen, Matt reinigte den Grill und Sadie war mit dem Blumenbeet beschäftigt. Diese Ruhe tat ihnen allen sehr gut.
Nach Hayleys Mittagsschlaf machten sie sich auf den Weg zum Aquarium of the Pacific in Long Beach. Sadie und Matt waren immer rege bemüht, etwas Schönes mit den Kindern am Wochenende zu unternehmen, was beiden Spaß machte. Libby freute sich immer sehr darüber und war den beiden dankbar, dass sie sie so einbezogen und zwischen ihr und Hayley keinen Unterschied machten.
Abends legten sie noch einen Zwischenstopp bei Pizza Hut ein und fuhren dann nach Hause. Hayley war bereits todmüde und im Handumdrehen eingeschlafen. Libby beschloss, auf ihr Zimmer zu gehen und nahm auf einem Umweg durch die Küche nur noch etwas zu trinken mit. Dann fiel ihr auf, dass beim Telefon auf der Kommode ein Lämpchen für einen verpassten Anruf blinkte. Im Vorbeigehen schaute sie die Anrufliste durch und erkannte die Vorwahl von England. Also hatte Julie es tatsächlich versucht.
Gespannt lief Libby nach oben und setzte sich an ihren Laptop. Tatsächlich hatte sie schon vor Stunden eine Mail von Julie bekommen, die sie gleich öffnete.
Hey Libby,
Mum sagte mir, dass du angerufen hast. Vorhin habe ich versucht, dich zu erreichen, aber ihr seid nicht zu Hause. Schade, dass ich heute Mittag weg war, als du es versucht hast. Tut mir leid. Ich hätte gern mit dir geredet, aber dann schreibe ich dir eben. Morgen habe ich eine Klausur in Mathe und du weißt ja, wie sehr ich Mathe liebe … deshalb muss ich noch ein bisschen lernen und rechtzeitig ins Bett.
Jedenfalls verstehe ich gut, wie es dir geht. Ich hatte das ja auch ein bisschen nach der Sache mit den Russen im Winter. Aber das war anders, glaube ich. Ich kann mir ja vorstellen, wie Brian war und ich glaube, das ist um einiges schlimmer, oder? Bei den Russen war klar, denen geht es nur um Sex und Geld, aber Brian war ja ein echter sadistischer Killer. Ich bin so froh, dass dir nicht mehr passiert ist.
Aber wenn ich mal ganz blöd fragen darf – warum erscheint es dir unangebracht, Sadie davon zu erzählen? Du weißt, du kannst mir alles sagen, was passiert ist. Bisher hast du das gar nicht, oder?
Und warum wollten die eigentlich Matt umbringen? Warum haben sie ihn überhaupt mitgenommen? Du sagtest, dass Tyler Evans ihn so gehasst hat, aber wieso?
Du weißt, du musst mir das nicht erzählen, aber dann verstehe ich es besser und kann dir vielleicht helfen. Eigentlich war das alles krasser, als du mir erzählt hast, oder?
Das Angebot steht. Du kannst auch anrufen, wenn du früher Schule aus hast, vielleicht kriegen wir das unter der Woche mal hin. Oder du versuchst es auf meinem Handy. Wie du magst.
Fühl dich gedrückt.
Julie
Gerührt las Libby die Mail noch einmal. Julie war ein Engel. Ihr Herz blutete, wenn sie sich bewusst machte, wie weit entfernt Julie eigentlich lebte. Da hatte sie endlich jemanden gefunden, mit dem sie sich blind verstand und dann wohnte Julie am anderen Ende der Welt …
Aber es stimmte, sie hatte Julie nicht alles erzählt. Sie hatte ihr kurz erklärt, wer Tyler Evans war und dass Tyler und Brian sie entführt und Matt verletzt hatten. Sie hatte auch erzählt, dass Brian geplant hatte, sie zu vergewaltigen und mehrmals kurz davor gestanden hatte. Sie hatte Julie einen groben Abriss dessen geliefert, wie er schließlich versucht hatte, Sadie und Matt zu töten, um dann mit ihr zu fliehen und sie hatte auch berichtet, wie Sadie und Phil ihn gemeinsam zur Strecke gebracht hatten.
Doch natürlich hatte Julie keine Ahnung, warum Tyler Evans eine Rechnung mit Matt zu begleichen gehabt hatte und sie hatte auch unerwähnt gelassen, was Brian Sadie angetan hatte.
Bis jetzt.
Sie überlegte kurz, aber dann beschloss sie, ehrlich zu Julie zu sein. Das war bei der Engländerin auch gut aufgehoben, wie sie wusste. Es würde gut tun, es ihr zu erzählen.
Libby klickte auf Antworten und begann zu tippen.
Hey Julie,
jetzt liegst du schon im Bett. Schade, dass wir uns verpasst haben. Ich drücke dir die Daumen für den Mathetest. Das wird schon!
Es ist so toll, dass ich mit dir über alles reden kann. Mit dir ist das sowieso anders, du bist ja keine Erwachsene. Aber ich will Sadie und Matt nicht damit in den Ohren liegen, die haben genug eigene Probleme. Du hast nämlich Recht, ich habe nicht alles erzählt. Das war in dem Moment nicht wichtig, aber ich weiß ja, du behältst es für dich.
Ich käme mir albern dabei vor, Sadie zu erzählen, dass ich Alpträume davon habe, wie Brian mir weh tun wollte. Das wäre ihr gegenüber total unangemessen. Ich habe dir doch erzählt, dass Matt Tyler umgebracht hat, um ihn davon abzuhalten, Sadie zu vergewaltigen. Das habe ich nur gehört, ich war nebenan mit Brian. Als es drüben laut wurde, ist Brian rüber gerannt und wollte Tyler helfen, wie du dir denken kannst … und er ist zwei Stunden lang nicht zurückgekommen.
In diesen zwei Stunden hatte ich Todesangst, dass etwas Schlimmes passiert ist. Ich habe nur gehört, wie Brian rumgebrüllt hat und habe da schon geahnt, dass Matt Tyler umgebracht hat. Aber dann wollte Brian auf Matt losgehen und sich rächen. Er war völlig außer sich. Matt ist zusammengebrochen, er war ja verletzt, und dann war Brian allein mit Sadie.
Das war die Hölle. Ich habe sie zwei Stunden lang weinen hören. Ich wusste, was Brian mit ihr macht, und dann kamen die beiden irgendwann zu mir und ich habe es ihr einfach angesehen …
Libby musste für einen kurzen Moment aufhören zu schreiben, weil ihr die Tränen kamen. Sie schaffte es nicht, sie zurückzuhalten und gab den Kampf dagegen schließlich auf. Einen Augenblick lang saß sie einfach nur da, bis die Tränen nachließen, wischte sie an ihrem T-Shirt ab und fuhr dann fort, die Mail zu schreiben.
Sie wollte es Matt überhaupt nicht sagen. Ich glaube, inzwischen weiß er es, aber ich kann doch jetzt nicht hingehen und sagen: Ich habe so schlimme Alpträume, weil Brian mich fast vergewaltigt hätte … Mit ihr hat er es gemacht, verstehst du?
Das fühlt sich immer noch so beschissen an. Ich sitze gerade hier und weine und höre das immer noch. Es war furchtbar. Umso krasser war es, als sie später reingekommen ist und ihm gegenüberstand, um meinetwegen mit ihm zu verhandeln. Sie ist der tapferste Mensch, der mir je begegnet ist!
Das mit Matt ist eigentlich eine längere Geschichte. Tyler Evans war ja Sadies Fall, das war kurz bevor ich zu den beiden kam. Ein paar Monate vorher wäre Matt fast gestorben, ich glaube, das weißt du gar nicht. Ihn hat eine Frau gestalkt und sie wollte sie beide umbringen – erst Sadie und hinterher Matt, als es ausweglos für sie war. Ich weiß nicht ganz genau, was damals passiert ist, aber sie hat ihm unter anderem den Fuß gebrochen, bloß damit er nicht weglaufen kann. Kannst du dir das vorstellen? Die Frau war vollkommen übergeschnappt.
Als ich zu Sadie und Matt kam, ging es ihm überhaupt nicht gut. An einem Tag hat er versucht, sich umzubringen. Das war wegen dieser Frau. Er hat sie so gehasst, weil sie ihm so weh getan und Sadie fast getötet hat und ich weiß, dass er sie dafür umgebracht hat. Da muss er völlig neben der Spur gewesen sein. Darunter hat er furchtbar gelitten und es immer bereut. Ihm sind einfach alle Sicherungen durchgebrannt. Ich glaube, wäre Sadie damals nicht schwanger geworden … ich weiß nicht, wie er damit klar gekommen wäre.
Jedenfalls hat Tyler Evans das rausgekriegt. Er wollte damals Sadie erpressen, damit sie aufhört, gegen ihn zu ermitteln und hat gedroht, Matt wegen Mordes anzuzeigen. Sie hat sich auch vorübergehend aus den Ermittlungen zurückgezogen, um Matt zu schützen. Ich meine, hier in den USA geht es ja in solchen Fällen um die Todesstrafe …
Geholfen hat es Evans aber auch nicht. Sie haben damals noch versucht, Matt Probleme zu machen, aber zum Glück hat das nicht geklappt, weil es nie Beweise gegen ihn gab.
Ich hoffe, du denkst jetzt nicht schlecht über ihn. Ich habe das nie getan. Er ist ein guter Mensch. Ich war ja nicht dabei, als er Sadie vor Tyler beschützt hat, aber sie sagte, er konnte kaum stehen. Er wollte einfach nur verhindern, dass Tyler ihr weh tut.
Und natürlich wollte Tyler sich an ihm rächen. Ich glaube, er war sauer, weil Matt davongekommen ist und er selbst ja als Mörder im Gefängnis war. Ich glaube, die beiden wollten, dass Matt zusieht, wenn Tyler Sadie vergewaltigt, und ihn dann töten. Sie wollten ja auch Hayley einfach nur töten, um die beiden fertig zu machen.
Es war die Hölle, Julie. Es war einfach furchtbar. Ja, das war anders als mit den Russen, denn hier wussten wir nie, was als Nächstes passiert und was sie sich noch einfallen lassen, um uns zu quälen. Wir könnten jetzt alle tot sein.
Ich bin so froh, dass Brian Sadie für tot gehalten hat. Das hat uns gerettet.
So, jetzt weißt du, was passiert ist. Und bitte … das mit Matt darf niemand wissen. Er ist doch mein Dad.
Ich drücke dich.
Libby
Ihre Hände waren eiskalt. Sie las die Mail noch einmal durch, bevor sie sie schließlich mit pochendem Herzen abschickte. Jetzt war es zu spät.
Hoffentlich dachte Julie jetzt nicht schlecht von Matt. Zwar glaubte Libby es nicht, denn wenn sie sich recht erinnerte, hatte Julies Mutter auch mal jemanden erschossen. Aber es war ein Wagnis.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie zitterte. Diese Mail zu schreiben, hatte ihr einiges abverlangt. Dadurch hatte sich die Erinnerung noch realer angefühlt.
Sie fand es wirklich lächerlich, dass sie Alpträume hatte, obwohl Brian Sadie vergewaltigt und Tyler Matt so verletzt hatte. Libby selbst hatte noch das größte Glück gehabt, dessen war sie sich bewusst.
Sie hatte aus dem Verhalten der beiden geschlossen, dass Matt inzwischen wusste, was Brian mit Sadie gemacht hatte. Sadie hatte sich erst sehr zurückgezogen und Matt war spürbar besorgt gewesen, aber inzwischen hatte die Situation sich entspannt.
Sie surfte noch ein wenig im Netz und ging schließlich schlafen. Hoffentlich riss sie wenigstens in dieser Nacht nichts aus dem Schlaf.
ERSTER TEIL
Gespannt wartete Sadie neben der Sicherheitsschleuse unten in der großen Halle. Das hatte schon bei Dennis Johnson gemacht, auch wenn es rein faktisch nicht nötig gewesen wäre, aber sie fand, das gehörte sich so.
Gedankenversunken ließ sie ihre Blicke über die eintreffenden FBI-Mitarbeiter schweifen, die ihre Ausweise scannen ließen und den Metalldetektor passierten. Jeden Morgen die gleiche Prozedur. Sadie konnte sich gut daran erinnern, wie befremdlich Libby das in ihrer Schule gefunden hatte und war der Meinung, dass das auch eigentlich nicht in Schulen gehörte, aber leider trotzdem notwendig war.
Als sie wieder zum Haupteingang blickte, entdeckte sie Maggie Ryan und lächelte. Schließlich winkte sie ihre neue Kollegin zu einem Sicherheitsmitarbeiter, der ihre Daten aufnahm und ihr einen vorübergehenden Besucherausweis ausstellte. Ihren richtigen Ausweis würde Maggie spätestens am nächsten Tag erhalten.
„Das ist alles so aufregend“, sagte Maggie schließlich, nachdem sie den Metalldetektor hinter sich gebracht hatte und Sadie zum Aufzug folgte. Sie war eine kleine, drahtige Person mit halblangem braunem Haar und blauen Augen.
„Ich freue mich, dass du jetzt schon hier bist“, sagte Sadie. „Hat alles mit dem Umzug geklappt?“
„Ja, ich saß ja sozusagen auf gepackten Koffern.“
„Das kenne ich“, sagte Sadie. „Ich freue mich auf jeden Fall, dass du hier bist und hoffe, es gefällt dir.“
„Da bin ich sicher!“, verkündete Maggie gut gelaunt und folgte Sadie aus dem Aufzug ins Büro der Major Crimes Unit. Seit Anfang September hatten die Profiler ihr eigenes kleines Vierer-Büro abseits des Großraumbüros, das Sadie immer ungemütlich gefunden hatte. Hank hatte kurzerhand einen Besprechungsraum umfunktionieren lassen und Sadie sogar vorgeschlagen, dass sie ein Einzelbüro haben könnte, aber das hatte sie mit der Begründung abgelehnt, dass Profiling Teamarbeit war. In ihren Augen war es wenig sinnvoll, erst das Team zu verstärken und sich dann abzusondern.
Inzwischen war es Viertel vor acht. Sadie führte Maggie herum und zeigte ihr alles. Sie standen gerade vor Maggies Schreibtisch, als Cassandra eintraf.
„Wenn ich vorstellen darf: Special Agent Cassandra Williams. Das ist unser Neuzugang Margaret Ryan“, machte Sadie die beiden miteinander bekannt. Cassandra reichte ihrer neuen Kollegin die Hand.
„Maggie“, stellte diese sich mit beherztem Händedruck vor. „Bitte nenn mich bloß nie Margaret, da weiß ich überhaupt nicht, dass ich gemeint bin!“
„Cassie“, erwiderte Cassandra grinsend. „Ich höre aber auf beides.“
„Okay“, sagte Maggie. „Freut mich, dich endlich kennenzulernen. Sadie hat mir schon von Dennis und dir erzählt.“
„Hoffentlich nur Gutes“, sagte Cassandra grinsend und mit einem Zwinkern.
„Das Beste!“, sagte Maggie schlagfertig. Sadie war froh, dass beide sich auf Anhieb so gut verstanden.
„Guten Morgen“, kam es aus dem Türrahmen. Darin stand Dennis Johnson, der mit seiner Umhängetasche und seiner Kleidung eher an einen Studenten erinnerte. So sah Sadie ihn aber tatsächlich auch lieber als in dem Anzug, in dem er am ersten Tag aufgekreuzt war. Darin hatte er wie verkleidet ausgesehen. Er war hochgewachsen und muskulös, hatte dunkles Haar und eine durchaus charismatische Ausstrahlung.
Er ging gleich auf Maggie zu, reichte ihr die Hand und stellte sich vor. Im Handumdrehen war das Eis gebrochen, Maggie stellte ihre Tasche auf ihrem Schreibtisch ab und geriet gleich ins Plaudern mit ihren neuen Kollegen, bis Hank McNamara in der Tür erschien und Maggie offiziell begrüßte. Das ließ er sich als Chef der Einheit nicht nehmen. Als er wieder verschwunden war, besorgte Sadie ihnen Getränke und eine Packung Kekse, die sie aus der Küche stibitzt hatte. Dann setzten sie sich in ihrem Büro zusammen und stellten sich vor.
„Möchtest du den Anfang machen?“, sagte Sadie ermutigend in Maggies Richtung.
„Gern. Ich bin achtundzwanzig, komme aus Chicago und war dort Polizistin in der Intelligence Unit in Ravenswood für zwei Jahre. Davor bin ich Streife gefahren. In den zwei Jahren bei der Intelligence habe ich gemerkt, dass ich mit den Standard-Ermittlungsmethoden manchmal nicht weiterkomme. Mein erster Fall war ein Serienvergewaltiger, den wir schließlich nur durch einen Gentest erwischt haben. Das Profil für diesen Gentest hat uns die BAU in Quantico geliefert. Damit war ich angefixt. Später habe ich immer wieder versucht, meine Fälle auch psychologisch zu betrachten. Das hat mir manchmal wirklich weitergeholfen. Irgendwann war dann der Wunsch zu groß, die Sache zu vertiefen und so bin ich zum FBI und zum Profiling gekommen“, erzählte Maggie.
„Nick Dormer sagte, du wärst gut darin. Ich vertraue seinem Urteil da hundertprozentig“, sagte Sadie. „Auf jeden Fall freue ich mich, dass du jetzt bei uns bist!“
„Ich freue mich auch, hier zu sein.“ Maggie blickte zu Dennis. „Hast du dich hier schon eingelebt?“
„Schon“, sagte er. „Für mich ist der Neuanfang aber nicht so krass. Ich bin ja schon seit vier Jahren beim FBI, allerdings komme ich aus San Diego. Umziehen musste ich also auch.“
„Hast du vorher schon als Profiler gearbeitet?“
Dennis schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Ich war nach dem College als Sozialarbeiter im Gefängnis tätig und bin zufällig auf die psychologische Schiene gerutscht. In San Diego habe ich bislang psychologische Gutachten von Straftätern erstellt, meist für Gerichtsverhandlungen. Bislang bin ich also eher mit einem späteren Stadium des Ganzen vertraut, aber Sadie meinte, sie traut mir zu, dass ich das auch aufs Profiling ummünzen kann.“
„Davon bin ich überzeugt“, sagte Sadie.
„Warum auch nicht?“, sagte Maggie. „Du hast schon einiges gesehen, du hast Erfahrung. Du solltest einen Täter also erkennen, wenn du ihn siehst.“
„Ich hoffe.“ Dennis grinste amüsiert. Er war ein Jahr älter als Maggie und Sadie glaubte, dass sie als Team gut funktionieren würden.
Cassandra stellte sich noch einmal kurz vor und erzählte etwas zu ihrem Werdegang. Maggie war begeistert, als sie hörte, dass auch ihre beiden Kolleginnen ursprünglich bei der Polizei gewesen waren.
„Es ist toll, dass ihr jetzt hier bei uns seid“, sagte Sadie. „Bislang haben Cassandra und ich das hier alles allein gestemmt, was nicht immer einfach war. Innerhalb des letzten Jahres musste Cassie oft ohne mich auskommen – letztes Jahr im August wurde meine Tochter geboren und im Winter bin ich verletzungsbedingt länger ausgefallen. Vieles ist liegen geblieben und das soll in Zukunft nicht mehr vorkommen. Ich finde, für einen Profiler ist es wichtig, für alles offen zu sein, auch Kritik ist bei uns immer erwünscht. Als ich hier angefangen habe, dachte ich noch, niemand weiß hier so ganz genau, wer ich bin. Natürlich stimmte das überhaupt nicht.“
Während sie grinste, lachten die anderen amüsiert. Dann fuhr sie fort.
„Ja, mein Vater war ein Serienmörder, das ist hier inzwischen kein Geheimnis mehr. Ihr könnt mich alles fragen und mich auf alles ansprechen. Ich habe schon so allerhand haarsträubende Dinge erlebt, aber genau das kann ich inzwischen auch nutzen. Darüber bin ich sehr froh. Ich bin aber manchmal auch extrem. Zum Beispiel habe ich eine Art, Verhöre zu führen, die manchen vielleicht zu konfrontativ erscheint.“
„Deine Erfolgquote spricht aber für sich“, sagte Maggie leise.
Sadie lächelte. „Da spielt mit Sicherheit auch Glück eine Rolle.“
„Aber dir in Quantico zuzuhören, war einfach sensationell, wenn ich das so sagen darf. Du hast eine Art, dich in das Hirn eines Psychopathen reinzuschrauben, die ich nur bewundern kann. Es ist mir eine riesige Ehre, jetzt mit dir arbeiten zu dürfen. Ich habe mir alle deine Fälle angesehen, ich kenne das Essay über deinen Vater und überhaupt … ich werde von dir lernen können. Darauf freue ich mich.“
„Ich bin auch sehr gerne hier“, sagte Dennis.
Sadie war das eigentlich unangenehm, aber sie beschloss, sich darüber zu freuen. An diesem Morgen nahm sie sich Zeit für Maggie und auch noch mal für Dennis, zeigte Maggie alles, begleitete sie auf dem Weg ins Personalbüro, wo sie ihren richtigen Ausweis und die Dienstmarke bekam und erklärte ihr den Weg zur Waffenkammer. Irgendwann war es an der Zeit für die Mittagspause, die sie zusammen verbringen wollten. Noch auf dem Weg zur Kantine begegneten ihnen im Aufzug Jason und Matt, so dass Sadie sie mit Maggie bekannt machen konnte. Dennis kannte die beiden bereits.
„Habt ihr euch denn beim FBI kennengelernt?“, erkundigte Maggie sich bei beiden Paaren, als sie gemeinsam an einem Tisch saßen. Während Jason nickte, grinste Matt und schaute zu Sadie.
„Nein, das war damals in Waterford, als wir beide noch bei der Polizei waren. Da hat Sadie mir gezeigt, was sie drauf hat und wie Profiling funktioniert“, erzählte Matt und schon waren sie im Gespräch. Die Mittagspause verging wie im Flug.
Auf dem Rückweg ins Büro sagte Maggie: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wohl ist, mit einem Kollegen eine Beziehung zu führen. Ist das nicht schwierig?“
Sadie schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil. Wir müssen einander nicht erklären, wie der Job ist. Viele Streitpunkte, die sich bei anderen Paaren ergeben hätten, waren bei uns nie ein Thema.“
„So habe ich das noch gar nicht betrachtet“, sagte Maggie. Im Büro angekommen, blieb sie neben Sadies Schreibtisch stehen und betrachtete das dort aufgestellte Foto von Hayley.
„Deine Tochter ist wahnsinnig süß. Aber ich finde, sie hat mehr Ähnlichkeit mit dir als mit Matt.“
„Sie ist ja noch klein“, erwiderte Sadie. Maggie lächelte und setzte sich an ihren Computer, um sich dort einzurichten.
Bis zum Feierabend war Sadie mit ihren Mails beschäftigt und stellte das Kurzprofil in einem Mordfall fertig, in dem das LAPD sie um Hilfe gebeten hatte. So etwas machte sie sehr oft und tatsächlich war sie froh, dass Cassandra nun ein wenig an ihre Stelle treten und den Platz im Rampenlicht einnehmen würde, obwohl Sadie immer noch der verantwortliche Agent war. Cassandra hatte Sadies Wunsch verstanden, sich nicht länger zur Zielscheibe zu machen.
Es war ein Tag wie so viele andere. Auf dem Weg zum Auto traf sie sich mit Matt, gemeinsam fuhren sie nach Culver City und hielten unterwegs bei Hayleys Tagesmutter, um ihre Tochter dort abzuholen. Auf diesen Moment fieberte Sadie den ganzen Tag hin, denn immer, wenn sie ihre Eltern sah, quiekte die Kleine vor Freude und konnte es kaum erwarten, bei einem von ihnen auf dem Arm zu sitzen.
An diesem Tag war es Matt, der Hayley im Challenger in den Kindersitz setzte und anschnallte. Auf dem letzten kurzen Stück nach Hause drehte Sadie sich auf dem Beifahrersitz um und machte Faxen mit ihrer Tochter. Sie trug Hayley schließlich ins Haus und setzte sie im Wohnzimmer ab, wo die Kleine unbeholfen selbst durch die Gegend tapste. Sie kochten gemeinsam und aßen mit den Kindern zu Abend. Um halb acht lag Hayley schließlich im Bett und weil Libby für eine Klassenarbeit lernen musste, hatten Sadie und Matt alle Zeit der Welt, um sich einen gemütlichen Abend mit einer Serie bei Netflix zu machen. Im Schrank hatte Matt noch eine Tüte Nachos gefunden, über die sie sie sich bereitwillig hermachten, während sie sich Manhunt: Unabomber ansahen. Sadie fand es großartig, Sam Worthington als Profiler dabei zuzusehen, wie er Jagd auf Ted Kaczynski machte.
„Wir sind schon ziemlich irre“, sagte Matt, als die zweite Folge vorbei war. „Sitzen hier auf dem Sofa und schauen in unserer Freizeit Fernsehserien über FBI-Agenten.“
„Was denn?“, sagte Sadie arglos. „Ich finde die Serie extrem gut gemacht.“
„Ist sie auch. Aber irgendwie ist uns ja nicht mehr zu helfen.“
Das hatte Sadie gar nicht so gesehen. Sie entschieden sich schließlich dagegen, sich noch eine dritte Folge anzusehen und gingen nach oben. Während Matt sich die Zähne putzte, schlich Sadie in Hayleys Zimmer und blieb neben dem Bett ihrer Tochter stehen, um auf ihren friedlichen Atem zu lauschen. Das war inzwischen ein allabendliches Ritual für sie – es war ihr unmöglich, schlafen zu gehen, wenn sie nicht nach Hayley geschaut hatte.
Im Schlafzimmer zog sie sich aus und huschte hinüber ins Bad. Sie wollte vor dem Schlafengehen noch duschen. Als sie bloß noch mit ihrem Slip bekleidet vor Matt auftauchte, nickte er anerkennend.
„Was muss ich denn hier sehen?“, sagte er mit einem breiten Grinsen.
Sadie knuffte ihn in die Seite. „Als würdest du das nicht kennen.“
„Klar kenne ich das. Genug davon kriege ich trotzdem nicht.“
Um seine Worte zu bekräftigen, blieb er hinter ihr stehen und legte sanft seine muskulösen Arme um sie. Sadie lehnte sich an ihn und schloss die Augen. Er wusste genau, dass sie das mochte und sich dadurch sicher und beschützt fühlte.
„Ich liebe dich“, raunte er ihr ins Ohr.
„Ich dich auch, Matt.“ Sie blinzelte, als sie merkte, wie er sich von ihr lösen wollte, damit sie seine Erregung nicht bemerkte, aber es war zu spät. Sie drehte sich zu ihm um. Wortlos küsste sie ihn und drückte ihre Hüften spielerisch fest gegen seine. Matt hielt die Luft an.
„Möchtest du mir etwas mitteilen, Matt Whitman?“, fragte sie und strich mit ihren Fingerspitzen über seine Brust.
Er räusperte sich und grinste. „Ich warte im Bett, Mrs. Whitman.“
Sadie lachte und wartete, bis er gegangen war, bevor sie in die Dusche huschte und unter dem warmen Wasserstrahl überlegte, ob sie in Stimmung war. Bis gerade war sie es nicht gewesen, aber je länger sie darüber nachdachte, desto fordernder wurde das Kribbeln, das sie spürte.
Doch, sie würde es tun. Das war eine gute Idee. Es nützte ja nichts, sich deshalb zu viele Gedanken zu machen. Je öfter sie es tat, desto normaler würde es wieder werden.
Sie hatte sich seit ihrer Vergewaltigung schon mehrmals wieder getraut, Sex zu haben und zu ihrer Überraschung hatte es sich höchstens beim ersten Mal ein wenig seltsam angefühlt. Diesmal würde es sich nicht so sehr auf ihr Leben auswirken, das hatte sie sich geschworen.
Sie beeilte sich unter der Dusche, trocknete ihr Haar nur mit dem Handtuch und schlich nach dem Zähneputzen hinüber ins Schlafzimmer. Matt lag lesend im Bett und wartete ab.
Das war seine Art. Er ließ ihr immer den Vortritt, es sei denn, sie bat ihn ausdrücklich darum, die Zügel in die Hand zu nehmen. Damit waren sie schon in der Vergangenheit gut gefahren.
Schweigend beobachtete Matt, wie Sadie sich neben ihn ins Bett legte, immer noch nur mit ihrem Slip bekleidet, und ihn wortlos ansah. Sie beugte sich vor, küsste ihn und rutschte näher an ihn heran. Matt verstand und fuhr mit einer Hand durch ihr feuchtes rotes Haar, während er ihre Küsse erwiderte und sich nur langsam von ihren Lippen löste. Er arbeitete sich über ihren Hals hinab vor bis zu ihrer Brust und überhäufte sie mit Zärtlichkeiten. Dabei vermied er es jedoch tunlichst, sich über sie zu beugen. Das war alles, worum sie ihn gebeten hatte und er hatte verstanden, warum das wichtig war.
Genüsslich entledigte er sich ihrer Unterwäsche, zog sie bis an die Bettkante und vergrub den Kopf in ihrem Schoß. Sadie schloss die Augen und krallte sich leise stöhnend in die Bettdecke.
Sie liebte es, wenn er das tat. So konnte er sie alles vergessen lassen. Sie liebte dieses Gefühl. Sie liebte Matt. Daran würde sich niemals etwas ändern. Für einen Moment hielt sie die Augen geschlossen und kostete das Gefühl aus, als er ihr schließlich ganz nah war, dann richtete sie sich auf und legte die Arme um ihn. Sie hockte ihm zugewandt auf der Bettkante und legte den Kopf auf seine Schulter, während er sich weiterhin Zeit ließ und sie zärtlich liebkoste, als er erst einen Rhythmus mit ihr gefunden hatte. Er hatte ihr einmal gesagt, dass es ein Geschenk für ihn war, zu sehen, dass er sie glücklich machen konnte.
Und das konnte er. Sadie hatte keinerlei Schwierigkeiten, sich darauf einzulassen. Sie schlang die Beine um seine und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Sie ließ es einfach geschehen und verlor sich ganz in diesem Moment, bis sie irgendwann nicht mehr an sich halten konnte und fast geschrien hätte. Tatsächlich jedoch hielt sie sich nur an Matt fest und küsste ihn begierig. Er ließ sich sofort davon mitreißen und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Keuchend kniete er vor ihr und strich ihr übers Haar.
„Meine wilde, süße Sadie“, sagte er atemlos.
Sie lächelte und sah ihn mit einem entrückten Blick an. „Du machst mich glücklich.“
Mit zitternden Knien stand Matt auf und ging auf die Suche nach seinen Shorts. Sadie stand schließlich auch auf, um sich anzuziehen, und legte sich mit verträumter Miene ins Bett. Matt gesellte sich dazu, dann strich er ihr eine Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht.
„Du bist einfach wunderschön“, sagte er und lächelte.
„Danke“, erwiderte Sadie leise. „Du bist der beste Mann, den ich mir je hätte wünschen können.“
„Mir ist es eine Ehre, dass ich dein Mann sein darf“, sagte er und wollte noch etwas hinzufügen, aber dann schwieg er.
„Was?“, fragte Sadie neugierig.
„Ich will das jetzt nicht ruinieren.“
„Du kannst nichts ruinieren.“
Trotzdem zögerte er noch einen Moment. „Gerade ging mir durch den Kopf, wie erstaunlich es ist, dass du das jetzt schon wieder kannst.“
Unbeeindruckt zuckte Sadie mit den Schultern. „Ich lasse mir von Brian Leigh gar nichts mehr versauen, Matt. Aber so traurig es ist, dass ich darin schon Erfahrung hatte, so nützlich ist das jetzt auch. Ich weiß, was ich vermeiden muss. Und außerdem bist du es, das verwechsle ich nicht. Du könntest mir niemals weh tun. Du bist mein Mann.“
Gerührt sah Matt sie an, beugte sich vor und küsste sie liebevoll. Das war die beste Antwort, die er geben konnte.
„Erst mal machen wir deine Windel und dann gibt’s noch eine Kleinigkeit zu essen“, sagte Matt, bevor er sich Hayley schnappte und mit ihr nach oben ging.
„Soll ich mitkommen?“, bot Sadie an.
„Passt schon“, erwiderte Matt von der Treppe aus und ging hinauf. Wie üblich schallte aus Libbys Zimmer Musik. Sadie war froh, dass der Arbeitstag endlich vorüber war, denn die Besprechungen hatten sich endlos gezogen. Das war der Nachteil, wenn man plötzlich ein Schreibtischtäter war.
Eine Kleinigkeit zu essen … Sadie öffnete den Kühlschrank und spähte hinein. Gab es dort irgendwas zu sehen, das ihr Interesse erregte? Auf Anhieb fand sie nichts, deshalb stöberte sie weiter im Vorratsschrank herum.
Das Klingeln an der Haustür ließ sie aufhorchen. Stirnrunzelnd ging sie zur Tür und stutzte, als sie durch das kleine Fenster zwei Männer sehen konnte. Sie glaubte, einen von beiden zu kennen, aber er wurde halb von dem anderen verdeckt. Erst, als sie die Tür öffnete und er neben den anderen Mann trat, wusste sie, wer er war.
„Detective Carroll, LAPD“, stellte der vordere der beiden sich vor. „Das ist mein Kollege, Detective Vincenzo.“
Sadie schluckte. „Wir kennen uns.“
Vincenzo nickte ihr zu. „Wir kommen wegen Ihres Mannes.“
„Wegen Matt? Was …“ Sadie unterbrach sich selbst und kniff die Augen zusammen. In diesem Augenblick wurde sie des voll besetzten Streifenwagens hinter dem Dienstfahrzeug der Detectives gewahr. „Warum sind Sie hier?“
„Ist er zu Hause?“, fragte Vincenzo. Noch bevor Sadie antworten konnte, kam Matt mit Hayley auf dem Arm die Treppe hinunter und musterte die Detectives fragend. Als er sie erkannte, blieb er an Ort und Stelle stehen. Er hatte die beiden Detectives nie vergessen, die ihn zwei Tage lang durch den Wolf gedreht und versucht hatten, ihm das Geständnis abzuringen, dass er ein Mörder war.
„Mr. Whitman“, sagte Vincenzo.
„Was wollen Sie denn hier?“, fragte Matt entgeistert. Allerdings fing er sich schnell wieder, ging zu Sadie und reichte ihr Hayley. Er hätte nicht sagen können, warum. Es war nur so ein Gefühl. Doch ihm war klar, dass die Anwesenheit der Detectives nichts Gutes verheißen konnte.
Carroll griff nach den Handschellen an seinem Gürtel. „Matt Whitman, ich verhafte Sie wegen des Verdachts, Stacy Gallagher ermordet zu haben. Sie haben das Recht, zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Können Sie sich keinen leisten, wird Ihnen einer gestellt. Verstehen Sie Ihre Rechte?“
Matt stand einfach nur da und starrte die Detectives an. Er wusste nicht, was er sagen oder wie er reagieren sollte.
„Bitte leisten Sie keinen Widerstand“, sagte Carroll. „Nehmen Sie die Hände auf den Rücken und drehen Sie sich um.“
„Was soll das jetzt?“, fragte Sadie düster. „Das Thema hatten wir doch schon. Er war es nicht!“
Doch Carroll ignorierte sie und blickte zu Matt. „Mr. Whitman, haben Sie mich verstanden?“
„Sie wollen mich festnehmen?“, fragte Matt verständnislos.
Carroll nickte. „Würden Sie sich bitte umdrehen?“
Matt schluckte und tat, was Carroll gesagt hatte. Er rührte sich nicht, während der Polizist ihm Handschellen anlegte. In diesem Moment erschien Libby auf der Treppe und rannte hinunter, als sie sah, was geschah.
„Matt!“, rief sie aufgewühlt.
„Auf welcher Grundlage nehmen Sie ihn fest?“, fragte Sadie scharf.
„Es gibt berechtigten Grund zur Annahme, dass wir damals etwas übersehen haben“, sagte Vincenzo, während die Handschellen sich mit einem rasselnden Geräusch schlossen. Matts Blick ging an Sadie vorbei ins Nichts. Hayley klammerte sich an ihrer Mutter fest und blickte unglücklich zu den Polizisten.
„Sie wissen, dass das Unfug ist!“, rief Sadie wütend. „War das Evans? Versucht er es wirklich wieder?“
Vincenzo hielt ihr ein Blatt Papier vor die Nase, das er die ganze Zeit festgehalten hatte. „Wir kommen mit einem Durchsuchungsbefehl.“
„Bitte was? Das kann nicht ihr Ernst sein!“ Sadie war vollkommen außer sich.
„Ich muss Sie und die Kinder bitten, im Wohnzimmer Platz zu nehmen und sich dort nicht wegzubewegen, während wir alles durchsuchen“, sagte Vincenzo. Sadie bildete sich ein, eine Spur des Bedauerns aus seiner Stimme herausgehört zu haben, doch sicher war sie sich nicht.
„Sie werden überhaupt nichts finden“, sagte Matt, der sich wieder einigermaßen gefasst hatte.
Vincenzo nickte seinem Kollegen zu. „Fahrt ihr schon mal vor, ich komme nach, wenn die Durchsuchung abgeschlossen ist.“
„Sie tun überhaupt nichts!“, regte Sadie sich auf.
„Hey, lass sie nur machen“, sagte Matt. „Sie machen bloß ihre Arbeit. Sie können doch gar nichts finden!“
„Darum geht es doch überhaupt nicht!“ Sadie schluckte, als Hayley auf ihrem Arm laut zu weinen begann. Die Kleine spürte genau, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Matt …?“, sagte Libby fragend, als Carroll ihn am Oberarm packte und nach draußen bringen wollte.
Matt drehte sich um und sah Libby eindringlich an. „Es ist okay. Mach dir keine Sorgen. Das wird schon wieder, hörst du? Hab keine Angst. Sadie, du musst den Anwalt anrufen. Ich weiß nicht, was hier los ist, aber ich brauche ihn.“
Hayley weinte markerschütternd laut. Sie zappelte und versuchte, von Sadies Arm zu hüpfen, als Carroll Matt Richtung Tür zog. Hektisch blickte Sadie zu Libby und schaute dann Matt hinterher.
„Bitte, kannst du sie nehmen?“ Mit diesen Worten drückte Sadie Libby ihre kleine Tochter in den Arm und war mit zwei Schritten draußen.
„Ich komme, so schnell ich kann, Matt. Ich besorge dir einen Anwalt. Das wird sich bestimmt klären!“, rief sie.
„Wird es“, grollte Matt, der sich widerstandslos von Carroll zum Dienstwagen führen ließ. Hilflos blickte Sadie ihm hinterher.
„Mrs. Whitman“, holte Vincenzos Stimme sie in die Realität zurück. „Kommen Sie.“
Doch Sadie stand einfach nur da und sah zu Matt, der ihren Blick stumm erwiderte. Sie achtete nicht darauf, wie Vincenzo den Kollegen im Streifenwagen zunickte, woraufhin sie ausstiegen und zur Tür kamen.
Vincenzo trat neben Sadie und legte seine Hand auf ihren Arm, weshalb sie zusammenzuckte.
„Fassen Sie mich bloß nicht an!“, schnappte sie und stapfte an ihm vorbei ins Haus. Libby stand mit entsetzter und hilfloser Miene auf der Treppe und versuchte vergeblich, die kreischende Hayley zu beruhigen. Wortlos nahm Sadie ihr die Kleine wieder ab und ging mit ihr auf dem Arm hindurch ins Wohnzimmer, wo sie sich aufs Sofa setzte und Hayley beruhigend wiegte. Sie versuchte, die Kleine zu trösten, die knallrot im Gesicht war und verzweifelt schrie. Natürlich wusste sie nicht, was eine Verhaftung war, aber sie spürte, dass etwas in der Luft lag.
Wortlos nahm Libby neben Sadie Platz. Vincenzo blieb vor den beiden stehen, dann starrten er und Sadie einander unnachgiebig an, während Sadie beruhigend summte und Hayley über den Kopf strich. Allmählich wurde Hayleys Weinen leiser. Sie vergrub den Kopf an Sadies Schulter. Es machte Sadie nervös, zu hören, wie Vincenzos Kollegen überall herumliefen und raschelten, dann tauchten zwei der Männer bei ihnen auf und begannen, alles zu durchsuchen.
„Das war Evans, oder?“, fragte Sadie.
Vincenzo mauerte. „Dazu kann ich nichts sagen.“
„Dass er es wirklich wieder damit versucht … Warum wirft er meinem Mann nicht vor, seinen Sohn ermordet zu haben? Tylers Tod hat Matt doch tatsächlich zu verantworten.“
„Ja, aber im Kontext Ihrer Entführung und aufgrund Ihrer Aussage ist ziemlich offensichtlich, dass das Notwehr und kein Mord war.“
Sadie lächelte kühl und nickte. „Also war es wirklich Evans.“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Kommen Sie, Detective. Wenn Sie so genau über diese Angelegenheit Bescheid wissen, ist das doch nicht ohne Grund so.“
Vincenzo atmete laut aus. „Ich weiß, man sollte Sie nicht unterschätzen, Agent Whitman.“
„Er war es nicht. Wie hat Evans es geschafft, das wieder aufzuwärmen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Vincenzo. Sadie glaubte ihm, aber das spielte keine Rolle.
„Was dagegen, wenn ich telefoniere?“, fragte sie. Vincenzo schüttelte den Kopf. Vollkommen unbehaglich saß Libby neben ihr, die Schultern hochgezogen, und beobachtete die Polizisten dabei, wie sie alles auf den Kopf stellten.
„Machen Sie nur“, sagte Vincenzo betont großzügig. Sadie hätte ihm die Augen auskratzen können.
Doch entgegen Matts Bitte rief sie nicht zuerst den Anwalt an, sondern versuchte es bei Nathan. Sie fluchte, als bei ihm nur die Mailbox anging, und rief doch den Anwalt an, der Matt schon beim letzten Mal beigestanden hatte. Matt war damals zufrieden mit Andrew Rhodes gewesen, der Sadie am Telefon gleich versprach, zur Polizei zu fahren und sich um Matt zu kümmern.
Dann wollte Sadie Phil anrufen. In diesem Moment benötigte sie dringend Beistand und wenn Nathan schon nicht erreichbar war, dann hoffentlich Phil.
„Ist es okay, wenn ich auf der Terrasse telefoniere?“, fragte sie.
„Solange ich Sie sehen kann und die Tür offen bleibt, ist das kein Problem.“
Sadie lächelte kurz und freute sich über Vincenzos Entgegenkommen, dann bat sie Libby, ihr Hayley noch einmal abzunehmen. Inzwischen hatte die Kleine sich soweit beruhigt, dass das überhaupt eine Option war.
Als sie draußen war, atmete sie befreit auf. Sie hoffte immer noch, dass das nur ein Alptraum war, aus dem sie schnell erwachte. Die konnten nicht einfach Matt schon wieder festnehmen. Ungeduldig lauschte sie auf das Freizeichen.
„Sadie“, erlöste Phil sie endlich.
„Phil, ich bin so froh, deine Stimme zu hören.“
„Was ist los?“, fragte er besorgt. „Was ist passiert?“
„Das LAPD ist hier. Sie haben Matt schon wieder wegen Stacy festgenommen. Gerade durchsuchen sie unser Haus.“
Phil brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. „Das ist doch auf Evans’ Mist gewachsen.“
„Glaube ich auch. Phil …“ Plötzlich geriet Sadies Fassung ins Wanken. „Sie haben ihn vorhin in Handschellen rausgeführt.“
„Ist sein Anwalt unterwegs?“
„Ja, der weiß schon Bescheid.“
„Und Nathan?“
„Geht nicht ran.“
„Okay … ich komme zu euch. Ich helfe Amelia noch schnell dabei, die Kleine ins Bett zu bringen und bin dann gleich bei euch“, sagte er.
„Du musst nicht …“
„Hey, warum sonst hast du mich denn angerufen? Matt ist mein Freund. Ich komme zu euch. Bis gleich.“
„Bis gleich“, erwiderte Sadie und legte auf. Wieder kribbelte ihre Haut verräterisch. Sie hatte immer so ein eigenartiges Gefühl, wenn Gefahr drohte.
Sie konnten nichts finden. Oder doch? Damals hatten sie keinen Durchsuchungsbefehl beantragt, aber jetzt hatten sie ihn gleich mitgebracht.
Konnten sie wirklich nichts finden?
Als das Handy in ihrer Hand zu vibrieren begann, erschrak sie zu Tode. Erleichtert las sie Nathans Namen auf dem Display.
„Danke, dass du zurückrufst, Nathan“, sagte Sadie.
„Was kann ich für dich tun?“
„Deine Kollegen sind hier und haben Matt festgenommen. Wegen Stacy.“
„Wegen Stacy? Ernsthaft?“ Nathan konnte es nicht fassen.
„Sie durchsuchen gerade unser Haus.“
„Bitte wie?“
„Vincenzo meinte, sie hätten irgendwelche neuen Hinweise.“
„Bullshit“, erwiderte Nathan ungehalten. „Ich bin gerade noch mal ins Büro rein und deshalb kann ich mich jetzt gleich mal an den Computer klemmen und dir sagen, wer das abgesegnet hat.“
„Warum ist das wichtig?“, fragte Sadie.
„Weil ich mich frage, wer bescheuert genug ist, das neu aufzurollen. Vincenzo und Carroll haben sich doch damals schon eine blutige Nase geholt. Warte kurz … da haben wir es.“ Nathan schnaubte. „Vincenzo und Carroll wurden von Chief Hooker darauf angesetzt. Kein Wunder, der ist ganz dicke mit Evans Senior.“
Sadie nickte ernst. „Dachte ich es mir doch.“
„Ich sehe hier auch den Durchsuchungsbefehl.“ Nathan atmete tief durch. „Sadie, ich sage das nur ungern, aber leg dich jetzt bitte nicht mit ihnen an.“
„Tue ich nicht.“
„Nein, ich meine … lass sie einfach machen. Am besten redest du gar nicht mit ihnen. Ich weiß nicht, was die vorhaben, aber das ist ein abgekartetes Spiel. Die fahren schwere Geschütze auf. Die wollen unbedingt etwas finden.“
„Sie können nichts finden, Nathan.“
„Ja … ach, vergiss es. Ich komme zu euch. Mal sehen, wie sie auf mich reagieren.“
„Danke, das klingt großartig.“
„Ist doch klar. Bis gleich.“
Sadie wollte noch etwas sagen, aber Nathan hatte schon aufgelegt. Sie ließ ihr Handy sinken und starrte ins Nichts, zumindest nahm sie gerade überhaupt nichts wahr.
Sie hatten Matt in Handschellen aus seinem eigenen Haus geführt, vor den Augen seiner Familie. Wenn Evans sie fertig machen wollte – das war eine verdammt effektive Methode.
Und wieder fragte sie sich, ob die Polizei irgend etwas finden konnte. Was sollte das sein? Da gab es nichts. Sie hatte nur immer wieder mit Matt darüber geredet, alle hatten immer nur geredet. Es gab keinerlei Beweise oder Hinweise. Nichts.
Trotzdem hatte sie entsetzliche Angst. Das war keine Lappalie. Sie steckte ihr Handy weg und verschränkte die Arme vor der Brust, die Schultern hochgezogen, die Augen zusammengekniffen.
Als sich die Terrassentür hinter ihr öffnete, drehte sie sich um. Vincenzo kam zu ihr nach draußen.
„Verraten Sie mir, mit wem Sie gesprochen haben?“, fragte er.
„Eigentlich geht es Sie nichts an, aber sie kommen gleich ohnehin her.“
„Sie?“ Vincenzo war überrascht.
„Detective Morris und Phil Richardson. Ich nehme an, der Name sagt Ihnen noch etwas?“
Der Polizist nickte. „Er war es, der Sean Taylor erschossen hat, richtig? Ein Freundschaftsdienst, nehme ich an.“
Hasserfüllt starrte Sadie ihn an. „Ich kann es nicht fassen, dass Sie gerade wirklich davon anfangen.“
„Ich habe es damals niemandem gesagt. Damit bin ich ziemlich angeeckt. Ich musste sagen, dass ich Ihnen geglaubt habe, durfte es aber nie fundiert begründen.“
„Das ist immerhin anständig“, murmelte sie.
Vincenzo machte einige Schritte auf sie zu. „Ich habe nichts gegen Sie.“
„Und trotzdem sind Sie hier. Sie haben vorhin meinen Mann als Mörder verhaftet. Schon wieder.“
„Ich mache nur meine Arbeit. Sie wissen doch, wie das ist.“
„Ja, natürlich. Aber wir sind beide Ermittler, Detective. Wo kämen wir hin, wenn wir uns nicht auf unsere Spürnasen verlassen könnten?“
„Da haben Sie Recht, Mrs. Whitman. Ich kann Sie auch als Agent Whitman ansprechen, wenn Ihnen das lieber ist.“
„Das ist mir scheißegal“, sagte Sadie gereizt. „Glauben Sie ernsthaft, dass mein Mann eine hilflose Frau umgebracht hat?“
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Irgendwas war immer seltsam an der Sache.“
Sadie straffte die Schultern. „Ich lasse nicht zu, dass Sie meine Familie zerstören, Detective.“
Abwehrend hob er die Hände. „Hey, nicht doch. Ich bin nicht Ihr Feind.“
„Sie haben keine Ahnung, was Sie hier anrichten! Ich habe es Ihnen damals schon erklärt. Ich habe meinem Mann mein Leben zu verdanken. Er ist ein guter Mensch, er hat mich schon mehrmals gerettet. Zuletzt im Winter in England, als ich an einem Schuss in die Leber fast verblutet wäre. Wissen Sie, wie schnell das geht?“
„Schnell“, sagte der Polizist. „Vorhin war ich überrascht, hier zwei Kinder vorzufinden. Sie haben Liberty adoptiert und noch ein eigenes Kind bekommen.“
„So sieht’s aus.“ Abwartend erwiderte Sadie seinen Blick.
„Sie legen für Ihren Mann wirklich die Hand ins Feuer, oder? Wie alt ist Ihre Tochter?“
Sadie lachte kurz. „Verstehe. Sie wollen wissen, wann sie gezeugt wurde. Hören Sie auf damit, ich bitte Sie. Stacy Gallagher hat meinem Mann Narben zugefügt, und das meine ich nicht bloß im Wortsinn. Er war verzweifelt, weil sie sich ihm aufgezwungen hat. Am Ende war er selbstmordgefährdet. Und jetzt … jetzt kommen Sie und nehmen ihn wieder deshalb fest.“ Plötzlich glitzerten Tränen in ihren Augen. „Das nehme ich Ihnen verdammt übel, wissen Sie das? Sie haben keine Ahnung, was das für uns bedeutet.“
Diese Worte hinterließen tatsächlich Eindruck bei Vincenzo, sie verunsicherten ihn. Diesmal wich Sadie seinem Blick nicht aus.
„Wir waren damals die ermittelnden Detectives und deshalb stehen wir jetzt wieder hier. Wenn Sie meine persönliche Meinung hören wollen – ich habe kein übersteigertes Bedürfnis danach, mir hier wieder die Zähne für nichts auszubeißen. Aber wir müssen der Sache nachgehen, ihn befragen und hier nach Beweisen suchen. Wenn wir nichts finden, ist doch alles in Ordnung“, sagte er.
„Es ist trotzdem unnötig“, schnaubte Sadie und ging an ihm vorbei wieder ins Wohnzimmer. Hayley streckte die Arme nach ihrer Mutter aus und Sadie nahm sie auch gleich wieder auf den Schoß. Mit düsterer Miene beobachtete Sadie Vincenzo dabei, wie er die Tür hinter sich schloss und zu seinen Kollegen ging.
Als er außer Hörweite war, sagte Libby: „Dürfen die das einfach so machen?“
Sadie nickte. „Leider ja. Nathan sagte vorhin zu mir, ich soll sie einfach lassen. Vielleicht hat er Recht.“
„Aber …“ Libby blickte verstohlen zu den Polizisten, was niemand merkte, dann wisperte sie: „Ich habe Angst.“
„Musst du nicht“, behauptete Sadie, während sie nach Libbys Hand griff und sie ganz fest drückte. Sie warf ihr einen ermutigenden Blick zu und war unaussprechlich erleichtert, als es wenig später klingelte. Vincenzo begleitete Sadie zur Haustür, nachdem sie Hayley wieder auf Libbys Schoß gesetzt hatte.
Phil würdigte den Polizisten keines Blickes, während er Sadie fest umarmte. Erst dann musterte er Vincenzo prüfend.
„Sie haben den Falschen“, sagte er.
„Mr. Richardson“, sagte Vincenzo trocken und reichte ihm die Hand.
„Sie wissen, wer ich bin“, stellte Phil irritiert fest und schüttelte Vincenzos Hand.
„Ich habe mich damals schon sehr genau mit jedem von Ihnen auseinandergesetzt, als wir Matt Whitman zum ersten Mal verhaftet hatten.“
„Solange Sie mich jetzt nicht auch festnehmen.“
„Nein, wobei Ihr Auftritt hier mir einiges verrät.“
„Sadie und Matt Whitman sind meine besten Freunde“, sagte Phil. „Vermutlich haben Sie keine Vorstellung, was Sie hier gerade anrichten, aber ich würde gern dabei helfen, den Schaden zu begrenzen.“
Sadie hätte Phil gar nicht sagen können, wie gut diese Worte in diesem Moment in ihren Ohren klangen. Dass nun auch Phil so leidenschaftlich Matts Ehre verteidigte, machte ihr Mut.
„Komm rein“, sagte sie.
„Und Sie durchsuchen hier gerade ernsthaft das Haus?“, fragte Phil an den Detective gerichtet.
„Vielleicht finden wir ja doch etwas“, erwiderte Vincenzo trocken.
„Ich würde mich sehr wundern“, sagte Phil. Im Wohnzimmer angekommen, begrüßte er auch Libby und Hayley und beobachtete die Polizisten dabei, wie sie alles durchwühlten. Dabei ließ er sich keine Verunsicherung anmerken. Sadie fiel es inzwischen nicht mehr schwer, ohne mit der Wimper zu zucken für Matt zu lügen, aber sie hatte nicht gewusst, dass Phil das in ähnlichem Maße perfektioniert hatte.
„Sie waren damals dabei, nicht?“, richtete Vincenzo sich an Phil.
„Sie meinen, als Stacy Gallagher versucht hat, Matt umzubringen?“, fragte Phil und der Detective nickte. „Ja, das war ich allerdings. Ich weiß noch, wie Matt mich damals angesehen hat. Er hatte bloß Angst. Nicht zu Unrecht, schließlich hat sie ihn fast verbluten lassen.“
Phil blickte nur kurz zu Sadie, während er sprach, aber ihre Miene war wie versteinert. „Ich habe in dem Moment verhindert, dass Matt stirbt, glaube ich. Aber das hat ihn verändert.“
„Spräche doch dafür, dass er sich an ihr gerächt hat, oder? Wenn sie ihm so zugesetzt hat …“ murmelte der Detective.
„Matt ist kein Mörder“, sagte Phil und sah Vincenzo dabei genau in die Augen. Er hatte es wirklich perfektioniert. Sadie hätte ihn küssen mögen.
„Sind Sie einer?“, fragte Vincenzo.
Wütend sprang Sadie auf. „Jetzt reicht es aber wirklich!“
„Lass nur“, erwiderte Phil ruhig und griff nach ihrer Hand, woraufhin sie sich wieder setzte. „Worauf spielen Sie an?“
„Ich weiß, dass Sie den Pittsburgh Strangler erschossen haben. Dafür, dass Sie Ihre Waffe unauthorisiert mit sich geführt haben, hat man Sie vor die Tür gesetzt. Aber war es Mord?“
Phil tauschte einen kurzen Blick mit Sadie, dann sah er den Detective wieder an. „Wären Sie dort gewesen, würden Sie eine solche Frage überhaupt nicht stellen.“
„Sie weichen aus.“
Nun stand Phil auf und hielt dem Detective demonstrativ seine Arme hin. „Bitte, nehmen Sie mich fest, wenn Sie wollen. Sean Taylors Tod wurde damals hinreichend untersucht. Er hat mit Matt gekämpft. Wie Sadie aussah, will ich mir gar nicht mehr vorstellen. Ich war froh, dass ich meine Waffe dabei hatte und es irgendwann einen Moment gab, in dem ich schießen konnte, ohne Matt zu gefährden. Ich musste die Situation unter Kontrolle bringen. Da fragt man bei einem Serienmörder nicht lange. Hatten Sie schon mit einem Serienmörder zu tun?“
„Nein“, sagte Vincenzo. „Glücklicherweise nicht.“
Phil ließ die Arme sinken. „Nichts für ungut, aber dann können Sie wohl kaum mitreden, Detective. Ich hatte Alpträume von diesen Momenten da unten im Keller und das nicht, weil ich ihn ermordet hätte, das können Sie mir glauben.“
Als einer von Vincenzos Kollegen sich am Computer in der Ecke hinter dem Sofa zu schaffen machte, sprang Sadie wieder auf.
„Was wird das denn?“
„Wir nehmen alle Computer mit“, sagte Vincenzo. „Könnte doch sein, dass wir darauf etwas finden. Würden Sie uns die Passwörter verraten?“
Innerlich kochte Sadie vor Wut, aber sie wusste, damit kam er durch. Diese ganze Hausdurchsuchung war die pure Schikane, finden würden sie ohnehin nichts. Aber sie konnte nichts dagegen tun.
Als es erneut klingelte, bot Phil an, nachzusehen. Sadie war einverstanden, so dass er Augenblicke später mit Nathan erschien.
Vincenzo nickte ihm zu. „Morris.“
„Wessen hirnverbrannte Idee war das?“, fragte Nathan, ohne die Begrüßung zu erwidern. „Ihnen ist aber klar, dass Chief Hooker mit Evans golfen geht, oder?“
Arglos zuckte Vincenzo mit den Schultern. „Ich mache hier nur meine Arbeit.“
„Sie wissen, dass das Schwachsinn ist“, schnaubte Nathan.
„Ich finde es wirklich interessant, wie vehement Sie alle sich mir in den Weg stellen. Haben Sie Angst, ich könnte doch etwas finden?“
„Nein, ich habe nur etwas gegen Willkür. Evans kriegt Matt nicht dafür dran, dass er Tyler getötet hat, also versucht er es jetzt noch mal auf diese Tour. Das ist ganz mies. Und Sie unterstützen das auch noch!“
„Ich mache nur meine Arbeit“, sagte Vincenzo gelassen.
„Ach, hören Sie doch auf! Sie werden nichts finden, aber der Scherbenhaufen ist dann trotzdem da.“
„Wenn Sie so weitermachen, lade ich Sie alle vor. Das können Sie sehr gern haben. Da mache ich auch keinen Unterschied bei Kollegen.“
„Schön, von mir aus. Wir hatten das zwar schon mal, aber wir können das gern wiederholen“, schnaubte Nathan.
„Hey“, sagte Sadie und stand auf. „Jetzt beruhige dich doch erst mal.“
„Ich beruhige mich überhaupt nicht! Ich fasse es einfach nicht, dass Evans damit durchkommt.“
„Wir alle regen uns weitaus mehr auf als Matt“, sagte Sadie.
„Was mir ein Rätsel ist. Sie werden ihn aber jetzt nicht wieder zwei Tage lang nerven, oder?“, fragte Nathan seinen Kollegen.
Doch Vincenzo antwortete nicht darauf. „Ernsthaft, Morris, warum fangen Sie jetzt auch noch so an? Ich finde Sie alle gerade mehr als verdächtig, wenn ich das so sagen darf.“
„Gehen Sie mir jetzt nicht auf den Keks“, grollte Nathan. „Hätten wir im Büro eine Chance, mit Matt zu sprechen?“
„Weiß ich nicht, das muss Carroll entscheiden“, sagte Vincenzo. „Allein ganz bestimmt nicht. Aber vielleicht lässt er ja Mrs. Whitman zusammen mit dem Anwalt rein.“
„Wie großzügig“, ätzte Nathan.
„Ich kann doch nicht die Kinder allein lassen“, wandte Sadie ein.
„Du lässt sie auch nicht allein. Ich bleibe hier“, bot Phil an.
„Das würdest du tun?“
„Aber sicher. Wir kommen zurecht, oder, Libby?“
Während ihre Adoptivtochter nickte, wusste Sadie nicht, wie sie reagieren sollte. Phils Angebot rührte sie und sie wollte nichts lieber, als Matt beizustehen, aber sie wusste nicht, ob man sie lassen würde.
Libby, die Sadie den Konflikt ansehen konnte, lächelte ihr zu. „Geh ruhig. Ich bringe Hayley ins Bett. Das klappt schon.“
„Bist du sicher?“, fragte Sadie.
„Na klar. Phil kümmert sich um uns.“
„Worauf du dich verlassen kannst“, sagte Phil.
„Also gut. Bin bald zurück“, sagte sie zu den Kindern, bevor sie Nathan nach draußen folgte.
Während der Fahrt zum LAPD Headquarters in Downtown starrte Matt aus dem Fenster des Dienstwagens, ohne irgendwas wahrzunehmen. Das alles fühlte sich so surreal an, dass er gar nicht sicher war, ob er nicht vielleicht träumte.