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Als er eine blutige Spur in ihrem Heimatort Waterford hinterlässt, ist FBI-Agentin Sadie klar, dass ihr Vater auf der Suche nach ihr ist. Ihre Kollegen vom FBI unterstützen sie bei der Suche nach dem flüchtigen Mörder, denn solange der Oregon Strangler auf freiem Fuß ist, schwebt Sadie in Lebensgefahr. Allerdings ist er den Ermittlern immer einen Schritt voraus und hinterlässt auf seiner Flucht eine Spur von Leichen. Mit der Unterstützung ihres Freundes Matt stellt Sadie sich dem Schrecken ihrer Vergangenheit, um ihren Vater zu finden, bevor er sie findet. Eine vergebliche Hoffnung …
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Blutiges Wiedersehen
Sadie Scott 3
Psychothriller
Der Erzieher verdient den Namen Vater mehr als der Erzeuger.
Talmund
Freudestrahlend kletterte Kim auf den Schoß ihres Vaters und grinste ihn mit einer imposanten Milchzahnlücke an. Kristy saß neben ihrer Mutter, die inzwischen hochschwanger war. Kim konnte es kaum erwarten, bis ihr kleiner Bruder endlich geboren war. Dann hatte sie eine Schwester und einen Bruder.
Aus dem Radio dudelte Weihnachtsmusik. Die Kerzen tauchten alles in ein heimeliges Licht, die Christbaumkugeln glänzten und funkelten. Unter dem Weihnachtsbaum stapelten sich die Geschenke und warteten darauf, am nächsten Morgen ausgepackt zu werden. Das fiel den Mädchen immer schwer, aber ihre Eltern ließen da kein Pardon gelten.
Kim war aufgeregt. Sie hoffte, dass die neue Barbiepuppe, die sie sich so sehr wünschte, in einem der Kartons war. Das hoffte sie wirklich ...
Wenig später war der Weihnachtsbraten fertig. Rick pikste seine Tochter in die Seite und kitzelte sie, so dass sie fröhlich lachte und kreischte. Kristy beobachtete die beiden, während Clarice in die Küche ging und den Braten holte. Minuten später saßen sie um den Tisch und begannen zu essen, während im Radio Stille Nacht, heilige Nacht lief.
In diesem Moment war Kim glücklich. So war Weihnachten perfekt. Ihre Eltern hatten keinen Streit, Dad war bester Laune, alles war gut. Das war ja nicht selbstverständlich. Aber an Weihnachten war auch er zufrieden.
Weil es noch Nachtisch gab, aßen sie, bis sie sich kaum noch rühren konnten. Einzig Clarice hatte da Schwierigkeiten, denn das Baby drückte so sehr auf ihre Organe, dass sie kaum noch etwas essen konnte. Aber es dauerte ja nicht mehr lang. Kim und Kristy waren beide sehr aufgeregt und freuten sich auf ihren kleinen Bruder.
Nachdem Clarice abgeräumt hatte, holte Rick eins ihrer Brettspiele aus dem Schrank und baute alles auf. An Weihnachten durften die Mädchen länger aufbleiben und sie spielten gemeinsam Spiele. Das liebte Kim an Weihnachten. Im Radio liefen die Weihnachtslieder, die sie so mochte, und sie war mit ihrer Familie zusammen.
Als Nächstes spielten sie gemeinsam Mensch ärgere dich nicht. Kristy fiel das immer sehr schwer, denn sie war eine schlechte Verliererin. Deshalb liebte Kim es, sie aufs Korn zu nehmen und jagte mit Vorliebe ihre Figuren. Als Kristy irgendwann zickig wurde, rief Rick seine Tochter streng, aber immer noch liebevoll zur Ordnung.
Doch schließlich war es soweit, dass die Mädchen schlafen gehen mussten. Sie gaben ihrem Vater einen Gutenachtkuss, bevor ihre Mutter sie nach oben begleitete und ihnen dabei half, sich bettfertig zu machen. Die Mädchen zogen ihre Nachthemden an, putzten sich die Zähne und legten sich dann in ihre Betten.
„Freut ihr euch schon auf eure Geschenke?“, fragte Clarice die beiden.
„Ja!“, riefen sie wie aus einem Munde. Sie waren so aufgeregt wegen der Bescherung am nächsten Tag. Mit funkelnden Augen blickte Kim an die Decke, als ihre Mutter sie bis an die Nasenspitze zugedeckt hatte. Sie drehte sich noch einmal zu ihren Töchtern um und hauchte ihnen einen Kuss zu, bevor sie das Licht löschte und die Tür heranzog. Sie schloss die Tür nie ganz, weil die beiden das nicht mochten.
Als Clarice unten ins Wohnzimmer kam, saß Rick mit den Füßen auf dem Schemel vor dem Fernseher und zappte durch Weihnachtsfilme und Fernsehshows. Clarice setzte sich daneben und schaute schweigend zu.
Sie merkte nicht, dass Rick nur auf den Moment wartete, in dem sie müde wurde und schlafen ging. Im Moment, da sie hochschwanger war, passierte das nicht allzu spät. Es war noch vor Mitternacht, als sie langsam aufstand und sagte: „Ich gehe ins Bett. Kommst du auch?“
„Später“, sagte er. „Ich bin noch nicht müde. Du musst nicht warten.“
Sie nickte nur und nahm es zur Kenntnis. Er hatte noch etwas vor. Sie wusste nicht, was es war, aber sie kannte ihn und es war zwecklos, mit ihm darüber zu diskutieren. Rick achtete nicht weiter auf sie, während sie nach oben ging. Er stierte gedankenlos auf den Fernseher, aber er wartete darauf, dass Clarice sich die Zähne putzte und ins Bett ging. Bald war das Licht aus und alles war still.
Er wusste, wie lang es ungefähr dauerte, bis sie eingeschlafen war. Er wartete noch zwanzig Minuten, dann schaltete er den Fernseher aus, zog sich die Stiefel an und schnappte sich seine Taschenlampe. Seine Jacke zog er bis zur Nasenspitze hin zu, denn es war kalt draußen. Immerhin schneite es nicht.
Es war totenstill und düster auf den Straßen. Niemand war unterwegs. Manche Fenster waren noch hell erleuchtet, er sah Weihnachtsbäume, beleuchtete Vorgärten, Figuren und Lichterketten in Auffahrten und auf Bäumen. Alles war ruhig. Friedlich. Geradezu idyllisch.
Nur ab und zu kam ihm ein Auto entgegen, während er Klamath Falls verließ und tiefer in den Wald fuhr. Den Weg kannte er auswendig. Er war als Kind schon oft dort gewesen ... und nun war er auch immer wieder da. Regelmäßig.
Sie brauchten ja etwas zu essen. Ganz von selbst hielten die Mädchen sich nicht am Leben.
Er parkte auf einer Lichtung, stieg aus und schaltete seine Taschenlampe ein. Auch im Dunkeln kannte er den Weg genau. Das lag daran, dass er meist im Dunkeln da war. Nachts hatte er am meisten Zeit für sie.
Die Umrisse der Jagdhütte tauchten in der Dunkelheit vor ihm auf. Irgendwo im Unterholz raschelte es, aber das kannte er schon. Das waren Tiere, was ihn nicht weiter interessierte.
Er kramte in seiner Winterjacke nach den Schlüsseln für die Hütte und entriegelte die Schlösser. Die Tür quietschte leise, als er sie öffnete. Er schaltete das Licht in der Hütte an und ging schnurstracks zur Falltür, nachdem er die Eingangstür wieder verschlossen hatte.
Da unten wartete sie auf ihn. Die süße Trish, die nun ihr letztes Weihnachten erlebte. Rick öffnete das Vorhängeschloss, schob den Riegel zurück und blickte hinab in das düstere und um diese Jahreszeit bitterkalte Loch.
Da saß sie und starrte zu ihm hoch. Sie hatte sich in eine Decke gehüllt, denn es war wie im Eisschrank da unten. Und eigentlich war sie ja nackt. Ihre Augen wirkten glasig, ihre Haut war aschfahl, ihr Haar fettig und verfilzt. Das blieb nicht aus, schließlich hockte sie schon wochenlang da unten.
Sie zerrte an den Ketten, während sie ihn stumm ansah. Sie hatte schon aufgegeben. Das machte das Ganze weniger reizvoll für Rick. Wenn sie sich nicht wehrten, war es uninteressant. Aber konnte er ihr das verübeln? Er hatte sie entführt, geschlagen, vergewaltigt, gebissen, sie geschnitten, getreten, gefoltert und hungern lassen. Inzwischen wusste er, dass er das nicht unbegrenzt machen konnte. Da gab es natürliche Grenzen.
Die Blicke der beiden trafen sich. Rick grinste. „Fröhliche Weihnachten, Trisha ...“
Lautes Maunzen riss Sadie aus dem Schlaf. Mit einem Auge spähte sie auf ihren Wecker und stellte fest, dass er in fünf Minuten sowieso klingeln würde. Figaro stand vor dem Bett und blickte Sadie erwartungsvoll an. Sie war erstaunt, dass zumindest der Kater die Reise so gut weggesteckt hatte.
Sie seufzte kurz, dann schlug sie die Decke zurück und stand auf. Allerdings war sie gar nicht so müde, wie sie erwartet hätte. Dabei stand sie gefühlt noch am Flughafen in Washington. Ihre Maschine aus San Francisco war erst kurz vor Mitternacht gelandet und vor zwei war Sadie nicht eingeschlafen.
Während sie das Schlafzimmer verließ, entdeckte sie keine Spur von Mittens. Vermutlich versteckte sie sich irgendwo, aber sie würde sich schon eingewöhnen.
Die ersten Sonnenstrahlen streckten ihre Finger in die unaufgeräumte Küche aus. Sadie nahm eine Dose Katzenfutter von der Anrichte und gab sie den beiden Samtpfoten in den Napf. Danach machte sie sich auf den Weg ins Bad. Mit der Zahnbürste in der Hand kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und betrachtete Matt, der immer noch schlafend im Bett lag. Sein rechter Arm hing aus dem Bett, er wirkte entspannt. Sadie brachte es nicht fertig, ihn zu wecken. Er musste schließlich nicht aufstehen. Er hatte wieder den Dreitagebart, den sie so liebte, und sein kurzes Haar war verwuschelt. Er würde ihr fehlen, aber das tat er in jeder Sekunde, die sie nicht in seiner Nähe verbringen konnte.
Leise zog sie sich um und machte sich ein Frühstück. Sie hatte sich gerade erst in ihrer improvisierten und chaotischen Küche hingesetzt, als Matt aus dem Schlafzimmer kam, sich immer noch den Schlaf aus den Augen reibend.
„Du weckst mich gar nicht“, mokierte er sich.
„Warum sollte ich dich wecken? Du kannst doch ausschlafen“, fragte sie unbekümmert.
„Und dann hast du gleich kaum das Haus verlassen und schon sitzen zwei Monster auf mir, um mich vollzuhaaren. Das ahne ich doch schon!“
Sadie lachte. „Dann bist du wenigstens nicht allein. Übrigens, Mittens ist verschwunden. Bestimmt ist sie noch beleidigt.“
„Tatsächlich? Okay, dann haart mich eben nur der Kater voll.“
„Figaro ist ganz lieb.“
„Ich weiß“, sagte Matt mit einem Lächeln. Er warf einen Blick in den Kühlschrank, fand aber nichts Ansprechendes und lehnte sich daran an, als er die Tür wieder geschlossen hatte.
„Denkst du, ihr habt schon einen neuen Fall?“, fragte er.
„Ich weiß es nicht, aber ich halte dich auf dem Laufenden“, versprach Sadie.
Unmotiviert löste Matt sich vom Kühlschrank und setzte sich Sadie zum Frühstücken gegenüber. Er aß allerdings nicht besonders viel, denn er hatte morgens selten Hunger. Gedankenversunken und immer noch ein wenig müde starrte Sadie Löcher in die Luft, bis sie bemerkte, wie Matt sie ansah.
„Was ist los?“, fragte sie.
„Ich bewundere nur wieder deine wunderschönen roten Haare.“
Verlegen lächelte sie. „Du bist ein Charmeur, Matt.“
„Nein, ich meine das ernst. Das ist so selten. Ich finde das toll.“
Sadie spürte regelrecht, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie liebte Matt für diese Aufmerksamkeiten. Dabei verstand sie noch immer nicht so ganz, was dieser gutaussehende, trainierte Polizist eigentlich an ihr fand. Sie hatte ihn so lang zappeln lassen – und nun, obwohl sie erst seit wenigen Wochen zusammen waren, hatten sie nicht nur schon eine gemeinsame Wohnung, sondern sie waren ganz ans andere Ende der USA gezogen. Dabei war Sadie nicht sicher, ob sie es ohne Matt gewagt hätte, wirklich noch einmal zum FBI nach Quantico zu gehen.
Nach dem Frühstück räumte Sadie schnell den Tisch ab und packte ihre Tasche. Matt wühlte gerade in einem der noch nicht ausgepackten Umzugskartons herum.
„Pass mir gut auf die Katzen auf, ja?“, bat Sadie, als sie kurz den Kopf durch die Tür steckte.
„Die passen wahrscheinlich eher auf mich auf.“
Sie grinste. Allerdings beschäftigte es sie, wie es ihren geliebten Katzen ging. Verstaut im Frachtraum eines Flugzeugs hatten sie sich bestimmt nicht wohl gefühlt, aber Sadie hatte keine andere sinnvolle Möglichkeit gesehen, die Tiere mitzunehmen.
Sie griff nach ihrem Autoschlüssel und schulterte ihre Tasche. Matt kam ihr im Flur entgegen, deshalb fing sie ihn schnell ab und gab ihm einen Abschiedskuss.
„Ich liebe dich“, sagte sie.
Er lächelte. „Ich dich auch. Bis heute Abend.“
Sie blickte noch einmal über die Schulter zurück, bevor sie das Apartment verließ und sich in ihr Auto setzte. Auf der Interstate war zu dieser Zeit viel Verkehr, aber Sadie fuhr glücklicherweise in die entgegengesetzte Richtung. Das war morgens auf dem Weg nach Quantico ein unschätzbarer Vorteil.
Der Weg führte durch Wälder und das kleine Dorf, das sich in der Nähe der Marinebasis und des FBI-Hauptquartiers angesiedelt hatte. Es war eine seltsame Gegend, aber Sadie fühlte sich dort nicht unwohl. Sie stellte ihren Wagen auf dem riesigen Parkplatz des FBI ab und machte sich auf den Weg zum Gebäude. Sie hatte das Büro kaum betreten und gerade erst ihre Reisetasche im Abstellraum verstaut, als Nick vor ihr stand. Supervisory Special Agent Nick Dormer war nicht nur Sadies Chef, sondern auch so etwas wie ihr Vorbild.
„Du bist es“, sagte Sadie überrascht.
„Wie war dein Wochenende?“, erkundigte er sich. Der Enddreißiger mit den dunklen Haaren trug immer perfekt sitzende Anzüge.
„Es war schön“, sagte Sadie und fügte hinzu: „Wir haben viel geredet.“
„Das ist gut zu hören“, erwiderte Nick. Er wusste gleich, wovon sie sprach. „Gleich um neun setzen wir uns zusammen. Das übrige Team weiß noch nicht über deine Identität Bescheid, aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt, es ihnen zu sagen. Was meinst du?“
„Ich bin das Thema zwar leid, aber du hast recht. Bringen wir es hinter uns“, sagte Sadie und meinte es auch so.
„Ich habe übrigens am Freitag noch mit dem Rekrutierungsteam gesprochen“, fuhr Nick fort und riss sie damit aus ihren Gedanken.
Sofort begann Sadies Herz, schneller zu schlagen. „Und?“
„Ich habe ihnen gesagt, dass ich Matt persönlich kennengelernt habe und ihn für einen aussichtsreichen Kandidaten halte. Sie sagten, sie würden sich in den nächsten Tagen entscheiden, aber sie haben die Fürsprache interessiert angenommen.“
„Wirklich?“, fragte Sadie hoffnungsvoll.
„Ich denke, das wird klappen.“
„Das wäre wunderbar!“ Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Damit stand Matts alter Traum vom FBI doch nicht auf der Kippe. Dabei hatte er sich nach der vergeigten Schießprüfung solche Sorgen gemacht.
Nick lächelte ihr zu, dann verschwand er in Richtung Kaffeeküche. Sadie folgte ihm und holte sich etwas zu trinken, dann setzte sie sich in den Besprechungsraum. Dort war sie nicht allein, Ian war schon da.
„Guten Morgen“, begrüßte er sie freundlich. „Wie ist das Wetter in Kalifornien?“
„Ganz schön heiß“, erwiderte Sadie. „Hier ist es um die Zeit schon deutlich angenehmer.“
„Ich bin froh, dass wir am Wochenende nicht angefordert wurden. Aber vielleicht erfahren wir ja gleich, was unser nächster Fall ist.“
Sadie lächelte, sagte aber nichts dazu. Der Gedanke, sich gleich den Blicken und Fragen der Kollegen stellen zu müssen, beunruhigte sie doch ein wenig. Natürlich hatte sie nichts zu befürchten, aber alles, was mit ihrem Vater zu tun hatte, machte sie nervös.
Schweigend hörte sie den Kollegen beim Plaudern zu, als sie nacheinander den Raum betraten und Platz nahmen. Belinda lachte laut und fröhlich, David hatte ihr einen Witz erzählt. Jim und Alexandra hatten sich neben Ian gesetzt. Nick stieß als letzter dazu und nahm unweit von Sadie Platz. Nur Cassandra befand sich noch zwischen ihnen.
„Guten Morgen allerseits“, begrüßte Nick sein Team. „Ich hoffe, ihr habt alle das Wochenende genutzt, um euch ein wenig zu erholen. Ich möchte heute mit etwas beginnen, das vermutlich überraschen wird.“
„Jetzt bin ich gespannt“, sagte Ian und wirkte dabei gleichzeitig unbefangen und neugierig. Sadies Puls schoss in die Höhe.
Nick warf ihr einen Blick zu, bevor er fortfuhr. „Ihr habt letzte Woche in Utah alle mitbekommen, dass der Serienmörder Rick Foster, der vor kurzem noch mit der Umwandlung seiner Todesstrafe von sich reden gemacht hat, geflohen ist. Bis jetzt befindet er sich auf freiem Fuß.“
„Warum auch immer“, unkte Jim.
Dormer ging nicht darauf ein. „Ihr fragt euch jetzt sicher, warum uns das interessiert. Schließlich sind wir nicht der Marshal Service, der ihm seitdem auf den Fersen ist. Wir haben aber trotzdem einen guten Grund, uns damit zu beschäftigen, und der heißt Sadie.“
Obwohl Sadie die Blicke ihrer Kollegen auf sich spürte, verzog sie keine Miene. Ihr war heiß.
Nick machte eine kurze Pause und sah sie an. „Ich kann weitermachen, wenn du willst.“
Sadie nickte. Sie hatte Angst, dass sie kein Wort herausbekam.
„Vielleicht erinnern einige von euch sich noch daran, dass er in der Nacht, in der er seine Familie getötet hat, zum Glück nicht ganz erfolgreich war. Seine Tochter Kim ist ihm entkommen“, fuhr Nick fort. Noch wirkten die Gesichter der anderen unbeteiligt.
„Kim Foster wurde damals im Zeugenschutzprogramm aufgenommen und hat eine neue Identität erhalten.“ Er machte eine kurze Pause. „Ihr neuer Name lautet Sadie Scott.“
Es war totenstill. Sadie versuchte, den nun überraschten Blicken der anderen standzuhalten, was ihr nicht leicht fiel. Ian war erstaunt, Belinda wirkte betroffen. Die Gesichtsausdrücke der anderen ähnelten diesen in verschiedenen Abstufungen. Dann fuhr Nick fort.
„Ich wusste davon, seit Sadie sich hier beworben hat. Allerdings habe ich es ihr nie gesagt, um ihre Tarnung aufrecht zu erhalten. Das ist leider letzte Woche hinfällig geworden, denn Rick Foster hat auch herausgefunden, wie sie jetzt heißt. Das ist ein weiterer Grund für mich, es euch auch zu sagen. Solange er auf freiem Fuß ist, ist Sadie in Gefahr. Das sollten wir uns alle bewusst machen und ein Auge auf sie haben.“ Er atmete tief durch. „Hat jemand Fragen?“
Im ersten Moment sagte niemand ein Wort. Belinda fing sich zuerst, blickte zu Sadie und sagte: „Ich erinnere mich an den Fall. Es tut mir sehr leid, das zu hören, Sadie. Es ist traurig, dass du das erleben musstest.“
Nervös erwiderte Sadie Belindas Blick und lächelte scheu, bevor sie sich räusperte. „Es ist okay ... aber danke, Belinda.“
„Das ist mein Ernst“, betonte ihre Kollegin. „Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie dir zumute sein muss.“
„Ich mir auch nicht“, gab Alexandra zu.
„Das kann ich verstehen“, sagte Sadie, die sich nun langsam wieder fing. „In den letzten Tagen habe ich viele dieser Gespräche geführt und zu jedem gesagt: Ich habe fünfzehn Jahre Vorsprung vor euch. Ich habe längst verarbeitet, was ihr gerade erst erfahrt. Und wie ihr euch denken könnt, ist mein Vater der Grund dafür, dass ich heute hier bin. Vor zehn Jahren habe ich mich gefragt, wer ich bin und ob etwas von ihm in mir steckt.“
Ian schüttelte den Kopf. „Unfug.“
„Damals war ich nicht so sicher. Aber ich bin erst zur Polizei gegangen und heute bin ich hier. Ich will verstehen, warum mein Vater ist, wie er ist. Ich will verhindern, dass so etwas passiert – damit niemand das erleben muss, was ich erlebt habe.“
„Das glaube ich dir“, sagte Cassandra.
„Das ist schlimm“, sagte Alexandra. „Ich denke, ich spreche hier für alle, wenn ich sage, dass wir keinerlei Vorbehalte haben.“ Die anderen nickten zustimmend. „Aber du hast schlimme Erfahrungen gemacht und das tut mir leid. Wie alt warst du, als das passiert ist?“
„Er hat vor meiner Geburt mit dem Morden begonnen und als er aufgeflogen ist, war ich elf“, sagte Sadie. „Meine Mutter ist hinter sein Geheimnis gekommen. An dem Abend hat er sie und meine Geschwister erschossen. Mich hat er am Rücken erwischt, aber ansonsten hatte ich Glück. Danach habe ich bei meinem Onkel und meiner Tante gelebt.“
„Und er ist immer noch frei?“, fragte Ian kopfschüttelnd. „Drehen die Marshals Däumchen?“
„Überhaupt nicht“, sagte Nick, „aber Foster ist gerissen. Er ist ja auch damals nur rein zufällig aufgeflogen. Zuletzt wurde er in Nevada gesehen, seitdem ist er wie vom Erdboden verschluckt.“
„Können wir denn da nicht helfen?“, fragte Belinda.
Während Nick zu einer Antwort ansetzte, spürte Sadie, wie das Handy in ihrer Tasche vibrierte. Sie wollte zwar nicht unhöflich sein, aber im Augenblick konnte jeder Anruf wichtig sein. Vielleicht war es der Marshal.
Nick bemerkte zwar, wie sie das Handy aus der Tasche zog, aber er sprach unbeirrt weiter. Sadie schielte aufs Display und entdeckte Phils Namen.
„Ist es der Marshal?“, fragte Nick, dessen Gedankengänge Sadies ähnelten.
Sie schüttelte den Kopf. „Es ist mein Polizeikollege zu Hause in Waterford.“
Dormer nickte. „Mach nur. Ich kann so lange warten. Vielleicht ist es wichtig.“
Sadie lächelte kurz und hielt ihr Handy fest in der Hand, als sie auf den Flur vor dem Besprechungsraum ging. Dort nahm sie das Gespräch an.
„Phil, was ist los? Warum rufst du so früh an?“, fragte Sadie. Ihr war bewusst, dass es in Waterford noch früh am Morgen war.
Sie hörte Phil am anderen Ende der Leitung atmen und da waren auch weitere Hintergrundgeräusche, aber er antwortete nicht gleich.
„Sadie, ich ...“ Er brach ab. „Ich stehe im Haus deiner Familie. Bei Norman und Fanny. Sie ...“ Wieder fehlten ihm die Worte.
„Was ist los?“, fragte Sadie mit zitternder Stimme. Ihr wurde heiß vor Angst. „Geht es ihnen gut?“
Zögerlich antwortete Phil: „Er war hier, Sadie. Dein Vater. Er ...“
Sadies Blick ging ins Nichts. Sie lehnte sich an die Wand, weil ihre Knie weich wurden. „Phil, was hat er getan?“
Seine Stimme zitterte nun ebenfalls. „Er hat sie angegriffen.“ Er holte tief Luft. „Fanny ... sie ist tot. Norman wird gerade operiert.“
Sadie konnte nicht antworten, ihr blieb die Luft weg. In ihrem Kopf hallten nur Phils Worte nach. Ihre Knie wurden weich.
Nick erschien in der Tür des Besprechungsraums. Als er sah, dass Sadie in sich zusammenzubrechen drohte, war er mit zwei Schritten bei ihr und fing sie auf.
„Es tut mir so leid“, sagte Phil am Telefon gepresst.
Sadie begann zu schluchzen. Ihr fiel das Telefon aus der Hand, sie schaffte nicht mehr, es festzuhalten. Nick hielt sie fest umklammert und strich ihr über den Rücken. Er stellte keine Fragen.
Sie sah nur noch Tränen. Die Verzweiflung war so groß, dass sie kaum atmen konnte. Angestrengt schnappte sie nach Luft, zitterte am ganzen Leib und weinte laut.
In der Tür erschienen die anderen Kollegen, doch das sah Sadie nicht. Cassandra beugte sich hinab zu Sadies Handy und hielt es sich ans Ohr. Nick, der immer noch Sadie im Arm hielt, warf Cassandra einen fragenden Blick zu, während sie mit Phil sprach. Schließlich beendete sie das Gespräch blickte ernst in die Runde.
„Rick Foster ist in Waterford aufgetaucht, heute Nacht. Er hat Sadies Onkel und Tante angegriffen. Der Onkel wird noch notoperiert, aber ...“
Mit Blick auf Sadie wagte sie es nicht, die Wahrheit auszusprechen, doch das war nicht nötig. Alle verstanden.
Nick kräuselte die Lippen und griff Sadie unter die Arme, um sie zurück in den Besprechungsraum zu bringen. Zitternd sank sie auf ihren Stuhl und schloss die Augen, immer noch weinend. Cassandra blieb hinter Sadie stehen und legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter.
„Verdammt“, murmelte Ian und nahm wieder Platz. Belinda reichte Sadie ein Taschentuch, während Nick sich vor die Leinwand stellte.
„Wir fordern uns jetzt selbst an“, sagte er entschlossen. „Wir fliegen hin und suchen den Kerl. Das muss ein Ende haben.“
Sadie wischte sich die Tränen ab und blickte zu ihren Kollegen. „Das ist meine Schuld ...“
„Jetzt red keinen Unsinn“, wehrte Nick ab. „Aber damit muss jetzt Schluss sein. Du weißt, wir mischen uns ungern ungebeten ein, aber jetzt hat er uns jeden Grund geliefert. Er läuft frei herum und mordet wieder und er wird nicht aufhören, bis er vor dir steht. Das kann ich unmöglich zulassen – nicht nur, weil du zu uns gehörst.“
„Wir finden ihn“, sagte Ian.
„Fliegen wir nach Kalifornien“, sagte Nick. „Wer will mit?“
Cassandra und Ian meldeten sich sofort. Dormer nickte zufrieden und sagte: „Ich denke, das sollte genügen. Danke für eure Einsatzbereitschaft.“
Sadie sagte nichts. Sie wusste nicht, was. Innerlich fühlte sie sich wie tot. In ihrem Kopf waren gleichzeitig tausend Gedanken und keiner.
„Können wir sonst irgendwas für dich tun?“, fragte Cassandra.
Sadie lachte bitter. „Ein neues Leben könnt ihr wohl nicht für mich erfinden.“
„Nein, aber wir werden diese Episode jetzt zu einem Ende bringen“, sagte Nick. „Das ist jetzt unser neuer Fall. Ich sorge dafür, dass der Jet so schnell wie möglich startklar ist. Holt eure Sachen.“
Während die anderen ausschwärmten, nahm Nick wieder Platz. Er hatte schon begonnen, auf dem Telefon zu wählen, als Sadie fragte: „Nick, ist es okay für dich, wenn ich Matt anrufe und ...“ Sie brach ab und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, aber Nick wusste, was sie fragen sollte.
„Er kann mit. Natürlich. Ruf ihn an.“
Sadie nickte langsam, nahm ihr Handy vom Tisch und stellte sich auf den Gang, um Nick beim Telefonieren nicht zu stören. Sie wählte ihre eigene Festnetznummer und Matt war auch ziemlich schnell am Telefon.
„Wo geht’s hin?“, fragte er gleich. Seine unbefangene Stimme zu hören, machte alles noch surrealer für Sadie.
„Matt ...“ begann sie leise und atmete tief durch. Ihre Stimme zitterte noch immer. „Kannst du herkommen?“
„Klar kann ich ... was ist los? Weinst du?“
„Mein Vater ...“ stammelte sie und schniefte. „Er hat Norman und Fanny in Waterford gefunden.“
Für einen Augenblick war es totenstill. „Bitte was? Was heißt das?“
„Phil hat mich gerade angerufen. Er sagte ...“ Erneut kamen Sadie die Tränen. „Er sagte, dass Fanny tot ist ... und Norman operiert wird.“
Matt antwortete nicht. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Das ist meine Schuld ...“ schluchzte sie.
„Nein, so fängst du jetzt gar nicht erst an. Ich packe schnell meinen Rucksack und bin gleich bei euch. Ist das okay für deinen Chef?“
„Ja, er ist einverstanden.“
„Ich frage unten bei Mrs. Andrews, ob sie nach den Katzen schaut.“
„Ja, danke ... du denkst an alles.“ Sadie war nicht sicher, ob sie daran gedacht hätte.
„Bin gleich bei euch“, versprach Matt. „Fliegt nicht ohne mich los!“
Damit legte er auf und ließ Sadie mit ihren Grübeleien allein. Sie ging wieder hinein in den Besprechungsraum, wo Nick ebenfalls gerade sein Gespräch beendete.
„Der Jet ist in einer Stunde startklar. Bis dahin ist Matt doch auch hier?“
Sadie nickte. „Das schafft er. Danke, dass du nichts dagegen hast.“
Nick schüttelte den Kopf. „Er kann uns helfen. Außerdem hat er rund um die Uhr ein Auge auf dich. Seine Anwesenheit wird dir guttun.“
„Ist trotzdem nett von dir.“ Sie wischte sich über die Augen und atmete tief durch. Obwohl sie wusste, dass es Unsinn war, war ihr dieser Ausbruch peinlich.
Nick lächelte. „Ist doch klar. Ich brauche jetzt vor allem dich. Du kennst deinen Vater. Aber das wird hart für dich und da ist solche Hilfe nicht verkehrt.“
Sadie nickte langsam. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Vielleicht solltest du mit Chief Eamon in Waterford sprechen. Mein alter Chef. Er wird wissen wollen, dass wir kommen.“
„Ja, das kann ich gern tun. So viel Zeit haben wir noch. Mit dem Marshal Service spreche ich jetzt erst mal nicht, die glaubten ja, alles im Griff zu haben ...“
„Daran sind die nicht schuld. Ich hatte auch meinen Kollegen gebeten, ein Auge auf das Haus meiner Familie zu haben. Aber ...“ Sie brach ab.
„Wir haben das alle unterschätzt. Ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass dein Vater jetzt schon dort auftaucht und dann gleich so ausrastet“, gab Nick zu.
„Aber jetzt hat er, was er will“, sagte Sadie bitter. „Ich komme vorbei.“
Dazu sagte Nick nichts. Er ließ sich von Sadie Mike Eamons Nummer diktieren und hatte ihn auch gleich am Apparat.
„Chief Eamon, hier spricht Supervisory Special Agent Nick Dormer vom FBI. Neben mir sitzt Sadie Scott.“
„Oh, Agent ... mit Ihnen hätte ich jetzt noch nicht gerechnet“, dröhnte Mikes Stimme aus dem Lautsprecher. „Sadie ist bei Ihnen?“
„Wir haben vorhin erfahren, was passiert ist.“
„Ja, ich habe Officer Richardson gebeten, es ihr zu sagen. Was kann ich für Sie tun?“
„Wir können etwas für Sie tun, Chief. Wir wollen nach Waterford kommen, um Sie bei der Suche nach Rick Foster zu unterstützen.“
Mike zögerte kurz. „Sie glauben also, dass er dahinter steckt.“
„Wissen Sie Bescheid über die wahre Identität von Sadie Scott?“
„Ja ... letzte Woche sagte mir ein Marshal, dass wir mit Besuch von Rick Foster rechnen müssten. Aber ...“ Er brach ab.
„Mike, ich bin es“, sagte Sadie. „Es ist okay, du kannst nichts dafür. Ich habe ja noch mit meinem Onkel gesprochen und selbst er hat sich nicht in Gefahr gesehen, wie du weißt.“
Mike seufzte laut. „Ach, Sadie ... ich hatte ja keine Ahnung. Als der Marshal hier anrief und sagte, wir sollten nach Rick Foster Ausschau halten, habe ich erst überhaupt nichts begriffen. Er hat mir dann gesagt, dass wir ein Auge auf deine Familie haben sollen und da bin ich dann von selbst drauf gekommen. Phil sagte mir vorhin, dass er es ohnehin schon wusste. Ich hatte überlegt, dich anzurufen, aber ich dachte, du willst bestimmt deine Ruhe ...“
„Schon in Ordnung, Mike. In ein paar Stunden sind wir bei euch und gehen das zusammen an“, sagte Sadie und klang dabei bedeutend ruhiger, als sie eigentlich war.
„Wenn du das so sagst, klingt das sehr abgeklärt“, stellte auch Mike gleich fest.
„Bin ich nicht“, sagte Sadie. „Aber ich bin wütend. Ich bin wütend, seit er seinen Deal gemacht hat. Und jetzt ...“ Sie schnappte nach Luft und wischte eine Träne weg. „Er hat meine Tante getötet.“
„Die Prognose für deinen Onkel ist gut“, sagte Mike. „Sadie, ich weiß nicht, ob du dir den Tatort ansehen wirst. Das ist nicht schön.“
Nick und Sadie tauschten einen Blick, dann fragte Sadie: „Was ist passiert?“
Mike holte tief Luft. „Er hatte ein Messer dabei. Es ist alles voller Blut. Kein schöner Anblick.“
Sadie nickte langsam. „Sieht ihm ähnlich. Und ihr habt keine Ahnung, wo er ist?“
„Nein. Wir wissen nur, dass er dich sucht. Er ...“ Mike zögerte. „Er hat mit Blut riesengroß den Namen Kim an die Wand geschmiert. Über dem Bett.“
Erneut tauschten Nick und Sadie einen Blick, dann sagte Nick: „Wir sind kurz vor Mittag da, wir landen in Modesto.“
„Alles klar, wir holen Sie ab.“
Sie beendeten das Gespräch und Nick stand auf. Bevor er den Raum verließ, sagte er: „Wir werden dir helfen, Sadie. Das kriegen wir hin.“
Ein kurzes Lächeln war die einzige Antwort, die Sadie zustande brachte. Langsam stand sie ebenfalls auf und ging zur Tür. Im Büro herrschte Hochbetrieb. Als Cassandra Sadie in der Tür entdeckte, kam sie gleich herüber und blieb mit nachdenklicher Miene vor Sadie stehen.
„Tut mir leid, was passiert ist“, sagte sie.
Sadie nickte dankbar. „Nett von dir. Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen oder denken soll ... da fängt es eigentlich schon an.“
Mitfühlend legte Cassandra eine Hand auf ihre Schulter. „Das ging ja alles Schlag auf Schlag. Die anderen sind schon voll bei der Sache. Sie brennen darauf, dir zu helfen. Ein Serienmörder läuft frei herum? Da fühlen sie sich angesprochen. Diesmal besonders.“
„Und ich würde mich am liebsten eingraben“, erwiderte Sadie.
„Kann ich verstehen, aber das musst du nicht. Du hast eine Menge Unterstützung.“
Dessen war Sadie sich bewusst, aber sie fühlte sich trotzdem schrecklich. Cassandra kehrte schließlich wieder zu ihrem Schreibtisch zurück und Sadie stand verloren in der Tür, fühlte sich innerlich wie tot.
Tot. Das war so ein endgültiges Wort. Allmählich wurde ihr wieder bewusst, dass Phil es kurz zuvor benutzt hatte. Er hatte von Fanny gesprochen ...
Sadie lehnte sich an die Wand und schloss die Augen, aber die Tränen kamen trotzdem. Fanny war ihre Mutter gewesen. Nicht ihre leibliche, aber sie hatte sie mit Liebe und Verständnis großgezogen. Sie hatte Sadie das schönste Zuhause bereitet, das sie sich hatte wünschen können. An Fanny hatte sie sogar fast noch mehr Erinnerungen als an ihre richtige Mutter.
Am Vortag hatte sie sie noch gesehen, mit ihr gesprochen. Am Flughafen hatte Fanny sie zum Abschied liebevoll umarmt.
Und nun hatte ihr Vater Fanny getötet. Sadie wusste, was das hieß. Es musste blutig und brutal gewesen sein. So war ihr Vater nun einmal. Und bei Norman und Fanny machte er gewiss keine Ausnahme ...
Zitternd wischte Sadie sich die Tränen weg und ging zur Toilette. Dort war wenigstens niemand. Sie stützte sich auf eines der Waschbecken und starrte ihr eigenes Spiegelbild an.
War sie Sadie Scott oder Kim Foster? Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren stellte sie sich diese Frage ernsthaft. Irgendwann hatte sie begonnen, sich einzureden, dass sie Sadie Scott war. Und das sogar mit großem Erfolg. Aber jetzt war dieser nagende und bohrende Zweifel wieder da.
Sadie Scott war in Waterford zur Schule gegangen. Sie hatte einen Collegeabschluss gemacht, war Polizistin geworden und nun FBI-Agentin. Sadie Scott hatte einen Freund und zwei Katzen.
Aber nun waren die Leben von Sadie Scott und Kim Foster kollidiert. Kim Fosters Vater hatte die Eltern von Sadie Scott angegriffen. Das machte sie wütend, mehr noch, als dass es sie schockierte. Dabei schockierte es sie bereits gehörig.
Sie waren alle naiv gewesen. Hatten geglaubt, dass Rick Foster nicht die Frechheit besaß, so weit zu gehen. Oder dass er keinen Grund hätte. Aber jetzt, wo es passiert war, wusste Sadie, dass er überhaupt keinen Grund brauchte. Er war einfach böse. Der klassische Soziopath, wie sie heute wusste.
Sie starrte immer noch ihr Spiegelbild an. Natürlich hatte man sie als Rick Fosters Tochter erkannt. Sie hatte seine Augen, das konnte sie selbst deutlich sehen. Das hatte sie noch nie so gequält wie an diesem Tag, jedenfalls nicht, dass sie sich erinnern konnte und nicht auf diese Weise.
Sie verließ die Toilette wieder und holte ihre Tasche aus der Abstellkammer. Kaum dass sie mit der Tasche in der Hand zurückkehrte, blieb sie überrascht mitten im Gang stehen. In der Tür stand, mit seinem großen Rucksack über der Schulter, Matt. Zögerlich schaute er sich um und wirkte ein wenig eingeschüchtert, aber als er Sadie entdeckte, fasste er sich ein Herz und ging auf sie zu. Neben ihr ließ er den Rucksack fallen und umarmte sie wortlos. In diesem Moment war es Sadie egal, dass sie mitten im Raum stand und alle sehen konnten, wie sie den Kopf an seiner Schulter vergrub und nicht länger gegen die Tränen kämpfte.
Er strich ihr über den Rücken und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Da bin ich.“
An seinem Hemd war ein Besucherausweis festgeklemmt. Berührungsängste mit der Behörde hatte er nicht mehr, schließlich hatte er sie schon öfter besucht. Sadie konzentrierte sich ganz auf seine Wärme und seinen Geruch, denn dadurch beruhigte sie sich schnell. Schließlich ließ sie ihn wieder los und wischte sich scheu über die Augen.
„Mr. Whitman“, begrüßte Dormer ihn mit Handschlag. Matt erwiderte die Begrüßung und nickte ihm zu.
„Danke, dass ich mitfliegen darf“, sagte er. Nick lächelte erst nur, aber als Sadie ihre Tasche und Matts Rucksack zum Gepäck der anderen brachte, nutzte Nick gleich die Gelegenheit und sagte: „Die Situation ist außergewöhnlich für uns. Jetzt haben wir jemanden im Team, der genau weiß, mit wem wir es zu tun haben. Ich brauche jemanden, der Sadie aufrecht hält und außerdem ein Auge auf sie hat. Ich denke, Sie können sehr hilfreich sein.“
Matt wollte schon etwas erwidern, aber da kam Cassandra auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. „Schön, Sie wiederzusehen.“
Matt nickte ihr mit einem Lächeln zu, sagte aber nichts. Cassandra ging weiter zu Sadie und sprach mit ihr.
„Das muss aufhören“, sagte Matt zu Nick.
Der Chef der Einheit nickte bloß. Er war der gleichen Ansicht.
***
Die Erkenntnis kam langsam. Sadie hatte den Kopf gegen die Lehne des Flugzeugsitzes gedrückt und die Augen geschlossen. Sie versuchte schon, alle Einflüsse von außen zu verbannen, doch es gelang ihr nicht. Sie hörte das Summen der Turbinen, die Stimmen der anderen, spürte Matts Hand auf ihrer.
Und sie hatte ein Gefühl, als müsse sie ersticken. Oder als säße ein Elefant auf ihrer Brust, der verhindern wollte, dass sie atmete. So hatte sie noch nie empfunden – nicht einmal in dem Moment, als ihr Vater damals alles zerstört, ihre Familie ermordet und auch auf sie geschossen hatte. Damals waren alle ihre Sinne auf Flucht gerichtet gewesen. Sie hatte Adrenalin im Blut gehabt, Herzrasen, Schweißausbrüche. Das war jetzt anders, jetzt fühlte sie sich in die Ecke gedrängt und allem ausgeliefert. Hatte sie je irgendetwas beeinflussen können? Alles passierte immer, ohne dass sie je Einfluss darauf gehabt hätte.
Das musste sich ändern. Sie musste ihren Vater in die Schranken weisen, bevor er noch mehr Menschen verletzte oder tötete.
Sadie fragte sich, ob Joanna und Gary es schon wussten. Danach hatte sie Phil nicht gefragt. Hoffentlich sagte es ihnen irgendjemand, damit sie es nicht tun musste. Sie konnte es nicht. Es war doch ihre Schuld ...
Sie merkte nicht, wie Matt sie von der Seite ansah. Er konnte fast am eigenen Leib spüren, wie sie litt. Ihre Gesichtszüge waren verhärtet, sie hatte die Lippen gepresst, ihre Hand war verkrampft. Verdenken konnte er es ihr nicht. Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie es ihr ging, aber Agent Dormers Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Es überraschte ihn nicht, dass SSA Dormer ihm gleich ins Gesicht gesagt hatte, dass er ihn aus strategischen Gründen dabei haben wollte. Im ersten Moment hatte es Matt überrascht, dass Dormer sofort beschlossen hatte, auf die Suche nach Rick Foster zu gehen. Aber auch nüchtern betrachtet gab es genügend gute Gründe, Rick Foster zu jagen. Er hatte gerade bewiesen, dass er zu allem fähig war. Je länger er auf freiem Fuß war, desto schlechter. Das brachte Menschenleben in Gefahr. Dass er hinter Sadie her war, war nur noch die Krönung des Ganzen.
Und Dormer hatte recht, Sadie war diejenige, die sie Foster am nächsten bringen konnte. Das klappte aber nur, wenn sie nicht vor Schmerz und Trauer wie gelähmt war. Irgendwo fand Matt das berechnend, aber Dormer hatte Recht und er war froh, dabei zu sein. Er hätte Sadie in diesem Moment nicht allein lassen wollen.
„Es wird noch etwas dauern, bis wir mit Norman Scott reden können“, sagte Dormer in die Runde und riss damit alle aus ihren Gedanken. „Sadie, hast du eine Vermutung, warum dein Vater die beiden so attackiert hat?“
Sadie nickte. „Weil er die Gelegenheit dazu hatte. Ich glaube, das ist der Grund. Schlicht und ergreifend. Er mochte Norman nie, daraus hat er kein Geheimnis gemacht. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.“
„Aber warum greift er Fanny dann so an?“
Sadie schüttelte unwirsch den Kopf. „Warum hat er seinen sechsjährigen Sohn erschossen?“
„Was vermutest du, was er bei den beiden gewollt hat?“
„Er wollte wissen, wo ich bin. Fragen wir Norman, wenn er wieder bei Bewusstsein ist. Ich wette, er wird uns das bestätigen.“
„Denkst du, er hat es ihm gesagt?“, fragte Nick.
„Ich weiß es nicht. Warum fragst du? Wir werden es doch von Norman erfahren.“
„Sicher, nur versuche ich vorab, mir ein Bild zu machen. Denkst du, dein Vater hasst die beiden dafür, dass sie dich großgezogen haben? Könnte er glauben, dass sie dich ihm weggenommen haben?“
Irritiert sah Sadie ihn an. „Er wollte mich umbringen. Warum sollte ihn interessieren, ob sie mich ihm weggenommen haben?“
Nick lächelte und beugte sich vor. „Du bist aufgewühlt, das verstehe ich. Alles, was ich mir wünschen würde, ist, dass du versuchst, dir seine Beweggründe vorzustellen. Du kannst sie am besten einschätzen.“
„Kann ich nicht“, widersprach Sadie impulsiv. „Ich habe ihn seit dreizehn Jahren nicht gesehen.“
Sie war gereizt. Automatisch legte Matt einen Arm um ihre Schultern, um ihr damit Trost zu spenden. Nick hatte Recht, es fiel ihr verdammt schwer.
„Ich frage deshalb so gezielt, weil ich überlege, ob er dir damit eine Falle stellen wollte“, sagte Nick. „Vielleicht erwartet er, dass du herkommst, um ihn zu finden.“
„Kann sein.“ Sie holte tief Luft. „Du glaubst nicht, wie sehr ich ihn hasse.“
„Doch, das verstehe ich. Aber wenn wir ihn finden wollen, ist es wichtig, dass du deine professionelle Distanz bewahrst.“
„Wie soll ich das machen?“, rief Sadie händeringend.
„Wir helfen dir dabei. Ich weiß, dass du das kannst. Auch jetzt. Versuch, deinen Hass auf ihn außen vor zu lassen. Er hat damals alles zerstört, das muss man fraglos anerkennen. Aber woran erinnerst du dich? Was für ein Mensch ist er? Was denkst du, was er jetzt tun wird?“
Nachdenklich wandte Sadie den Blick ins Nichts. Nick hatte recht, sie musste nachdenken. Natürlich war es fünfzehn Jahre her, aber sie war diejenige, die am meisten über ihren Vater wusste. Sie musste sich zusammenreißen und ihren Kollegen Anhaltspunkte liefern. Das würde helfen – das und nichts sonst.
„Er war eben mein Vater“, sagte Sadie. „Ich meine das im Wortsinn, er hat meine Geschwister und mich erzogen, er hat uns gelobt oder getadelt, manchmal bestraft, er hat uns eine Schaukel im Garten gebaut, einen Sandkasten, hat mit uns den Zoo besucht. Das war seine Fassade. Eigentlich hat das auch ziemlich lange funktioniert. Er war nie besonders liebevoll ... aber er hat seine Rolle schon erfüllt. Er hat gearbeitet, die Reparaturen am Haus gemacht, ganz normale Dinge eben. Sehr gemocht hat er Dinge wie Zoobesuche nie, aber er hat es getan. Zumindest, bis ich in die Schule kam. Vielleicht hat es ihn gestrest, dass plötzlich auch noch Toby da war. Wenn mein kleiner Bruder nachts geweint hat, ist mein Vater ausgerastet. Er hat dann herumgebrüllt und meiner Mutter befohlen, dass sie den Kleinen beruhigen soll. Das haben meine Schwester und ich uns immer von unseren Betten aus angehört. Wir hatten ja ein gemeinsames Zimmer. Es war ein schleichender Prozess. Damals hat er begonnen, gelegentlich zu trinken und meine Mutter zu schlagen. Sie hatten öfter Streit.“
„Also würdest du sagen, dass deine Kindheit anfangs recht normal verlaufen ist?“, fragte Nick.
„Ja, schon. Er war immer herrisch, hat getan, was er für richtig hielt und meiner Mutter gesagt, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie sollte kochen und das Haus sauber halten. Und sich um uns Kinder kümmern, natürlich. Er ist oft abends fort gewesen, um zu trinken und er hat sich nie um uns gekümmert, wie meine Mutter es getan hat. Sie war für uns da, wenn wir krank waren oder um uns Gutenachtgeschichten vorzulesen. Besonders glücklich war sie nicht mit ihm, denke ich, aber sie war gefangen in der Situation und hat sich immer sehr liebevoll um uns gekümmert. Wir waren das Wichtigste für sie, glaube ich. Was mein Vater daneben tat, war ihr egal. Bis er angefangen hat, sie zu schlagen.“
„Also ist er durchaus beherrscht“, sagte Nick. „Er hat es lange genug verstanden, keinen Verdacht zu erregen.“
„Ganz genau. Aber als ich in die Schule kam, hat sich das geändert. Er hat meine Mutter angeschrien. Er war nie mit etwas zufrieden, was sie getan hat. Er hat auch uns angebrüllt. Wir hatten Respekt vor ihm und haben ihn gemieden, würde ich sagen. Das war nicht schwer, denn er war oft genug gar nicht da. Meiner Mutter war das sogar lieber, glaube ich, denn so hatte sie ihre Ruhe. Die beiden haben nicht viel miteinander gesprochen. Aber es wurde zunehmend ungemütlich zu Hause. Ich war neun oder zehn, als Kristy begann, sich zu verändern. Sie kam gerade in die Pubertät und hat es geliebt, sich mit ihm anzulegen. Sie war nicht zu Hause, wenn er es wollte, woraufhin sie ihm vorwarf, auch nie zu Hause zu sein. Da hat er auch sie geschlagen. Sie hat öfter nachts in ihrem Bett gelegen und geweint, wenn sie glaubte, dass ich es nicht merke. Ich habe sie gefragt, was nicht stimmt, aber sie hat es mir nicht gesagt. Es war ungefähr ein Jahr, bevor mein Vater ausgerastet ist, dass ich es herausgefunden habe.“ Sadie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und holte tief Luft.
„Ich wollte eigentlich nach der Schule auswärts mit Freunden etwas unternehmen, aber es ging mir nicht gut und so bin ich nach Hause gegangen. Eigentlich habe ich nicht damit gerechnet, dass jemand zu Hause ist und ich habe mich auch nicht besonders leise verhalten. Ich wollte ganz normal in unser Zimmer gehen, aber dann habe ich Stimmen daraus gehört. Mein Vater war bei meiner Schwester und er hat ihr gedroht. Ich bin erst auf der Treppe stehengeblieben und habe zugehört. Er hat ihr eingeschärft, niemandem etwas zu sagen und dann ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin hingeschlichen, habe durch den Türspalt gespäht und gesehen, wie mein Vater sie missbraucht hat. Ich habe das nicht gleich begriffen, aber irgendwann war es mir klar. Außerdem habe ich sie überrascht, als sie ihren Slip im Bad ausgewaschen hat. Sie hat geweint. Ich bin zu ihr gegangen, habe einen Arm um ihre Schulter gelegt und wollte sie trösten. Sie konnte das nicht annehmen. Sie sagte, dass ich das vergessen und niemandem sagen solle. Sie hatte Angst vor unserem Vater.“
„Ganz typisch“, sagte Nick.
„Ja, natürlich. Ich habe es auch tatsächlich für mich behalten, denn wir waren Freundinnen. Ich wollte Kristys Vertrauen nicht verraten. Sie war ohnehin die Stärkere und Frechere von uns beiden. Sie hat immer rebelliert und Prügel bezogen. Irgendwie ist sie damit zurechtgekommen.“
„Und du ... du hattest Glück?“, fragte Matt.
„So gesehen schon. Ich habe gemerkt, wie Kristy mich beobachtet hat. Irgendwann nachts im Bett sagte sie zu mir, dass ich es ihr sagen müsste, wenn er mir weh tun würde. Aber das hat er nie. Auf mich hat er nie wirklich geachtet. Ich war immer still und unauffällig. Kristy hat Prügel bezogen, die wollte ich nicht auch.“
Dormer nickte ernst. „Klingt alles ganz typisch. Hast du ihn jemals etwas Grausames tun sehen? Ein Tier töten zum Beispiel?“
Sadie überlegte und nickte schließlich. „Ja, ich habe mit meinen Geschwistern im Garten gespielt, als wir ein Mäusenest gefunden haben. Er kam zufällig vorbei und wollte wissen, was uns da so fasziniert.“ Sie zog die Schultern hoch und schloss die Augen. „Als er die Mäuse gesehen hat ... da hat er in das Nest gegriffen und ein paar Babys herausgezogen. Er ...“
Sie konnte es nicht in Worte fassen. Plötzlich war ihr eiskalt.
„Es hat ihm Vergnügen bereitet, die Tiere zu quälen?“, fragte Nick.
Sadie nickte. „Er hat sie getötet. Sie in die Luft geworfen ... und ... er ist draufgetreten.“ Sie zog die Schultern hoch und schüttelte sich. „Toby hat geheult. Kristy ist schreiend auf ihn losgegangen, aber er hat nur gelacht. Das war alles ein Spiel für ihn.“
„Hat deine Mutter darüber nachgedacht, sich zu trennen?“, fragte Nick.
„Kristy hat ihr öfter gesagt, dass sie es tun soll. Sie konnte es aber nicht. Ich kann mich kaum erinnern, sie hat versucht, es vor uns Kindern zu verbergen. Aber sie hat geweint. Natürlich. Sie hat sich gefragt, wo er ist, wenn er nicht nach Hause gekommen ist. Irgendwann muss sie dann auf die Idee gekommen sein, ihm nachzuspionieren. Darüber weiß ich nichts. Es war anfangs ein Streit wie jeder andere, weshalb Kristy und ich uns nichts dabei gedacht haben. Aber als wir dann nachgesehen haben ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Er hat Mum eine Waffe in den Mund gesteckt. Das war furchtbar. Ich hab ja nicht geglaubt, was da passiert. Aber es ist passiert. Und selbst da wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass er nicht nur meine Familie ermordet hat, sondern ein Serienmörder ist.“
„Das konntest du auch nicht wissen“, sagte Nick. „Aber ich denke, es ärgert ihn, dass du davongekommen bist, weil er da die Kontrolle verloren hat. Menschen wie er sind absolute Kontrollfreaks. Und du lebst noch, einfach so. Das muss ihn ja ärgern.“
„Ich habe mich immer gefragt, wie ernst man seine Drohung gegen mich nehmen muss. Er war im Knast. Was hätte er mir tun können?“
„Es stimmt, die Chancen sind verschwindend gering, dass dein Leben in Gefahr gewesen wäre. Aber deine Unversehrtheit war es. Hättest du dich ihm nicht gänzlich entzogen, hätte er dich terrorisieren können. Und das hätte er auch getan“, sagte Nick.
„Meinst du?“, fragte Sadie.
„Ja, sonst würde er jetzt kaum diesen Feldzug starten. Er hat irgend einen Plan. Ich könnte mir schon vorstellen, dass er dich herlocken will.“
„Dafür müsste er gemerkt haben, dass ich nicht mehr hier bin.“
„Mit Sicherheit. Ich denke, dass dein Onkel uns da mehr zu sagen kann. Immerhin haben wir einen Zeugen.“
„Wir müssen jetzt das Profiling rückwärts machen“, sagte Cassandra. „Wir kennen den Täter, aber wir müssen jetzt wissen, was er als nächstes tun wird.“
„Kriegst du das hin?“, fragte Nick Sadie.
Sie nickte. „Das wird weh tun. Aber ich will ihn kriegen. Für mich ist er nicht mein Vater. Norman ist mein Vater. Für Rick Foster empfinde ich nur Hass!“
Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und kaute auf ihrem Bleistift herum. Matheaufgaben waren für sie immer eine besonders harte Nuss. Zahlen waren nicht ihr Ding. Ihre Gedanken schweiften ab, als sie begann, Toby beim Bauklötzestapeln zu beobachten. Er machte das weniger mit Geschick, aber dafür mit viel Geduld. Die hätte Kim mit ihren Rechenaufgaben auch gern gehabt, aber davon war sie meilenweit entfernt.
In der Küche klapperte ihre Mutter mit den Töpfen. Kim versuchte, sich zusammenzureißen und auf die Aufgaben zu konzentrieren. Nur noch ein paar ... dann war es geschafft.
Schritte auf der Treppe lenkten sie ab. Ihr Vater kam nach unten und ging an ihr vorbei, um sich aufs Sofa zu setzen. Er schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Programme. Kim war die Abwechslung sehr willkommen. Sie blickte ebenfalls auf den Fernseher und vergaß die Matheaufgaben.
„He, junge Dame“, sagte ihr Vater, als er das bemerkte. „Du sollst deine Hausaufgaben fertig machen.“
„Ja“, murmelte Kim. Sie versuchte es ja. Aber sie hasste Mathe. Mathe war furchtbar ...
Als ihr Vater aufstand, beobachtete sie ihn fragend. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Kim.
„Wo hängt es denn?“, fragte er.
Kim tippte auf einen der Aufgabenblöcke. „Die Matheaufgaben sind blöd.“
Ihr Vater schaute über ihre Schulter und nickte. „Erst Minus und dann Plus. Hat die Lehrerin das erklärt?“
„Ja, aber ich versteh das nicht. Warum muss ich erst 3 abziehen und dann 5 dazutun?“
„Weil das da steht. Wieviel sind 3 weniger?“
„Sechs ...“
„Siehst du. Und plus 5?“
„Elf“, sagte Kim.
„Genau.“ Zufrieden strich er über ihr Haar und blieb sitzen, während sie sich mit den nächsten Aufgaben herumschlug. Sie hasste Mathe. Aber jetzt fühlte sie sich nicht mehr so allein und das machte es leichter. Trotzdem würde sie Mathe nie mögen, das stand fest.
Bis das Abendessen fertig war, hatte Kim ihre Hausaufgaben geschafft. Zufrieden packte sie alles in ihre Tasche und half ihrer Mutter beim Tischdecken. Ihr Vater setzte sich wieder vor den Fernseher, eine Dose Budweiser vor sich auf dem Couchtisch. Kim störte sich nicht daran, der Anblick war normal für sie. Ihr Vater setzte sich erst an den Esstisch, als der Topf mit den Spaghetti in der Mitte stand. Toby kletterte auf seinen Stuhl neben seiner Mutter. Nur Kristys Stuhl war noch leer.
„Wo ist das verdammte Gör?“, fragte ihr Vater gereizt.
„Sie kommt bestimmt gleich“, erwiderte ihre Mutter beschwichtigend.
„Sie hat gefälligst pünktlich zu sein! Sie weiß doch, wann das Essen auf dem Tisch steht.“
„Wir fangen einfach schon mal an.“ Ihre Mutter begann, Kim Nudeln und Soße auf den Teller zu geben. Danach machte sie bei Rick weiter und gab auch sich und Toby etwas. Sie war noch gar nicht ganz damit fertig, als die Haustür geöffnet wurde und Kristy hereinkam.
„Hallo“, rief sie, zog sich die Schuhe aus und kam dann zum Tisch. Ihr Vater starrte sie an, was Kristy sofort merkte.
„Dad?“
„Warum bist du nicht pünktlich zu Hause?“, fragte er.
„Weiß nicht, hab getrödelt.“ Kristy wollte sich schon an den Tisch setzen, doch er sah sie scharf an.
„Und die Hände gewaschen hast du dir auch nicht.“
„Oh Mann ...“ Stöhnend ging Kristy ins Bad. Unwirsch beobachtete ihr Vater, wie sie zurückkehrte und sich setzen wollte. Als ihre Mutter ihr Nudeln auf den Teller geben wollte, hielt er ihre Hand eisern fest und schüttelte den Kopf.
„Sie war nicht pünktlich. Sie bekommt nichts, damit sie lernt, dass sie pünktlich zu sein hat!“
„Rick“, sagte Clarice und versuchte, sich loszureißen, doch ohne Erfolg. „Kristy wird nicht hungrig ins Bett gehen.“
„Und das entscheidest du, sehe ich das richtig?“
Jetzt wurde er laut. Kim zog schon einmal den Kopf ein und machte sich klein. Auch Toby beobachtete seinen Vater furchtsam.
Clarice stand auf und riss sich von Rick los. „Kristy war vier Minuten zu spät.“
„Na und? Es geht ums Prinzip!“, brüllte er und sprang ebenfalls auf. Das rief auch Kristy auf den Plan, die nun ebenfalls aufstand.
„Hör auf, Mum so anzubrüllen!“, rief sie. Erneut bewunderte Kim sie für ihren Mut, sich so mit Dad anzulegen. Aber Kristy war ja auch schon zehn.
Doch ihr Vater achtete gar nicht darauf. „Clarice, wer hat hier das Sagen?“
Kim beobachtete, wie die Lippen ihrer Mutter zu zittern begannen. „Ich lasse mein Kind nicht hungern.“
Dann war es soweit. Rick holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht – so hart, dass ihr Kopf zur Seite flog. Toby begann zu weinen und Kristy schrie vor Wut. Sie rannte hinter ihrer Mutter vorbei und stürzte sich wutentbrannt auf ihren Vater, dem es nicht schwer fiel, sie von sich zu stoßen. Kristy verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Kim sprang ebenfalls auf und lief zu ihrer Schwester. Kristy zitterte, ihre Augen standen voller Tränen.
„Hör auf!“, schrie Clarice. Rick schlug sie erneut. Toby weinte noch lauter.
Clarice wich zurück. Bevor Kim reagieren konnte, kämpfte Kristy sich hoch und trat ihrem Vater mit aller Kraft vors Schienbein. „Hör auf, Mum zu schlagen!“
„Halt du dich da raus!“, brüllte er. Er stieß Kim zur Seite und warf Kristy zu Boden zurück, bevor er ihr einen gezielten Tritt in die Magengrube verpasste. Erstickt schnappte Kristy nach Luft und hustete gequält.
Das war zuviel für Clarice. Sie stellte sich vor ihre beiden Töchter und schlug nun ihrerseits Rick ins Gesicht.
„Bist du wahnsinnig?“, schrie sie. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ebenfalls handgreiflich wurde und sah sie für einen Moment erstaunt an. Dann packte er sie an der Kehle und warf sie an die Wand zurück, die einige Schritte hinter ihr war. Kristy hustete und röchelte immer noch, deshalb sprang Kim beherzt auf und rannte zu ihren Eltern. Sie traute sich nicht, ihren Vater anzufassen, aber sie stellte sich neben ihre Mutter und blickte zu ihm hoch.
„Lass Mum los“, bat sie flehentlich. Er hatte beide Hände um die Kehle ihrer Mutter geschlossen, die mit ihren Händen seine Handgelenke umklammert hielt. Das beeindruckte ihn jedoch nicht.
Kim zupfte an seinem T-Shirt. „Dad ... bitte tu Mum nicht weh.“
Doch das beeindruckte ihn nicht. Ihre Mutter wimmerte erstickt, zappelte und wand sich hilflos. Fassungslos beobachtete Kim, wie ein seltsames Leuchten in die Augen ihres Vaters trat.
„Dad“, stieß sie unter Tränen hervor und zupfte weiter an seinem T-Shirt. „Dad, bitte ...“
Sie sagte das sehr weinerlich, flehte ihn an. Er achtete jedoch gar nicht darauf. Wie hypnotisiert starrte er seine Frau an.
„Dad!“, schrie Kim und ging in die Knie. „Bitte, Dad ...“
Es dauerte noch einige Sekunden, aber da lockerte er tatsächlich seinen Griff um die Kehle seiner Frau. Hustend ging Clarice in die Knie.