4,49 €
Eine Gruppe schwer bewaffneter Männer schießt auf der San Francisco Pride Parade um sich – ein Hassverbrechen gegen Schwule und Lesben, das zahlreiche Todesopfer fordert. Beinahe geraten auch Sadies beste Freundin Tessa und ihre Tochter Libby ins Kreuzfeuer, die zu den Besuchern des Festivals gehören. Zwei der Schützen können entkommen, ihr Anführer Wiley Turner wird festgenommen und darf auf keinerlei Gnade hoffen: Ihm droht die Todesstrafe. Bevor es jedoch zum Prozess gegen Turner kommt, ereignet sich ein dramatischer Zwischenfall am Campus der Universität in San José: Bis an die Zähne bewaffnete Männer haben Libbys Hochschule gestürmt und Studenten als Geiseln genommen. Als die Polizei einen Unterhändler schickt, weigern die Geiselnehmer sich, mit ihm zu sprechen und verlangen ausdrücklich nach Ex-FBI-Agentin Sadie. Sie soll die Behörden dazu bringen, Wiley freizulassen oder die Studenten sterben …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2019
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Blutiger Hass
Sadie Scott 19
Psychothriller
Mittelmäßige Geister verurteilen gewöhnlich alles,
was über ihren Horizont geht.
François de La Rochefoucauld
Nur zu gut konnte Libby sich an die Nervosität erinnern, die sie empfunden hatte, als sie zuletzt bei einer Urteilsverkündung im Gerichtssaal gesessen hatte. Damals war es um Matt gegangen, um Jahre im Gefängnis oder einen Freispruch, der es ja dann glücklicherweise auch geworden war.
Diesmal hoffte sie auf das Gegenteil.
Ron wurde in Handschellen von zwei Marshals hereingeführt und nahm neben seinem Anwalt auf der Anklagebank Platz. Er hatte sich in Schale geschmissen und hielt sich selbstbewusst aufrecht. Libby erdolchte ihn von hinten mit Blicken – froh darüber, bei seinem Anblick keine Schweißausbrüche mehr zu bekommen. Kieran tastete nach ihrer Hand, aber sie blickte zu Sadie, die auf der anderen Seite neben ihr saß und ebenfalls zu Ron sah.
Auch Linda, ihre Eltern, Ryan Stone und die ermittelnden Detectives waren erschienen, ebenso wie einige ehemalige Mitglieder der nun aufgelösten Studentenverbindung Theta Phi. Anthony Mullins war nicht darunter, nach seinem Deal mit der Staatsanwaltschaft hatte er seine Strafe bereits angetreten.
Ron war gerade vierundzwanzig geworden und konnte deshalb nicht auf eine Verurteilung nach Jugendstrafrecht hoffen. Libby wünschte ihm eine harte Strafe, aber die würde ja erst in einem zweiten Prozess festgesetzt werden. Gerade ging es nur um die Schuldfrage. Sie hatte auch noch nicht gegen Ron ausgesagt, das würde sie erst im zweiten Prozess tun. Davor graute es ihr bereits, aber sie würde es durchziehen. Ihre Aussage fand ja unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Der Richter erschien und wandte sich an die Jury. „Sind die Geschworenen zu einem Urteil gekommen?“
Der Sprecher der Jury bejahte, ein Gerichtsdiener brachte ihm den Umschlag mit der Urteilsschrift und der Sprecher verlas das Urteil.
„Wir, die Geschworenen in der Strafsache des Staates Kalifornien gegen Ron Hawkins, befinden den Angeklagten für schuldig im Sinne der Paragrafen 182, 192, 207, 240, 245 und 261 des Strafgesetzes.“
Erleichtert schloss Libby die Augen und lächelte. Paragraf 261 drehte sich um Vergewaltigung. Sie hatten ihn also dafür verurteilt. Das war einfach großartig. Er würde also auch für das, was er ihr angetan hatte, ins Gefängnis gehen. Die Detectives hatten ihr erklärt, dass inzwischen auch Sarah Baines Anzeige gegen ihn erstattet hatte und das Video ihrer Vergewaltigung als Beweismittel herangezogen worden war. Sie hofften auf ein Urteil wegen Vergewaltigung in mehreren Fällen, was automatisch eine härtere Strafe nach sich zog, aber ob das klappte, würde sich noch zeigen. Dann hatten sich ihre Mühen vielleicht besonders gelohnt.
Als die Urteilsverkündung vorüber war, verließ sie den Gerichtssaal zusammen mit Sadie und Kieran, ohne Ron noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie war fertig mit ihm.
„Ich freue mich so für dich“, sagte Sadie beim Verlassen des Gerichtsgebäudes.
„Ja, fühlt sich gut an“, erwiderte Libby.
„Ich hoffe, er zerfällt hinter Gittern zu Staub“, grollte Kieran, woraufhin Sadie grinste.
„Sie werden bestimmt kein mildes Strafmaß anlegen“, sagte sie. „Wollen wir das heute Abend feiern? Kommt doch vorbei und wir grillen zusammen.“
„Au ja.“ Libby nickte eifrig und auch Kieran war einverstanden.
„Also dann, wir sehen uns später. So gegen fünf?“, schlug Sadie vor.
„Prima“, sagte Libby und hakte sich gut gelaunt bei ihrem Freund unter. Die beiden hatten Semesterferien und deshalb hatte auch Sadie Gelegenheit gehabt, zur Urteilsverkündung zu kommen. Libby zuliebe hatte sie das unbedingt machen wollen. Inzwischen war das Mädchen doch ausgezogen und lebte nun zusammen mit Kieran in einem winzigen Studentenapartment in San José, worauf sie sehr stolz war. Sie kellnerte nun in einer kleinen Bar unweit ihrer Wohnung und verdiente sich so einen Großteil ihres Lebensunterhalts selbst. Sie fehlte Sadie und Matt, aber Sadie hätte einen Teufel getan und ihr das gesagt, denn sie wollte ihr kein schlechtes Gewissen machen. Libby hatte ein eigenes Leben, es wurde auch Zeit für sie, flügge zu werden. Vor allem aber fehlte sie Hayley, die es immer genossen hatte, ihre große Schwester um sich zu haben. Libby wusste das aber auch und verbrachte immer noch viel Zeit zu Hause.
Sadie stieg in den Challenger und machte sich auf den Heimweg nach Pleasanton. Während sie dem Freeway nach Norden folgte, überlegte sie, auch Phil und Tessa zum Grillen einzuladen. Das machte sicher gleich noch viel mehr Spaß.
Als sie eine halbe Stunde später das Haus betrat, hörte sie Musik aus Matts Arbeitszimmer, Green Day mit American Idiot. Grinsend ging sie hin und klopfte an den Türrahmen. Matt war konzentriert in die Bearbeitung eines Bildes in Photoshop vertieft, drehte sich aber sofort um.
„Oh, schon wieder zurück?“, fragte er und drehte die Musik leiser. „Wie ist es gelaufen?“
„Schuldig in allen Anklagepunkten“, sagte Sadie. „Libby ist vor Zufriedenheit fast geplatzt.“
„Das kann ich mir vorstellen. Ich wäre ja gern mitgekommen, aber in einer halben Stunde muss dieses Bild fertig sein …“
„Mach ganz in Ruhe. Sag mal, wollen wir heute Abend zur Feier des Tages grillen? Libby und Kieran sind dabei. Ich könnte noch Phil und Tessa fragen.“
„Oh, klingt gut. Tolle Idee.“
Sadie lächelte und ging ins Wohnzimmer, wo sie sich aufs Sofa setzte, um ihren Freunden eine Nachricht zu schreiben. Von Tessa kam nach zwei Minuten eine Bestätigung, bei Phil ließ sie länger auf sich warten. Letztlich waren jedoch alle mit von der Partie, auch wenn Phil schrieb, dass er allein kommen würde. Hayden zahnte fürchterlich und Amelia war nicht in der Stimmung, um wegzugehen, was Sadie gut verstehen konnte. Sie hatte nie zwei kleine Kinder gehabt und stellte es sich manchmal maßlos anstrengend vor.
Als Matt das Bild an die Redaktion geschickt hatte, gingen die beiden einkaufen. Auf dem Rückweg vom Supermarkt holten sie Hayley am Kindergarten ab und fuhren gemeinsam nach Hause. Während Matt und Sadie sich den Vorbereitungen widmeten, schaute Hayley sich einen Film an und schmuste dabei mit Figaro auf dem Sofa. Der Kater war inzwischen etwas in die Jahre gekommen, aber es rührte Sadie sehr, zu beobachten, wie gut die beiden sich verstanden.
Kieran und Libby kamen pünktlich um fünf und gingen ihnen noch bei den Vorbereitungen zur Hand. Als Libby hörte, dass auch Tessa und Phil kommen würden, freute sie sich sehr. Die beiden stießen jedoch erst um kurz vor sechs dazu, weil sie es früher nicht von der Arbeit geschafft hatten. Tessa hatte natürlich Sylvie im Schlepptau, die Sadie ebenso herzlich begrüßte. Dann ging Sadie voraus in den Garten, wo bereits die anderen warteten. Hayley spielte im Sandkasten, Libby saß bei ihr und Kieran hatte sich zu Matt an den Grill gesellt.
„Ihr seid ja auch hier“, freute Tessa sich und umarmte die beiden nacheinander.
„Wir haben ja auch was zu feiern“, sagte Sadie. „Ron Hawkins wurde heute schuldig gesprochen.“
„Oh, davon hast du vorhin gar nichts gesagt, schäm dich! Meinen Glückwunsch“, sagte Tessa, woraufhin Libby zufrieden lächelte.
„Ja, war ein gutes Gefühl.“
„Das glaube ich dir. Ging mir ähnlich, als Lindsay damals schuldig gesprochen wurde.“
„Irgendwie haben wir das ja alle schon durch“, sagte Matt von der Seite.
„Schon verrückt. Aber stimmt, das Urteil ist wirklich ein Grund zum Feiern“, fand Tessa. Kurz darauf stieß auch Phil zu ihnen und freute sich ebenfalls sehr mit Libby.
„Wie gefällt dir denn das neue Studium?“, erkundigte er sich anschließend.
„Oh, das ist toll. Ich habe ja gerade die ersten Prüfungen abgelegt und auch schon Noten bekommen. Statistik war jetzt nicht so toll, das habe ich gehasst … aber in Neuroanatomie und in Psychologie der Kindheit war ich ziemlich gut.“
„Da hattest du ja auch Vorwissen“, sagte Kieran.
„Jetzt rede ihr doch nicht den Erfolg madig“, sagte Tessa stirnrunzelnd.
„Mache ich doch gar nicht …“
„Schon gut“, sagte Libby. „Stimmt ja auch irgendwie. Ich freue mich jetzt vor allem auf Persönlichkeitspsychologie, Sozialpsychologie und ganz besonders auf Psychopathologie.“
Stirnrunzelnd blickte Tessa zu Sadie. „Irgendwie kommst du da viel zu sehr auf deine Mum, weißt du das?“
Libby grinste breit. „Kann gut sein.“
„Und wie sieht dein Plan jetzt aus?“
„Ich mache jetzt meinen Bachelor in Psychologie und Verhaltensforschung und dann bewerbe ich mich bei der Polizei. Ich glaube, Sadies Werdegang wäre auch was für mich. Die Polizei ist eine sichere Bank und wenn ich dann genug Erfahrung gesammelt habe, bewerbe ich mich beim FBI.“
„Oh Himmel … dann leide ich ja schon wieder Todesängste.“ Theatralisch verdrehte Tessa die Augen. „Sadie, raubt dir das eigentlich nicht den Schlaf?“
„Sollte es?“, erwiderte die Angesprochene.
„Ein wenig vielleicht …“
„Traut ihr doch mal was zu“, sagte Phil kopfschüttelnd. „Libby wird das schon gut machen.“
„Da habe ich keinen Zweifel, aber dass du dich immer zum Abschuss bereit hältst, ist ja auch nicht viel beruhigender!“
Phil lachte und nahm noch einen Schluck Bier. „Ich mag meinen Job.“
„Das ist doch die Hauptsache“, sagte Sadie.
„Wie geht es der Familie?“, erkundigte Tessa sich bei ihm.
Sie unterhielten sich munter während des Essens. Hayley stocherte wild auf dem Teller herum und erhielt schließlich ein wenig Unterstützung von ihren Eltern.
„Und was habt ihr am Wochenende so geplant?“, erkundigte Matt sich bei Tessa und Sylvie.
„Wir gehen zur San Francisco Pride“, sagte Tessa.
„Oh, da warst du schon länger nicht“, sagte Sadie.
„Ja, eben, deshalb wird es mal wieder Zeit. Ich gehe mit Tanktop, Lederstiefeln und abstehenden Haaren. Dieses Lesbending habe ich schon ewig nicht gemacht.“
Sadie grinste. „Eigentlich müsste ich mitkommen und mir das anschauen.“
„Mach doch“, erwiderte Tessa breit grinsend. Die San Francisco Pride Parade gab es seit den 1970er Jahren und am letzten Juniwochenende eines jeden Jahres gehörte San Francisco mit Haut und Haar seiner queeren Gemeinde. Schwule, Lesben, Transsexuelle und Personen mit den verschiedensten sexuellen Neigungen warben mit der riesigen Parade um Toleranz und verfolgten jedes Jahr ein eigenes Motto. Es gab verschiedene Bühnen, Musik und zahlreiche andere Events rund um die knallbunte und fröhliche Parade. Ein einziges Mal hatte Sadie Tessa dorthin begleitet, das war inzwischen gut zehn Jahre her. In den letzten Jahren hatte Tessa sich ein wenig aus der Lesbenszene in San Francisco zurückgezogen, was hauptsächlich an Sylvie lag. Tessas Freundin liebte zwar Frauen, hatte ansonsten jedoch wenig mit dem lesbischen Lebensstil am Hut und inzwischen sagte sie selbst, dass ihr das alles zu anstrengend war. Allerdings freute es Sadie, dass Tessa nun doch wieder zur Parade gehen wollte. Das hatte ihr immer viel Spaß gemacht.
„Ich würde mir das gern mal ansehen, glaube ich“, sagte Libby. „Da war ich noch nie.“
Überrascht zog Tessa die Brauen hoch. „Oh … das ist jetzt …“
Libby lachte. „Du musst mich ja nicht mitnehmen, wenn dir das unangenehm ist und du nicht willst.“
„Äh, ich meine … du kennst mich gar nicht, wenn ich die Lesbe raushängen lasse.“
„Ich bin schon groß, Tessa. Das verstört mich nicht nachhaltig“, sagte Libby nüchtern.
„Aber du … du bist die Tochter meiner besten Freundin …“
Alle am Tisch, Sylvie eingeschlossen, amüsierten sich prächtig über Tessas plötzliche Verlegenheit. Schließlich einigten Libby und Kieran sich darauf, allein hinzufahren und Tessa und Sylvie ihr Ding machen zu lassen, obwohl Sylvie sie immer wieder überreden wollte, sie und Tessa doch zu begleiten.
Darüber wurde es dunkel und schließlich brachten Matt und Sadie Hayley ins Bett, die sich zwar sträubte, aber längst hundemüde war. Wieder unten angekommen, wollte Sadie sich etwas Neues zu trinken aus dem Kühlschrank holen und wäre dabei fast in Phil gerannt, der denselben Gedanken gehabt hatte. Mit Bier war er für den Abend fertig, weil er noch fahren musste.
„Schade, dass Amelia nicht mitkommen konnte“, sagte Sadie zu ihm, während Matt schon wieder nach draußen ging.
„Eigentlich ist es ja kein Problem mit den Kindern, aber Hayden ist gerade wirklich wie auf links gedreht und Amelia ist hundemüde. Sie versucht einfach, mir den Rücken freizuhalten, damit ich schlafen kann. Ihre Entscheidung, aber sie sagt, es ist wichtig, dass ich wach bin.“
„Ist es auch, ohne ihren Schlaf abwerten zu wollen. Aber du bist eben Scharfschütze.“
„Einmal das, und außerdem ist sie ja ohnehin gerade zu Hause. Wenn ich frei habe, springe ich ein, aber bei der Arbeit muss ich ja funktionieren.“
„Natürlich. Ich finde es beruhigend, zu wissen, dass du immer noch da draußen bist und diesen Job machst.“ Sadie sagte das mit einem Lächeln, das Phil gleich erwiderte.
„Ich liebe diesen Job. Ohne dich und Matt wäre ich damals gar nicht drauf gekommen.“
„Vielleicht schon, irgendwann …“
„Du hast eine irre Wirkung auf uns, weißt du das? Ich bin deshalb Scharfschütze geworden und Matt ist zum FBI gegangen. Jetzt will Libby das auch …“
„Sie weiß jetzt schon so viel darüber. Das ist einfach toll.“
„Ihr könnt stolz auf euch sein. Dass sie jetzt so ist, hat sie euch zu verdanken.“
„Danke.“
„Davon abgesehen bin ich froh, dass wir alle nicht mehr unten in Los Angeles sind. Hier gefällt es mir besser.“
„Mir auch.“
„Dabei wundert es mich, dass du wirklich dein Profilerdasein nicht vermisst.“
„Ach, schon ein wenig … aber unser neues Leben hier ist toll. Viel ruhiger.“
„Das alles hätte ich mir ja nie träumen lassen, als wir damals in Waterford noch Streife gefahren sind.“
Sadie lächelte nachdenklich. „War auch schön. Verrückt, wie lang das schon her ist.“
„Ja, allerdings. Toll, dass wir immer noch Freunde sind.“
„Und wie“, pflichtete Sadie ihm bei.
Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel, der kräftige Wind vom Pazifik spielte mit Libbys Haaren. Immer wieder hielt sie Ausschau nach Tessa, die ihr nicht verraten hatte, wo sie mit Sylvie die Parade ansehen würde. Zu gern hätte Libby Sadies beste Freundin so gesehen, wie sie sich Tessa gerade vorstellte. Sylvie sah man eigentlich nie an, dass sie eine Lesbe war, aber Tessa manchmal schon. Dabei gab sie sich laut eigener Aussage noch gemäßigt.
Die Parade war bereits in vollem Gange, als Libby und Kieran in San Francisco ankamen. In der Stadt war wahnsinnig viel los. Überall waren Menschen auf den Straßen – so viele, wie die LGBTQ-Szene Ausprägungen kannte. Sie sah zwei junge Männer mit Jeans, T-Shirt und Rucksäcken an einer Straßenecke knutschend stehen. Rucksacktouristen, zumindest vermutete sie das. Ein Stück weiter sah sie einen Mann, der bloß eine knallenge Latexhose und eine ebensolche Mütze trug und an einer Leine jemanden im Ganzkörperanzug mit einer Peitsche vor sich her trieb. Sie sah Frauen in Tanktops und mit hohen Stiefeln, andere trugen eine Regenbogenflagge als Umhang. Überhaupt wehten überall die bunten Flaggen zum Zeichen des Gay Pride. An diesem Tag war die Stadt etwas bunter als sonst.
In der Parade fuhren Frauen auf Motorrädern, es traten Künstler auf und die verschiedensten Gruppierungen von Menschen aus der queeren Szene oder ihren Angehörigen. Es war laut, es war bunt, aber es war fröhlich und absolut friedlich. An einer Ampel war eine halbnackte Frau auf eine Tonne geklettert und jubelte den Menschen in der Parade zu. Einige Frauen trugen Piercings, andere nicht. Manche hatten langes Haar und andere kurzes, sie alle trugen die verschiedensten Kleidungsstücke, kein Mensch ähnelte an diesem Tag dem anderen. Libby fühlte sich vollkommen solidarisch mit ihnen und stellte sich gerade vor, die Menschen aus ihrer Sekte würden jetzt sehen, wie sie die San Francisco Pride bestaunte und sich dabei absolut wohl in ihrer Haut fühlte.
Ihr Leben war inzwischen vergleichsweise unkompliziert – sie lebte jetzt in einer Gesellschaft, die es nicht mehr verwerflich fand, dass sie eine intime Beziehung mit einem jungen Mann führte, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Sie war auch froh, das Tessa in einem Amerika lebte, in dem sie nicht verfolgt wurde – oder zumindest in einem Teil Amerikas, wo das so war. In diesem Moment empfand sie so, als setze ihre Anwesenheit ein Zeichen - ihre und die der anderen rund zwei Millionen Besucher, die an diesem Tag zur San Francisco Pride erschienen waren. Für Libby konnte eine Gesellschaft gar nicht freiheitlich genug sein.
Nachdem sie sich die Parade ein wenig mit Kieran angesehen hatte, zog es sie zur Hauptbühne. Sie schlängelten sich zwischen den Zuschauern hindurch und sogen alle Eindrücke in sich auf. Als sie sich der Leather Alley näherten, begegneten ihnen immer mehr Menschen, die Leder und Latex trugen und allgemein knapp bekleidet waren. An diesem Tag gehörten sie wie selbstverständlich zum Straßenbild. Libby überlegte kurz, ob sie auch der Women’s Stage einen Besuch abstatten sollte – vielleicht trieb Tessa sich ja dort herum.
Sie hatten die Hauptbühne am Civic Center fast erreicht, als sie plötzlich Schreie hörten. Erst vereinzelt, aber dann immer lauter und schrill vor Angst. Kieran hatte es noch gar nicht gemerkt, aber Libby blieb stehen und hielt ihn fest, während sie lauschte.
Das waren Schüsse. Sie war ziemlich sicher. Die Schreie waren fast lauter als die Schüsse, aber sie stand wie angewurzelt da und versuchte, die Herkunft der Schüsse zu orten. Jetzt hörte Kieran sie auch.
„Schießt da jemand?“, fragte er. Erste Menschen liefen ihnen panisch entgegen, dann hörten sie erneut Schüsse.
Libby nickte und umklammerte seine Hand. Hastig schaute sie sich um. Plötzlich war ihr, als kämen die Schüsse näher.
„Wir müssen hier weg“, sagte Kieran. Libby nickte und versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Es war keine gute Idee, jetzt in Panik zu geraten.
Menschen rannten ihnen entgegen und stießen gegen sie. Nervös schaute Libby sich um und bemerkte ein Hotel schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite. Ohne Kieran loszulassen, rannte sie zwischen fliehenden Menschen darauf zu. Jemand stieß gegen Kieran, so dass er ihre Hand losließ. Libby drehte sich um und rief seinen Namen. Überall waren Menschen, alle kopflos auf der Flucht. Dann war Kieran wieder da. Er packte sie und rannte mit ihr zum Hotel. Mit Tunnelblick eilte Libby zur Tür, dann plötzlich war ihr, als hörte sie die Schüsse gleich hinter sich. Ängstlich drehte sie sich um, aber sie konnte niemanden sehen.
Kieran stieß die Tür auf. Einige andere Menschen hatten sich schon in der Lobby eingefunden, weitere folgten ihnen. Ein ratloser Angestellter des Hotels versuchte, herauszufinden, was los war.
„Draußen sind Schüsse gefallen“, sagte Libby atemlos. „Verständigen Sie die Polizei!“
„Kommen Sie“, sagte der Hotelangestellte und winkte sie alle zu sich. Er verschwand hinter dem Tresen und griff nach dem Telefonhörer.
Dann ertönten wieder Schüsse. Das klang fast wie ein Maschinengewehr. Schreie gellten durch die Straßen, plötzlich war alles vor der Fensterfront des Hotels wie leergefegt. Ein Pick-Up rollte die Straße entlang und Libby, die sich mit Kieran hinter einer Säule versteckt hatte, bemerkte darauf Männer in Tarnanzügen und mit Sturmhauben, die auf der Ladefläche des Trucks standen und tatsächlich Maschinengewehre in der Hand hielten. Ein junger Mann, halbnackt und nur mit einer knappen Latexhose bekleidet, rannte vor ihnen weg in Richtung des Hoteleingangs. Der Pick-Up fuhr langsamer, jemand zielte auf den jungen Mann und schoss ihm in den Rücken. Er fiel einfach zu Boden. Libby hätte fast geschrien, hielt sich aber den Mund zu. Kieran zog sie dicht an sich und betete, dass die Typen auf dem Truck einfach weiterfuhren und nicht ins Hotel kamen. Zitternd klammerte Libby sich an ihn und biss in ihre Hand, um nicht zu schreien.
Doch der Pick-Up rollte langsam vorüber. Es war totenstill in der Lobby bis auf die Stimme des Angestellten, der nervös mit dem Notruf sprach.
„Sie haben gerade jemanden hier vor der Tür erschossen … bitte schicken Sie sofort Hilfe!“
Flehend blickte Libby zu ihm und beobachtete mit Herzrasen, wie der Pick-Up weiterfuhr. Die Männer auf der Ladefläche schossen erneut. Mit zitternden Händen tastete Libby nach ihrem Handy und suchte Phils Nummer heraus. Sadie hatte ihr die Nummer irgendwann mal gegeben – man wusste nie, wofür das gut war, hatte sie gesagt. Zitternd lauschte Libby aufs Freizeichen und flehte, dass er ranging und an diesem Tag Dienst hatte.
„Hallo?“, vernahm sie die beruhigend tiefe Stimme von Sadies bestem Freund.
„Hier ist Libby … bist du heute im Dienst?“
„Ja, bin ich. Was ist los?“
„Ich bin mit Kieran in einem Hotel auf der Market Street in der Nähe der Hauptbühne. Hier sind Typen auf einem Pick-Up. Die haben Maschinengewehre und schießen auf die Leute.“
„Bist du auf der Parade?“
„Ja … Ihr müsst kommen, bitte. Market, Ecke 8th Street, glaube ich. Die bringen hier die Leute um …“
„Was für ein Pick-Up?“
„Ich weiß nicht … ich glaube, ein Ford. Rostbraun.“
„Wie viele Schützen?“, fragte Phil und rief dann: „Captain, eine Schießerei bei der Pride Parade, wir müssen sofort los!“
„Ich habe drei oder vier auf der Ladefläche gesehen, ein Fahrer … ich weiß nicht, ob es noch mehr sind. Bitte, Phil … ich hab Angst.“
„Verriegelt die Tür und bewegt euch nicht von der Stelle. Wir sind gleich da. Versteckt euch.“ Es ertönte nur noch der Signalton, der ihr verriet, dass er aufgelegt hatte.
„Hast du Phil angerufen?“, fragte Kieran leise.
Libby nickte hektisch. „Sie kommen. Sie sind gleich hier. Wir sollen uns verstecken und die Tür verriegeln.“
Kieran nickte und drehte sich zu dem Hotelangestellten um. „Schließen Sie die Tür ab. Das SWAT-Team ist unterwegs, wir kennen dort jemanden.“
Der Angestellte nickte und rannte hastig mit dem Schlüsselbund in der Hand zur Tür. Auf der Straße war niemand mehr zu sehen.
Mit Matts Hilfe hängte Sadie die frisch gewaschene Wäsche im Garten auf. Hayley saß im Sandkasten und schaufelte Sand in ihren kleinen Eimer. In der Nähe streifte Mittens durch die Büsche und beobachtete das Treiben. Anschließend gingen Matt und Sadie in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten, warfen aber immer mal wieder einen Blick in den Garten. Wenig später kehrte Hayley zurück ins Haus und schaute sich im Fernsehen eine Folge einer Kinderserie an, bis das Mittagessen fertig war.
Sadie liebte solche ruhigen Sonntage. Während des Essens überlegten sie, womit sie den Nachmittag verbringen sollten, und schließlich hatte Sadie eine Idee.
„Wir könnten ja Amelia anrufen und fragen, ob sie Lust auf Besuch hat. Phil ist ja heute im Dienst, so weit ich weiß.“
„Gute Idee. Dann ist sie nicht so allein mit den Kids“, stimmte Matt zu.
Sadie beschloss, nach dem Essen bei Amelia anzurufen. Als sie fertig waren, schaltete Matt den Fernseher wieder ein, weil Hayley noch eine Folge sehen wollte und sie so wenigstens in Ruhe die Küche aufräumen und telefonieren konnten. Sie hatte gerade einen Teller in die Spülmaschine gestellt, als Matt aus dem Wohnzimmer sagte: „Komm mal her. Schnell.“
Sadie hielt in ihrer Bewegung inne und ging nach nebenan ins Wohnzimmer. Matt stand wie versteinert vor dem Fernseher. Wacklige Fernsehbilder zeigten eine Menschenmenge in Panik. Regenbogenflaggen lagen auf der Straße, sie sahen von weitem die Füße einer Gestalt in einer Blutlache. Eine Frau kniete neben einer Verletzten am Boden, ein Krankenwagen kam mit Sirene und Blaulicht näher. Die Laufschrift am unteren Bildschirm sprach von einer Schießerei auf der San Francisco Pride. Plötzlich ertönten weitere Schüsse, die Menschen duckten sich und schrien.
„Wir wissen noch nicht, wer die Schützen sind und warum sie das tun. Die ersten Polizisten und Sanitäter sind vor Ort, die Verletzten brauchen unbedingt Hilfe. Ein Krankenwagen ist soeben eingetroffen“, sagte ein Reporter atemlos, der nicht im Bild zu sehen war.
Wortlos griff Sadie nach ihrem Handy und wählte Libbys Nummer. Es war besetzt. Als sie nun versuchte, Tessa anzurufen, sprang ihr vom Display Kein Netz ins Auge.
„Verflucht!“, rief Sadie und griff zum Festnetztelefon, von dem aus sie noch einmal versuchte, beide Nummern zu wählen. Sie hatte keinen Erfolg.
„Phil ist bestimmt gleich mit seinen Kollegen da“, sagte Matt leise.
Flehend legte Sadie die Hände an die Lippen und starrte wie hypnotisiert auf die Fernsehbilder. Sie konnte nichts sagen. Erreichen konnte sie offensichtlich auch niemanden, das Netz war längst überlastet.
„Noch können wir keine Angaben zu Toten und Verletzten machen, aber ich höre gerade von meinem Kollegen aus dem Hubschrauber, dass wohl das erste SWAT-Team des SFPD am Ort des Geschehens eingetroffen ist.“
Das Bild wechselte auf eine Luftaufnahme. Der Helikopter war ohnehin wegen der Parade vor Ort gewesen und nun filmte jemand von oben herab auf das Chaos in Downtown San Francisco. Menschen flohen in Panik durch die Straßen, es waren reglose Gestalten auf dem Asphalt erkennbar. Sadie versuchte, ruhig zu bleiben und nicht pausenlos daran zu denken, dass Libby, Kieran, Tessa und Sylvie dort waren.
Dann entdeckte sie den SWAT-Mannschaftsbus zwei Straßen vom Rathaus entfernt. Er stand quer auf der Market Street, ein Stück weiter stand ein Pick-Up. Man konnte auf den Fernsehbildern das Mündungsfeuer erkennen, sie befanden sich mitten in einem Feuergefecht.
„Daddy, was passiert da?“, fragte Hayley besorgt. Matt hob seine Tochter auf den Arm und legte den anderen um Sadie.
„Er ist schon da. Er und seine Kollegen kriegen das hin“, sagte er zu ihr und versuchte, beruhigend auf Hayley einzureden.
Sadie hatte Tränen in den Augen und blickte erneut auf ihr Handy. Sie hatte immer noch keinen Empfang.
Als sie wieder auf den Fernseher schaute, sah sie plötzlich eine Gestalt im schwarzen Kampfanzug am Boden liegen. Am liebsten hätte sie geschrien.
„Jemand vom SWAT scheint getroffen worden zu sein“, sagte der Reporter. „Die Szenen, die sich hier gerade abspielen, sind einfach furchtbar.“
Kopfschüttelnd starrte Sadie auf den Fernseher. Als ihr die Tränen kamen und Hayley allmählich Angst bekam, verließ Matt mit ihr den Raum. Sadie war ihm dankbar, dass er in diesem Moment so weit dachte. Sie konnte nicht, denn sie befürchtete, dass die schwarz gekleidete Gestalt auf dem Boden Phil war.
„Komm, setzen wir uns da hinter den Sessel“, schlug Kieran vor. Er deutete auf eine Sitzgruppe am Fenster, hinter dem Sessel würden sie unsichtbar für Blicke von außen sein. Libby nickte und huschte mit ihm hinüber. Zusammen kauerten sie sich hinter den Sessel, der an der Wand stand und sie so wirklich unsichtbar werden ließ.
Andere Menschen hatten sich hinter dem Tresen, an der Garderobe oder in den Toiletten versteckt. Der Hotelangestellte blieb hinter der Theke stehen und beobachtete das Treiben draußen.
Libby wusste nicht, wie weit entfernt Phil stationiert war und wann er dort sein konnte, aber sie betete, dass es nicht lang dauerte.
Wieder ertönten Schüsse. Der Lärm mischte sich mit den ersten Sirenen. Immer wieder linste Kieran am Sessel vorbei. Vereinzelt hastete noch jemand über die Straße. Libby setzte sich ebenfalls aufrecht und sah den jungen Mann in der Latexhose draußen vor dem Fenster auf dem Boden liegen. Er gab kein Lebenszeichen von sich.
„Was, wenn er noch lebt?“, wisperte sie.
„Willst du da etwas raus?“, fragte Kieran ungläubig.
„Er könnte noch am Leben sein. Wir können ihn da nicht einfach liegen lassen.“
„Du bist wahnsinnig! Hat Phil nicht gesagt, wir sollen …“
„Ich lasse den da nicht einfach liegen.“ Mit diesen Worten stand Libby auf und rannte hinüber zur Theke, um den Angestellten um den Schlüssel für die Tür zu bitten. Er händigte ihn ihr aus und als sie zur Tür ging, stieß Kieran wortlos dazu.
Libby schloss die Tür auf und verließ vorsichtig das Hotel. Aufmerksam spähte sie die Straße entlang, aber außer vereinzelt herumlaufenden Menschen war niemand zu sehen. Kein Pick-Up in der Nähe.
Sie kniete sich neben den Angeschossenen. Die Kugel war irgendwo zwischen seinen Rippen eingedrungen, steckte vermutlich in seiner Lunge. Libby konnte nicht sehen, ob er atmete, aber sie tastete nach seinem Puls.
„Er lebt noch“, entfuhr es ihr und Kieran nickte verstehend. Vorsichtig drehten sie den jungen Mann um. Er war bewusstlos, Blut tropfte ihm aus dem Mund. Kieran griff ihm unter die Arme, Libby packte seine Beine und dann versuchten sie, ihn ins Hotel zu bringen. Bei einem Bewusstlosen war das ganz schön schwer.
Der Angestellte traute sich wieder zur Tür und hielt sie für die beiden auf. Dann ertönten wieder Schüsse. Libby blickte auf, als sie ein Motorengeräusch hörte. Ihre Augen weiteten sich panisch, als sie den Pick-Up erkannte.
„Schnell!“, rief sie und hastete mit Kieran zusammen zur Tür. Sie schleiften den Verletzten unter Aufbietung all ihrer Kräfte ins Hotel. Der Pick-Up kam immer näher. Hastig verriegelte der Angestellte die Tür wieder hinter ihnen.
„Auf das Sofa“, sagte Kieran. Gemeinsam trugen sie den jungen Mann auf das Sofa und legten ihn mit den Füßen auf der Armlehne darauf ab. Libby griff nach ihrem Handy, um den Notruf zu wählen und einen Krankenwagen anzufordern, doch sie hatte keinen Empfang und fluchte leise.
Der Pick-Up kam draußen ins Sichtfeld. Er rollte nun etwas langsamer die Straße entlang und blieb zu ihrem Entsetzen vor dem Hotel stehen.
„Shit!“, entfuhr es Kieran. „Hinter den Sessel, schnell!“
Libby wollte dem Verletzten immer noch helfen, aber sie sah ein, dass Kieran Recht hatte. Sie kauerten sich hinter den Sessel und beobachteten das Treiben auf der Straße, indem sie vorsichtig über die Armlehne spähten.
Zwei Bewaffnete sprangen von der Ladefläche des Trucks. Libby erstarrte innerlich, als sie auf das Hotel zu gingen. Sie wechselten ein paar Worte und wirkten wirklich furchteinflößend mit ihren schwarzen Sturmhauben. Dann schoss einer der beiden mit seinem Maschinengewehr auf die Glastür, die klirrend zerbarst. Schreie wurden laut. Kieran tastete mit seiner eiskalten Hand nach Libbys. Sie drückten sich neben dem Sessel auf den Boden und Libby versuchte, den Reflex zu unterdrücken, beten zu wollen. Gott hatte ihr auch noch nie geholfen, als sie noch an ihn geglaubt hatte.
„Was haben wir denn hier?“, rief einer der beiden Bewaffneten. „Hier verstecken sich ja noch ein paar von euch Schwuchteln. Und was ist aus dem kleinen Wichser geworden, der vorhin draußen auf der Straße lag?“
Er schoss einmal in die Decke, woraufhin Libby zusammenzuckte. Kieran schob sich fast unmerklich vor seine Freundin.
„Er liegt da auf dem Sofa“, sagte der andere und deutete auf den Verletzten.
„Ach was. Sag jetzt nicht, der lebt noch. Das können wir ändern.“
Mit diesen Worten zielte der Maskierte auf den Bewusstlosen auf dem Sofa und schoss ihm mit einem gezielten Schuss aus einer Handfeuerwaffe in den Kopf. Libby hielt sich den Mund zu, um nicht zu schreien.
Sie hatte es versucht …
„Wer war das? Wer dachte, das wäre eine gute Idee, die Schwuchtel zu retten?“, brüllte er und schaute in die Runde. Hinter dem Tresen hatten sich alle geduckt, weshalb der andere Bewaffnete dort nachsehen ging und schließlich lachte.
„Sieh mal an, noch mehr Schwuchteln, die kein Recht zu leben haben.“
Mit diesen Worten drückte er den Abzug seines Maschinengewehrs. Libby schrie. Sie konnte nicht anders. Sie klammerte sich an Kieran fest und schloss die Augen, konzentrierte sich aufs Atmen.
„Die waren das nicht“, sagte der andere. „Ich glaube, das waren die zwei hier.“
Als Libby blinzelte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass die beiden Bewaffneten tatsächlich Kurs auf sie und Kieran nahmen. Nervös drückte Kieran sie hinter sich an die Wand und starrte die Männer an.
„Wart ihr das mit der kleinen Schwuchtel?“, fragte einer von ihnen.
„Und wenn?“, erwiderte Kieran.
„Sag schon. Du bist doch nicht schwul, oder? Ist das deine kleine Freundin?“
„Ja!“, rief Libby unter Tränen. „Lasst uns in Ruhe und verschwindet!“
„Ihr seid Nestbeschmutzer“, sagte einer der beiden. Kieran und Libby waren wie versteinert, als die Männer sich zu ihnen herab beugten und sie nacheinander packten.
„Lass mich los!“, schrie Libby, während einer der Männer sie rücklings an die Wand drückte.
„Ihr seid ja krank“, zischte sie. „Warum tut ihr das, wollt ihr Schwule töten?“
„Ganz genau. Dieser Abschaum hat es nicht verdient, in unserem Land zu leben!“
„Und das entscheidet ihr oder was?“
Sie spürte den Lauf des Maschinengewehrs unterm Kinn und wagte kaum zu atmen.
„Wie kommt denn ein so reinblütiges junges Ding wie du dazu, einer Schwuchtel helfen zu wollen?“
„Reinblütig?“, schnaubte Libby.
„Jung, weiß, blonde Haare … in deinen Adern fließt das reinste Blut.“
„Glaubt ihr diesen Rassenschwachsinn wirklich?“
„Wie heißt du denn, meine Hübsche?“
„Warum sollte ich dir das sagen?“
„Weil dein Leben davon abhängt.“
Sie schluckte. „Aber wieso?“
„Wie heißt du?“, brüllte er ihr ins Gesicht.
„Liberty Whitman“, erwiderte sie stammelnd.
Seine Augen begannen zu strahlen. „Sogar ein reiner Name. Liberty … ich verstehe schon. Du bist ganz schön vorlaut, kleine Liberty.“
„Ich habe nur eine Allergie gegen Dummheit“, sagte sie und biss sich schon fast auf die Zunge, aber es war zu spät. Es war gesagt.
„Ach ja? Du hältst uns also für dumm?“
Sirenen wurden laut. Der andere Mann eilte zum Fenster und brüllte: „Scheiße, das SWAT!“
„Was?“, rief der Mann, der genau vor Libby stand und rannte zu seinem Mitstreiter. Dankbar schloss Libby die Augen und atmete tief durch.
„Du bist wahnsinnig!“, zischte Kieran. Libby reagierte nicht, sie versuchte noch immer, die Todesangst niederzuringen, die sie im Griff hatte. Sie hatte einen unheimlichen Druck auf der Blase und wusste, das war bloß Angst.
Kieran linste um die Mauerecke und entdeckte einen SWAT-Truck gegenüber vom Hotel. Schwarz gekleidete Gestalten schwärmten aus. Es wurde geschossen. Auch die Männer im Hotel feuerten auf das Polizeifahrzeug, doch das Feuer wurde umgehend erwidert.
Als Libby sich beruhigt hatte, beobachtete sie ebenfalls, was geschah. Der SWAT-Truck stand unter heftigem Beschuss. Plötzlich sah sie, wie einer der Polizisten getroffen zu Boden ging. Er war vollständig vermummt, deshalb erkannte Libby ihn nicht, aber sie hielt sich den Mund zu, um nicht zu schreien.
„Suchen wir uns einen anderen Platz weiter oben!“, rief einer der Bewaffneten an der Tür. Sie rannten zum Treppenhaus und verschwanden. Ängstlich beobachtete Libby sie und sah dann im Augenwinkel, wie der verletzte SWAT-Mann hinter den Truck gezogen wurde.
Bitte nicht Phil. Bitte nicht.
Es waren gut zwei Meilen bis zum Civic Center. Weil sie nicht wussten, womit sie es zu tun hatten, hatten sie die Kollegen aus der anderen Schicht als Verstärkung angefordert, aber das konnte dauern.
Etwa eine Minute nach Libbys Anruf hatten sie auch die offizielle Anforderung erhalten, die aus der Notrufzentrale kam, aber da waren sie schon fast unterwegs.
Er würde Sadies Tochter finden und beschützen. Sie war so ein liebes, kluges Mädchen und hatte verdammt richtig gehandelt, als sie ihn gleich angerufen hatte.
Es war von Maschinengewehren die Rede gewesen, deshalb hatten sie standardmäßig ihre Sturmgewehre ausgerüstet. Im Holster hatte Phil außerdem seine Handfeuerwaffe – unter anderem. Bei einem solchen Einsatz waren sie immer bis an die Zähne bewaffnet.
Sie wussten noch nicht viel – nur, dass Bewaffnete auf einem Pick-Up in die Menge vor der Hauptbühne bei der San Francisco Pride gefeuert hatten. Mit Sirene und Blaulicht jagte der Truck durch die Straßen zum Civic Center. Sie wollten den Einsatz bei der Adresse beginnen, die Libby ihm genannt hatte, weil sie seitdem keine neue sichere Information darüber hatten, wo der Pick-Up sich befand.
Der Truck schoss die Hyde Street hinab und war nach vier Minuten am Ziel. Sie waren gerade erst auf die Market Street abgebogen, als der Truck abrupt stoppte.
„Verdächtiges Fahrzeug bei bekannter Adresse gesichtet! Erkenne vier Personen, zwei in der Fahrerkabine und zwei auf der Ladefläche. Mindestens zwei Maschinengewehre. Äußerste Vorsicht!“, rief Saulter von vorn. Phil verstand und wollte schon mit seinen Kollegen hinten aus dem Fahrzeit springen, als erste Schüsse fielen.
„Mindestens zwei weitere Bewaffnete im Hotel! Sichern!“
Phil verstand und hob die Hand. Cartwright und Sumner folgten ihm und huschten geduckt mit ihm über die Straße. So schnell sie konnten, rannten sie auf die 8th Street, um aus der Schusslinie zu kommen und versuchten, einen Weg zum Hintereingang des Hotels zu finden. Sie eilten an den geparkten Autos der Hotelgäste vorbei und fanden den Eingang. Es war nicht auszuschließen, dass die Kerle im Hotel Wind davon bekommen hatten, dass sie kamen und eigentlich wären sie auch zu viert ausgerückt, aber gerade mussten die anderen sich auf das Feuergefecht konzentrieren.
Phil liebte diesen Job. Er wurde nie langweilig, er bot die richtige Dosis Adrenalin und er war verdammt sinnvoll.
Cartwright öffnete die Tür, so dass Phil und Sumner geräuschlos das Gebäude betreten konnten. Sie landeten auf einem Flur, von dem Lagerräume und die Küche abgingen. Sie sicherten jede Tür, wechselten sich ab, überholten einander und passten auf, dass ihnen ja nichts entging.
„Kollege getroffen, brauchen dringend medizinische Hilfe“, vernahm Phil im Funk. Er zwang sich, jetzt nicht die Nerven zu verlieren. So etwas konnte jederzeit passieren, das war ihnen allen klar.
Der Flur mündete nach einer Tür ins Treppenhaus. Durch die Scheiben in den Türen konnten sie sehen, dass sich dahinter die Lobby befand. Das war gut. Die drei nahmen hintereinander Aufstellung und spähten durch die Tür. Als sie Schüsse vernahmen, wussten sie, dass sie richtig waren.
Phil betrat als Erster die Lobby und versuchte, mit einem Blick alles zu erfassen. Keine drei Meter von ihm entfernt standen Libby und ihr Freund Kieran. Auf dem Sofa lag ein Toter, zumindest legte das Einschussloch in seiner Stirn das nahe. Hinter der Empfangstheke befanden sich ein paar verängstigte Zivilisten. Es waren keine Schützen zu sehen.
Cartwright war schon zum Tresen unterwegs und Sumner huschte zu dem Toten auf dem Sofa, als Phil Anstalten machte, zu Libby und Kieran zu gehen. Libby starrte ihn bereits hoffnungsvoll an und erkannte ihn schließlich. Zwar waren von ihm gerade nur seine Augen sichtbar, aber das reichte ihr wohl. Erleichtert fiel sie ihm um den Hals und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
„Du bist hier …“
„Seid ihr okay?“, fragte er und legte Kieran eine Hand auf die Schulter.
„Ja, uns geht es gut. Zwei Männer sind vorhin ins Treppenhaus gegangen, sie wollten sich einen Platz weiter oben suchen, um besser auf euch schießen zu können“, sagte Libby.
Phil verstand und zog sein Mikrofon näher heran. „Achtung, Schützen aus erhöhter Position im Hotel möglich.“
„Verstanden“, schallte es aus seinem Ohrhörer. In diesem Moment beobachtete er, wie die Schützen auf dem Pick-Up fast zeitgleich getroffen zu Boden gingen. Die Kollegen beeilten sich, sie zu überwältigen und festzunehmen. Die beiden Männer aus dem Fahrerhaus stiegen langsam und mit erhobenen Händen aus.
„Habt ihr noch mehr Männer außer denen auf dem Pick-Up gesehen?“, fragte Phil.
„Nein, bis jetzt nicht. Keine Ahnung, ob das alle sind“, sagte Kieran. In diesem Moment betraten einige seiner Kollegen die Lobby und verschwanden im Treppenhaus. Sumner schloss sich ihnen an, während Cartwright beschloss, mit Phil bei den Zivilisten zu bleiben. Solange nicht alle Schützen festgenommen waren, konnten sie die Menschen nicht allein lassen.
Sirenen näherten sich. Phil hoffte, dass es ein Krankenwagen für den getroffenen Kollegen war. Getroffene Kollegen waren nie gut. Ihn hatte es auch schon erwischt, er konnte das nachfühlen.
Tatsächlich tauchte kurz darauf ein Krankenwagen auf, der gleich hinter dem Truck hielt.
„Haben wir Entwarnung?“, kam es im Funk.
„Konnten die Schützen noch nicht lokalisieren.“
Verdammt. Irgendwo waren die noch unterwegs und konnten vielleicht auf die Sanitäter schießen, die den Kollegen versorgen mussten. Das war nicht gut. So lange konnten sie auch mit den Menschen das Hotel kaum sicher verlassen.
„Tessa ist heute auch hier“, sagte Libby leise. Phil nickte nur, erwiderte aber nichts. Er erinnerte sich daran, dass sie es angekündigt hatte. Hoffentlich hatten diese Kerle sie nicht gesehen und verletzt. Die schienen ja gezielt Jagd auf Homosexuelle zu machen.
Phil wartete ab, beobachtete die Tür zum Treppenhaus mit dem Sturmgewehr im Anschlag. Da konnte jederzeit einer dieser Typen zum Vorschein kommen und darauf wollte er vorbereitet sein. Draußen waren alle außer Gefecht gesetzt, aber für hier galt das nicht.
„Haben wir Entwarnung?“, rauschte es erneut im Funk.
„Bis jetzt keine Schützen.“
Ach, verflucht. Wo versteckten die verdammten Mistkerle sich? Phil hasste es. Sie mussten die Leute hier rausbringen. Sie mussten Entwarnung geben, damit die übrigen Einsatzkräfte sich sicher bewegen konnten.
„Wurden bislang weitere Schützen gesichtet?“, fragte er in sein Mikrofon.
„Bis jetzt nicht. Wir haben alle bis auf die zwei im Hotel.“
Immerhin etwas. Anscheinend hatten sie die Lage langsam wieder im Griff.
„Gibt es schon Angaben zu den Opfern?“, fragte er dann.
„Noch nicht. Das Fernsehen berichtet von einem guten Dutzend Verletzten, die sie vom Hubschrauber aus sehen können.“
Phil schloss kurz die Augen. Das war schon viel zu viel. Hoffentlich bestätigte es sich nicht.
Er blieb reglos vor Libby und Kieran stehen und wartete darauf, dass die beiden übrigen Schützen zum Vorschein kamen. Sie würden sie schon kriegen.
Sadie hatte das Gefühl, verrückt werden zu müssen. Immer wieder spielte sie mit dem Gedanken, Amelia zu kontaktieren, aber die würde auch nicht mehr wissen, vielleicht ganz im Gegenteil. Gebannt beobachtete sie am Fernseher, wie das SWAT-Team es schließlich schaffte, die Schützen auf dem Pick-Up zu überwältigen. Zwei Tote, zwei Männer konnten sie festnehmen.
„Wie es aussieht, scheint die Lage allmählich unter Kontrolle zu sein“, sagte der Studiosprecher, der inzwischen zugeschaltet war. „Zahlen über Tote und Verletzte liegen uns noch nicht vor. Wir wissen auch noch nichts über die Täter und ihre Motive. Fest steht nur, dass um 13.12 Uhr die ersten Schüsse an der Hauptbühne gefallen sind. Das Fahrzeug der Verdächtigen hat eine der Straßensperren durchbrochen und ist ungehindert durch die Menschenmenge gerast. Es sind zahlreiche Krankenwagen vor Ort, die Polizei ist inzwischen ebenfalls mit vielen Officers und dem SWAT-Team dort, das vorhin zwei der Täter festnehmen konnte. Wir können nun bloß über die Motive der Schützen spekulieren, aber vermutlich war das ein Hassverbrechen.“
Ach was, dachte Sadie bitter. Ihr Handy hatte immer noch keinen Empfang. Sie konnte niemanden erreichen.
Diese Ungewissheit machte sie rasend. Es ging hier gleich um drei Menschen, die sie liebte, und mindestens bei einem bestand die realistische Chance, dass er tot war. Die Sanitäter hatten den Mann vom SWAT nicht in den Krankenwagen geladen, das hatte Sadie gesehen. Stattdessen hatten sie einen seiner Kollegen mitgenommen.
„Wie wir soeben erfahren haben, werden zwei Schützen noch immer vermisst. Das SWAT-Team durchkämmt jetzt die Gegend, um die Flüchtigen festzumachen. Sollten Sie in der Nähe sein und diese Männer sehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Polizei.“
Und wie? Doch höchstens per Festnetz, alles andere hatte ja den Geist aufgegeben. Sicher versuchten zahllose besorgte Angehörige, ihre Liebsten zu erreichen.
Matt erschien wieder im Wohnzimmer. „Hayley spielt jetzt in ihrem Zimmer. Gibt es was Neues?“
Sadie schüttelte den Kopf. „Ein toter SWAT-Mann, zwei flüchtige Schützen.“
„Mein Gott. Wer tut denn so etwas? Das ist doch krank.“
Sadie erwiderte nichts, sie verfolgte weiter die Berichterstattung. Was für ein furchtbares, entsetzliches Verbrechen. Es erinnerte sie an die Sarinanschläge in Los Angeles vor einigen Jahren. Blinder Hass und Terror ließen sie meist so sprachlos zurück.
Sie zuckte zusammen, als plötzlich das Telefon klingelte. Hastig sprang sie auf und griff nach dem Hörer, denn sie war näher dran als Matt.
„Whitman“, meldete sie sich.
„Mum, ich bin es, Libby.“
Sadie hatte selten ein paar bloße Worte so erlösend erlebt. Dankbar schloss sie die Augen.
„Geht es dir gut? Wo bist du?“, fragte Sadie.
„In dem Hotel, vor dem das SWAT gerade die Schützen festgenommen hat. Kieran und Phil sind bei mir. Bei uns ist alles in Ordnung.“
Sadie hatte Tränen in den Augen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, das zu hören.“
„Ich bin hier gerade an einem Festnetztelefon im Hotel. Mein Handy hat kein Netz.“
„Meins auch nicht, deshalb konnte ich dich nicht erreichen.“
„Was, selbst bei euch noch? Ich wollte nur, dass du weißt, dass es uns gut geht.“
„Von Tessa weißt du nichts?“
„Nein, keine Ahnung. Tut mir leid.“
„Okay. Halt dich an Phil, wenn du kannst.“
„Ja, schon klar. Ich melde mich wieder.“
Sadie legte auf und berichtete Matt von dem, was Libby ihr gesagt hatte.
„Also ist der tote SWAT-Mann nicht Phil“, sprach Matt das aus, worüber auch Sadie gerade froh war.
„Nein, das scheint einer seiner Kollegen zu sein“, murmelte Sadie mit einem bedauernden Unterton. Sie griff nach ihrem Handy und schrieb Tessa eine Nachricht. Wenn du das liest, melde dich bitte bei mir. Ich mache mir große Sorgen.
Sie konnte nicht anders. Das machte die Netzüberlastung nicht besser, aber sie hatte einfach Angst.
Gemeinsam mit Matt verfolgte sie die Berichterstattung weiter. Allmählich wurde das Fernsehen auch mit Opferzahlen versorgt: Bislang sieben Tote, neunzehn zum Teil schwer Verletzte. Unter den sieben Toten befand sich auch der Polizist. Die Parade war abgebrochen worden, es herrschte ein heilloses Chaos in San Francisco. Von den Schützen waren zwei tot, zwei flüchtig und vier in Gewahrsam. Weder ihre Identität noch ihr Motiv waren bislang bekannt, aber Sadie konnte sich gut vorstellen, worum es hier ging.
Und das ausgerechnet in San Francisco. Die Stadt war bekannt für ihre fröhliche, offene und friedliche queere Szene. Das war ein harter Schlag ins Gesicht aller Einwohner der Stadt, denn San Francisco war eigentlich sehr tolerant.
So ein sinnloses Hassverbrechen. Sadie war nur froh, dass Libby, Phil und Kieran zumindest wohlauf waren. Sie hoffte dasselbe für Tessa.
Einer Eingebung folgend, schnappte sie sich das Festnetztelefon und rief bei Amelia an.
„Sadie, du bist es“, sagte ihre Freundin. „Phil geht es gut, falls du das wissen willst. Er hat mich vorhin angerufen.“
„Oh, dann bin ich beruhigt. Hast du fern gesehen?“
„Eigentlich nicht, er hat mich vorhin angerufen und meinte, wenn ich den Fernseher anmache, soll ich keine Angst haben, er ist wohlauf und er hat Libby und Kieran bei sich. Mehr hat er mir in dem Moment nicht gesagt. Wahrscheinlich wollte er nur, dass ich weiß, dass er da vorhin nicht erschossen wurde.“
„Das ist total verrückt“, murmelte Sadie.
„Hast du etwas von Tessa gehört?“
„Nein, die Handynetze sind zusammengebrochen, selbst hier funktioniert es nicht.“
„Ich hoffe so sehr, dass es ihr gut geht.“
„Ich auch …“
Sadie redete noch ein wenig mit Amelia, weil das gut tat. Schließlich schlug sie das vor, was sie zuvor schon überlegt hatte: Sie wollte mit Matt und Hayley hinfahren, das würde ihnen allen die Sache etwas erleichtern.
Sowohl Amelia als auch Matt begrüßten diese Idee sehr. Im Handumdrehen saßen sie im Auto und waren auf dem Weg nach Castro Valley. Amelia war sichtlich erleichtert, sie zu sehen und nicht mehr allein sein zu müssen, was Sadie nur zu gut verstehen konnte. Mit Hayden auf dem Arm bat sie die anderen, hereinzukommen. Alyssa freute sich wahnsinnig, Hayley zu sehen und die beiden verschwanden in Alyssas Zimmer, um dort zu spielen. Amelia legte Hayden auf einen Spielteppich, auf dem er sich mit einigen Kuscheltieren und anderem Spielzeug beschäftigte. Dann bot sie ihren Gästen etwas zu trinken an und setzte sich schließlich zu ihnen.
„Ich bin froh, dass ihr hier seid. Solche Tage hasse ich. Ich hatte ja keine Ahnung, dass überhaupt etwas passiert ist, bis Phil mich vorhin anrief. Der Fernseher war aus. Natürlich waren er und seine Kollegen in besonderer Alarmbereitschaft, aber mit so etwas rechnet ja niemand.“
„Ich hoffe so sehr, dass Tessa nichts passiert ist“, murmelte Sadie.
„Wird schon nicht. Sollen wir den Fernseher noch mal einschalten und nachsehen oder ist euch das nicht recht?“
Es war Sadie und Matt recht. Die Zahl der Toten und Verletzten war zwischenzeitlich gestiegen, was Sadies Nervosität nicht gerade besser machte. Über die Motive der Täter war noch immer nichts bekannt, auch wenn es für Sadie recht offensichtlich war, dass es sich hier um ein Hassverbrechen handelte.
Entsprechende Parallelen zog man inzwischen auch im Fernsehen. Der Nachrichtensprecher erinnerte an den Anschlag auf den Pulse Nachtclub in Orlando, Florida am 12. Juni 2016, der in den USA als schwerster Terrorakt seit dem Elften September in die Geschichtsbücher eingegangen war. In dieser Nacht hatte Omar Mateen 49 Menschen erschossen und weitere 53 verletzt. Hass auf Homosexuelle als Motiv hatte nie zweifelsfrei nachgewiesen werden können, obwohl das Pulse hauptsächlich von Schwulen und Lesben besucht worden war. Das FBI hatte die Schießerei abschließend als Terrorakt eingestuft.
Das hier fühlte sich genau so an.
Die Opferzahlen stiegen weiter. Inzwischen waren es dreizehn Tote und achtundzwanzig Verletzte.
„Furchtbar.“ Entsetzt schüttelte Amelia den Kopf.
„Ich dachte, wir wären inzwischen weiter … Ich finde es schlimm, dass es offenbar immer noch Menschen gibt, die Homosexuelle hassen“, sagte Sadie verständnislos.
„Und das in San Francisco“, brummte Matt.
„Für mich war das normal, seit ich denken kann. Als Kind habe ich nie drüber nachgedacht und seit ich in Waterford zur Schule gegangen bin, ist meine beste Freundin eine Lesbe.“
„Hatte sie je Probleme deshalb?“, fragte Amelia.
„Nicht besonders, nein. Ich verstehe so etwas einfach nicht.“
„Da gibt es auch nichts zu verstehen. Das ist einfach dumm“, sagte Matt.
Sie verfolgten die Nachrichten weiter. In den Krankenhäusern von San Francisco wurden die Verletzten versorgt und die Polizei drehte jeden Stein um auf der Suche nach den beiden flüchtigen Angreifern. Sie waren noch immer nicht gefasst.
Etwa eine Stunde nach ihrer Ankunft bei Amelia vibrierte plötzlich Sadies Handy. Als der Name Tessa auf ihrem Display angezeigt wurde, machte ihr Herz einen Satz. Sie öffnete die Nachricht und überflog sie rasch.
Sylvie und ich sind okay. Wir waren an der Women’s Stage, als es losging, und haben uns in einem Café versteckt.