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In Pittsburgh entführt ein Serienmörder junge Frauen, foltert sie brutal über Wochen und erwürgt sie schließlich. Als der Killer mit den Medien Kontakt aufnimmt, werden FBI-Profilerin Sadie Scott und ihre Kollegen von der Behavioral Analysis Unit hinzugezogen. Für Sadie ist das Motiv des Killers ein Schock: Der sogenannte Pittsburgh Strangler ahmt explizit ihren Vater, den Oregon Strangler, nach. Diese Offenbarung muss Sadie jedoch weitgehend mit sich allein ausmachen, denn ihr Verlobter Matt durchläuft gerade selbst die fordernde Ausbildung an der FBI Academy und ist für sie kaum ansprechbar. Mehr Verständnis bringt ihr eine flüchtige Bekanntschaft namens Brandon entgegen. Er versucht, Sadie Mut zuzusprechen, als der Pittsburgh Strangler Sadie persönlich extrem unter Druck setzt und versucht, sie vollständig zu zermürben. Doch da ahnt Sadie noch nicht, was der Killer tatsächlich im Schilde führt und dass dieser Fall sie bis an ihre Grenzen bringen wird – und weit darüber hinaus …
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Blut, Angst und Tränen
Sadie Scott 5
Psychothriller
Du kannst mich anketten, du kannst mich foltern, du kannst sogar diesen Körper zerstören, doch du wirst nie meinen Verstand einsperren.
Mahatma Gandhi
Gewidmet allen tapferen und mutigen Verbrechensopfern
Grinsend rieb Phil sich den blauen Fleck am Ellenbogen. „Ich bereue nichts. Natürlich fragt man sich manchmal, wofür man so hart trainiert, wenn man dann doch oft nur Bereitschaft hat und wartend herumsitzt. Man will ja auch eigentlich nicht zu einem Einsatz gerufen werden, denn das heißt ja immer, dass Menschenleben in Gefahr sind. Aber wenn man dann gerufen wird und wirklich jemanden retten kann ...“
„Du hattest doch noch gar keinen Einsatz“, wandte Sadie ein.
„Sicher, aber ich weiß ja, wie das ist. Als ich damals auf Grimes schießen musste, wusste ich auch nicht, was ich denken soll. Ich wollte ihn ja nicht töten. Aber er hat mir ja nur die Wahl zwischen ihm und Matt gelassen. Da habe ich natürlich nicht überlegt.“
„Das glaube ich“, sagte Sadie. Die Sonne schien in ihr Wohnzimmer, in dem sie es sich mit Phil und Mittens gemütlich gemacht hatte. Figaro lag im Bett und schlief.
„Man fühlt sich wirklich ein bißchen wie ein Held“, sagte Phil. „Was machen da schon ein paar blaue Flecken!“
Die beiden grinsten einander an. Sadie konnte sein Empfinden gut nachvollziehen.
„Freut mich, dass du hier so zufrieden bist“, sagte sie.
„Ja, das bin ich wirklich. Das ist etwas anderes als Streifendienst in Waterford!“
Phil fühlte sich sichtlich wohl. Sein tägliches Training hatte dazu geführt, dass er ein breites Kreuz bekommen hatte. Er war immer schon athletisch gebaut gewesen, aber nun war er ziemlich muskulös und natürlich gefiel ihm das. Er war unglaublich stolz darauf, jetzt zum Hostage Rescue Team des FBI zu gehören. Dort konnte er sich perfekt als Scharfschütze einbringen. Sadie konnte gut verstehen, dass er diese Herausforderung liebte. Sie genoss es ebenfalls, ihre Fähigkeiten beim FBI nutzen zu können.
„Was machst du denn heute Abend?“, fragte Sadie.
„Mal sehen, vielleicht gehe ich weg und halte Ausschau nach Frauen.“ Er grinste.
„Wäre doch toll!“
„Ich bin gerade zwar auch allein ganz zufrieden, aber vielleicht ergibt sich ja was.“ Phil nahm noch einen Schluck Wasser. „Und Matt? Wie lang hat er noch an der Academy?“
„Er beginnt jetzt mit den Prüfungen. Eigentlich ist er ja fast fertig ... endlich.“ Sadie seufzte tief.
„Schon vier Monate. Wahnsinn.“
„Ewigkeit trifft es eher ...“
„Ach“, machte Phil und lächelte ihr aufmunternd zu. „Ist doch fast geschafft.“
„Das ist so verrückt, verstehst du? Vorher habe ich jahrelang allein gelebt und das hat mich nie gestört. Aber jetzt ...“
„Ihr zwei seid schon sehr süß“, feixte Phil.
„Mach dich nur lustig.“
„So war das gar nicht gemeint! Aber du musst das mal aus meiner Warte sehen. Jahrelang war das bei dir kein Thema, aber jetzt hat es dich ja total erwischt!“
Sofort schoss Sadie die Röte ins Gesicht. „Ich mache eben keine halben Sachen.“
„Ja, scheint so. Ich kann das ja verstehen. Matt tut dir gut.“
„Ja ... und er fehlt mir so!“ Sadie lachte gequält.
„Oh je“, sagte Phil verständnisvoll. „Mein Mitgefühl.“
„Du machst dich immer noch lustig.“
„Überhaupt nicht! Ihr zwei seid toll zusammen. Und Matt ist echt in Ordnung. Hätte ich ihm nicht zugetraut.“
„Er macht mit mir wirklich etwas mit.“
„Auf mich wirkt er ganz zufrieden“, hielt Phil dagegen.
Sadie erwiderte nichts, sondern seufzte nur. „Wenn er doch endlich mit der Academy fertig wäre!“
Phil schüttete sich aus vor Lachen. „Du bist süß, weißt du das? Du klingst genau wie die verliebten Mädchen damals auf der High School!“
„Phil!“ Lachend warf Sadie ein Kissen nach ihm. „Du bist so gemein. Ich sollte das wirklich mit Tessa erörtern ...“
„Als ob die verstehen würde, was du an Matt findest“, grinste Phil.
„Sie gibt sich zumindest Mühe!“
„Sie ist ja auch in Ordnung. Auch wenn sie gar nicht erst versucht, zu verbergen, wie sie veranlagt ist!“
„Warum auch“, sagte Sadie.
„Hattest du je Befürchtungen, dass sie vielleicht auf dich steht?“
Sadie schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Als sie mir damals gesagt hat, wie sie tickt, hat sie mir auch gleich gesagt, dass wir nur Freunde sind. Das hat sich nie geändert.“
„Sie fehlt dir bestimmt.“
„Schon. Wenigstens bist du hier! Wenn du jetzt nicht hier wärst, wäre ich ganz allein ... das würde ich hassen.“ Sadie zog die Schultern hoch.
„Nicht mehr lange und Matt kommt nach Hause“, sagte Phil.
„Ja, zum Glück. Du kannst wirklich bleiben, es wäre genug zu essen da!“
„Nein, ich lasse euch Turteltäubchen mal allein. So wie du ihm hinterherschmachtest, würde ich da nur stören!“
Kopfschüttelnd sah Sadie ihn an. „Dass du mich auch immer ärgern musst.“
„Klar! Dafür bin ich doch da.“
Die beiden lachten gemeinsam. Es dämmerte schon, als Phil sich auf den Heimweg machte und Sadie zu kochen begann. Sie war unendlich froh, dass Phil sie an diesem Nachmittag besucht hatte, denn sie war es leid, allein zu Hause zu sitzen. Matt fehlte ihr entsetzlich und das nervte sie, aber es war ja nicht zu ändern - und es war auch schon fast vorbei.
Sadie schaltete das Küchenradio ein und machte sich an die Vorbereitungen für den Auflauf. Als sie Lithium von Nirvana erkannte, drehte sie das Radio lauter und war versucht, mitzusingen. Tessa hatte Nirvana damals auf der High School angebetet, obwohl Kurt Cobain schon jahrelang tot gewesen war. So kannte auch Sadie die meisten Lieder der Band und hörte sie immer noch gern, obwohl sie nicht nur positive Erinnerungen an die damalige Zeit hatte.
Sie war wirklich froh, dass zumindest Phil nun drüben bei ihnen an der Ostküste war. Im Augenblick hatte sie nur ihre Katzen und hätte sich ohne Phils Gesellschaft wirklich einsam gefühlt.
Es fiel ihr wahnsinnig schwer, seit Monaten auf Matt zu verzichten. Nach Weihnachten hatte sie ihn wochenlang nicht gesehen, bis sie zumindest regelmäßig zusammen zum Mittagessen gegangen waren. Inzwischen sagte niemand an der Academy mehr etwas, wenn er zumindest am Wochenende zu Hause war, und an diesem Abend wollte er endlich wieder kommen. Wahrscheinlich war er müde vom Lernen, aber das war Sadie ganz gleich. Hauptsache, er war da. Sie gab sich auch damit zufrieden, neben ihm zu liegen und ihn beim Schlafen anzusehen.
Manchmal wunderte sie sich über sich selbst, weil sie tatsächlich in der Lage war, jemandem so sehr zu vertrauen. Das hatte sie so lange nicht gekonnt, aber bei Matt fiel es ihr nicht schwer. Vielleicht war es, weil er nicht nur ihr Geheimnis nie verraten, sondern sie auch immer beschützt hatte. Er hatte ihr nie Anlass gegeben, an seiner Liebe zu zweifeln und sie hatte immer gewusst, dass sie ihm vertrauen konnte. Manchmal erschreckte es sie selbst, dass er in so kurzer Zeit so wichtig für sie geworden war. Ihre erste große Liebe ... und dann hatte es sie so heftig erwischt.
Seufzend schichtete sie Gemüse und Fleisch in die Auflaufform und streute Käse darüber. Hinter ihr tat Mittens sich an ihrem Napf gütlich. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen schob Sadie den Auflauf in den Ofen und stemmte danach die Hände in die Hüften. Jetzt noch schnell die Küche sauber machen und etwas anderes anziehen – und dann würde Matt auch schon da sein.
Deshalb beeilte Sadie sich. Sie wischte die Arbeitsplatte ab und räumte die Spülmaschine ein, wusch sich die Hände und ging ins Schlafzimmer, um ihre Freizeithose gegen eine andere zu tauschen. Als sie vor dem offenen Schrank stand und eine Jeans herauszog, hielt sie inne. Zum Valentinstag hatte Matt ihr ein besonderes Geschenk gemacht und ihr damit hochrote Ohren beschert: Er hatte ihr schöne Unterwäsche gekauft. Damit hatte sie nicht gerechnet, zumal er es sorgfältig durchdacht und rechtzeitig ihre Größe herausgefunden hatte. So war das Geschenk perfekt geworden und Sadie hatte sich, neben aller Verlegenheit, riesig gefreut. Schließlich war das auch ein Kompliment.
Kurzerhand zog sie alles aus und wechselte die Unterwäsche. Es würde bestimmt dazu kommen, dass Matt sie sah. Zumindest hoffte Sadie das. Sie konnte es sich auch nicht anders vorstellen, denn schließlich gab es in der FBI Academy wenig Zerstreuung. Solche schon gar nicht. Dabei dachte sie mit einem Grinsen an den Moment zurück, in dem sie Matt dort ohne Vorwarnung überfallen hatte, weil die Sehnsucht nach ihm zu groß geworden war. Sie hatte es nicht bereut. Wie hätte sie das auch bereuen können?
Sie streifte ihren Pullover wieder über und zog die Jeans an. Im Wohnzimmer begannen Mittens und Figaro eine gefauchte Diskussion. Augenrollend ging Sadie dazwischen und trennte die beiden Streithähne.
„Ihr seid albern, wirklich“, sagte sie und begann, den Tisch zu decken. Nicht mehr lange und Matt traf ein.
Und auch gar nicht mehr lang, bis er endlich die Academy geschafft hatte. Zwar jammerte er im Moment immer wieder theatralisch über das fordernde Fitnessprogramm in der Ausbildung, aber er war ja froh, dass er es nun überhaupt leisten konnte. Seine Schulter war endlich verheilt und auch wenn er einer der älteren Anwärter war, schlug er sich wacker. Das erzählte er immer sehr stolz.
Nur noch zwei Wochen, dann hatte er die Academy hinter sich gebracht. Dann gehörte er auch zum FBI. Was dann wurde, stand zwar noch auf einem völlig anderen Blatt, aber Sadie freute sich trotzdem für ihn.
Schließlich war der Tisch gedeckt und die Katzen hatten sich beruhigt. Ein köstlicher Duft breitete sich von der Küche aus. Sadie lief das Wasser im Munde zusammen. Sie hatte einen mexikanischen Auflauf zubereitet, dessen Rezept sie in Matts einzigem Kochbuch entdeckt hatte. Er hatte es markiert, deshalb hatte sie überlegt, es einfach mal zu kochen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Zwei Minuten vor sieben. Sie wunderte sich sowieso, dass Matt nicht schon längst dort war, denn sie hatten sich darauf geeinigt, dass er bis sieben Uhr zu Hause sein wollte. Aber vielleicht war er aufgehalten worden. In der Academy passierte das schon mal. Der Auflauf brauchte aber auch noch ein bisschen, deshalb war es nicht schlimm.
Sadie ging zum Fenster und blickte hinaus zur Straße. Noch kein Challenger zu sehen. Das war aber wirklich ungewöhnlich.
Sie setzte sich an den Tisch und griff nach ihrem Handy. Kein Anruf, keine Nachricht. Nun war es schon sieben und Matt war immer noch nicht da. Aber Sadie beschloss, zu warten. Er würde schon kommen.
Fünf nach sieben. Sie konnte den Challenger auch nicht hören. Ruhelos ging sie zum Fenster und warf einen weiteren Blick hinaus, doch nichts. Deshalb begann sie, eine Nachricht auf ihrem Handy zu tippen. Wo steckst du? Hier duftet es schon richtig lecker.
Sie schickte die Nachricht ab, legte das Handy auf den Tisch und wartete. Kein Piepen, kein Summen. Allerdings würde er auch kaum antworten, während er fuhr. SMS schreiben am Steuer war immerhin verboten.
Sadie begutachtete den Auflauf im Ofen. Der Käse war zerlaufen. In ein paar Minuten musste der Auflauf raus.
Nachdenklich blickte sie zu ihrem Handy, schaute aufs Display, wurde aber enttäuscht. Immer noch nichts. Matt antwortete nicht. Vielleicht hatte er es auch nicht gehört.
Kurzerhand beschloss sie, ihn anzurufen. Ihr war bewusst, dass sie damit ohnehin nichts ändern konnte, aber sie wollte einfach wissen, wo er steckte und warum das so lange dauerte.
Nicht, dass ihm etwas passiert war. Ein Unfall oder so etwas ...
Sie hielt sich das Handy ans Ohr und lauschte auf das Freizeichen. Es summte vor sich hin, aber Matt ging nicht dran. Seufzend legte Sadie das Handy weg und stellte den Ofen aus.
Jetzt war es schon zwölf nach sieben. Immer noch kein Lebenszeichen von Matt. Das Handy schwieg und er tauchte auch nicht auf. Das sah ihm nicht ähnlich, er war doch nicht unzuverlässig.
Plötzlich war sie da, die Angst. Sadie fürchtete doch immer, dass ihm vielleicht eines Tages etwas zustieß. Dass sie ihn verlor. Beim bloßen Gedanken starb etwas in ihr. Es half ihr auch nicht, sich zu sagen, dass das verrückt war. Für sie war es das nicht, sie hatte ja schon einen furchtbaren Verlust erlitten.
Sie konnte und wollte nicht ohne Matt leben, das zerriss ihr das Herz. Sie liebte ihn doch mehr als alles andere. Das machte sie verletzlich und angreifbar, weshalb ihr auch nicht ganz wohl zumute war, aber sie konnte sich nicht immer verstecken und von allem abschotten. Von Matt schon gar nicht. Sie war so froh, dass er ihre ganze Geschichte kannte und dem keine weitere Beachtung schenkte. Er liebte sie so, wie sie war. Das war ein Geschenk.
Aber sie hatte schon so viel Mist in ihrem Leben erlebt. In Gedanken sah sie sein Auto vor sich – im Graben oder unter einem Truck oder vor einer Wand. Kaputt. Matt konnte verletzt sein oder tot. Es konnte alles Mögliche sein. Denn sie hatte bei ihm noch nie erlebt, dass er sich verspätete, ohne etwas zu sagen.
Sie beschloss, noch einmal bei ihm anzurufen. Mit heftig pochendem Herzen lauschte sie aufs Freizeichen, aber es kam keine Erlösung. Matt ging immer noch nicht dran.
Bitte nicht. Ihm durfte doch nichts passiert sein. Sadie hielt sich für paranoid, aber sie konnte nicht anders. In ihrem Leben war schon zuviel passiert, womit sie zuvor auch nicht gerechnet hatte. Hätte sie als Kind erwartet, dass ihr Vater ihre Familie tötete? Hätte sie später damit gerechnet, dass er freikam und so die Gelegenheit erhielt, sie zu entführen? Das allein war schon zuviel für ein Leben. Aber mit manchen Leuten meinte das Schicksal es nicht gut.
Vielleicht verlor sie Matt wirklich durch so etwas Dummes wie einen Autounfall. Vielleicht war er verletzt ...
Sadie schloss die Augen und konzentrierte sich aufs Atmen. Sie war hysterisch. War das normal, dass man seinen Verlobten tot sah, nur weil er sich um ein paar Minuten verspätete? Wohl kaum. Aber da war sie wohl zu traumatisiert.
Ihr Handy schwieg. Inzwischen war es zwanzig nach sieben. Wie in Trance holte sie den Auflauf aus dem Ofen und stellte ihn neben dem Herd ab. Der Käse war leicht gebräunt. Länger hätte der Auflauf nicht im Ofen stehen dürfen.
Aber Matt war noch immer nicht da. Während Sadie aus dem Fenster auf die Straße starrte, versuchte sie, sich zur Ordnung zu rufen. Matt war nicht tot. Für das alles gab es bestimmt eine ganz einfache und überhaupt nicht schreckliche Erklärung. Sie war verrückt, immer gleich vom Schlimmsten auszugehen.
Aber es half nicht. Der bloße Gedanke daran, wie er vielleicht verletzt in seinem Challenger saß, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sadie stellte sich vor, wie ein Polizist ihr sagte, dass er tot war. Andrea Thornton, die britische Profilerin, die sie vor Weihnachten besucht hatte, hatte das ja erlebt. Sie hatte ihre Familie durch einen Autounfall verloren. Sie hatte in ihrem Leben auch mehr erlebt, als man sich vorstellen konnte. So wie Sadie.
Konnte doch sein. War doch möglich, dass Matt einen Unfall hatte und nicht mehr nach Hause kam ...
Beim bloßen Gedanken daran war ihre Kehle wie zugeschnürt. Sie schloss die Augen, aber das half nicht. Die Tränen kamen trotzdem.
Jetzt saß sie an ihrem Esstisch und heulte, weil sie sich vorstellte, dass Matt tot war. Dabei war er einfach nur nicht pünktlich und rief auch nicht zurück. Das konnte tausend Gründe haben, aber nein, Sadie stellte sich ihn mausetot vor. Das war idiotisch.
Sie wusste es, aber sie weinte trotzdem. Einfach weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, Matt zu verlieren. Das war zuviel für sie. Nicht das einzig Gute in ihrem Leben.
Zitternd wischte sie sich über die tränennassen Wangen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, weil sie das albern fand. Aber es klappte nicht. Es kamen immer weitere.
Inzwischen war es halb acht. Sadie schaffte es schließlich, sich zu beruhigen, schaltete das Radio ein und stellte den Auflauf auf den Tisch. Trotz allem hatte sie Hunger.
Dann begann sie eben allein, zu essen.
Nachdem sie sich etwas auf den Teller genommen hatte, rief sie noch einmal bei Matt an, aber vergebens. Mit verheulten Augen und halb verstopfter Nase saß sie da und stocherte unentschlossen im Essen herum. Schmeckte gut. Aber allein essen wollte sie eigentlich nicht.
Das hatte sie immer befürchtet. Dass sie sich von einem Mann abhängig fühlen würde, wenn sie dann mal einen fand. Und jetzt war es soweit. Beides. Sie liebte Matt über alles und ertrug es nicht, ohne ihn zu sein. Sie konnte es kaum erwarten, bis er die Academy endlich abgeschlossen hatte und wieder bei ihr war. Da war sie wie ein Mädchen in der tiefsten Pubertät.
Gedankenversunken aß sie ein wenig und ehe sie es sich versah, war es acht Uhr abends. Matt hatte sich noch immer nicht gemeldet. Es hatte auch noch kein Polizist bei ihr geklingelt und ihr mitgeteilt, dass er tödlich verunglückt war. Es war, als sei er vom Erdboden verschluckt.
Sie überlegte, ob sie nicht nach Quantico fahren und nach ihm sehen sollte. Vielleicht war es ja noch etwas Anderes.
Was auch immer. Ihr wollte, außer irgendwelchen mittelschweren Katastrophen, nichts einfallen, das ihn davon abhielt, ans Telefon zu gehen. Das war eigentlich überhaupt nicht seine Art. Bei ihr schon gar nicht.
Das fand sie nun doch wieder beunruhigend. Aber die bloße Vorstellung, dass er sie vielleicht einfach nur vergessen hatte und sie ganz umsonst die wildesten Ängste ausstand, ärgerte sie. Mehr noch, sie spürte, wie sie zwischen Angst und Wut schwankte.
Vielleicht sollte sie Tessa anrufen und sich bei ihr ausweinen. Ihre beste Freundin hatte immer ein Ohr für so etwas. Für Männer hatte sie ja sowieso nichts übrig.
Sie stellte ihren Teller in die Spülmaschine, räumte auch den Rest ab und überlegte, was sie nun überhaupt mit diesem Abend anstellen sollte. Vielleicht wirklich nach Quantico fahren und sehen, was mit Matt los war.
Aber wenn er nicht gerade tot war, hatte er sie versetzt und das absolut nicht verdient.
Sie überlegte noch, als plötzlich ihr Handy zu vibrieren begann. Mit zwei Schritten war sie am Tisch und nahm das Telefon in die Hand. Auf dem Display leuchtete Matts Foto, sein Name stand darüber.
Sofort nahm sie das Gespräch an. „Matt ... wo bist du?“
Er beantwortete die Frage nicht. Im Hintergrund hörte Sadie Musik und Stimmengewirr. Klang nach einer Party.
„Du hast mich angerufen, habe ich gesehen“, stellte er fest.
„Ja, und ich habe dir vor einer Stunde auch schon geschrieben. Wo zum Teufel steckst du?“, fragte Sadie.
„Ich bin mit den Jungs hier in Quantico was trinken, warum?“
Ihr fehlten die Worte. Sekundenlang wusste Sadie nicht, was sie erwidern sollte. Ihr Kopf war wie leergefegt.
„Ist das dein Ernst?“, fragte sie.
Matt stutzte. „Wieso?“
„Weil hier vor einer Stunde das Essen fertig war, das ich für uns beide gekocht habe. Hast du das vergessen?“
Erneut sagte er einige Augenblicke lang nichts. „War das heute?“
Wieder brannten Tränen in Sadies Augen. „Wann soll das denn sonst gewesen sein?“
„Nächste Woche, dachte ich. Stand so in meinem Kalender.“
Sadie schloss die Augen und atmete tief durch. „Nein, das war heute, Matt.“
„Verdammt ... tut mir leid, Sadie. Ehrlich. Das muss ich mir falsch eingetragen haben. Ich hatte ja überlegt, zu kommen, aber als die anderen vorhin fragten, ob ich mitgehen will ...“
„Ja, vergiss es“, murmelte sie leise. Erneut liefen ihr Tränen über die Wangen.
„Nein, das war blöd von mir. Ich würde ja jetzt kommen, aber ich hab schon zuviel getrunken. Ich kann nicht mehr fahren.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich müsste mir ein Taxi rufen oder du müsstest ...“
„Nein“, unterbrach Sadie ihn kopfschüttelnd. Es kamen immer mehr Tränen, aber sie wollte nicht, dass er das hörte. „Nein, schon gut. Bleib einfach da.“
„Aber jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Du hast gekocht und auf mich gewartet. Ich habe deine Anrufe nicht mal gehört, es ist so laut in der Bar.“
„Ja, Hauptsache, es geht dir gut.“
Matt zögerte. „Hast du dir Sorgen gemacht?“
Sadie wollte nicht antworten, es war ihr peinlich. „Wie auch immer ... mach dir einen schönen Abend.“
„Sadie, es tut mir wirklich leid. Das ist meine Schuld. Ich komme sofort, wenn du möchtest. Dann ruf ich mir eben ein Taxi!“
„Nein“, sagte sie. „Du kannst ja ruhig auch mal mit den anderen weggehen.“
„Und was machst du jetzt?“
„Das sehe ich dann. Ist ja egal.“
Matt seufzte. „Sorry ... wirklich. Ich bin ein Idiot.“
„Nein, schon gut. Wir reden später.“
„Okay“, sagte er, klang aber nicht überzeugt. „Ich liebe dich.“
Sadies Lippen bebten und sie wusste, sie würde diesen Satz jetzt nicht aussprechen können, ohne lauthals in Tränen auszubrechen.
„Mach’s gut“, sagte sie deshalb und legte auf.
Fast rutschte ihr das Handy aus der Hand. Sie stützte sich am Tisch ab und begann zu schluchzen.
Sie war wirklich hysterisch. Matt hatte doch bloß einen Fehler gemacht, das konnte passieren. Sie hatte gehört, dass es ihm leid tat. Und jetzt stand sie hier und heulte schon wieder Rotz und Wasser.
Aber sie wollte ihn jetzt nicht sehen. Das hätte sie nicht ertragen.
Da war doch wirklich etwas kaputt in ihr. So reagierte kein normaler Mensch, das wusste sie. Aber trotzdem konnte sie nicht aus ihrer Haut.
Das hatte sie immer gescheut. Unbewusst. Sie hatte gewusst, dass sie da anders war als andere Menschen, dass sie klammern und die kleinsten Kleinigkeiten sie verletzen würden. Dass sie paranoid und empfindlich war.
Aber wie auch nicht? Sie hatte als Elfjährige gehört, wie ihr Vater ihre Schwester erst vergewaltigt und dann erschossen hatte, bevor er auch auf sie geschossen hatte. Natürlich war da etwas kaputt. Das ließ sich auch nicht mehr reparieren.
Und Matt sollte das alles nicht ausbaden müssen. Das musste sie jetzt allein tun.
Es tat weh. Er hatte gesagt, dass er ohnehin fast gekommen wäre, es dann aber vorgezogen hatte, feiern zu gehen. Sie wusste, dass es ihr nicht zustand, aber sie war eifersüchtig und verletzt. Sie vermisste ihn doch sowieso.
Aber gerade wollte sie ihn wirklich nicht sehen. Dafür war sie auch zu wütend. Sie hätte es nicht genießen können. Nein, sie blieb besser allein.
Obwohl ihr beim bloßen Gedanken daran, dass sie jetzt allein die Wand anstarren musste, ganz seltsam zumute war. Sie wollte gar nicht wirklich allein sein. Sie wollte nur Matt jetzt nicht sehen. Sollte er doch machen, was er wollte. Das war auch sein gutes Recht.
Nur: Was sollte sie jetzt tun?
Sie konnte es machen wie Matt. Sie konnte einfach auch etwas trinken gehen. Allein, wenn sie schon niemand begleitete. Es war sehr lange her, dass sie das zuletzt gemacht hatte, aber das war keine schlechte Idee. Zwei Straßen weiter war eine nette Bar, das wusste sie. Dahin konnte sie zu Fuß gehen, sich ein wenig leid tun, ihren Frust ertränken und einen Kater heranzüchten.
Warum eigentlich nicht.
Kurzerhand zog sie Schuhe und Jacke an, griff nach ihrem Schlüssel und machte sich auf den Weg. Als sie das Haus verließ, schlug ihr kalte Luft entgegen. Es roch zwar schon nach Frühling, war aber immer noch frisch.
Und es war dunkel. Sadie war es leid und, wenn sie ehrlich war, vermisste sie Kalifornien. Wenn es wirklich eine Chance gab, zurückzukehren, würde sie es tun. Nick hatte da doch etwas angedeutet.
Sie zog die Schultern hoch und atmete tief durch. Inzwischen weinte sie nicht mehr, sie war nur wütend. Vor allem auf sich selbst. Was war schon passiert? Sie war albern. Zickig. Empfindlich. Und es tat ihr leid.
Erneut musste sie an ihren Vater denken, wie so oft in solchen Situationen. Er hatte so viel zerstört. Er hatte nicht ihr ganzes Leben zerstört, das ließ sie nicht zu. Aber sie hatte nie ein normales Leben führen können und sie wusste auch nicht, ob sie das je konnte. Der Gedanke an Kinder, eine Familie, löste Angst in ihr aus.
Noch mehr, was man verlieren konnte.
Schließlich erreichte sie Barney’s Bar und stieß die Tür auf. Gelächter schlug ihr entgegen, die Musik hatte eine angenehme Lautstärke. Die Bar war gut besucht, schön warm, aber nicht stickig. Sadie beschloss, sich rechts an die Bar zu setzen, wo noch ein wenig Platz war.
Was genau sie vor hatte, wusste sie nicht. Als der Barkeeper sie ansprach, bestellte sie sich einen irischen Whisky. Bei Alkohol kannte sie sich nicht besonders gut aus, aber Norman hatte den irischen Jameson immer gemocht und Sadie kannte ihn. Den konnte man trinken, ohne dass es einem die Speiseröhre verätzte.
Ja, Alkohol würde jetzt helfen. Als Jugendliche hatte Sadie sich betrunken, als sie es noch gar nicht gedurft hatte. Seit sie zur Polizei gegangen war, hatte sie jedoch kaum noch Alkohol angerührt.
Bis jetzt. Jetzt musste das sein.
Der Barkeeper stellte ihr den Jameson hin und Sadie legte die Finger um das Glas. Nachdenklich starrte sie hinein. Der fruchtige Geruch des Whiskys stieg in ihre Nase. Stumm blickte sie auf und schaute sich um. Viele junge Männer, auch ältere, Pärchen und Gruppen. An der Bar saßen aber auch einige Einzelgäste.
Sie wusste nicht, ob sie reden wollte. Sie wollte nur nicht allein sein. Und vielleicht half der Alkohol dabei, zu vergessen.
Vielleicht rief sie später auch noch Tessa an. Die Zeitverschiebung kam ihr entgegen, deshalb konnte sie das machen. Tessa würde sie verstehen.
Aber jetzt brauchte sie erst einmal einen Whisky.
Sie hob das Glas und stürzte den ganzen Whisky in einem Schluck herunter. Das kribbelte in der Nase und brannte in der Speiseröhre, schmeckte aber nicht schlecht. Augenblicke später wurde ihr warm.
„Sieht man auch selten.“ Mit diesen Worten setzte sich ein junger Mann neben sie, der nicht älter war als sie, eher jünger. Er war kräftig gebaut, hatte dunkles Haar und seine Stimme klang angenehm.
„Meinst du mich?“, erwiderte Sadie.
Er nickte. „Ich sehe es selten, dass Frauen Whisky auf Ex trinken. Wenn ja, haben sie einen guten Grund.“
„Hab ich“, erwiderte Sadie wortkarg und hob dem Barkeeper gegenüber die Hand. „Noch einen bitte.“
Der Barkeeper schnappte sich die Flasche und füllte das Glas wieder auf. Der junge Mann neben ihr beobachtete alles schweigend.
„Mein Name ist Brandon.“ Er lächelte ihr zu. „Hat mich gewundert, dass so eine hübsche Frau ganz allein hier sitzt.“
Sadie zuckte mit den Schultern. „Wäre normalerweise nicht so.“
„Wurdest du versetzt?“
Sie nickte. „Ärgerlich, aber was will man machen.“
Brandon ging nicht darauf ein. „Wie heißt du?“
„Sadie.“
„Schöner Name. Hört man nicht so oft.“
Sadie sagte nichts. Sie wusste nicht, was.
„Du klingst aber auch nicht, als kämst du von hier“, sagte er.
„Nein ... ich komme eigentlich aus Kalifornien. Glaub, das hört man ganz gut.“
„Stimmt. Na ja, ich komme aus Oregon, eigentlich gar nicht so weit weg.“
Wie elektrisiert sah Sadie ihn an. „In Oregon bin ich geboren.“
„Oh, tatsächlich! Die Welt ist klein.“ Brandon lächelte. „Und was verschlägt dich hier an die Ostküste?“
„Arbeit“, erwiderte sie knapp.
„Mich auch. Wo arbeitest du?“
Sie blickte in ihr Whiskyglas. „Beim FBI.“
„Was, in Quantico? Wirklich? Das ist cool. Was machst du dort?“
Sadie nahm noch einen Schluck Whisky. Der tat gut. „Ich bin bei der Behavioral Analysis Unit. Die Profiler.“
„Ehrlich?“ Brandon lachte. „Ist ja irre. Damit hätte ich nicht gerechnet. Was siehst du, wenn du mich ansiehst?“
Sadie lächelte kurz. „So funktioniert das nicht. Ich kann nichts aus der Farbe deines Hemdes ableiten.“
„Aber kannst du etwas ableiten?“
Nachdenklich musterte Sadie ihn. „Du bist ein guter Beobachter und nicht dumm. Wenn ich mir anhöre, welche Worte du wählst, würde ich vermuten, dass du Anfang zwanzig bist. Das mit Oregon wäre schon geklärt ... Ich glaube, du bist jemand, der gut anpacken kann. Du wirst eher etwas Handwerkliches tun als an einem Schreibtisch sitzen. Außerdem bist du selbstbewusst, aber nicht aufdringlich. Mehr kann ich noch nicht sagen.“
Anerkennend pfiff Brandon durch die Zähne und bestellte sich ein Bier. „Das war doch schon mal was. Wie kommst du darauf, dass ich kein Bürotyp bin?“
„Dein ganzes Auftreten“, sagte Sadie.
„Du hast Recht. Ich bin Schreiner. Schon faszinierend irgendwie.“
Unbeeindruckt zuckte Sadie mit den Schultern. „Ich verdiene mein Geld damit, anhand von Indizien und Anhaltspunkten das Profil unbekannter Verbrecher zu erstellen. Man lernt, auf die Details zu achten.“
„Wie kommt man denn darauf, so einen Job zu machen?“, fragte Brandon.
„Ich war vorher bei der Polizei. Die dortige Ausbildung hat mir aber nicht gereicht.“
„Cool. Wirklich. Das hätte mich auch immer gereizt. Würdest du ... nein.“ Lachend schüttelte er den Kopf.
„Was denn?“
„Würdest du mir deine Dienstmarke zeigen?“
„Die habe ich nicht dabei, tut mir leid.“
„Nicht schlimm. Ich war nur neugierig“, sagte er und lachte. „Profiler stelle ich mir immer vor wie im Schweigen der Lämmer. Clarice Starling. Trifft es das?“
Kopfschüttelnd sagte Sadie: „Nein, nicht ganz. In der Realität ist es viel unspektakulärer.“
„Aber so Typen wie diesen Buffalo Bill ... gibt es die?“
Sadie nickte. „Schon. Soweit ich weiß, hat Thomas Harris sich Ed Gein und Gary Heidnik zum Vorbild für seinen Buffalo Bill genommen. Die gibt es wirklich.“
„Irre. Was haben die gemacht?“
Die Ablenkung kam Sadie in diesem Moment gerade recht, auch wenn sie eigentlich keine Lust hatte, über Serienmörder zu plaudern. Aber wenigstens musste sie so nicht an Matt denken.
„Ed Gein ist vor über hundert Jahren geboren. Man nannte ihn den Plainfield Ghoul. Seine Erziehung war streng religiös und er wurde zum Mörder, als seine Mutter starb. Er war sehr auf sie fixiert. Er hat Frauen entführt und ermordet und als man ihm auf die Schliche kam, fand man allerhand Leichenteile bei ihm zu Hause. Das war Vorbild für Buffalo Bill, der seinen Opfern die Haut abgezogen hat.“
„Da kriegt man ja eine Gänsehaut“, sagte Brandon interessiert. „Und der andere?“
„Gary Heidnik hat es geliebt, Frauen in seinen Keller zu sperren, zu foltern und zu ermorden.“
Brandon nickte aufmerksam. „So wie dieser Typ in Cleveland?“
„So ähnlich“, sagte Sadie. „Nur noch schlimmer.“
„Uh. Hattest du mit so einem schon zu tun?“
Wie vom Donner gerührt starrte Sadie ihn an. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Brandon war ihr nicht unsympathisch, er zeigte die typische Neugier und plapperte unbefangen drauflos. Aber sie war ja dankbar für diese Ablenkung.
Sie nickte. „Ist noch gar nicht so lang her.“
„Wirklich? Wer war das?“
Sadie nahm noch einen Schluck Whisky. „Rick Foster, der Frauenmörder.“
Brandon war fasziniert. Seine Augen leuchteten geradezu. „Der Kerl, der in Oregon getürmt ist?“
„Genau der“, sagte Sadie.
„Hast du mit ihm gesprochen?“
„Ja ... schon.“ Sie straffte die Schultern und sah Brandon geradeheraus an. „Was treibt dich denn an einem Samstag Abend hierher?“
Brandon nippte an seinem Bier. Er hatte lebhafte Augen und trug einen fusseligen Dreitagebart.
„Langeweile“, sagte er. „Ich hatte gehofft, ich könnte hier jemanden kennenlernen. Hat ja geklappt.“
Sadie lächelte. „Wenn du auf Brautschau bist, muss ich dich enttäuschen. Ich bin vergeben.“
„Hm“, machte Brandon enttäuscht. „Aber kennengelernt habe ich dich ja trotzdem. Ich muss ja nicht auf Brautschau sein, um eine Frau anzusprechen.“
„Nein“, stimmte Sadie ihm zu.
„Und was macht dein Freund so?“
„Er ist auch beim FBI“, sagte Sadie.
„Warum ist er nicht hier? Muss er arbeiten?“
„So in der Art.“ Präziser wollte Sadie nicht werden.
„Er ist es, der dich versetzt hat, oder?“
Sadie trank ihren Whisky aus und winkte dem Barkeeper. Inzwischen merkte sie den Alkohol deutlich, aber das kam ihr nur gelegen.
„Okay, falsches Thema“, sagte Brandon.
„Ach, es ist nichts“, sagte Sadie. „Ich habe ihn nur seit Wochen nicht gesehen und er fehlt mir.“
„Du solltest ihm auch fehlen.“
Verdutzt sah sie ihn an und suchte nach Worten. „Flirtest du mit mir?“
Brandon zuckte arglos mit den Schultern. „Du bist hübsch und sympathisch. Das darf ich ja wohl noch feststellen.“
„Das ist nett von dir, Brandon.“ Über dieses Kompliment freute sie sich ehrlich.
„Das ist mein Ernst. Du bist zwar auch ziemlich respekteinflößend, aber ...“
Sadie lachte. „Was, weil ich beim FBI bin?“
„Ja, schon. Das bloße Wissen reicht aus. Ich meine, du jagst Serienmörder. Ich baue Schränke.“
Sie lachte lauter. Das kann man doch kaum vergleichen. Aber Schränke bauen ist doch auch sinnvoll!“
„Schon, aber ... Ich rette keine Leben. Du wahrscheinlich schon.“
„Manchmal“, sagte Sadie knapp.
„Warum wolltest du Polizistin werden?“, fragte er.
„Ach ... weiß nicht. War einfach so.“
„Gab es keinen bestimmten Grund dafür?“
Sie schüttelte den Kopf – hoffend, dass er ihr die Lüge nicht ansah. Der Barkeeper schenkte ihr nach. Sie wusste nicht, wieviel Whisky sie problemlos trinken konnte, aber das würde sie ja sehen.
„Ich dachte nur ...“ murmelte Brandon. „Als ich jünger war, habe ich auch davon geträumt, zur Polizei zu gehen.“
„Das kannst du doch immer noch machen“, sagte Sadie.
„Ja, wenn ich dir so zuhöre, wäre das vielleicht eine Überlegung wert.“
„Nur zu. Die Erfolgsaussichten, bei der Polizei angenommen zu werden, sind ja auch gar nicht so schlecht“, versuchte sie, ihn zu motivieren.
„Und beim FBI?“
Sadie machte ein vielsagendes Gesicht. „Das Rekrutierungsverfahren ist nicht ohne und die Erfolgsaussichten sind bescheiden.“
„Und trotzdem hast du es geschafft. Cool. Aber warum will man das beruflich machen?“
„Ich kann das einfach gut“, sagte Sadie.
„Ist dein Freund auch in deiner Einheit?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, er will etwas anderes machen. Profiling ist nicht sein Ding.“
„Das ist bestimmt auch kein leichter Job.“
„Geht so.“ Sadie trank weiter von ihrem Whisky. Die Farben wurden bunt und grell, die Musik schien lauter zu werden. Der Alkohol zeigte Wirkung.
„Vielleicht mache ich das wirklich“, sagte Brandon. „Vielleicht bewerbe ich mich noch bei der Polizei.“
„Nur zu.“
„Wenn ich dazu Fragen habe ... dürfte ich dich da kontaktieren?“
Zwar zögerte Sadie kurz, aber dann nickte sie. Diesen Wunsch abzulehnen, wäre ihr unhöflich erschienen und es gab keinen Grund dafür. Im Moment war ihr aber auch alles egal. Sie bekam allmählich Kopfschmerzen, alles drehte sich. Sie hatte definitiv zuviel getrunken.
„Okay, wieso nicht“, sagte sie, zog sie eine ihrer Visitenkarten vom FBI aus ihrem Portemonnaie und reichte sie Brandon.
„Toll“, sagte er. „Special Agent Sadie Scott. Ganz schön eindrucksvoll.“
Achselzuckend sagte sie: „Ist bloß eine Jobbezeichnung.“
„Ja, aber ich kenne bisher niemanden beim FBI. Bist du schon lange dort?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ungefähr ein halbes Jahr.“
„Immerhin.“ Brandon betrachtete die Visitenkarte eingehend und steckte sie dann in sein Portemonnaie. „Echt nett von dir.“
„Kein Ding“, sagte sie und überlegte, ob sie weitertrinken sollte oder nicht.
„Dein Freund ist der Grund dafür, dass du geweint hast, oder?“
Wie vom Donner gerührt starrte Sadie ihn an. Ihr war nicht klar gewesen, dass man es ihr so deutlich ansehen konnte.
„Das muss dir nicht unangenehm sein“, sagte Brandon. „Liebeskummer kommt vor. Leider. Auch wenn ich nicht verstehe, wie ein Mann es ertragen kann, jemanden wie dich weinen zu sehen.“
Sadie schluckte. „Das ist lieb, Brandon, aber es ist okay. Ich will nicht drüber reden.“
„Schon gut. Manchmal gehen die Pferde mit mir durch.“ Er lächelte sie an und wirkte immer noch sehr sympathisch dabei. Er trank von seinem Bier und seufzte.
„Hast du noch Familie drüben in Kalifornien?“, wechselte er das Thema.
Sie nickte. „Meinen Onkel und meine Geschwister. Na ja, eigentlich sind sie nicht meine Geschwister, aber ich bin mit ihnen aufgewachsen.“
„Verstehe. Waisenkind?“
„Ja ... meine Familie starb, als ich elf war.“
„Oh, das muss hart sein.“ Brandon lächelte sanft, um sein Mitgefühl auszudrücken.
„Und bei dir?“, fragte Sadie.
„Ich hatte nur meine Mutter. Bin bei ihr aufgewachsen.“
Sadie nickte nur und fragte nicht weiter. Sie trank ihren Whisky aus und kramte in ihrem Portemonnaie herum. Mehr trinken wollte sie nicht, der Alkohol stieg ihr ohnehin schon zu Kopf.
„Du willst schon gehen?“, fragte Brandon.
„Das war zuviel Alkohol in zu kurzer Zeit“, gab sie unumwunden zu.
„Soll ich dich noch nach Hause begleiten?“
„Nein, lass mal“, sagte sie kopfschüttelnd. „Ich hab’s nicht weit. Aber danke.“
Brandon stand auf, während sie dem Barkeeper einen Schein zuschob. Sadie griff nach ihrer Jacke, steckte ihr Portemonnaie ein und nickte Brandon zu.
„War nett, mit dir zu plaudern. Schönen Abend noch.“
„Du hörst von mir“, versprach er. Sadie lächelte kurz, ging dann an ihm vorüber und verließ das Barney’s. In der kalten Luft zog sie unwillkürlich die Schultern hoch und trottete nach Hause.
Das war zuviel Whisky gewesen. Dafür, dass sie nie trank, auf jeden Fall. Wenigstens bohrte der Gedanke an Matt nicht mehr. Es tat nicht mehr weh. Genaugenommen war es ihr egal, so wie ihr gerade alles egal war.
Sie verbarg das Gesicht hinter dem Kragen ihrer Jacke. Mit langsamen Schritten kehrte sie nach Hause zurück. Schnellere Schritte konnte und wollte sie gerade nicht machen. Sie wollte überhaupt nichts. Doch, ins Bett und schlafen. Diesen Tag vergessen.
Nachdem sie den Apartmentkomplex erreicht hatte, schloss sie die Eingangstür auf und ging zu ihrem Apartment. Figaro stand maunzend vor den Näpfen. Mit hämmerndem Kopf gab Sadie ihm etwas zu fressen, ging dann ins Bad und putzte sich die Zähne.
Sie schaffte es gerade noch, sich auszuziehen und irgendwie ihr Nachthemd überzustreifen, bevor sie sich ins Bett fallen ließ und die Augen schloss.
Anscheinend kam sie doch ungestraft davon. Zwar fühlte Sadie sich noch müde, als die Katzen sie aus dem Schlaf rissen, aber die Kopfschmerzen waren weg. Sie hatte doch keinen Kater, jedenfalls von Figaro abgesehen.
Nachdem sie die Katzen gefüttert hatte, stellte sie sich unter die Dusche und wusch ihr langes rotes Haar. Das tat gut. Anschließend setzte sie sich an den Frühstückstisch und griff nach ihrem Handy. Sie hatte zwei Nachrichten - eine von Matt und eine von einer unbekannten Nummer.
Zuerst öffnete sie Matts Nachricht. Er hatte ihr ein Bild geschickt, das eine kleine Comicfigur mit einem Herz in der Hand zeigte. Darunter stand: Ich bin ein Idiot, aber ich liebe dich. Ich mache es wieder gut, wenn die Prüfungen vorbei sind.
Sadie lächelte und wollte schon antworten, aber zuerst wollte sie herausfinden, wer ihr die andere Nachricht geschickt hatte. Sie war einfach neugierig. Also öffnete sie die Nachricht und las.
Danke für den schönen Abend, Sadie. War sehr nett, mit dir zu reden. Hoffe, du bist gut nach Hause gekommen. Brandon
Nachdenklich blickte sie aufs Display und fragte sich, was er sich davon erhoffte. Auskünfte über die Polizeiarbeit konnte sie ihm geben, aber sie befürchtete, dass das nicht alles war, was er beabsichtigte. Er hatte deutlich gemacht, dass er auf der Suche nach einer Frau war und sie hatte ebenso unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie nicht zu haben war. Aber vielleicht interpretierte sie auch zuviel hinein und er wollte wirklich nur den Kontakt halten. Sie hatte nichts dagegen. Zwar fragte sie sich im Nachhinein, warum sie ihm ihre Karte gegeben und nicht einfach nach seiner Nummer gefragt hatte, aber jetzt war es eben so. Der Alkohol ...
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn sie noch jemanden in der Gegend kennenlernte. Außer ihren Kollegen und Phil kannte sie keine Menschenseele, weder in Quantico noch in Dale City. Da waren sonst nur noch Matt und die Nachbarin, die sich um die Katzen kümmerte, aber das war ja kein Kontakt in dem Sinne. Sie hatte kaum Freunde, mit denen sie weggehen konnte, und genau das war im Augenblick auch das Problem: Sie hatte nur Matt.
Inzwischen war sie darüber hinweg, dass er sie versetzt hatte. Zumindest tat es nicht mehr so weh. Sie antwortete auf seine Nachricht: Ist ja nicht mehr lang, bis du es geschafft hast. Kann es kaum erwarten. Ich liebe dich auch.
Dann machte sie sich daran, auch Brandon zu antworten. Das fand sie nur höflich.
Bin gut nach Hause gekommen und habe keinen Kater. Es war wirklich nett. Können wir mal wiederholen. Sadie
Sie drückte auf Senden und speicherte seine Nummer ab, damit sie zukünftig seinen Namen statt seiner Nummer sehen würde. Das machte es einfacher.
Dann widmete sie sich dem Frühstück. Es dauerte jedoch gar nicht lang, bis Matt ihr antwortete. Kann es auch kaum erwarten, bis es vorbei ist. Ich lerne schon wieder. Mir platzt der Kopf, das kann ich dir sagen. Wollen wir heute Abend essen gehen? Kleine Entschädigung. Ich lade dich ein.
Sadie lächelte. Diese Wiedergutmachung war ganz nach ihrem Geschmack. Also tippte sie zurück: Gern, das ist eine tolle Idee. Kommst du her?
Nach dem Frühstück wollte Sadie sich dem Hausputz widmen und zwischendurch mit Tessa sprechen, wenn es drüben in Kalifornien nicht mehr so früh war. Sonst würde Tessa ihr ewig Vorhaltungen machen.
Wenig später erhielt sie von Matt Antwort. Er versprach, um achtzehn Uhr da zu sein - diesmal wirklich. Sadie lächelte und freute sich darauf, ihn wiederzusehen. Er nahm seine Ausbildung sehr ernst, was Sadie verstehen konnte, aber das war trotzdem nicht leicht für sie.
Augenblicke später summte ihr Handy erneut. Es war Brandon. Hab dich gegooglet. Du hast ja drüben in Kalifornien schon einen Serienmörder dingfest gemacht.
Sadie grinste wenig überrascht. Natürlich hatte er sie gegooglet. Sicherlich hatte er damit auch Verweise auf Rick Foster gefunden, aber wenigstens hatte er das nicht angesprochen.
Sie antwortete: Das war kurz bevor ich herkam. So etwas mache ich öfter.
Augenblicke später antwortete er: Hat dein Freund sich bei dir entschuldigt?
Zwar fand Sadie das ziemlich neugierig, aber schließlich hatte Matt es getan. Ja, hat er. Ich sehe ihn heute Abend. Was hast du vor?
Auch diesmal ließ die Antwort nicht lang auf sich warten. Vielleicht gehe ich ins Kino. Keine Ahnung, ob man da gut Frauen treffen kann. Wo hast du deinen Freund kennengelernt?
Sadie antwortete: Bei der Arbeit. Hast ihn beim Googlen auch gefunden, er ist der Polizist, den Rick Grimes als Geisel genommen hat.
Das beeindruckte Brandon. Da musst du dir aber ziemlich in die Hose gemacht haben. Hut ab, dass du mit Grimes verhandelt hast.
Sadie schrieb: Musste ich ja. Sonst war niemand da und ich wollte nicht, dass er Matt umbringt. War aber wirklich nicht leicht.
Du musst ihn sehr lieben, schrieb Brandon.
Sadie antwortete: Ja, das tue ich.
Daraufhin kam erst einmal nichts mehr von Brandon. Achselzuckend legte Sadie ihr Handy weg und widmete sich der Wäsche. Im Hintergrund lief der Fernseher, Mittens folgte ihr auf Schritt und Tritt. Sadie lächelte und kniete sich vor die Katze, um sie zu streicheln.
„Manchmal bist du richtig anhänglich“, sagte sie und hob Mittens auf den Arm. Sofort sprang der Schnurrmotor an. Ergeben setzte Sadie sich mit der Katze aufs Sofa und kraulte sie. Die Katzen hielten sie immer wieder von der Arbeit ab, aber sie erinnerten sie auch daran, dass es gut war, mal eine Pause einzulegen. Sadie liebte die beiden Fellknäuel.
Schließlich hatte sie soweit alles erledigt und wählte die Telefonnummer ihrer besten Freundin. Tessa war gleich am Apparat.
„Dass du auch noch lebst“, war gleich das Erste, was sie sagte.
„Klar lebe ich“, sagte Sadie. „Ich habe nur zu tun.“
„Ja, ich weiß. Wie geht’s?“
„Ganz gut“, behauptete Sadie.
„Und Matt?“
„Er hat viel Stress.“
„Ja, den hattest du damals auch. Steigt es ihm schon zu Kopf?“
„Ich weiß nicht“, sagte Sadie. „Vielleicht. Gestern Abend hatte ich für uns gekocht und er ist nicht aufgetaucht. Hatte sich den Termin im Kalender falsch eingetragen.“
„Pff!“, machte Tessa. „Im Ernst?“
„Ja. Ich war begeistert, wie du dir denken kannst.“
„Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“
„Ich auch nicht. Er hat es nicht böse gemeint.“
„Trotzdem ist das scheiße“, sagte Tessa unverblümt. „Macht er es wieder gut?“
„Ja ... er will mich heute Abend zum Essen einladen.“
„Das ist ja wohl auch das Mindeste! Dem Kerl huste ich was ... er kann gern Herzen brechen, wie er will, aber bitte nicht bei dir. Du brauchst keinen Mist mehr in deinem Leben.“
Sadie lächelte. „Danke, Tessa, du bist ein Schatz. Du verteidigst mich ja wie eine Löwenmutter.“
„Na aber Hallo, das muss ich ja wohl auch. Du warst immer meine beste Freundin, weil dir egal war, ob ich ausgeflippt bin oder lesbisch oder was auch immer. Du hast mich einfach so angenommen. Und ich nehme dich auch an! Ist mir scheißegal, ob dein Vater ein Irrer war. Du bist nicht irre. Und das ist es ja, was zählt. Aber du brauchst definitiv einen Mann, der sich gut um dich kümmert. Wenn Matt das nicht tut, sag mir Bescheid und ich geige ihm die Meinung!“
„Nein, lass ihn in Ruhe“, sagte Sadie lachend. „Er hat es ja nicht so gemeint.“
„Ist doch egal. Er hat dich versetzt.“
„Stimmt.“
„Hab ich auch alles schon erlebt. Ich hasse das. Dann möchte ich immer gleich gemeinsame Erinnerungsfotos zerschnippeln“, sagte Tessa dramatisch.
„Ich bin in eine Bar gegangen.“
Tessa lachte. „Wer, du? Ist ja abgefahren. Wolltest du dich betrinken?“
„Weiß nicht. Vielleicht. Ich habe mich aber nicht betrunken. Hab mich nett mit einem Typen unterhalten.“
„Aha? Aber Matt ist eben nicht der einzige Kerl auf der Welt. Er sollte sich vorsehen!“
„Nein, ach was“, sagte Sadie kopfschüttelnd. „Ich bin nicht interessiert. Aber ich sollte mir ja hier auch mal einen Freundeskreis aufbauen.“
„Wenn du vor hast, drüben zu bleiben, macht das Sinn. Wie heißt er denn?“
„Brandon. Ich habe ihm gesagt, dass ich vergeben bin und er gräbt nicht weiter. Vielleicht will er zur Polizei gehen, deshalb hoffte er, ein paar Tips von mir zu bekommen.“
„Hast du ihm deine Nummer gegeben?“, fragte Tessa.
„Ja, warum auch nicht?“
„Hm, hast du auch wieder recht.“
„Ich werde Matt doch nicht untreu“, sagte Sadie.
„Nein, das kann ich mir bei dir auch nicht vorstellen. Du liebst ihn doch abgöttisch. Ist es echt so gut mit ihm im Bett?“
Sadie lachte. „Und schon bist du wieder beim Thema. Klar ist es gut, aber darum geht es doch gar nicht.“
„Ja, schon klar. Die Gefüüüühle ...“ sagte Tessa gedehnt.
„Du sagst das so, als wäre das etwas Seltsames.“
„Nein, hör nicht auf mich. Aber das ist eben alles wichtig. Bin ja froh, dass du mir nicht als alte Jungfrau stirbst. Ich hatte schon Bedenken.“
Sadie verdrehte die Augen. „Nein, diese Gefahr ist gebannt.“
„Das ist gut. Grüß Matt schön von mir, er muss dich hegen und pflegen. Ich weiß das.“
„Danke, Tessa. Es ist immer so nett, mit dir zu plaudern“, sagte Sadie nicht ganz frei von Ironie.
„Na, das hoffe ich doch!“
Tessa erzählte, dass sie mit ihrer neuen Freundin eine recht lockere, aber trotzdem stabile Beziehung pflegte. Es ging ihr gut. Zwar fluchte sie wie ein Rohrspatz über ihr Studium und die Anstrengungen, die es mit sich brachte, aber Sadie kannte Tessas Theatralik und maß dem nicht allzu viel Bedeutung bei. Stattdessen überlegte sie, ob sie Tessa erzählen sollte, dass die Möglichkeit für sie bestand, wieder nach Kalifornien zurückzukehren. Möglicherweise - und abhängig davon, was Matt nach seiner Ausbildung machte. Aber dann behielt Sadie es für sich. Sie wollte Tessa nicht die Nase lang machen und sie hinterher enttäuschen müssen.
Schließlich war eine Stunde wie im Flug vergangen und Tessa beendete das Gespräch, weil sie eine Verabredung hatte. Sehnsüchtig blickte Sadie auf die Uhr und stellte fest, dass es inzwischen schon drei Uhr nachmittags war. Also gar nicht mehr so lang, bis sie Matt endlich wiedersah.
Sie freute sich, auch wenn sie immer noch verletzt war. So schnell heilten Wunden bei ihr einfach nicht. Sie hatte auch lang gebraucht, um sich von der Begegnung mit ihrem Vater zu erholen. Das war überraschend schwierig gewesen – und das, obwohl er nun endlich tot und aus ihrem Leben verschwunden war.
Aber die Psyche war eben fragil. Das wusste sie jetzt – obwohl sie glaubte, dass sie in mancherlei Hinsicht auch erstaunlich robust war.
Sie hatte gerade beschlossen, sich ein wenig vor den Computer zu setzen und sich dort die Zeit zu vertreiben, als ihr Handy klingelte. Sie rechnete mit einem Anruf von Matt, aber auf dem Display stand Nicks Name. Sadie war überrascht über einen Anruf ihres Chefs am Sonntag.
„Nick. Was kann ich für dich tun?“
„Gut, dass ich dich erreiche, Sadie. Es tut mir leid, dich heute zu stören, aber es geht nicht anders.“
„Was ist los?“ fragte sie.
„Wir haben hier einen Fall auf dem Tisch, wegen dem ich dringend mit dir sprechen muss. Kannst du nach Quantico kommen?“
„Klar ... worum geht es?“
„Ein Serienmörder in Pennsylvania. Alexandra hat mir vorhin deshalb Bescheid gesagt. Lass uns gleich darüber sprechen, okay?“
„Sicher. Ich komme nach Quantico. Gib mir eine halbe Stunde.“
„Kein Problem. Bis gleich.“
Irritiert legte Sadie auf. Wenn Nick sie sonntags ins Büro bat, musste es wirklich wichtig sein. Das tat er normalerweise nie. Schnell zog sie sich andere Sachen an, packte ihr Handy und ihr Portemonnaie ein und machte sich auf den Weg. Sonntags war wenig los auf den Straßen, deshalb brauchte sie nicht lang bis nach Quantico. Sie war froh, dass der Weg nicht so weit war.
Es war kurz nach halb vier, als sie sich auf den Weg ins Gebäude machte. Auch sonntags arbeiteten dort Menschen, deshalb war sie nicht ganz allein. Mit ihrem Ausweis verschaffte sie sich Zutritt und fragte sich während der Fahrt nach oben, warum Nick sie wohl alarmiert hatte. Ausgerechnet sie ... Es hatte nicht so geklungen, als hätte er alle angerufen.
Mit pochendem Herzen betrat sie das große Büro der BAU, konnte aber auf Anhieb niemanden dort entdecken. Deshalb ging sie gleich zu Nicks Büro. Noch bevor sie dort eintraf, hörte sie seine Stimme. Im Türrahmen blieb sie stehen und klopfte.
Nick saß an seinem Schreibtisch, Alexandra stand neben ihm. Beide hatten die Köpfe über irgendwelchen Unterlagen zusammengesteckt.
„Sadie“, sagte Nick und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie hereinkommen sollte. Sie setzte sich vor seinen Schreibtisch und er schob ihr den Stapel Blätter hin, den er sich gerade noch mit Alexandra angesehen hatte.
Gleich obenauf lag das Foto einer toten jungen Frau. Auf ihrem Körper war Blut getrocknet. Viel Blut. Ihre toten Augen starrten reglos ins Nichts. Auch auf dem recht kleinen Foto konnte Sadie eine starke Rötung der Augen erkennen, außerdem entdeckte sie Würgemale an ihrem Hals. Die Tote hatte Hämatome an den Beinen, Schnitte auf dem ganzen Körper, verfilzte Haare und einen ganz verzerrten Gesichtsausdruck. Das waren die Spuren wochenlanger Folter.
Noch sagte Sadie nichts. Sie blätterte vorwärts und entdeckte weitere Fotos der jungen Frau. Sie lag an einem Flussufer, war voller Schmutz. Sie schien eine Weile im Wasser gelegen zu haben. An den Hand- und Fußgelenken hatte sie Schürfwunden, die von Fesseln stammen mussten.
Erneut blätterte Sadie weiter. Es gab weitere Fotos der jungen Frau und eine Kopie vom Obduktionsbericht, die Sadie nur überflog. Sie las Erwürgen und Vergewaltigung, was ihr schon reichte. Die übrigen Spuren der Misshandlung hatte sie ja gesehen. Da hatte sich jemand ausgetobt.
Auf der nächsten Seite erwartete sie das Foto einer weiteren jungen Frau. Auch sie hatte Würgemale am Hals, geplatzte Äderchen in den Augen, Fesselmale, Wunden und viele andere Verletzungen, die denen der ersten Frau ähnelten. Beide waren brünett und jung, wahrscheinlich keine zwanzig.
Sadie hatte schon den Mund offenstehen, um Nick eine Frage zu stellen, als er ihr wortlos ein weiteres Blatt hinschob. Stumm begann Sadie, zu lesen.
Carrie Ambrose und Stacy Parks waren erst der Anfang. Die Polizei hat nicht die geringste Ahnung, wer ich bin. Die tappen völlig im Dunkeln. Vielleicht sollten sie die Profiler des FBI einschalten - ich wäre gespannt, zu hören, was die über mich denken. Und die sollten sehen, in wessen Fußstapfen ich trete. Ich würde mich freuen, wenn Sie über mich als den Pittsburgh Strangler schreiben. Die Stadt sollte sich auf weitere entführte Frauen einstellen, ich habe gerade erst angefangen. Findet mich doch.
Sadie hob den Blick. „Was ist das?“
„Das ist ein anonymer Brief, der gestern beim Pittsburgh Tribune eingegangen ist. Eine Reporterin hat sich dahintergeklemmt und sowohl mit der Polizei als auch mit Alexandra gesprochen. Die beiden toten Frauen, die du da siehst, sind Carrie Ambrose und Stacy Parks. Stacy wurde im Oktober entführt, wochenlang gefangengehalten und schließlich ermordet. Gefunden wurde sie vor sieben Wochen. Nach Weihnachten ist auch Carrie Ambrose verschwunden. Ihre Leiche wurde vor drei Wochen entdeckt.“
„Und warum soll ich mir das ansehen?“, fragte Sadie ehrlich verwirrt.
Nick seufzte. „Es gibt einiges an dem Fall, das mir Sorgen macht. Natürlich sind entführte, vergewaltigte und erwürgte Frauen kein Alleinstellungsmerkmal, aber wenn du dir die Obduktionsberichte genauer ansiehst, solltest du sehen, dass da nicht irgendein Irrer am Werk ist. Wirklich Sorgen macht mir jedoch dieser Brief.“ Er holte tief Luft und beugte sich vor. „Warum schickt ein Serienmörder einen Brief an eine Zeitung, in der er nach der BAU fragt? Warum sollte er das tun?“
„Verbrecher, die sich in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sonnen, gibt es doch nicht erst seit dem Unabomber“, erwiderte Sadie.
„Natürlich nicht ... aber lies mal weiter. Er tritt in die Fußstapfen von jemandem und nennt sich selbst den Pittsburgh Strangler.“ Ernst sah Nick sie an. Sadie begriff langsam, worauf er hinaus wollte.
„Du siehst einen Zusammenhang mit dem Oregon Strangler“, mutmaßte sie.
„Und ob ich den sehe. Er entführt die Frauen, hält sie wochenlang gefangen ... im Falle von Stacy ging das von Oktober bis Dezember. Und kaum hatte er sie umgebracht, hat er sich Carrie geholt und sie im Februar umgebracht. Das sind jeweils acht oder zehn Wochen. Die beiden haben gehungert, wurden geschlagen, gebissen, geschnitten, mit Elektroschocks gefoltert, vergewaltigt und schließlich erwürgt.“ Er holte tief Luft. „Da kopiert jemand deinen Vater, Sadie.“
Sie nickte nachdenklich, während sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. „Sieht irgendwie so aus.“
Nick war erstaunt über diese Reaktion. „Mehr sagst du nicht dazu?“
„Was soll ich dazu sagen? Ich hab doch auch keine Ahnung, wer der Kerl ist und warum er das tun sollte.“
„Schon klar, aber ...“ Nick wusste nicht, wie er es formulieren sollte. „Ich verstehe alles an diesem Brief. Er macht uns darauf aufmerksam, dass er jemanden nachahmt und indem er sich selbst Strangler tauft, verrät er uns auch, wen er kopiert. Das ist soweit nicht ungewöhnlich. Seltsam finde ich aber, dass er gezielt nach uns Profilern fragt.“
„Wieso? Wenn er sich mit uns duellieren will ... das hat es doch auch schon gegeben. Typen, die den Ermittlern zeigen wollen, dass sie schlauer sind“, sagte Sadie.
„Natürlich, da hast du recht. Aber ich bin schon zu lange Profiler, um nicht zwischen den Zeilen zu lesen.“ Nick kräuselte die Lippen. „Ich habe Angst, dass er von dir weiß, Sadie. Dass er nicht nach uns Profilern als solche gefragt hat, sondern dass er weiß, dass die Tochter des Oregon Stranglers bei der BAU arbeitet.“
Sadie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und zog fragend eine Augenbraue hoch. „Das meinst du nicht im Ernst.“
„Ich weiß es nicht, Sadie, aber das macht mir Sorgen. Ich glaube nicht an Zufälle.“
„Wenn er wüsste, wer ich bin, hätte er gezielt nach mir fragen können“, hielt Sadie dagegen.
„Das könnte Teil seines Spiels sein.“
„Ja, aber wer soll er sein?“
„Das ist eben die Frage“, sagte Nick bedeutungsvoll. „Ich weiß, ich bin auch dahintergekommen. Ich habe selbst herausgefunden, wer du bist, so wie Matt und dein Kollege. Man kann das herausfinden, wenn man weiß, wo man suchen muss. Vielleicht ist es aber auch viel einfacher als das. Vielleicht ist er jemand, der mit uns zusammenarbeitet oder den du kennst, Sadie. Jemand aus unserem Umfeld, für den das sowieso kein Geheimnis war.“
„Nick ...“ Sie seufzte ergeben.
„Ich meine das ernst, Sadie. Ich habe nur einfach Angst, dass er dich im Visier hat.“
„Du bist ja paranoid. Glaubst du das wirklich?“
„Ich weiß es nicht, aber wir haben schon bei deinem Vater fälschlicherweise geglaubt, dass er dir nichts anhaben kann. Dass wir dich vor ihm beschützen, dass dein Freund ein Auge auf dich hat. Aber jetzt ist Matt nicht mal in deiner Nähe.“
Sadie schüttelte den Kopf. „Nick, hör auf damit. Mir stellt kein verrückter Serienmörder nach, das kannst du nicht ernst meinen. Du interpretierst viel zuviel in diesen Brief hinein!“
„Und was, wenn nicht?“ erwiderte Nick.
Sadie starrte ihn an. „Du meinst das wirklich ernst, oder?“
„Ich sehe das ähnlich“, sprang Alexandra ihm zu Hilfe. „Als ich mit der Journalistin telefoniert habe, war das ehrlich gesagt gleich mein erster Gedanke. Ich habe mich sofort gefragt, warum der Kerl so gezielt von uns spricht. Die BAU und der Strangler in einem Atemzug ... ich musste auch gleich an dich denken.“
„Okay“, sagte Sadie. „Lassen wir das mal so dahingestellt. Warum sollte ich herkommen, Nick? Deshalb?“
„Nicht nur“, sagte Nick. „Wir sollten uns diesen Fall generell ansehen, denn wenn der Kerl schon ankündigt, dass er weitermacht, macht er weiter. Wir wissen noch nicht, ob er nicht längst ein neues Opfer hat. Das ist möglich. Wir müssen ihn stoppen, so oder so. Ich hatte aber gehofft, dass du etwas Nützliches dazu beisteuern kannst.“
Sadie seufzte tief. „Du solltest Andrea Thornton fragen und nicht mich. Sie ist die Expertin für Sexualsadisten.“
„Ja, ich telefoniere auch noch mit ihr, dazu bin ich bislang nicht gekommen. Ich hatte nur gehofft, dass dir etwas auffällt, denn immerhin ahmt er deinen Vater nach“, betonte Nick.
„Du vergisst, dass ich in meinem Vater immer den Mörder meiner Familie gesehen habe“, wandte Sadie ein. „Das war jahrelang so. Dass er ein Sexualsadist war, hat mich erst interessiert, als ich studiert habe. Ich kann dazu wenig sagen, ich war nicht dabei.“
„Bei allem Respekt ...“ Nick zögerte. „Du warst dabei. Du hast ihn als den Sadisten erlebt, der er war.“
„Meinst du?“ fragte Sadie skeptisch. „Er hatte noch gar nicht richtig angefangen.“
„Ja, aber das ist dir zum Beispiel schon mal klar. Du kannst das einschätzen. Ich könnte verstehen, wenn du ablehnst, aber ich wäre für deine Hilfe sehr dankbar.“
„Die hast du. Ich will nur nicht, dass du dir zuviel erhoffst.“
„Tue ich nicht“, sagte Nick. „Ich weiß noch nicht, wen ich darüber hinaus mitnehmen will, aber ich würde gern morgen früh nach Pittsburgh fliegen. Wäre toll, wenn du mitkommst.“
„Kein Problem. Dann bist du auch beruhigt“, sagte Sadie. Nick blieb jedoch ernst.
„Ich bin einfach vorsichtig. Sollte sich herausstellen, dass ich voreilig war, kann ich damit leben. Aber wir müssen wissen, was der Kerl will und wir sollten öffentlichkeitswirksam agieren, damit er wieder Kontakt mit uns aufnimmt. Dadurch wird er uns einiges verraten.“
Sadie nickte. „Kann ich Unterlagen mitnehmen? Dann schaue ich mir das schon mal an.“
„Von mir aus. Tut mir auch leid, dass ich dich heute damit behellige, aber ich fand das wichtig.