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Als Sadie ausgerechnet von ihrer besten Freundin Tessa an ihrem dreißigsten Geburtstag versetzt wird, ist sie gleichermaßen verletzt und verärgert. Ihre alte Schulfreundin hat einen neuen Job, eine neue Freundin und scheint nun alle Brücken hinter sich abzureißen. Sadie versucht noch, Tessas Verhalten zu akzeptieren, als ihre Freundin sie überraschend und in wilder Panik anruft: Sie fühlt sich verfolgt, liegt leicht verletzt im Krankenhaus. Unter Tränen bittet sie die FBI-Profilerin Sadie, zu ihr nach San Francisco zu kommen, um dem Spuk gemeinsam auf den Grund zu gehen. Doch sehr bald kommen Sadie Zweifel: Alles sieht danach aus, als hätte Tessa durch Drogen hervorgerufene psychische Probleme. Aber nicht nur ihre Freundschaft gerät in Gefahr, als Sadie versucht, die Wahrheit herauszufinden …
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Falsches Spiel
Sadie Scott 15
Psychothriller
Aus Vertraulichkeit entsteht die zarteste Freundschaft
und der stärkste Hass.
Antoine de Rivarol
Mit Ideen von Olaf Unterschemmann
Sadie stellte sich schlafend, als kleine Hände ihr Gesicht betasteten und befühlten. Es war nicht einfach, ihre Tochter hinters Licht zu führen, zumal Hayley normalerweise so lang an ihr herum zupfte, bis sie ihren Willen hatte und ihre Mutter wach war.
Doch diesmal war es Matt, der alles zunichte machte. „Guten Morgen! Da möchte dir jemand zum Geburtstag gratulieren!“
„Ich schlafe noch“, murrte Sadie und drehte sich auf die andere Seite.
„Ich glaube, unserer Tochter ist das egal.“
„Ich befürchte es.“ Sadie gähnte und blinzelte mit einem Auge. Neben ihr lag ein blondes Wesen mit zwei kurzen Hasenzähnchen und strahlte sie an.
„Du hast mich erwischt“, sagte Sadie, bevor sie sich ihre Tochter schnell schnappte und sich halb über sie beugte, um Hayley zu kitzeln. Das kleine Mädchen quiekte und jauchzte vor Vergnügen und lachte laut. Sie war nun acht Monate alt und Sadies ganzer Stolz. Norman hatte zwar auch ein Bettchen für sie, aber wenn sie in Waterford zu Besuch waren, durfte sie zwischen ihren Eltern schlafen. Das nutzte sie natürlich schamlos aus und weckte ihre Eltern auch an einem Sonntagmorgen unverfroren um kurz vor sieben.
„Und du bist auch so eklig gut gelaunt“, sagte Sadie mit einem fast strengen Unterton zu Matt.
Unbeeindruckt beugte er sich über Hayley zu Sadie und küsste seine Frau. „Alles Gute zum Geburtstag, meine Hübsche.“
„Danke“, sagte sie und lächelte.
„Wenn ich mal überlege, wie ich meinen Dreißigsten vor acht Jahren gefeiert habe … das war feuchtfröhlich. Die besten Jungs aus dem Department sind mit mir durch die Bars in Modesto gezogen und irgendwann endeten wir in einem Stripclub.“
„Wer, du?“, fragte Sadie, während sie Hayley durch die Haare wuschelte.
Matt nickte. „Ja, ich. Und das, obwohl ich damals eine Freundin hatte.“
„Wo war die denn?“
„Mit ihr habe ich separat gefeiert. Sie hat auch nie erfahren, dass wir in einem Stripclub waren.“
„Geständnisse des Matt Whitman“, neckte Sadie ihn.
„Hättest du ein Problem damit?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Du hast schon in einem Stripclub ermittelt und wärst da fast von einer Prostituierten vernascht worden.“
„Da hatte ich aber keine Wahl. Das war beruflich”, relativierte er.
„Ich weiß, du würdest mich nicht betrügen.“
Matt schüttelte den Kopf. „Niemals, da hast du Recht.“
Die beiden lächelten einander an, während Hayley fröhlich vor sich hin zappelte und brabbelte. Sadie spielte ein wenig mit ihr, bevor sie aufstand und der Kleinen eine frische Windel anzog. Für diesen Tag hatte sie Hayley ein hübsches kleines Kleid ausgesucht, das Hayley jedoch kaum wirklich zu würdigen wusste. Wie ein Wirbelwind robbte sie wenig später durchs Wohnzimmer und versuchte sich am Krabbeln, während Matt und Norman sich in der Küche dem Frühstück widmeten. Sadie wollte zwar helfen, aber da es ihr Geburtstag war, ließen die Männer sie nicht.
Augenblicke später wurde die Haustür geöffnet und Libby erschien mit Rusty darin. Als sie Sadie im Wohnzimmer entdeckte, strahlte sie.
„Hey! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, sagte sie und ging gleich zu Sadie, um sie zu umarmen.
„Danke.“ Sadie lächelte und strubbelte Rusty durchs Fell.
„Ich freue mich schon so aufs Backen“, sagte Libby.
„Es ist süß, dass du das immer machst.“
„Ich mache es gern! Für dich sowieso.“
Die beiden lächelten einander an. Bevor Libby jedoch zur Tat schreiten konnte, wurde erst einmal in Ruhe gefrühstückt. Hayley saß in ihrem Hochstuhl und war gar nicht glücklich darüber, dass sie nicht an all die vielen bunten und schönen Dinge auf dem Esstisch kam. Matt reichte ihr eine Rassel, mit der sie schließlich spielte und irgendwann auf dem Tisch herum trommelte, bis Matt ihr die Rassel wieder stibitzte und gegen ein kleines Stofftier tauschte.
Norman beobachtete die Szene ganz gerührt. „Es ist verdammt lang her, dass ich das hatte.“
„Mein Vater sagte, einen Enkel zu haben ist etwas ganz Anderes als eigene Kinder“, sagte Matt und fügte hinzu: „Schöner.“
„Irgendwie schon“, stimmte Norman zu. „Ich habe es wirklich gut: Zwei Enkelsöhne und zwei Enkeltöchter. Fanny hätte das genossen.“
Für einen Moment war es still am Tisch. Libbys Blick wanderte zu dem Foto von Fanny über dem Kamin.
„Schon über drei Jahre“, murmelte Sadie traurig.
„In der Zeit ist wahnsinnig viel passiert“, sagte Norman. „Manchmal kommt es mir länger vor.“
Sadie ging es da anders, sie hatte das Gefühl, als sei es gestern gewesen, dass ihr Vater ihre Tante ermordet hatte. Sie fragte sich manchmal, wie Norman damit zurechtgekommen war, das alles miterlebt zu haben. Sadie konnte sich ungefähr vorstellen, wie er empfunden haben musste – in dem Wissen, dass Rick bereit war, ihn wirklich zu töten. Und mitansehen zu müssen, wie er Fanny lebensbedrohlich verletzte. Sie hatte so etwas nie mitansehen müssen und war froh darum.
Matt brach das unangenehme Schweigen, indem er um die Marmelade bat. Schließlich wechselten sie das Thema und unterhielten sich wieder über Sadies Geburtstag. Für sie war es immer noch abstrakt, nun dreißig zu werden. In den letzten Jahren hatte sich tatsächlich viel verändert, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht. Sie war stolz, beim FBI zu sein und glücklich, dass sie Matt gefunden hatte. Hayley krönte das Ganze nur noch. Wenige Jahre zuvor hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie es einmal so weit schaffen und sogar ein Kind haben würde.
Und ihr dreißigster Geburtstag wurde nun auch groß gefeiert. Phil, Amelia und Alyssa hatten die Gelegenheit genutzt und sie ebenfalls in die Heimat begleitet, aus Patterson wurde Matts Vater erwartet, von Sadies übriger Verwandtschaft und ihrer besten Freundin ganz abgesehen. Matts Schwester Tammy jedoch schaffte es zu Sadies Bedauern nicht.
Libby wollte wieder einmal für alle Gäste backen, das bereitete ihr große Freude. Im Vorfeld hatte sie Rezepte ausgesucht und Norman hatte alle Zutaten besorgt. Matt ging Libby ein wenig zur Hand, damit Norman die Chance hatte, sich zusammen mit Sadie ein wenig um Hayley kümmern zu können. Das kleine Mädchen wollte immerzu Rustys weiches Fell anfassen, was der treue Hund sich auch geduldig gefallen ließ.
Während Sadie noch überlegte, ob sie das Thema Fanny erneut anschneiden sollte, klingelte ihr Handy. Sie hatte eine Nachricht von Tessa erhalten, die sie gleich gespannt öffnete.
Sorry Süße, ich habe ziemlich üble Migräne, die ich nicht los werde. Ich werde es heute nicht schaffen, so kann ich nicht mal Auto fahren. Wenigstens kümmert Lindsay sich rührend um mich. Wir holen das nach! Und alles Gute. Tessa xx
Sadie las die Nachricht erneut. An einem Satz blieb sie erneut hängen: Wenigstens kümmert Lindsay sich rührend um mich. Davon abgesehen, dass er einen üblen Beigeschmack bei ihr hinterließ, verriet er ihr auch etwas.
„Du machst ja ein Gesicht“, sagte Norman zu ihr. „Was ist los?“
Wortlos reichte Sadie ihm ihr Handy, so dass er die Nachricht selbst lesen konnte. Er war kaum fertig, als er fragend aufblickte.
„Wer ist Lindsay? Hieß ihre Freundin nicht Sylvie?“
„Hieß sie“, bestätigte Sadie. „Die Vorgängerin. Zu Tessas Geburtstag im Januar waren sie noch zusammen, aber inzwischen ist dem wohl nicht mehr so.“
„Das wusstest du?“, fragte Norman überrascht. Tessa als Sadies beste Freundin war ihm schon vor vielen Jahren ans Herz gewachsen, weil sie immer treu zu Sadie gestanden hatte. In der Schule war sie es gewesen, die sich der schüchternen Neuen angenommen hatte. Sie hatte immer Spaß mit Sadie gehabt, sie nach ihrem Selbstmordversuch im Krankenhaus besucht und wieder aufgebaut, sie motiviert, sie zur Bewerbung beim FBI ermutigt und über all die Jahre ihre Freundschaft gepflegt. Norman schätzte Tessa sehr und es gab vieles, das er ihr hoch anrechnete.
„Ich weiß nicht viel“, sagte Sadie. „Alles, was ich weiß, hat sie mir in unserem Telefonat gesagt, in dem ich sie für heute eingeladen habe. Sie hatte nicht viel Zeit und ich habe sie nur auf dem Handy erreicht, weil sie da mitten im Umzug war.“
„Ich erinnere mich“, sagte Norman. Sadie hatte ihm kurz davon erzählt.
„Sie ist jetzt also in San Francisco?“, fragte er weiter.
„Ja, sieht wohl so aus. Als ich mit ihr telefoniert habe, war mein letzter Stand, dass sie ihr Abschlusszeugnis bekommen und bei einigen Firmen im Silicon Valley Bewerbungen laufen hatte. Sie wollte gern zu einem der Tech Ventures. Am Telefon sagte sie mir dann, dass sie einen Vertrag bei einer Firma für Internetsicherheit unterschrieben hat und gerade mit dem Umzugswagen auf dem Weg von Livermore nach Frisco ist. Als ich sie fragte, ob Sylvie mit dabei ist, hat sie das verneint und sagte, ihre Beziehung zu Sylvie liege gerade auf Eis.“
„Oh“, machte Norman.
„Ja, sie sagte, Sylvie wollte nicht aus Livermore weg. Was ich verstehen kann, sie arbeitet ja auch dort. Für Tessa gab es da aber wohl keine Diskussion, deshalb hat sie eine Beziehungspause vorgeschlagen und sich allein eine Wohnung in der Bay Area gesucht.“
„Nicht billig.“
„Habe ich mir auch gedacht … sie hat mir nicht gesagt, wo genau. Sie sagte aber, dass sie jemanden kennengelernt hat. Ich weiß nur, dass sie Lindsay heißt und auch in der Bay Area wohnt. Mehr kann ich dir nicht sagen.“
Norman zog die Augenbrauen hoch. „Was ist denn da los?“
Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich bin davon ausgegangen, dass sie mitten im Umzug einfach Stress hat und es mir später erzählt, vielleicht heute. Aber bislang ist das nicht passiert.“
In diesem Moment kam Matt mit mehligen Händen aus der Küche. „Norman, wir sind auf der Suche nach einem Pinsel.“
Norman zog die Brauen hoch. „Ein Pinsel … lass mich mal nachsehen.“ Mit diesen Worten stand er auf und ging in die Küche.
„Was machst du denn für ein Gesicht?“, wandte Matt sich dann an seine Frau.
Sadie seufzte tief. „Tessa hat vorhin für heute abgesagt.“
Fragend runzelte Matt die Stirn. „Warum denn das?“
„Migräne. Die hatte sie früher schon mal ganz übel.“
„Hm“, machte Matt. „Hat sie dir geschrieben?“
Als Sadie bejahte, bat er sie, ihm die Nachricht einmal zu zeigen, und zog dann fragend eine Augenbraue in die Höhe.
„Was soll denn der Satz mit Lindsay?“
„Der ist mir auch aufgefallen“, sagte Sadie.
„Merkwürdig. Sieht ihr gar nicht ähnlich.“
Sadie zuckte mit den Schultern. „Hältst du es für eine Ausrede?“
„Ich weiß es nicht, aber der Satz mit Lindsay ist doch überflüssig. Klingt eher danach, als hätten die beiden großen Spaß miteinander …“
„Ich traue Tessa nicht zu, dass sie mich an meinem dreißigsten Geburtstag versetzt.“
In diesem Moment kehrte Norman ins Wohnzimmer zurück. „Der Pinsel ist jetzt da.“
Matt bedankte sich bei ihm und ging wieder in der Küche. Das trug nicht gerade dazu bei, dass Sadie sich besser fühlte.
Norman blickte Matt hinterher. „Er glaubt es ihr nicht?“
Sadie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich will gerade auch nicht darüber spekulieren.“
„Hast Recht“, sagte ihr Onkel.
Stattdessen beschloss Sadie, Tessa zu antworten. Meine beste Freundin wird mir an meinem dreißigsten Geburtstag sehr fehlen. Gute Besserung.
Sie legte ihr Handy wieder weg und beobachtete Hayley, die vergnügt auf dem Teppich spielte. Erst eine ganze Weile später fiel ihr auf, dass keine Antwort mehr von Tessa kam. Daraus wollte sie jedoch nichts ableiten, denn auch, wenn sie Migräne nicht aus persönlicher Erfahrung kannte, wusste sie doch von Tessa, dass man sich dabei am liebsten vergraben wollte. Einen Stich versetzte diese Absage ihr jedoch trotzdem.
Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, da es an der Tür klingelte. Weil Sadie gerade nichts Besseres zu tun hatte, ging sie zur Tür und achtete weiter mit einem halben Auge auf Hayley. Dann öffnete sie ihrer Kusine Joanna, die mit Tochter Michelle und Freund Jackson eingetroffen war.
„Hey“, begrüßte Jo Sadie erfreut und umarmte sie. „Alles Gute zum Geburtstag!“
„Danke“, sagte Sadie. „Schön, dass ihr schon hier seid.“
Auch Jackson begrüßte sie freundlich und Michelle beeindruckte Sadie immer wieder. Die Kleine war nun schon fast zwei – ihr Geburtstag war am nächsten Tag. Das konnte Sadie unmöglich jemals vergessen.
Joanna und Jackson begrüßten die anderen, während Michelle ganz erstaunt zu Hayley blickte. Jo musste sie ermutigen, ihrer Cousine Hallo zu sagen. Sadie konnte das Fremdeln des Mädchens verstehen, dafür sahen sie einander zu selten.
„Wahnsinn, wie groß sie schon ist“, sagte Joanna über Hayley. „Anfangs wachsen Kinder so unfassbar schnell … tut Michelle ja immer noch.“
„Das geht ja auch noch eine ganze Weile so weiter.“
Sie setzten sich zusammen und plauderten über Kinder. Damit hatte Sadie gerechnet und es war okay für sie. Natürlich setzte es sich fort, als wenig später Gary mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen dazu stieß. Im trauten Kreis der Familie zu sitzen, fühlte sich ganz wunderbar für Sadie an.
Sandra kümmerte sich schließlich ums Mittagessen, wobei Joanna ihr zur Hand ging. Libby war inzwischen fertig mit der Vorbereitung der Kuchen, die nun im Ofen standen. Bald duftete es köstlich im ganzen Haus – nach Kuchen und Mac and Cheese zugleich. Sadie wurde warm ums Herz, als sie sah, wie ausgelassen Libby mit Ben, Nicolas, Michelle und Hayley spielte. Es war so viel Leben im Haus – oder vielmehr im Garten, denn inzwischen tollten die Kinder mit Rusty draußen.
Bevor das Mittagessen fertig war, packte Sadie ihre Geschenke aus. Es rührte sie, welche Mühe die anderen sich gemacht und wie liebevoll sie an sie gedacht hatten. Als sie schließlich zusammen am Tisch saßen, sagte sie das auch laut.
„Man wird nur einmal dreißig“, sagte Gary schließlich mit einem ehrlichen Lächeln. „Genieße es. Ab jetzt geht es bergab!“
Lautes Gelächter war die Antwort. Mit halbem Auge beobachtete Sadie, wie die kleinen Kinder fröhlich im Essen matschten. Das hatte Hayley auch getan, als Matt sie vor dem Mittagessen noch mit Brei gefüttert hatte.
In diesem Moment tat es Sadie leid, dass sie mit Matt und den Kindern so weit entfernt in Los Angeles lebte. Solche Momente hätte sie nur zu gern öfter erlebt, aber auch, wenn es eine FBI-Dienststelle im dreißig Minuten entfernten Modesto gab, war sie dort als Profilerin auf verlorenem Posten. Und von Waterford nach San Francisco waren es hundert Meilen, das war keine diskutable Option. Zwar hätte sie in San Francisco leben und arbeiten können, aber nun besaßen sie das Haus in Los Angeles und Wohnraum in San Francisco war noch viel teurer als in L.A., vor allem auch aufgrund des Silicon Valley. Irgendwie war das alles keine Lösung.
Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, weil Sandra sie ansprach. Sadie erzählte, dass sie noch einen Tag länger bleiben und erst Montag Nachmittag nach Hause fahren würden. Dafür waren sie aber auch Samstag erst gekommen. Sonntags lag ihr Geburtstag in diesem Jahr nicht so günstig wie im letzten.
Sie waren noch nicht lang mit dem Essen fertig, als Matts Vater eintraf. Sadie freute sich sehr, ihn zu sehen. Seit Hayleys Geburt war Mr. Whitman ihr gegenüber nicht mehr nur freundlich, sondern ausgesprochen herzlich. Den Grund war ihr klar, als sie sah, wie Matt mit seinem Vater bei Hayley saß und Mr. Whitman verzückt seine Enkelin beim Spielen beobachtete.
Es war idyllisch. Sadie liebte solche Momente und würde sie niemals als selbstverständlich annehmen, denn sie wusste, dass dem nicht so war. Als wenig später Phil mit seiner Familie eintraf, fühlte sie sich gleich wieder an ihr Leben und ihren Alltag in Los Angeles erinnert – was nicht schlecht war, aber jetzt in Waterford zu sein, schürte eine bisher nicht gekannte Sehnsucht nach einer gewissen Einfachheit.
Man überreichte ihr tolle Geschenke, gratulierte ihr von Herzen und die 30 auf einem von Libbys tollen Kuchen erinnerte sie daran, warum sie eigentlich dort war. Dreißig Jahre und sie war nun beim FBI und Mutter. Es gab vieles, auf das sie stolz sein konnte.
Um Hayley musste sie sich an diesem Tag nicht kümmern, überall war jemand, der auch noch etwas von der Kleinen erhaschen wollte. Dafür war Sadie alles andere als undankbar.
Als die anderen ihr das unvermeidliche Ständchen gebracht hatten, setzten sie sich gemeinsam an den Kaffeetisch. Anschließend schnappte sich Sadie doch einmal selbst ihre Tochter und ging mit Hayley auf dem Arm nach draußen auf die Veranda. Wenige Minuten später tauchte Phil neben ihr auf.
„Amelia gefällt es hier“, sagte er. „Aber ich mag es auch immer wieder. Los Angeles ist so riesig und laut.“
Sadie grinste. „Genau diese Gedanken habe ich mir vorhin auch gemacht. Liegt das an unseren Kindern?“
„Vielleicht“, sagte Phil.
„Alyssa macht sich gut.“
„Erstaunlicherweise. Sie kriegt schon den ersten Zahn, da hatten wir die Tage ziemliches Geschrei.“
„Oh, ich erinnere mich an das Elend“, sagte Sadie.
„Es ist schön, dass die beiden in einem ähnlichen Alter sind.“
„Das stimmt. Auch wenn vier Monate gerade noch ein sehr großer Unterschied sind.“
„Ja … das, was deine Tochter schon kann, möchte Alyssa gern.“
Sadie lächelte und gab Hayley einen Kuss auf die Wange.
„Kommt Tessa eigentlich nicht?“, fragte Phil.
„Nein … sie hat abgesagt. Migräne.“
„Schade. Hat sie Probleme damit?“
„Ja, gelegentlich. Ist so ein Frauenproblem, wenn du verstehst.“
„Ah“, machte er wissend. „Damit kenne ich mich inzwischen besser aus, als mir lieb ist!“
Sadie grinste. „Wir Frauen sind nicht zu beneiden, was?“
„Ach, wir Männer auch manchmal nicht … was macht Tessa eigentlich gerade? Du hast mir nur erzählt, dass sie nicht mehr mit ihrer Freundin zusammen ist und nach San Francisco zieht.“
Sadie nutzte die Gelegenheit, ihm etwas detaillierter davon zu erzählen, so dass er schließlich nickte.
„Klingt ganz danach, als befände sie sich im Umbruch“, schloss er.
„Ja, sehr. Im Moment macht sie sich wirklich sehr rar.“
„Siehst du eure Freundschaft in Gefahr?“
„Nein, aber sie fehlt mir gerade. Und wenn ich mal überlege, dass ihr extra aus Los Angeles mitgekommen seid …“
„Hey.“ Ungeachtet der Tatsache, dass Hayley immer noch auf Sadies Arm saß, umarmte Phil seine Freundin. „Tessa ist vielleicht deine beste Freundin, aber sind wir nicht mindestens genauso gut befreundet? Vielleicht nicht so lang. Aber du hast mir schon das Leben gerettet.“
„Du hast meins auch schon gerettet, Phil. Du hast … nein, lass uns nicht wieder davon anfangen. Ich bin dir einfach weiterhin dankbar.“
Er lächelte. „Gern geschehen.“
„Danke, Phil.“
Er klopfte ihr auf die Schulter, was in diesem Moment guttat. Tessas unpersönliche Absage hatte sie härter getroffen, als sie wahrhaben wollte. Umso schöner war es, zu wissen, dass sie noch andere tolle Freunde hatte.
„Ist nicht nächste Woche die Verkündung des Strafmaßes für Brian Leigh?“, fragte Cassandra, nachdem sie vom Schreibtisch aufgeblickt hatte.
„Richtig“, sagte Sadie. „Ich bin gespannt, ob sie ihn tatsächlich zum Tode verurteilen.“
„Was glaubst du?“
„Dass sie es tun“, sagte Sadie.
„Ungeachtet der Tatsache, dass er erst neunzehn ist?“, fragte Cassandra.
„Ja, weil er abgebrüht und kaltblütig vorgegangen ist. Natürlich hat er es nie geleugnet und sein Pflichtverteidiger hat verdammt gute Arbeit abgeliefert, aber du weißt doch, wie Geschworene ticken. Er hat monatelang das LAPD genarrt, er hat das durchdacht und kaltschnäuzig angestellt. Außer seinem Werdegang gibt es wenig entlastende Argumente für ihn.“
„Was auch immer daran entlastend sein soll“, sagte Cassandra. „Viele Menschen haben keine schöne Kindheit.“
„Eben. Nein, ich glaube, das geht nicht gut für ihn aus.“
„Hat Libby etwas dazu gesagt?“
„Außer, dass sie sich betrogen und zugleich verraten gefühlt hat? Sie hasst ihn dafür, dass er gewillt war, sie mit in den Tod zu reißen. Ich glaube, sie hat kein Mitleid.“
„Hatte ich auch nicht erwartet“, sagte Cassandra. „Sie ist dir verdammt ähnlich, weißt du das?“
Sadie lächelte. „Das denke ich mir ständig. Ich bin froh, dass wir sie adoptiert haben.“
„Das ist wahnsinnig toll von euch. Ihr habt jetzt so eine wundervolle Familie. War es seltsam für sie, ihren Namen zu ändern?“
„Kein Stück“, sagte Sadie. „Sie hat den Namen Whitman so gern angenommen wie ich seinerzeit.“
„Verständlich“, sagte Cassandra. „Und ihr fahrt morgen wieder nach Waterford?“
Sadie nickte. „Ich habe mit Hank abgesprochen, dass ich um drei gehen kann, dann schaffen wir es bis abends zu meinem Onkel.“
„Du hast es gut, jetzt wieder im selben Bundesstaat zu leben wie deine Familie. Nach New Jersey ist es so verdammt weit.“
„Ich weiß noch, wie das war, als ich in Virginia war. Allein die Zeitverschiebung.“
„Ja … unser Land ist so verrückt groß!“, sagte Cassandra und lachte.
„Was habt ihr für den Independence Day geplant?“, erkundigte Sadie sich. Sie wollte mit ihrer Familie die Gelegenheit nutzen und ein paar Tage bei der Verwandtschaft verbringen. Fünf ganze Tage in Waterford – das hörte sich himmlisch an. Sogar Libby freute sich. Soweit Sadie wusste, wollte Phil mit seiner Familie ebenfalls hinfahren, aber dazu wollte sie ihn abends noch einmal anrufen.
Cassandra wollte Sadies Frage gerade beantworten, als Sadies Handy auf dem Schreibtisch zu vibrieren begann. Als sie den Namen auf dem Display las, zog sie die Augenbrauen hoch. Es war Tessa.
„Entschuldige mich“, sagte sie zu Cassandra und nahm den Anruf an. Mit dem Handy in der Hand begab sie sich in eine ruhigere Ecke des Büros.
„Tessa“, sagte sie und versuchte, es nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen. Was nicht unangebracht gewesen wäre, denn seit der knappen Textnachricht, die Tessa an ihrem Geburtstag geschickt hatte, war kein Lebenszeichen von ihr gekommen. Nichts. So viel zum Thema Nachholen.
Sie hörte ein Schniefen am anderen Ende der Leitung. „Sadie?“
„Ich bin hier. Was ist los?“
„Ich … ich hab Angst“, stammelte Tessa und schluchzte. „Jemand muss mir helfen …“
Sadie schluckte und versuchte, sich zu konzentrieren, ruhig zu bleiben. „Was ist los? Wo bist du?“
„Im Krankenhaus … Ich glaube, nur du kannst mir jetzt noch helfen.“
„Warum denn? Was ist passiert?“ Sadie verstand kein Wort.
„Ich weiß auch nicht, aber … jemand verfolgt mich. Ich glaube, er will mich umbringen. Sadie …“
„Und du bist im Krankenhaus? Was ist passiert?“
„Man hat mir gedroht, jemand ist bei mir eingebrochen und ich wurde fast überfahren … Sadie, du bist meine letzte Hoffnung. Meine einzige Hoffnung! Bitte …“
„Du wurdest angefahren? Man hat dir gedroht? Was …“ Sadie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, was ihr nicht leicht fiel.
„Das kann ich dir jetzt nicht sagen, Sadie. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Und du … du bist beim FBI. Du bist meine Freundin, ich meine … ich war blöd an deinem Geburtstag, aber ich hoffe, du bist noch meine Freundin …“
„Hey, ganz ruhig“, versuchte Sadie, auf Tessa einzureden. „Bist du verletzt?“
„Nein, ich meine … nicht sehr. Ein paar Schürfwunden. Von einer Gehirnerschütterung ist die Rede. Ich soll hierbleiben, aber ich weiß nicht, ob das gut ist … bin ich hier sicher? Was soll ich tun?“
Es fiel Sadie nicht leicht, aus Tessas hysterischem Gestammel schlau zu werden. „Hat es mit deinem Job zu tun?“
„Nein, ich meine … keine Ahnung. Nicht direkt. Ich weiß nicht.“
Sadie rieb sich die Stirn. Das war nicht hilfreich. „Und du glaubst, jemand verfolgt dich?“
„Ja … Sadie, kannst du nach San Francisco kommen? Ich würde dich nicht bitten, wenn ich einen anderen Ausweg wüsste, aber ich habe echt Angst. Mit dir würde ich mich sicher fühlen. Du kannst mir helfen.“
„Wenn du meinst“, sagte Sadie, die sich etwas überfordert fühlte. „Ich kann sehen, dass ich einen Flug kriege. In welchem Krankenhaus bist du?“
Tessa sagte es ihr und bedankte sich mehrmals, dann beendete Sadie das Gespräch und setzte sich an ihren Rechner, um Flüge von Los Angeles nach San Francisco herauszusuchen. Sie wusste, täglich gingen zahlreiche Maschinen in die wundervolle Stadt mit der Golden Gate Bridge und besonders teuer waren diese Flüge auch nicht. Nun galt es nur noch, einen Platz zu kriegen. Das könnte schwierig werden.
Doch bevor sie sich darum kümmerte, beschloss sie, mit Matt zu sprechen. Er war nun seit einiger Zeit wieder zu Hause mit Hayley. Sie war im Februar ins Büro zurückgekehrt und Matt hatte seine Elternzeit dann wieder fortgesetzt. Sehr lange würde er das nicht mehr tun, bald schon wurde Hayley ein Jahr alt und würde dann zu einer Tagesmutter gehen. Das kostete zwar ordentlich Geld, aber Matt konnte nicht ewig aussetzen.
Cassandras fragende Blicke ignorierte sie, als sie zum Telefon griff, denn tatsächlich hatte sie jetzt keine Zeit für zusätzliche Erklärungen. Wenn sie einen Flug kriegen wollte, dann bald.
„Geliebte Ehefrau“, begrüßte Matt sie am Telefon. Im Hintergrund kreischte Hayley lautstark, aber es klang vergnügt.
„Matt, ich muss mit dir reden“, sagte Sadie. „Es ist wegen Tessa.“
„Tessa? Deine verschollene beste Freundin?“, sagte er nicht ohne eine gewisse Stichelei.
„Ja, aber darum geht es jetzt nicht. Sie hat mich gerade angerufen und klang wirklich verängstigt. Was genau los ist, weiß ich nicht, aber sie fühlt sich verfolgt und hat mich von einem Krankenhaus aus angerufen. Sie braucht meine Hilfe.“
„Hm“, machte Matt. „Klingt ja seltsam.“
„Ja, ich weiß auch nicht viel mehr, aber ich mache mir Sorgen. Sie hatte große Angst. Was auch immer da los ist – ich will versuchen, ihr zu helfen. Wäre es in Ordnung für dich, wenn ich jetzt versuche, einen Flug nach San Francisco zu kriegen? Du müsstest dann natürlich allein auf Hayley aufpassen und meine Sachen für morgen mit packen, aber …“
„Ach, wenn das alles ist“, sagte Matt. „Wenn du zu ihr fliegen willst, dann mach ruhig.“
„Danke, Matt. Ich halte dich auf dem Laufenden.“
„Ich bitte darum. Wir sehen uns dann morgen Abend.“
„Auf jeden Fall. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch“, erwiderte Matt, dann legte Sadie auf. Cassandra bedachte sie derweil mit einem fragenden Blick.
„Tessa ist deine beste Freundin, oder?“
Sadie nickte. „Irgendwas ist nicht in Ordnung bei ihr.“
„Wenn deine feine Nase das sagt, solltest du der Sache nachgehen“, fand Cassandra.
„Das mache ich jetzt auch“, sagte Sadie und rief am Flughafen an, um zu erfahren, ob sie noch einen Flug nach San Francisco bekam. Tatsächlich hatte sie Glück und ergatterte einen der letzten beiden Plätze in der Maschine, die um halb sechs ging. Das würde sie schaffen.
Sie buchte den Flug und ging zu Hank, um ihm zu sagen, dass sie früher gehen musste. Ihr Chef nickte bloß, denn er wusste, Sadie hatte ihre Gründe. Um so etwas bat sie ihn nur, wenn es wichtig war.
In Windeseile suchte sie ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Zum Glück musste sie nicht mehr nach Hause, um ihren Pass zu holen, weil sie ihren Führerschein natürlich dabei hatte – und vermutlich tat ihr FBI-Dienstausweis es auch.
So fuhr sie direkt zum Thomas Bradley International Airport, parkte dort ihr Auto im Kurzzeitparkhaus und schrieb Matt eine Nachricht, in der sie ihn bat, mit Libbys Hilfe ihr Auto wieder abzuholen. Vor zwei Wochen hatte Libby nämlich ihre Führerscheinprüfung bestanden und durfte nun auch endlich fahren.
Sie war schon sechzehn. Sadie konnte kaum fassen, wie schnell die Zeit verging. Libby lebte nun schon anderthalb Jahre bei ihnen. Und Hayley feierte auch bald schon ihren ersten Geburtstag …
Bei der Sicherheitskontrolle war Sadie ganz ohne jedes Gepäck im Vorteil. Sie wusste noch nicht, wo und wie sie die Nacht verbringen sollte, aber das würde sich finden. Darüber machte sie sich jetzt keine großen Sorgen.
Die machte sie sich vielmehr um Tessa. Ihre Freundin hatte sich in den letzten Monaten ungewöhnlich verhalten und Sadie wurde das Gefühl nicht los, dass das alles miteinander zu tun hatte. Wenn Tessa sich verfolgt fühlte, wollte sie natürlich am Telefon nichts darüber sagen. Umso gespannter war Sadie darauf, was eigentlich im Busch war.
Im Wartebereich am Gate lehnte sie mit vor der Brust verschränkten Armen an einer Säule und überlegte. Die neue Freundin? Der Job? Etwas aus dem Studium? Tessa war ein Nerd – war sie im Netz auf etwas gestoßen, das nicht für ihre Augen bestimmt war?
Endlich durfte sie ins Flugzeug. Mit leichter Verspätung hob der Flieger schließlich ab in Richtung San Francisco. Tatsächlich war sie diese Strecke nie zuvor geflogen, denn von Waterford nach San Francisco brauchte man ja auch gut zwei Stunden – da konnte man besser gleich nach Los Angeles fahren. Aber dorthin wollte sie ja jetzt gar nicht, sie wollte direkt nach Frisco, wie die Einheimischen die Stadt gern nannten. Sie liebte die Stadt. Dort war es einfach wundervoll.
Der Flug dauerte eine gute Stunde. Vom nächsten Fenster aus konnte Sadie die Bay Area noch sehen, während der Flieger eine Schleife zog und schließlich zur Landung ansetzte. Eine Viertelstunde später beim Verlassen des Flugzeugs war Sadie froh, sich weder mit Handgepäck noch mit Koffer befassen zu müssen. Vor dem Terminal winkte sie kurzerhand ein Taxi heran und ließ sich zum UCSF Medical Center am Fuße der Twin Peaks bringen. Es überraschte Sadie nicht, dass auf dem Highway die Hölle los war und sie über eine halbe Stunde für die knapp fünfzehn Meilen brauchten. Die Fahrt führte sie ein gutes Stück direkt an der Bucht entlang, sie konnte die Bay Bridge und die San Mateo Bridge von weitem sehen, beide wundervoll angestrahlt von der sinkenden Sonne.
Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht, bezahlte den Fahrer und stieg aus. Zum Glück hatte Tessa ihr gesagt, wo genau sie sich befand, denn das Gelände dieses Krankenhauses war riesig und Sadie hätte dort lange herumlaufen und suchen können. So war sie jedoch gleich an Ort und Stelle – zumindest glaubte sie das. Tessa hatte ihr gesagt, dass man ihr ein Zimmer auf der allgemeinen Station geben wollte, doch als Sadie dort nach ihr fragte, verneinte die Schwester.
„Miss Henderson wurde als Akutfall auf der psychiatrischen Station aufgenommen“, sagte sie nach einem Blick in den Computer.
„Psychiatrie?“, fragte Sadie.
„Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen – nur, wo Sie Miss Henderson finden.“
Sadie ließ sich Station und Zimmernummer sagen und machte sich auf den Weg ins entsprechende Gebäude. Zum Glück lag es nicht allzu weit entfernt.
Psychiatrie. Das wurde ja immer interessanter.
Sie verbot sich alle voreiligen Gedanken, während sie auf die Suche nach Tessa ging. Schließlich hatte sie das Zimmer gefunden und klopfte zaghaft. Tatsächlich war es ein Einzelzimmer, was Sadie überraschte.
„Tessa?“, fragte sie und ging weiter ins Zimmer hinein. Es war leer, der Fernseher ausgeschaltet.
Dann öffnete sich neben ihr die Badezimmertür. Zum Vorschein kam Tessas schreckhaftes Gesicht. Misstrauisch schaute sie sich um, dann blickte sie an Sadie von Kopf bis Fuß herunter und stürmte schließlich aus dem Bad, um ihre Freundin zu umarmen.
„Du bist schon hier“, stieß sie erleichtert hervor. „Danke …“
„Ich hatte Glück mit dem Flug“, sagte Sadie. „Lass dich mal ansehen.“
Tessa löste sich langsam wieder von ihr und blieb mit gesenktem Blick vor ihr stehen. Sie trug ein Kapuzenshirt und Jeans, das Shirt hatte Blutflecken. An Stirn und rechter Augenbraue hatte sie Pflaster, ebenso am Kinn. Einige weitere Schürfwunden verunzierten ihr Gesicht, ihre Haare standen wirr. Sie war blass, ihre Augen seltsam blutunterlaufen. An einer Hand hatte sie einen mit Pflastern festgeklebten Zugang.
„Was machst du denn bloß?“, sagte Sadie kopfschüttelnd.
„Deine Dienstwaffe hast du nicht mit, oder?“, fragte Tessa.
Sadie verneinte. „Ich saß vorhin in einem normalen Verkehrsflugzeug. Die hätten mir was erzählt. Ich bin gleich aus dem Büro gekommen, wie du siehst … ich habe nicht mal Gepäck dabei.“
„Oh Gott … Sadie …“ Tessa begann zu schluchzen. „Ich hätte dich nicht angerufen, wenn ich gewusst hätte, wen ich sonst fragen soll.“
„Was ist mit deiner Freundin? Mit Lindsay?“, fragte Sadie.
„Sie ist beruflich unterwegs. Ich habe sie noch gar nicht erreicht.“ Tessa schniefte und wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang. „Aber das macht eigentlich nichts. Bei dir fühle ich mich viel sicherer. Es ist so gut, dass du schon da bist.“
„Natürlich. Wir sind Freunde, Tessa. Bei dir steht alles Kopf, aber ich helfe dir. Wir kriegen das wieder hin.“ Als Sadie Anstalten machte, zum Bett zu gehen, setzte auch Tessa sich langsam in Bewegung. Sie versteckte die Hände in der Tasche ihrer Kapuzenjacke und nahm mit hochgezogenen Schultern auf der Bettkante Platz. Misstrauisch blickte sie sich um. „Es kann kein Zufall sein, dass ich jetzt in der Psychiatrie gelandet bin, oder? Vielleicht will mich jemand belauschen.“
Irritiert musterte Sadie ihre Freundin. Sie litt tatsächlich unter Verfolgungswahn. „Glaubst du das wirklich?“
„Kann doch sein, ich … ich wollte dich eigentlich gestern schon anrufen, aber dann habe ich nicht … ich hätte es tun sollen. Du hättest etwas damit anfangen können.“
„Womit?“, fragte Sadie. Als in diesem Moment die Zimmertür geöffnet wurde, zuckte Tessa zusammen und sprang auf. Ein junger Arzt lateinamerikanischer Herkunft kam in Begleitung einer Schwester herein.
„Die Schwester sagte mir, dass Sie Ihr Abendessen verweigert haben, Miss Henderson“, begann er und wurde dann erst auf Sadie aufmerksam. Freundlich nickte er ihr zu.
„Ich würde gern mit Miss Henderson allein sprechen“, sagte er.
„Sadie geht nicht raus“, knurrte Tessa und griff nach Sadies Hand. „Sie bleibt hier.“
„Wie Sie wünschen“, sagte der Arzt. „Die Schwester sagte mir, Sie hätten Angst, vergiftet zu werden.“
„Da roch etwas so komisch“, sagte Tessa verzweifelt. „Ich hab total Hunger, aber was, wenn mich das umbringt?“
Sadie war sprachlos. Nie zuvor hatte sie Tessa so erlebt.
„Niemand hier will Sie umbringen, Miss Henderson“, sagte der Arzt geduldig. „Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.“
„Das kann ja jeder sagen“, erwiderte Tessa.
„Sie sind aufgebracht, das verstehe ich. Leider müssen wir noch auf die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung warten, bevor wir gezielter behandeln können, aber fürs Erste …“
„Ich brauche keine Behandlung!“, rief Tessa. „Ich entlasse mich gleich selbst.“
„Das sollten Sie tunlichst unterlassen. In diesem Zustand kann ich das nicht befürworten.“
„In welchem Zustand wären Sie denn, wenn jemand versucht, Sie umzubringen?“ Mit diesen Worten brach Tessa in Tränen aus. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann heftig zu schluchzen.
Irritiert beobachtete Sadie die Szene. Der Arzt nickte der Schwester zu, die zu Tessa ging und versuchte, sie zu beruhigen.
„Ich muss mich nicht beruhigen!“, schrie Tessa. „Lasst mich doch einfach in Frieden …“
„Sie brauchen Ruhe“, sagte die Schwester. „Bitte legen Sie sich aufs Bett.“
„Ich will weg hier. Geht! Lasst mich einfach …“
„Ich kann Ihnen ein Beruhigungsmittel anbieten.“
„Nein!“ Jetzt brüllte Tessa. Sie war vollkommen aufgelöst. Zwar hatte Sadie keine Ahnung, was los war, aber sie hatte nicht vor, ohne genauere Kenntnisse dem Arzt oder der Schwester ins Handwerk zu pfuschen. Toxikologischer Bericht … inzwischen hatte sie einen Verdacht.
Sie blieb neben dem Bett stehen und redete beruhigend auf Tessa ein, während der Arzt der Schwester zu Hilfe kam und Tessa festhielt, so dass die Schwester Tessa eine Spritze setzen konnte. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis Tessas Körper erschlaffte und sie schwer auf die Matratze sank.
„Was machen Sie mit mir?“, fragte Tessa mit schwerer Zunge.
„Sie sollten schlafen“, sagte der Arzt. Tessas Blick wurde glasig, ihre Augenlider schwer. Arzt und Schwester warteten gemeinsam, bis Tessa weggedämmert war. Fassungslos beobachtete Sadie die Szene. Der Arzt hatte sich kaum zum Gehen gewandt, als sie sich an seine Fersen heftete und ihn auf dem Flur aufhielt.
„Was ist hier los?“, fragte sie besorgt.
„Gehören Sie zur Familie?“
Sadie schüttelte den Kopf, griff aber gleichzeitig nach ihrem Portemonnaie und hielt ihm ihren FBI-Dienstausweis unter die Nase. „Tessa ist eine Freundin aus Schultagen. Sie hat mich vorhin verängstigt angerufen und gebeten, herzukommen. Mehr weiß ich nicht.“
Der Arzt rang sichtlich mit sich und schaute sich um. Als die Schwester außer Hörweite war, begann er mit gesenkter Stimme: „Miss Henderson wurde heute Mittag mit leichten Verletzungen und Verdacht auf Gehirnerschütterung eingeliefert. Sie ist vor ein Auto gelaufen und kann froh sein, dass nicht noch mehr passiert ist. Der Alkoholtest war negativ, aber ich bin nicht sicher, ob sie etwas genommen hat.“
„Wer, Tessa?“, fragte Sadie stirnrunzelnd. „Sie nimmt keine Drogen.“
„Morgen wissen wir mehr, da erwarte ich das Ergebnis des Tox-Screenings. Miss Henderson scheint keine Vorgeschichte zu haben, aber sie hatte vorhin heftiges Nasenbluten. Ich bin ziemlich sicher, dass sie etwas genommen hat.“
Sadie schluckte. „Okay … Was vermuten Sie?“
„Eine drogeninduzierte paranoide Episode“, sagte der Arzt. „Sie leidet unter heftigem Verfolgungswahn. Wenn ich morgen endlich weiß, was sie genommen hat, können wir sie gezielt behandeln.“
„Hat sie denn nichts gesagt?“
„Nein, sie meinte auch, sie würde keine Drogen nehmen. Sie sprach nur die ganze Zeit davon, dass man sie umbringen will. Wenn sie erst mal wieder von ihrem Trip runter ist, wird sich das von selbst geben.“
Der Pieper des Arztes machte sich bemerkbar, so dass er sich verabschiedete, bevor Sadie noch etwas fragen konnte. Mit offenem Mund stand sie da und blickte ihm hinterher.
Tessa und Drogen – das fand sie so abwegig wie nur was. Allerdings musste sie zugeben, dass Tessa sich in letzter Zeit tastsächlich irgendwie seltsam verhalten hatte.
Weil sie ohnehin nichts Besseres tun konnte, kehrte sie ins Zimmer zurück und blieb neben dem Bett stehen. Besorgt begutachtete sie Tessa, die wie narkotisiert schlief und auf gar nichts mehr reagierte.
Dann versuchte Sadie, zu überprüfen, was der Arzt gesagt hatte. Schnupfte Tessa irgendwelche Drogen?
Sadie versuchte, ihrer Freundin in die Nase zu schauen, erkannte jedoch nichts außer getrocknetem Blut. Das entlastete Tessa nicht unbedingt.
Seufzend setzte Sadie sich ans Bett ihrer Freundin und griff nach Tessas eiskalter Hand. Für einen Augenblick sah sie Tessa einfach nur an, dann schüttelte sie den Kopf.
„Was machst du nur?“, murmelte sie besorgt.
Sie musste sich überwinden, um schließlich das Zimmer und das Krankenhaus zu verlassen, aber sie konnte hier ja nicht über Nacht bleiben. Als sie vor dem Gebäude stand und ihr Handy herausholte, um nach Hotels in der Umgebung zu suchen, kroch gerade der Pazifiknebel an der Golden Gate Bridge vorbei in die San Francisco Bay hinein. Es war kühl geworden, aber es war nicht ungewöhnlich, dass in San Francisco auch Anfang Juli die Temperaturen mitunter etwas unterkühlt waren. Sadie störte es nicht, für sie war San Francisco die schönste Stadt der Welt. Sollte das FBI dort jemals einen Profiler brauchen, war sie zur Stelle …
In einer halben Meile Entfernung fand sie ein Hotel. Im Internet erfuhr sie nicht mehr darüber, aber es war ihr gleich. Sie wollte dort nur schlafen. Beherzt machte sie sich dorthin auf den Weg und war bei ihrer Ankunft versucht, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Das Gebäude war leicht heruntergekommen und es wurde laut Schild kein Frühstück angeboten, aber wenigstens waren die Zimmer billig.
Also fasste sie sich ein Herz und nahm sich ein Zimmer. An der Rezeption half man ihr mit ein paar Kosmetika und einer Bürste aus, was ihr für diesen Moment reichte. Doch als sie das Zimmer betrat, war sie schon im Vorhinein froh, dort nur eine Nacht verbringen zu müssen. Es war winzig, nicht sehr gemütlich und auch nicht besonders sauber, aber für eine Nacht würde es schon gehen. Es gab nicht einmal einen Fernseher. Doch gegen manche Dinge, die sie in der Vergangenheit erlebt hatte, war das hier der pure Luxus.
Auf dem Hinweg hatte sie ein kleines Diner entdeckt, keine zwei Minuten Fußweg entfernt. Sadie beschloss, zum Abendessen dorthin zu gehen. Inzwischen war es halb neun und sie hatte wirklich Hunger. Wenigstens war das Essen wirklich gut, wie sie wenig später feststellen durfte. Während sie aß, wurde es draußen ganz dunkel und sie konnte die Lichter der Skyline von San Francisco erahnen. Es war schön – aber trotzdem konnte sie es nicht genießen. Sie war ganz in Gedanken und ging jede Sekunde ihrer recht kurzen Begegnung mit Tessa durch.
Tessa hatte nie Drogen genommen – zumindest wusste Sadie nichts davon. Und sie wusste viel über Tessa. Bei ihr hatte Tessa ihr Coming Out gehabt, mit ihr hatte sie über ihre Freundinnen, ihre Sehnsüchte, ihr Empfinden Frauen gegenüber gesprochen. Sadie wusste auch, mit wem Tessa ihr erstes Mal gehabt hatte. Tessa hatte nie Probleme damit gehabt, ihr davon zu erzählen. Durch sie hatte Sadie keinen schlechten Einblick in die Lesbenszene des nördlichen Kalifornien gewonnen und zum Glück für Tessa war es ja so, dass die Nähe zu San Francisco sich diesbezüglich auszahlte. Sie konnte nicht nur als Lesbe ziemlich unbehelligt dort leben, sondern hatte auch nie Schwierigkeiten gehabt, in der Szene Kontakte zu knüpfen.
Aber Drogen? Nein. Sadie war ziemlich sicher, dass sie das irgendwann gemerkt hätte und außerdem war Tessa nicht der Typ dafür.
Zumindest nicht die Tessa, die sie bislang gekannt hatte. Vielleicht hatte sich etwas geändert. Durch Lindsay. Wer wusste das schon?
Drogeninduzierte paranoide Episode … so ungefähr hatte das für Sadie auch ausgesehen, aber noch wusste sie ja nicht viel.
Als sie fertig war, machte sie sich auf den Rückweg in ihr trostloses Hotelzimmer und rief dann zu Hause an. Sie hatte Matt gleich am Telefon.
„Gut, dass du anrufst“, sagte er. „Wie war dein Flug? Wie geht es Tessa?“
„Ich weiß nicht … mir schwirrt der Kopf“, sagte Sadie. „Der Flug war in Ordnung, ich war um kurz nach sieben schon bei ihr im Krankenhaus.“
„Wir haben übrigens vorhin noch dein Auto abgeholt. Libby fährt schon ganz ordentlich“, berichtete Matt.
„Sollte man meinen, schließlich hat sie den Führerschein. Ist sie in ihrem Zimmer?“
„Ja. Hayley schläft schon. Ich habe es mir unten auf dem Sofa gemütlich gemacht.“
„Gemütlich klingt toll … ich habe eine Bruchbude von Hotel entdeckt, aber für diese Nacht muss es reichen.“
„Oh je … wie willst du morgen nach Waterford kommen?“
„Weiß ich noch nicht“, sagte Sadie. „Ich glaube, bis Tracy kommt man von hier aus noch ganz gut.“
„Kann sein. Erzähl mal von Tessa.“
„Da kann ich eigentlich gar nicht viel erzählen … Ich war noch nicht lang da, als der Arzt sie sediert hat.“
„Oh“, machte Matt.
„Und sie war nicht mehr auf der allgemeinen Station, sondern in der Psychiatrie.“
Für einen Moment war es still am anderen Ende. „Was ist denn da bloß los?“
„Frag mich was Leichteres. Sie hatte sich im Bad versteckt, als ich ankam, und fiel mir um den Hals, als sei ich der Erlöser. Sie hat mich gefragt, ob ich meine Waffe dabei habe und hatte Angst, man könnte sie abhören. Dann kam ein Arzt, weil sie ihr Abendessen nicht angerührt hat. Sie hatte Angst, man wolle sie vergiften.“
„Was zum Teufel … klingt so, als sei sie nicht ganz falsch in der Psychiatrie.“
„Nein, nicht wirklich. Sie wurde laut und hysterisch, sprach davon, dass man sie umbringen will. Weil der Arzt die ganze Zeit da war und sie dann sedieren ließ, konnte sie mir gar nicht mehr sagen. Das war ziemlich blöd.“
„Du bist also umsonst hingeflogen.“
„Nein, das nicht, aber … ich weiß nicht, was hier los ist. Der Arzt nannte es eine drogeninduzierte paranoide Episode.“
„Drogeninduziert?“, fragte Matt. „Tessa nimmt Drogen?“
„Ich weiß doch nichts über ihre neue Freundin. Vielleicht nehmen die beiden wirklich Drogen zusammen.“
„Hat Tessa was dazu gesagt?“
„Der Arzt meinte, sie hat es abgestritten.“
„Hm“, machte Matt. „Sehr seltsam.“
„Ja … ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Tessas Angst kam mir echt vor.“
„Hattest du den Eindruck, sie war stoned?“, fragte Matt. Während Sadie noch überlegte, fügte er hinzu: „Du weißt, wie das aussieht. Bei mir hast du es sofort gemerkt.“
„Stimmt“, sagte Sadie, die so weit noch gar nicht gedacht hatte. Sie überlegte kurz. „Ganz ehrlich? Nein. Sie war panisch, aber völlig klar.“
„Du musst mehr über ihre Freundin herausfinden.“
„Das denke ich auch … ich weiß einfach zu wenig. Tessa hat ein Problem, das war offensichtlich. Worum es eigentlich geht, weiß ich immer noch nicht.“
„Das findest du schon heraus. Du hast bislang immer Antworten gefunden.“
„Ja … ich hoffe, ich kann ihr helfen. Morgen weiß ich sicher mehr.“
Das hoffte Sadie wirklich. Sie machte sich große Sorgen um Tessa.
Sadie erwachte früh am Morgen, als ein Krankenwagen mit lautem Sirenengeheul vorbeifuhr. Sie nahm es zum Anlass, gleich aufzustehen. Es fühlte sich seltsam für sie an, wieder in ihre Bluse und ihre schicke schwarze Hose zu schlüpfen, aber sie hatte ja keine andere Kleidung dabei.
Sie war froh, als sie das Hotel verließ und sich auf den Weg zur Uniklinik machte. Zum Frühstück holte sie sich im selben Diner wie am Vorabend einen Bagel und Saft. Das musste erst mal reichen. Tessa lag gerade allein auf ihrem Zimmer und hatte immer noch Angst – Sadie musste zu ihr.
Zehn Minuten später hatte sie das Krankenhaus erreicht. Tessa befand sich zu ihrer Erleichterung immer noch im gleichen Zimmer und saß dort mit trübsinniger Miene auf ihrem Bett. Vor ihr stand ein Tablett mit Frühstück, von dem sie nichts angerührt hatte.
„Hey“, sagte Sadie beim Betreten des Zimmers. Tessa rang sich ein Lächeln ab und beobachtete, wie Sadie sich einen Stuhl heranzog, um sich neben Tessas Bett zu setzen.
„Hey“, erwiderte Tessa gepresst.
„Ich war in einem Hotel in der Nähe“, sagte Sadie. „Hier konnte ich ja schlecht bleiben.“
„Schon klar … es ist nur … das ist alles so surreal.“
„Was denn?“, fragte Sadie.
„Alles einfach … Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Alles ist so verrückt.“
„Du solltest etwas essen.“
Misstrauisch starrte Tessa auf das Tablett. „Ich traue dem Ganzen nicht.“
„Soll ich deinen Vorkoster spielen?“
Das war Tessa dann doch wieder zu dumm. Sie schmierte Marmelade auf ihren Toast und begann zu essen. Sadie aß derweil ihren Bagel.
„Das war blöd gestern Abend“, sagte Tessa. „Du fliegst extra her und dann setzt der Doc mich außer Gefecht.“
„Solange du ihm da nichts unterstellst.“
Tessa zuckte mit den Schultern. „Ich glaub, der ist ganz okay. Aber ich weiß es nicht. Mir hat es in dem Moment gereicht, dass du da warst. Für dich schien das okay zu sein … und bevor ich nachdenken konnte, war ich weg.“
„Ich wusste doch gar nicht, was ich tun soll“, gab Sadie zu. „Weißt du, wie die Diagnose des Arztes lautet?“
Tessa nickte. „Hat er es dir gesagt?“
„Ja. Wenn man den Leuten einen FBI-Dienstausweis unter die Nase hält, werden sie immer sehr gesprächig.“
Das entlockte Tessa ein Grinsen. „Du weißt dir zu helfen, Süße.“
„Drogeninduzierte Paranoia?“
„Was weiß ich“, sagte Tessa achselzuckend. „Ich nehme nichts.“
„Du weißt, du könntest es mir sagen, wenn es so wäre. Erinnere dich an Matt“, versuchte Sadie, sie zu ermuntern.
„Ich nehme nichts“, beharrte Tessa.
„Nimmt Lindsay was?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Hast du sie erreicht?“
„Ja, vorhin habe ich kurz mit ihr telefoniert. Sie ist in Bakersfield, schon seit Sonntag. Sie kommt erst heute Abend oder morgen früh zurück. Das wollte ich auch so, im Moment bist du ja hier. Das reicht mir.“
„Hm“, brummte Sadie. Tessa machte einen vollkommen klaren Eindruck auf sie, aber sie war auf die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung gespannt.
„Lindsay kommt hier aus der Stadt?“, fragte Sadie dann. Sie wollte sich weiter Tessas Verhalten anschauen und sich außerdem ein vollständiges Bild machen. Wenn sie sich erst unverfänglich unterhielten, lockerte das die Stimmung.
„Ja …“ Seufzend ließ Tessa ihren Toast sinken. „Mit meinem Abschluss stand alles Kopf, Sadie. Deshalb habe ich mich so rar gemacht. Ich habe meine Abschlussarbeit geschrieben und Sylvie hat mich kaum noch zu Gesicht bekommen. Irgendwie hat sie das auch nicht verstanden. Ich musste oft zur Uni, habe einen Großteil meines Jahresurlaubs für die Abschlussprüfungen geopfert und war nur noch müde. Bewerbungen habe ich auch geschrieben. Ich habe schnell festgestellt, dass das Valley nach mir ruft, und zwar ziemlich laut … ist ja auch klar. Ich bin auch zu einigen Gesprächen gewesen, in Palo Alto, San Mateo und San Jose … ich weiß gar nicht mehr, wo sonst noch.“
„Geworden ist es dann doch San Francisco“, sagte Sadie.
„Ja, ein ganz junges Unternehmen, gerade zu alt, um noch Start-Up genannt zu werden. Sie haben Fuß gefasst. Die bereiten das nächste große Ding in Sachen Internetsicherheit vor. Als ich die Zusage hatte, habe ich überlegt, wie es weitergehen soll. Die Aussicht, immer aus Livermore nach Frisco pendeln zu müssen, fand ich nicht gut … ich meine, ich weiß, wie teuer hier alles ist. Aber ich wollte gern umziehen und Sylvie hätte als Erzieherin auch problemlos etwas hier gefunden. Nur: Sie wollte nicht. Sie wollte in Livermore bleiben, aber das erschien mir irgendwie … ich weiß nicht. Ich habe mich eingeengt gefühlt. Hier ist die Szene so lebendig und wir hatten sowieso dauernd Streit, deshalb sagte ich, ich will eine Beziehungspause und nehme mir hier erst mal eine eigene Wohnung. Das hat ihr zwar nicht gepasst, aber ich habe tatsächlich ein kleines Apartment in Ingleside gefunden. Du kennst mich, ich brauche nicht viel. Mein Schreibtisch mit Computer passt rein, also ist es in Ordnung.“
Sadie grinste. „Ganz die Alte.“
„Warum auch nicht? Jedenfalls hatte ich den Mietvertrag gerade unterzeichnet, als es hier eine ziemlich berüchtigte Party gab, eine Lesbenparty. Das war am gleichen Abend und ich bin hingegangen. Dort habe ich dann Lindsay getroffen.“
„Sylvie weiß davon?“
Tessa nickte. „Ja, inzwischen schon. Ich habe sie angerufen, um ihr zu sagen, dass ich jemanden kennengelernt habe. Sie hat mir nicht mal bis zum Ende zugehört, sondern einfach aufgelegt.“
Das alles aus Tessas Mund zu hören, war wichtig für Sadie.