Die Seele des Bösen - Nachts kommt der Tod - Dania Dicken - E-Book

Die Seele des Bösen - Nachts kommt der Tod E-Book

Dania Dicken

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Beschreibung

Ein Amtshilfegesuch vom LAPD erreicht FBI-Profilerin Sadie: Eine junge Frau wurde brutal in ihrer Wohnung ermordet und ihr Sohn hat den Täter gesehen – aber er ist zu traumatisiert, um der Polizei zu helfen. Als Sadie sich der Sache annimmt, erkennt sie schnell, dass der Killer sich den berühmten BTK-Killer zum Vorbild genommen hat. Sie findet heraus, dass das nicht seine erste Tat war und weiß, dass es auch nicht die letzte sein wird. Während ihr Familienleben dabei ist, sich komplett auf den Kopf zu stellen, ermittelt sie mit LAPD-Detective Nathan Morris gegen den arroganten Killer. Er nimmt immer wieder Briefkontakt mit den Ermittlern auf und lässt sie wissen, dass er gar nicht daran denkt, das Morden sein zu lassen – und die Ermittler haben keine Spur …

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Veröffentlichungsjahr: 2018

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Dania Dicken

 

Die Seele des Bösen

Nachts kommt der Tod

 

Sadie Scott 13

 

Psychothriller

 

 

 

Hass ist die Rache des Feiglings dafür, dass er eingeschüchtert ist.

George Bernard Shaw

 

 

 

 

Für Eliana

 

 

Freitag, 27. Januar

 

Allein der Anblick des Schulgebäudes machte ihn nervös. 

Dabei ging es ja gar nicht um dieses spezielle Schulgebäude. Er hasste die Schule an sich. Das Eingepferchtsein über Stunden mit anderen Kindern. Das hatte er immer verabscheut. Verstohlene Blick auf dem Schulhof. Gekicher. Getuschel. 

All das kam wieder in ihm hoch, als er auf die Basketballkörbe und die Sitzbänke auf dem Schulhof der Junior High blickte. Im Augenblick war der Hof zwar noch verlassen, aber das würde sich bald ändern, wie er wusste. Nur noch Minuten, bis der Schultag zu Ende war. Und dann ...

Es war eine gute Idee, davon war er überzeugt. Sein Erscheinungsbild würde einen immensen Vorteil darstellen, auch das stand fest. Eigentlich konnte überhaupt nichts schiefgehen. 

Jetzt brauchte er nur noch jemanden für die Durchführung seines schönen Plans.

Es dauerte tatsächlich nicht mehr lang, bis eine melodische Tonabfolge das Ende des Schultages einläutete. Der letzte Ton des Gongs war noch nicht verklungen, als die ersten Schüler unter lautem Geschrei aus dem Gebäude strömten und sich auf den Weg zu den gelben Schulbussen machten, die überall vor der Schule parkten. 

Auf diese Kids achtete er jedoch nicht. Er brauchte eins, das seinen Schulweg allein bestritt. Ein Mädchen im richtigen Alter. Das alles wollte sorgfältig geklärt sein, bevor es losging. Das Alter musste stimmen und auch ihr Aussehen. Das alles war von immenser Bedeutung.

Er beobachtete Grüppchen von Kindern, die das Schulgelände verließen und die unterschiedlichsten Ziele hatten. Manche fuhren mit ihren Fahrrädern davon. Minuten später ebbte das bunte Treiben ab und es kamen nur noch vereinzelt Kinder aus der Schule. Er hoffte, dass diesmal die Richtige dabei sein würde. Ein junges, unschuldiges Mädchen, das die Pubertät noch nicht erreicht hatte. Mit dunklen Haaren ...

Aufmerksam betrachtete er die Kids. Sein Puls beschleunigte sich, als er ein Mädchen mit langen braunen Haaren sah, zwölf oder dreizehn Jahre alt. Das war perfekt. Vielleicht fand er mehr über sie heraus.

Als er sah, dass sie den Heimweg zu Fuß fortsetzte, stieg er schnell aus seinem Wagen und folgte ihr. Auf diesem Weg bemerkte sie ihn hoffentlich nicht. Im Auto konnte er sie schlecht verfolgen.

Arglos lief sie vor ihm her und wirkte dabei so unschuldig. Ihre Haare wehten im Wind. Zwar sah er sie fast nur von hinten, aber er wusste schon jetzt, dass sie perfekt war. Sie war jung. Sie war hübsch. Wie wunderschön würde sie sein, wenn sie starb?

Der Gedanke beruhigte ihn. Sie würde nie eine dieser Gören werden, die jemanden wie ihn ausgrenzten und verspotteten. Dazu würde es nicht mehr kommen. Stattdessen würde sie einem höheren Zweck dienen. Daran konnte er nichts Verwerfliches finden.

Sie hatte einen leicht wiegenden Gang. Ihr Körper war eher noch kindlich denn weiblich, aber das gefiel ihm. Sie war mit Sicherheit noch Jungfrau. Das war wirklich grandios ... vor ihrem Tod würde sie nur ihm gehören. Er wusste ja bereits, was er mit ihr tun wollte.

Tatsächlich hatte sie keinen weiten Weg. Einige Blocks weiter bog sie in eine ruhige Straße ab. Moderne Häuser, Doppelgaragen. Hier wohnten keine armen Leute. Die Eltern dieses Mädchens waren mit Sicherheit wohlhabender als seine es je gewesen waren.

Das machte sie nur noch reizvoller. Ja, je länger er sie betrachtete, desto sicherer wurde er in seiner Wahl.

Schließlich hatte sie ihr Elternhaus erreicht. Sie schloss die Haustür auf und wurde von einem kleinen Hund begrüßt. Dann fiel die Tür ins Schloss.

Während er weiter ging, prägte er sich die Hausnummer und die gesamte Fassade ein. Vor der Tür stand ein Familienvan.

Der Gedanke daran, was er dieser Familie antun würde, ließ ihn seltsam kalt. Er würde Leben nehmen, Leben zerstören.

Er würde sich dieses Mädchen, dessen Namen er noch nicht wusste, schnappen und sie verschleppen. Er würde ihr weh tun. Sie würde weinen und schreien und ihn anflehen, ihr nichts zu tun. Das stellte er sich schon jetzt unwiderstehlich vor.

Natürlich würde er es trotzdem tun. Er würde sie schlagen, sie fesseln, ihr die Kleidung vom Leib reißen und über sie herfallen. Er würde sich Zeit lassen. Ja, damit würde er seine Mordserie beginnen.

Und er konnte es kaum erwarten.

 

 

Samstag, 18. März

 

„Wisst ihr denn schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Es ist uns aber auch ganz egal.“

„Das stimmt - Hauptsache gesund“, stellte die Nachbarin fest, die nun ganz in ihrem Element war. Während Matt in der Auffahrt sein Auto polierte und Sadie das schöne Wetter am Samstagvormittag für ein paar Gartenarbeiten nutzen wollte, hatte die Nachbarin sich angeschlichen und Sadie im Handumdrehen in ein Gespräch verwickelt. Bei der Frage, was es Neues gab, hatte Sadie auch etwas zu berichten gehabt, was die Nachbarin sichtlich mit Aufregung erfüllte.

„Hach, ist das schön, dann ist bald noch mehr Leben bei euch im Haus“, sagte sie. „Ich muss zugeben, ich habe mich ja immer gefragt, ob und wann ihr loslegen wollt, aber danach zu fragen finde ich ja unmöglich. Das gehört sich nicht.“

„Das weiß ich zu schätzen“, sagte Sadie und meinte es so. Die Familienplanung anderer ging ja schließlich niemanden etwas an.

„Wie geht Libby damit um?“

„Sie freut sich mit uns “, sagte Sadie. „Zwischen den Kindern wird es keine Konkurrenz geben. Ich glaube, Libby sieht sich da eher als große Schwester.“

„Das ist doch schön.“

Sadie wollte noch etwas ergänzen, als sie vom Klingeln ihres Handys unterbrochen wurde. Als sie Nathans Namen auf dem Display entdeckte, entschuldigte sie sich. „Da muss ich rangehen.“

„Kein Problem, bis später!“ Schon war ihre Nachbarin wieder verschwunden.

„Hey, Nathan“, meldete Sadie sich am Handy. „Schön, von dir zu hören!“

„Du weißt noch nicht, weshalb ich anrufe“, entgegnete er amüsiert.

„Du wirst es mir bestimmt gleich sagen.“

„Klar, aber zuerst muss ich wissen, wie es dir geht. Alles in Ordnung?“

„Alles bestens. Jetzt, da ich wieder frühstücken kann, ohne dass gleich alles wieder hochkommt ...“ Sie verdrehte noch nachträglich die Augen.

„Ihr Frauen seid wirklich nicht zu beneiden. Bei Matt auch alles in Ordnung?“

„Ja“, sagte Sadie, ohne sich über die Frage zu wundern. Sie und Matt hatten Nathan vor einigen Wochen zum Essen eingeladen und ihn auf den neuesten Stand gebracht. Er wusste von Sadies Schwangerschaft und Matt hatte ihm schließlich selbst erzählt, welche Schwierigkeiten er gehabt hatte. Nathan hatte auch Libby kennengelernt und war somit über alles im Bilde.

„Schön zu hören“, sagte Nathan. „Kommen wir zum unangenehmen Teil: Ich brauche deine Hilfe.“

Sadie grinste wenig überrascht. „Worum geht es?“

„Ich komme gerade von einem sehr unschönen Tatort. Heute Nacht wurde eine junge Frau in ihrem Bett erstickt. Sie war gefesselt und hatte eine Plastiktüte über dem Kopf.“

„Ein Sexualmord?“, fragte Sadie.

„Wissen wir noch nicht sicher, aber der Coroner meinte, es gäbe keine Hinweise auf eine Vergewaltigung.“

„Nicht? Interessant.“

„Fand ich auch. Aber das Interessanteste an dem Fall ist, dass wir einen Zeugen haben.“

„Ach was“, sagte Sadie.

„Der Sohn des Opfers. Er ist kein direkter Tatzeuge, aber der Täter hat ihn im Bad eingesperrt und ich hoffe, dass er uns etwas über den Täter verraten kann.“

„Hast du ihn gefragt?“

„Genau das ist das Problem“, sagte Nathan. „Der Kleine ist völlig traumatisiert. Acht Jahre alt und augenscheinlich unverletzt, aber er steht unter Schock. Wir wurden gerufen, weil er die halbe Nacht lang durchgeschrien hat und die Nachbarn sich gewundert haben. Wir haben ihn dann im Bad und seine tote Mutter auf dem Bett gefunden.“

„Und jetzt weißt du gar nicht, was das Kind alles gesehen hat.“

„Nein, keine Ahnung. Er sitzt hier bei uns und eine meiner Kolleginnen kümmert sich um ihn, aber er hat bis jetzt noch kein Wort gesagt. Wir brauchen jemanden mit psychologischen Kenntnissen. Ich weiß, es ist Wochenende ...“

„Bin schon unterwegs“, fiel Sadie ihm grinsend ins Wort.

„Du bist ein Engel“, sagte Nathan. „Bis gleich.“

Sadie legte auf und blickte nachdenklich ins Nichts. Nathans Schilderung erinnerte sie an etwas.

„Was ist los?“, fragte Matt, der mit einem Blick in den Flur feststellte, dass Sadie immer noch dort stand.

 „Das war Nathan. Heute Nacht wurde eine Frau ermordet und ihr Kind hat den Täter möglicherweise gesehen.“

„Oh ... armes Kind.“

„Mich erinnert Nathans Schilderung an etwas", murmelte sie.

„Wieso?“

„Die Frau wurde gefesselt, erstickt und das Kind ins Bad gesperrt.“ Sadie rieb sich mit den Fingern über die Schläfen, dann plötzlich zeichnete sich Erkenntnis in ihrem Gesicht ab. „Der BTK-Killer.“

„Oh“, machte Matt.

„Ich muss an den Computer.“

Matt nickte bloß und sagte nichts weiter. So etwas kannte er ja schon von seiner Frau. Sadie lief nach oben ins Büro und fuhr ihren Rechner hoch, wo sie auch einen Zugang zu VICAP hatte. Als alles bereit war, öffnete Sadie die Datenbank und gab den Namen Dennis Lynn Rader ein. Sie erinnerte sich nicht auf Anhieb an den Namen des Opfers, aber wenn sie an ins Bad gesperrte Kinder dachte, zog ihre Erinnerung automatisch die Verbindung zum BTK-Killer. Der Datenbankeintrag zu Dennis Rader wurde geöffnet und Sadie scrollte durch die Auflistung von Raders Opfern. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie innehielt.

1977 war Shirley Vian Relford ermordet aufgefunden worden. Ihre drei Kinder hatten die Polizei alarmiert, nachdem sie sich aus dem Bad befreit hatten, in dem Rader sie eingesperrt hatte. Der Killer hatte Shirley gefesselt und mit einer Plastiktüte erstickt.

Weil sie Nathan versprochen hatte, bald da zu sein und weil sie sich außerdem nicht verrennen wollte, schloss sie VICAP wieder und ging nach unten.

„Ist es in Ordnung, wenn ich zu Nathan ins Büro fahre?“, fragte sie Matt.

Er nickte bloß. „Sicher. Mach dir deshalb keine Gedanken. Fahr ruhig mit meinem Auto.“

Sadie lächelte und gab ihm einen Kuss, bevor sie in den Flur lief und sich den Schlüssel vom Challenger schnappte. Sie fuhr über die Interstate 10 ins Zentrum von Los Angeles, was sie aber bald bereute, denn kurz vor dem Ziel geriet sie in einen Stau. Nur langsam rollte die Blechlawine auf ihre Ausfahrt zu, so dass sie schließlich ein Stück des Standstreifens benutzte, um schneller zu sein.

Sie war schon länger nicht in Downtown gewesen und wusste angesichts des hektischen Verkehrs auch gleich, warum sie es überhaupt nicht vermisst hatte. Beim Erreichen des Polizeigebäudes zeigte sie am Parkhaus nur kurz ihren Ausweis und wurde sofort eingelassen. Manchmal vereinfachte es Dinge wirklich, wenn man beim FBI war.

Keine halbe Stunde nach Nathans Anruf war sie auf dem Weg in sein Büro. Sie fand ihn an seinem Schreibtisch, wo er gerade mit seinem Partner Roy in eine Diskussion vertieft war, aber sofort aufschaute, als er sie bemerkte.

„Da bist du ja schon“, sagte er hocherfreut und begrüßte Sadie mit einer halben Umarmung. Sadie schüttelte Roy zur Begrüßung die Hand.

„Gut, dass du hier bist“, sagte Roy. „Bei diesem Tatort mussten wir heute Morgen gleich beide an dich denken.“

„Jetzt bin ich gespannt“, murmelte Sadie.

„Es ist nicht schön“, verriet Nathan vorab und wandte sich seinem Rechner zu. Sadie beobachtete, wie er einen Ordner mit Fotos öffnete, die er ihr nacheinander zeigte.

Es war in einer völlig normalen, durchschnittlichen Wohnung passiert. Sadie erkannte einen verwohnten Teppich und Möbel älteren Datums. Kinderspielzeug lag herum. Schon eins der ersten Fotos zeigte den Leichnam einer Frau auf dem Bett im Schlafzimmer. Sadie stützte sich auf Nathans Schreibtisch und betrachtete die Fotos konzentriert, wechselte über die Tastatur zwischen ihnen hin und her.

Die Tote war nackt, was Sadie wieder zu der Frage zurückführte, ob es ein sexuelles Motiv gab. Der Täter hatte Angela an Händen und Füßen mit Stricken und zusätzlich mit schmalem schwarzem Klebeband gefesselt. Über dem Kopf trug sie eine ebenfalls verschnürte Plastiktüte.

Auf einem der späteren Fotos war die Tüte entfernt worden und Sadie erkannte sowohl Würgemale als auch die charakteristischen Einblutungen in den Augen der Frau. Sie schluckte kurz, als sie das sah, denn das kannte sie schließlich aus eigener Erfahrung – wenn auch nicht ganz so schlimm. Aber gerade erst vor einer Woche hatte sich ihre Entführung durch Sean zum zweiten Mal gejährt.

Entschlossen schob sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Fotos. Die tote Frau hatte die Hände auf dem Rücken gefesselt, ihr Gesicht war furchtbar verzerrt. Die Tüte war innen beschlagen und feucht. Die Fotos zeigten aber auch Aufnahmen ihres Unterleibs, die tatsächlich keinerlei Hinweise auf sexuelle Übergriffe lieferten – zumindest keine offensichtlichen wie Blutergüsse.

Plötzlich wechselte die Szene und Sadie sah Aufnahmen aus dem Bad. Auf dem Boden lagen eine Decke und Spielzeug, außen am Türgriff baumelte noch ein Strick herab, mit dem die Tür von außen verschlossen worden war. Hier hatte der Killer also das Kind eingesperrt.

„Die Tote ist Angela Radford, zweiunddreißig“, erklärte Nathan schließlich. „Ihr Sohn Martin ist acht und sitzt drüben mit einer Kollegin. Ich glaube, er hat immer noch kein Wort gesagt.“

„Er war da mittendrin, Nathan“, sagte Sadie und deutete auf den Bildschirm. „Wir wissen nicht, wieviel er mitbekommen hat. Was der Täter zu ihm gesagt hat. Er wird vermutlich kein direkter Zeuge des Mordes sein, aber das ist sicherlich auch besser für ihn.“

„Er muss mir auch nichts über die Tat erzählen, sondern nur über den Täter“, knurrte Nathan.

„Das kriegen wir hin. Lass es mich mal versuchen.“

„Natürlich, deshalb habe ich dich ja angerufen. In der Hauptsache wegen des Kindes ... und weil sich das Szenario für mich wie ein Profiler-Fall anfühlt.“

„Wenn du wüsstest“, sagte Sadie augenzwinkernd.

„Was soll das nun wieder heißen?“, fragte der Polizist stirnrunzelnd.

„Bevor ich gekommen bin, habe ich mir einen ähnlichen Fall in der Datenbank angesehen.“

„Ist nicht dein Ernst.“

„Und ob es das ist”, sagte Sadie. „Aber lass mich erst mal mit diesem Fall vertraut werden. Vielleicht ist das alles nur Zufall.“

„Natürlich“, sagte Nathan. „Ich bringe dich zu dem Jungen.“

Sadie folgte ihm in einen der nahen Besprechungsräume, wo eine junge Streifenpolizistin mit einem Teddy vor einem kleinen Jungen saß. Apathisch starrte er an ihr vorbei und blickte nicht einmal auf, als Sadie und Nathan erschienen.

„Danke, Annie“, sagte Nathan und nickte der Kollegin zu, die verstand und den Raum verließ. Den Teddy ließ sie dort. Martin saß in einer Ecke des Raumes auf dem Boden und rührte sich nicht. Nathan hielt sich im Hintergrund, während Sadie den Teddy nahm und sich in achtsamem Abstand zu Martin im Schneidersitz auf den Boden setzte.

„Ich bin Sadie“, stellte sie sich vor. „Mein Kollege von der Polizei hat mir gesagt, dass du Martin heißt. Hier bei uns bist du in Sicherheit. Du musst jetzt keine Angst mehr haben, aber ich verstehe, dass du noch an die Dinge denken musst, die heute Nacht passiert sind.“

Sie machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion, die jedoch nicht kam.

„Du hattest wahrscheinlich große Angst, nicht wahr? Ich weiß, dass dich ein Fremder im Bad eingesperrt hat. Und du wusstest ja, dass er nichts Gutes im Schilde führen kann. Jetzt fragst du dich, ob das alles wirklich passiert ist und ob du nicht irgendetwas hättest tun können, aber das konntest du nicht. Du bist noch ein Kind, Martin.“

Der Junge reagierte immer noch nicht. Sadie setzte den Teddy ein Stück vor sich ab und rutschte auf Martin zu.

„Ich bin beim FBI und es ist mein Job, solche Verbrecher zu suchen. Ich habe bisher jeden gefunden, den ich gesucht habe und jetzt will ich den Mann finden, der bei dir und deiner Mum eingebrochen ist. Du kannst mir dabei helfen, Martin. Zumindest das kannst du jetzt tun. Willst du mir helfen?“

Plötzlich sah er sie doch an. Sein Blick war leer und verzweifelt zugleich, in seinen Augen glitzerten Tränen.

„Du musst müde sein. Hast du Hunger? Durst?“, fragte Sadie weiter, doch es kam keine weitere Reaktion. Dennoch entging ihr nicht, wie aufmerksam der Junge sie musterte. Sie griff in ihre Tasche und zog ihren Ausweis heraus.

„Da kannst du sehen, wer ich bin“, sagte sie und hielt Martin die Karte vors Gesicht. Er bewegte sich nicht, aber er betrachtete ihren Ausweis genau.

„Ich bin ein bisschen jünger als deine Mum und zum FBI gegangen, um Verbrecher zu stoppen und zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist eine gute Sache. Ich habe auch schon so etwas gesehen wie das, was heute Nacht bei euch passiert ist.“ Für einen Moment zögerte sie, aber dann beschloss sie, sich doch weit aus dem Fenster zu lehnen. „Ich verspreche dir, ich finde den Mann, der das getan hat. Hilfst du mir?“

Martin starrte sie immer noch an.

 

Irgendwann hatte Sadie sich doch einen Blick auf ihre Armbanduhr erlaubt und festgestellt, dass sie nun schon seit anderthalb Stunden auf den Jungen einredete. Es war nicht, dass er katatonisch war – er war interessiert, er musterte sie, aber er sprach nicht mit ihr. Irgendwann hatte Sadie ihn dazu gebracht, den Teddy und eine kleine Flasche mit Schokomilch zu nehmen. Darin steckte ein Strohhalm, an dem er immer wieder trank. Nathan saß hinter ihr auf einem Stuhl und beobachtete das Geschehen die ganze Zeit. Sadie wusste, dass auch eine Kamera lief, aber das störte sie nicht und Martin achtete gar nicht darauf.

Sie hatte dem Jungen viel von sich erzählt, damit er Vertrauen fasste. Sie sprach von ihren Katzen, beschrieb ihr Haus und erzählte, dass sie verheiratet war. Auch von Libby erzählte sie und sah, dass er sich allmählich immer mehr entspannte. Sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie ihm zumute sein musste. Er wusste ja, dass seine Mutter tot war – ermordet von einem Fremden. Vielleicht hatte er gehört, wie sie starb.

Jedenfalls musste jetzt alles surreal für ihn sein. Wie das war, wusste sie selbst, aber sie hatte nicht die Absicht, ihre eigene Geschichte anzubringen. Das war nicht nötig, Martin hörte ihr auch so zu. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er antworten würde. Dass er überhaupt mit ihr interagierte, war ein Fortschritt. Aber sie gab ihm die nötige Zeit.

„Wir kümmern uns darum, dass du ein neues Zuhause findest“, sagte Sadie. „Hast du vielleicht Verwandte, bei denen du leben könntest? Jemand, der sich um dich kümmern kann? Oder dein Vater?“

Martin vergrub seine kleinen Finger in dem Teddybär. Eine Träne löste sich aus seinem Auge.

„Es ist okay. Du kannst mir alles sagen. Du musst nicht ... aber du kannst. Ich bin für dich da und höre dir zu. Wir können nicht ungeschehen machen, was passiert ist, aber ich kann dafür sorgen, dass der Mann nicht davonkommt. Wenn du mir sagst, wie er ausgesehen hat ...“

Martin atmete schwer. In ihm arbeitete es. Sadie wusste, es konnte nicht mehr lang dauern.

„Egal, was er dir gesagt hat: Dir kann nichts passieren. Wenn er dir gesagt hat, dass du ihn nicht verraten sollst – natürlich will er das nicht. Er hofft, dass du ihn nicht verrätst. Aber er kann dich nicht finden und dir etwas tun. Wir sind dafür da, um das zu verhindern, und das werden wir auch. Du bist sicher bei uns.“

Immer noch schaute Martin sie an und rang mit sich. Sadie wusste, in ihm arbeitete keine absichtliche oder bewusste Blockade. Er wollte reden, aber er konnte noch nicht. Deshalb versuchte sie, ihn von den traumatischen Bildern in seinem Kopf abzulenken, ihm die Furcht zu nehmen und dafür zu sorgen, dass er Vertrauen zu ihr fasste.

„Hast du immer noch keinen Hunger?“, fragte sie weiter. „Hier gibt es ganz tolle Sandwiches. Möchtest du eins?“

Martin sah ihr direkt in die Augen, dann nickte er. Sofort stand Nathan auf und Sadie fragte: „Was magst du am liebsten? Käse? Salami?“

„Salami“, sagte Martin leise.

„Bin schon unterwegs“, sagte Nathan und verließ den Raum. Sadie lächelte Martin an und nickte zufrieden.

„Das machst du super. Du bist sehr mutig. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

Langsam schüttelte der Junge den Kopf. Augenblicke später kehrte Nathan schon mit einem Salamisandwich zurück. Er gab es Sadie, die es Martin weiterreichte. Der Junge holte es selbst aus der Packung und begann zu essen. Sadie tauschte einen kurzen, zufriedenen Blick mit Nathan. Das ging doch einigermaßen voran. Allerdings war Sadie auch sicher, dass ein Polizist ohne ihre Ausbildung sich an dem Jungen völlig die Zähne ausgebissen hätte. Traumatisierte Verbrechensopfer waren an sich schon ein Problem, aber Kinder?

Sadie wartete, bis Martin fertig war und fragte dann: „War das gut?“

Der Junge nickte. „Danke.“

„Brauchst du sonst noch etwas?“

„Meine Mum“, sagte Martin ohne nachzudenken.

Sadie seufzte tief. „Ich wünschte, ich könnte dir diesen Wunsch erfüllen.“

„Warum hat der Mann sie umgebracht?“ In Martins Frage lag ein unendlicher Schmerz.

„Das weiß ich noch nicht. Hat er dir etwas gesagt?“

Martin schüttelte den Kopf. „Er hat nur gesagt, dass ich brav und still sein soll, wenn ich nicht will, dass etwas Schlimmes passiert ... und ich war brav. Aber ...“

„Er hat dich angelogen“, sagte Sadie verstehend.

Der Junge nickte. Erneut kamen ihm die Tränen. „Meine Mum ... ich habe sie gehört. Als hätte sie geschrien. Und dann war es still.“

„Das hat dir bestimmt Angst gemacht.“

Ein heftiges Schluchzen war die Antwort. „Ich wollte nach ihr rufen, ich wollte wissen, ob es ihr gut geht ... aber ich habe mich nicht getraut. Ich hatte so Angst.“

„Du warst wirklich tapfer. Bist du jetzt auch“, sagte Sadie ermutigend.

„Aber meine Mum ... sie kommt nie wieder, oder?“

Langsam schüttelte Sadie den Kopf. „Nein.“

Schluchzend beugte Martin sich über den Teddy. „Mum ...“

„Es tut mir so leid“, sagte Sadie.

„Irgendwann stand der Mann dann wieder vor der Tür. Ich konnte ihn verstehen. Er hat mir gesagt, dass ich still sein soll und niemandem etwas über ihn sagen darf, weil er sonst zurückkommt und mir weh tut. Aber du hast gesagt ...“

Sadie nickte sofort. „Das kann er nicht tun, Martin. Wir passen auf dich auf, versprochen.“

„Ich hab dann gewartet, bis ich sicher war, dass er weg ist, und dann habe ich ganz viel Lärm gemacht. Ich habe nach meiner Mum gerufen und gegen die Tür getreten und alles versucht ...“

„Das hast du gut gemacht.“

„Aber meine Mum ist trotzdem nicht mehr da!“, rief der Junge unter Tränen.

„Es tut mir so leid, Martin. So wahnsinnig leid“, sagte Sadie ehrlich. „Kannst du mir sagen, wie es angefangen hat?“

Er nickte heftig. „Ich sollte eigentlich gerade ins Bett gehen, als jemand an der Tür geklopft hat. Meine Mum hat nachgesehen, wer es ist und dann hat sie auch die Tür geöffnet. Es war ein Polizist. Zumindest hat er das gesagt, er hatte auch so eine Marke in der Hand wie du.“

Sadie nickte. Das war ein populärer Trick unter solchen Tätern: Sie gaukelten vor, eine vertrauenswürdige, offizielle Person zu sein. Und es war nicht schwierig, denn Polizeimarken bekam man auch in Spielzeug- oder Kostümläden. Von weitem konnten die täuschend echt aussehen.

„Trug er denn eine Uniform?“, fragte Sadie.

Martin schüttelte den Kopf. „Eine Jeans und eine Lederjacke. Mum hat ihn reingelassen und er sagte, er würde in der Nachbarschaft nach einem Einbrecher Ausschau halten. Er wollte sich ansehen, ob unsere Fenster gesichert sind. Mum hat sich nichts dabei gedacht und ich habe ihm auch geglaubt.“ Der Junge klang traurig, als er das sagte.

„Was hat er dann gemacht?“, fragte Sadie.

„Er ist herumgegangen und Mum ist ihm gefolgt. Das war erst überhaupt nicht seltsam. Aber dann ...“ Martin begann wieder zu weinen. „Er hatte dann plötzlich eine Pistole. Ich weiß nicht, woher. Er hat Mum damit bedroht und gesagt, sie soll sich nicht bewegen. Ich hab dann geschrien, deshalb hat er mich angebrüllt. Er meinte, ich soll still sein und ins Bad gehen, wenn ich nicht will, dass Mum etwas passiert. Mum sagte, ich soll es machen. Ich wollte nicht, aber ich habe es dann gemacht. Ihr sollte ja nichts passieren. Ich bin ins Bad gegangen und er hat die Tür von außen irgendwie verriegelt. Ich hab versucht rauszukommen, aber das ging nicht. Ich konnte die Tür nicht öffnen. Ich habe dann ihre Stimmen gehört und dass Mum geweint hat. Geschrien hat sie nicht.“

Als Martin eine Pause machte, murmelte Sadie: „Bestimmt hat er sie bedroht.“

„Ja ... Er hat dann die Tür nochmal aufgemacht und mir die Sachen ins Bad gelegt. Ich wollte raus und an ihm vorbei zu Mum. Sie saß am Tisch. Ich glaube, er hatte ihre Hände zusammengebunden. Sie hat geweint und als sie mich gesehen hat, sagte sie, ich soll ganz brav sein und bleiben, wo ich bin. Ich wusste nicht, was ich machen soll, aber dann hat er mich wieder eingeschlossen. Ich hab an der Tür gesessen und versucht, etwas zu verstehen.“

„Konntest du?“

Martin schüttelte den Kopf. „Sie haben geredet. Mum hat geweint ... ich weiß nicht, was er ihr gesagt hat. Das ging ein bisschen so. Irgendwann sind sie dann weggegangen, ich glaube in Mums Zimmer. Und dann ...“ Erneut begann der Junge, heftig zu weinen. Sadie legte ihre Hand auf seine Schulter und versuchte, ihn zu beruhigen.

„Schon gut“, sagte sie. „Ich verstehe dich.“

„Ich hatte solche Angst, dass er ihr weh tut. Und dann irgendwann stand er wieder vor der Tür und sagte mir, er würde jetzt gehen und ich müsste weiterhin still sein. Er hat mir verboten, jemandem etwas zu sagen. Dann war er weg. Da wollte ich Hilfe holen.“

„Das hast du gut gemacht, Martin. Das war genau richtig. Jemand musste dir doch helfen.“

„Ich hab auch immer nach Mum gerufen, aber da kam nie eine Antwort ...“

Als der Junge immer heftiger zu weinen begann, setzte Sadie sich neben ihn und legte einen Arm um seine schmalen Schultern. Mit Nathan tauschte sie einen ernsten Blick. Er nickte ihr zu und lächelte sanft, um sie zu bestärken.

Irgendwie ging ihr das in diesem Moment sehr nah. Das hatte sie so noch nie empfunden. Das verzweifelt weinende Kind traf sie mitten ins Herz. Sie schluckte hart und kämpfte schließlich selbst mit den Tränen, aber Nathan warf ihr weiterhin einen ermutigenden Blick zu.

„Martin, könntest du den Mann beschreiben?“, fragte Sadie dann.

„Ja ... kommt dann jemand, um ihn zu zeichnen?“, fragte der Junge.

Sie antwortete mit einem Nicken. „Genau. Wir haben hier einen Phantombildexperten, dem du beschreiben kannst, wie der Mann ausgesehen hat. Wir können aber auch Fotos ansehen.“

„Ich muss das machen“, sagte Martin entschlossen und schniefte. „Der hat meiner Mum weh getan.“

„Wir werden ihn finden, Martin. Du machst das ganz toll.“

„Welche Haarfarbe hatte der Mann?“, fragte Nathan von hinten.

„Er hatte so dunkle Haare. Dunkelbraun“, sagte Martin. „Er hatte sie ungefähr so geschnitten wie Charlie Sheen.“

Sadie lächelte. „Das ist doch eine gute Beschreibung.“

Martin schloss die Augen und tastete nach Sadies Hand. „Er war ziemlich groß. Größer als meine Mum, einen halben Kopf. Sonst sah er ganz normal aus, nicht besonders dick oder dünn. Er hatte Turnschuhe an, die mit dem Nike-Zeichen. Sie waren weiß. Die Jeans war dunkel und was er unter der Lederjacke hatte, weiß ich nicht. Aber er hatte ganz dunkle Augen.“

„Ein Weißer?“, fragte Nathan.

Martin nickte. „Eigentlich ein ganz normaler Mann.“

„Willst du Bilder ansehen?“

Der Junge war einverstanden, deshalb brachten sie ihn zu Nathans Rechner. Er setzte sich davor und Nathan suchte nach Vorbestraften, die den Merkmalen entsprachen, die Martin genannt hatte. Nathan bat den Jungen noch, das Alter des Mannes zu schätzen, aber da tat Martin sich sehr schwer. Schließlich zeigte Nathan ihm exemplarisch einige Bilder, um es einzugrenzen und sie landeten schließlich bei einem Mann Mitte Zwanzig, was auch statistisch gepasst hätte. Dann begannen sie, Fotos durchzugehen.

Martin war tapfer und hielt lange durch, aber irgendwann wurde er müde und es war auch absehbar, dass das keinen Erfolg haben würde. Sadie holte ihm eine Flasche Apfelsaft und einen Schokoriegel und dann brachten sie ihn zu dem Kollegen, der Phantombilder anfertigte. Zusammen mit Nathan blieb sie die ganze Zeit dabei und beide waren gleichermaßen erstaunt von der guten Auffassungsgabe und den Beschreibungskünsten des Jungen. Er konnte gut artikulieren, wie der Mann ausgesehen hatte und half dem Officer tatkräftig, das Phantombild zu komplettieren. Sadie hatte keine Ahnung, ob sie das in seinem Alter so gut gemeistert hätte.

Zwischendurch erschien Roy und winkte Nathan und Sadie zu sich auf den Flur. Die beiden gesellten sich zu ihm und waren gespannt, was er zu berichten hatte.

„Der Vater des Jungen lebt in Tucson, Arizona. Wir konnten ihn bisher nicht erreiche”, sagte Roy. „Ich konnte aber seine Großeltern ausfindig machen – mütterlicherseits gibt es nur noch einen pflegebedürftigen Opa, aber die Großeltern väterlicherseits wohnen in Palm Springs und sind unterwegs. Sie wollen ihn mindestens vorübergehend nehmen.“

„Immerhin“, sagte Nathan zufrieden. „Ich hätte den Kleinen ungern dem Kindernotdienst übergeben.“

„Nein, nicht nötig. Sie sollten bald hier sein. Und wie geht es voran?“

Nathan brachte Roy kurz auf den aktuellen Stand der Dinge und kehrte dann mit Sadie zu Martin zurück. Das Phantombild war so gut wie fertig und vor allem Nathan lobte Martin ehrlich für seine tolle Mithilfe.

„So kann man sich den Mann gut vorstellen“, sagte er. „Das hast du prima gemacht.“

„Bitte finden Sie ihn“, sagte Martin hoffnungsvoll.

„Das schaffen wir schon.” Sadie versuchte, Zuversicht zu verbreiten.  

Der Junge lächelte zu ihr hoch. „Du kannst das bestimmt.“

„Klar.“ Sadie erwiderte sein Lächeln. Wenig später begleitete Martin sie wieder an Nathans Schreibtisch, wo sie gemeinsam auf die Großeltern des Jungen warteten. Sadie versuchte, ihren Hunger zu ignorieren, denn die Mittagspause war längst vorbei und das Frühstück lag erst recht eine Weile zurück. Aber zum Glück dauerte es nicht allzu lang, bis Martins Großeltern eintrafen und Nathan sich ihrer annahm. Natürlich hatten sie zahllose Fragen, die er geduldig zu beantworten versuchte und er bat sie, sich zur Verfügung zu halten. Schließlich nahmen die Großeltern den Jungen in ihre Obhut und verließen das Revier.

Kurzerhand blickte Nathan zu Sadie. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich stehe kurz vorm Hungertod.“

„Geht mir nicht anders“, stimmte sie zu.

„Roy?“, rief Nathan quer durchs Großraumbüro zu seinem Kollegen. „Lunch?“

„Immer“, erwiderte Roy und gesellte sich zu den beiden. Nathan schlug vor, ins benachbarte Diner zu gehen, das Sadie schon kannte, und die anderen waren einverstanden. Gemeinsam verließen sie das Polizeigebäude und gingen zum Lieblingsdiner der Polizisten in einer der Nebenstraßen.

„Das lief doch schon mal gut“, sagte Nathan, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten. „Ich wusste, dass du das hinkriegst, Sadie. Als der Kleine heute Morgen in aller Herrgottsfrühe vor uns stand, wusste ich, dass ich dich hier brauche. Und nicht nur, um den Jungen zum Reden zu bringen.“

Fragend zog Sadie eine Augenbraue hoch. „Ihr habt doch mit den Ermittlungen noch gar nicht angefangen.“

„Nein, schon klar, aber das hier ist eine große Nummer. Der Täter hat ganz ohne Not einen Zeugen am Leben gelassen. Er hat sich ihm gezeigt, er hat ihn dort gelassen, ihm kein Haar gekrümmt ... warum zum Teufel? Das ist irrational.“

„Auf den ersten Blick schon“, stimmte Sadie zu.

„Es sei denn, er macht das nicht zum ersten Mal und ist jetzt leicht größenwahnsinnig“, sagte Roy.

Sadie nickte sofort. „Das ist es. Er macht das nicht zum ersten Mal und er verfolgt auch ein bestimmtes Ziel.“

„Du sagtest vorhin, das hat dich an einen ähnlichen Fall erinnert“, sagte Nathan. „Ist das immer noch so?“

„Und wie. Genaugenommen hat sich dieser Eindruck noch verstärkt“, sagte Sadie.

„Ach was, und um welchen Fall geht es hier?“, fragte Roy.

„Nagelt mich jetzt bitte nicht drauf fest, ich muss das erst noch im Detail abgleichen ... aber damals bei BTK gab es einen Fall, der diesem hier schon sehr ähnelt.“

„Der BTK-Killer aus Kansas?“ Roy war erstaunt.

Sadie nickte. „Dennis Rader hat 1977 eine Frau in ihrer eigenen Wohnung erstickt und ihre drei Kinder derweil im Bad eingesperrt.“

„Interessant“, fand Nathan. „Das ist eine Parallele, aber wie deutlich findest du sie?“

„Verdammt deutlich“, sagte Sadie. „Ich muss gleich noch mal genauer in VICAP nachlesen, aber das Opfer war auch gefesselt und wurde mit einer Tüte erstickt. Ich bin gespannt auf den Bericht des Gerichtsmediziners ... Raders Spezialität war es, seine Opfer immer wieder bewusstlos zu würgen und erneut zu wecken, bevor er sie letztlich getötet und auf ihre Leichen masturbiert hat. Vielleicht gibt es hier auch solche Spuren.“

„Ist ja krank“, murmelte Roy pikiert.

„Ich bin gespannt auf die Details“, sagte Nathan. „Kennst du noch mehr Parallelen?“

„Ja ... zumindest eine: Rader hat den Kindern auch Decken und Spielzeug ins Bad gelegt. Das war hier bei Martin genauso.“

„Okay, aber was hätte jemand davon, einen berühmten Serienkiller nachzuahmen?“

„Ich kenne jemanden, den ich dazu befragen kann“, sagte Sadie. „Eine britische Profilerin, die tatsächlich schon mal einen solchen Fall hatte.“

„Ach was. Das gibt’s?“

„Ja, scheinbar schon. Beunruhigender finde ich hier den Umstand, dass er wohl schon eine gewisse Erfahrung mitbringt.“

„Allerdings.” Roy nickte zustimmen. „Das macht die Sache nicht einfacher.“

„Vielleicht schon“, sagte Sadie. „Ich bin gern an Bord und erstelle euch ein Profil.“

„Du kannst Gedanken lesen“, sagte Nathan grinsend. Wenig später kam ihr Essen und das Gespräch erlahmte vorübergehend.

„Meinen Glückwunsch übrigens zum baldigen Familienzuwachs“, sagte Roy schließlich.

„Danke, lieb von dir.“ Sadie lächelte.

„Zu sehen ist ja noch nichts.“

„Nein, ich bin erst im vierten Monat. Ende August ist es soweit.“

„Das dauert ja noch etwas. Aber ich sage dir, Kinder sind etwas Wunderbares!“

So wechselte das Gesprächsthema im Handumdrehen, wofür Sadie während des Essens nicht undankbar war. Sie sehnte sich nicht sehr danach, mit den beiden am Tisch die unschönen Details der BTK-Morde zu erörtern. Die wollte sie sich zudem selbst an Nathans Computer noch einmal ansehen, bevor sie weiter überlegte., aber irgendetwas an diesem Fall war eigenartig.

Als sie mit dem Essen fertig waren, bezahlte Nathan für sie alle und sie machten sich auf den Rückweg ins Department. Im Büro angekommen, scharten sie sich um seinen Computer, wo er VICAP öffnete und die Maus Sadie überließ. Erneut gab sie den Namen Dennis Rader ein und öffnete die BTK-Fallakte.

Dieser Fall war ziemlich außergewöhnlich. Zwischen Dennis Raders erstem Mord 1974 und seiner Festnahme 2005 lagen drei Jahrzehnte ergebnisloser und frustrierender Polizeiarbeit. Es hatte mit der Ermordung einer ganzen Familie begonnen: Rader hatte Joseph und Julie Otero und zwei ihrer Kinder in Wichita, Kansas umgebracht, zwei Monate später hatte es dort Kathryn Bright getroffen. Er war immer in die Häuser seiner Opfer eingedrungen und hatte sie erstickt oder erstochen. Aber das war ihm nicht genug, er hatte Kontakt mit Polizei und Medien aufgenommen und Briefe geschrieben, in denen er nach der Aufmerksamkeit verlangte, die ihm seiner Meinung nach zustand. Er hatte sich selbst BTK-Killer getauft und als Absender Bill Thomas Killman auf die Briefe geschrieben, hinterher jedoch erklärt, wofür die Abkürzung BTK wirklich stand: bind, torture, kill.

1977 hatte er Shirley Vian Relford und Nancy Fox ermordet, 1985 und 1986 zwei weitere Frauen und das letzte Opfer schließlich 1991. Doch obwohl es Sperma- und andere Spuren gegeben hatte, hatte die Polizei nie Hinweise auf Rader gehabt. Erst, als er 2004 und 2005 wieder Kontakt mit Behörden und Medien aufnahm, fand die Polizei in einem Päckchen die entscheidenden Hinweise auf den Täter. Darin befand sich eine Diskette, deren forensische Auswertung Hinweise auf ihre Herkunft und ihren Urheber verrieten. Auf diese Weise konnte Rader ermittelt und gefasst werden und hatte nach seiner Festnahme auch alle Morde gestanden. Trotzdem würde er das Gefängnis nie wieder verlassen.

Nathan und Roy schauten ihr über die Schulter, während sie zu den Informationen über Shirley Vian Relford scrollte. Sie war ein reines Zufallsopfer gewesen, eigentlich hatte Rader jemand anderen im Visier gehabt. Als das nicht funktioniert hatte und ihm zufällig Shirleys Sohn begegnete, war er dem Jungen gefolgt. Er hatte sich als Privatdetektiv ausgegeben, eine Pistole gezogen und so alle in seine Gewalt gebracht. Sadie las, dass Shirley und Rader die drei Kinder gemeinsam im Bad eingesperrt hatten. Sie hatten den Kindern Decken und Spielzeug hineingelegt und die Badezimmertür mit einem Seil verschlossen – genau wie im Falle des kleinen Martin.

Gebannt lasen Sadie und die beiden Polizisten, wie Rader und Shirley interagiert hatten. Er hatte sie bedroht, sie hatte sich vor lauter Angst übergeben und versucht, sich mit einer Zigarette zu beruhigen. Rader hatte ihr gesagt, er hätte Probleme mit sexuellen Fantasien, die er an ihr ausleben wollte, so dass sie ihn für einen Vergewaltiger gehalten hatte. Sie hatte nie geahnt, dass er eigentlich plante, sie zu töten.

Er hatte sie dann auf dem Bett gefesselt, eine Tüte über ihren Kopf gestülpt und sie immer wieder gewürgt, ihr einen Strick um den Hals gewickelt und sie damit qualvoll erstickt. Allerdings geriet er später in Hektik, da die Kinder im Bad Lärm machten und das Telefon klingelte, weshalb er seine Sachen zusammengesucht hatte und verschwunden war.

Schließlich erschienen auf dem Bildschirm Tatortfotos und Aufnahmen von Shirley Vian Relford. Sadie entging nicht, dass den Polizisten neben ihr der Atem stockte.

„Das sieht ja genauso aus wie bei Angela Radford“, stellte schließlich Nathan fest, der sich zuerst wieder gefasst hatte.

„Haargenau“, murmelte Roy. Auch Shirley Vian lag fast nackt auf dem Bett, war an Händen und Füßen mit schmalem schwarzem Klebeband gefesselt und zusätzlich mit Stricken. Er hatte ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt und sie langsam und qualvoll getötet. Auch vom Bad gab es Fotos, die sie ebenso unweigerlich an ihren eigenen Tatort erinnerten.

„Ist ja unfassbar“, entfuhr es Roy. „Wenn man mal außer Acht lässt, dass es hier nur um ein einzelnes Kind ging ... das ist fast gleich.“

„Und Rader ist auch einfach gegangen und hat die Kinder zurückgelassen“, sagte Nathan.

Sadie drehte sich zu den beiden um. „Deshalb musste ich gleich an Rader denken.“

„Kein Wunder“, sagte Nathan. Als Sadie wieder nach oben scrollte, tippte Roy auf den Bildschirm. „Seht euch das Datum an.“

Sadie brauchte nur einen kurzen Blick, um zu sehen, worauf er hinaus wollte: Shirley Vian Relford war am 17. März 1974 ermordet worden. Und jetzt war der 18. März.

„Das gibt es doch nicht“, sagte Nathan kopfschüttelnd. „Selbst das Datum stimmt.“

„Noch irgendwelche Fragen?“ Sadie grinste.

„Sogar der Nachname ist ähnlich!“, stellte Roy ungläubig fest.

„Dieser Täter ahmt BTK nach“, sagte Sadie.

„Ziemlich offensichtlich“, stimmte Nathan zu. „Und jetzt sag uns, warum.“

Diese Bitte entlockte Sadie ein kurzes Lachen. „Nicht so schnell ... Ich werde erst mal in Europa anrufen und mit der Profilerin sprechen müssen, aber um die Zeit geht das kaum noch. Viel interessanter ist jetzt, die Obduktionsergebnisse zu erfahren und herauszufinden, ob weitere Taten auf das Konto dieses Täters gehen. Ich gehe jede Wette ein, dass es so ist.“

„Aber warum ahmt er BTK nach? Müssen wir jetzt sämtliche Todesdaten der BTK-Opfer überprüfen?“, fragte Nathan.

„Vielleicht. Ich denke, er tritt in die Fußstapfen eines berühmten Killers, weil er selbst berühmt sein will. Darüber werde ich mit Andrea Thornton sprechen. Aber wir können mal sehen, ob wir noch weitere Verbindungen finden.“

Nathan und Roy waren einverstanden und so begannen sie, Morde an sämtlichen Todesdaten weiterer Opfer von BTK ausfindig zu machen und abzugleichen. Er hatte immerhin zehn Morde begangen, deren Grausamkeit Sadie das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie suchten nach ermordeten Familien, nach Frauen, nach allem, was halbwegs ähnlich schien. Allerdings entdeckten sie nichts, was wirklich passte.

„Ich denke weiter darüber nach und werde gleich noch eine Mail nach London schicken, damit ich morgen mit Andrea sprechen kann. Vielleicht hat sie noch gute Tipps für uns. Du hältst mich auf dem Laufenden, Nathan?“

„Mit absoluter Sicherheit“, sagte er. „Danke für deine Hilfe. Es war ja offensichtlich richtig, dich anzurufen.“

Sadie lächelte. „Mit solchen Fällen kenne ich mich nun mal aus.“

 

 

Sonntag, 19. März

 

Nach dem Aufstehen hatte Sadie eine Mail von Andrea Thornton gefunden, in der sie ein Telefonat um elf Uhr vorschlug. Das passte Sadie gut, denn so konnte sie vorher noch in Ruhe frühstücken. Andrea hielt wie immer Wort und pünktlich um elf klingelte das Telefon.

„Hallo, Andrea. Ich hätte fast guten Morgen gesagt!“, begrüßte Sadie sie.

Die britische Profilerin lachte. „Für dich stimmt das. Ich hatte vorhin schon den ganz typischen britischen Nachmittagstee ...“

„Diese Zeitverschiebung macht es uns wirklich nicht gerade leicht! Wie geht es dir?“

„Hier ist alles beim Alten. Ich gewöhne mich an den Gedanken, dass meine Tochter flügge wird und ich unterrichte die Profiler von morgen. Viel interessanter wäre jetzt, wie es dir geht!“

Sadie lächelte ergeben. „Diese Frage höre ich täglich fünf Mal. Mindestens. Bestimmt kennst du das noch!“

„Sicher, du hast völlig Recht. Man ist schwanger und plötzlich steht man im Mittelpunkt.“

„Was nicht immer schön ist. Aber es geht mir sehr gut. Ich könnte mich an diesen Zustand gewöhnen!“

„So ging es mir auch die meiste Zeit. Nur am Ende denkt man, man hätte einen Medizinball verschluckt ... ich hoffe, es wird nicht zu beschwerlich für dich.“

„Danke, das ist lieb. Bislang sieht man ja kaum etwas.“

„Das kann sehr schnell gehen, glaub mir. Matt geht es auch gut?“

Die beiden nahmen sich ein wenig Zeit für Smalltalk, was Sadie immer sehr nett fand. Schließlich sagte Andrea: „Weißt du eigentlich, dass wir uns seit zwei Jahren nicht gesehen haben?“

Sadie nickte. „Daran habe ich auch gerade noch gedacht. Ich muss immer noch nach Europa kommen!“

„Die Einladung steht. Dabei klingt es nicht so, als würde dich noch beschäftigen, was damals passiert ist.“

„Nicht wirklich. Aber du weißt ja, wie das ist. Man rappelt sich auf und blickt nach vorn.“

„Ja, durchaus. Ich wollte jetzt auch nicht die dumme Standardfrage stellen.“

„Nein, ich weiß. Hatte ich nicht so verstanden.“

„Dann ist gut. Aber nun zurück zum Thema: Du hast geschrieben, du wolltest mit mir über Nachahmungstäter sprechen. Was ist da los?“

„Ich habe hier einen Täter, der den BTK-Killer nachzuahmen scheint“, sagte Sadie.

„Auch noch die ganz hohe Prominenz. Hast du ein paar Fakten für mich?“

Sadie hatte alles Wichtige noch im Kopf und konnte Andrea problemlos schildern, was sich zugetragen hatte und welche Parallelen zu BTK ihr aufgefallen waren. Andrea hörte die ganze Zeit aufmerksam zu, bis Sadie geendet hatte.

„Die Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen“, sagte die Engländerin dann. „Das ähnelt meinem Nachahmer-Fall sehr. Da hatte ich auch sehr schnell das Gefühl, dass die Tatumstände mich an etwas erinnern. Das war ähnlich wie hier.“

„Meine Frage ist jetzt: Welche Schlüsse hast du daraus für das Profil gezogen? Warum hat der Täter berühmte Vorbilder nachgeahmt?“, überlegte Sadie.

„Joshua und ich hatten angenommen, dass er gehemmt ist. Bei uns ging es ja um einen homosexuellen Täter und wir haben vermutet, dass er seine Neigungen nicht akzeptieren kann. Dass er andere Täter nachahmt, um so ein Ventil für seine Neigungen zu finden und sein Selbstbewusstsein zu stärken. Indirekt hat er uns das später auch bestätigt. Vielleicht passt das ja bei dir auch?“

Sadie atmete tief durch. „Er hat sich also Vorbilder gesucht?“

„Sozusagen. So, als sollte ihm das bei seiner Selbstfindung helfen.“

„Interessant“, fand Sadie. „In eine ähnliche Richtung hatte ich auch schon gedacht. Allerdings habe ich mir auch überlegt, dass das, was wir hier haben, unmöglich der erste Fall sein kann. Dafür war das zu abgebrüht und zu organisiert.“

„Hört sich so an. Hast du denn schon nach anderen Fällen gesucht?“

„Ja, ich habe alles abgesucht, was irgendwie nach BTK aussieht.“

„Ah, verstehe. Bei mir war es damals so, dass der Täter verschiedene Vorbilder nachgeahmt hat. Vielleicht ist das hier auch so?“

Sadie verdrehte die Augen. „Natürlich ... bisher dachte ich, er ahmt speziell BTK nach. Aber wer sagt das?“

„Ganz genau. Bei mir war es so, dass der Täter speziell homosexuelle Täter nachgeahmt hat. Vielleicht habt ihr auch einen Nachahmungstäter, der verschiedene Vorbilder bemüht, die alle eine Gemeinsamkeit haben.“

„Hm ...“ Sadie begann zu überlegen. „BTK war Sadist. Fetischist. Er hat Menschen erwürgt.“

„Stimmt, aber vielleicht ist es das gar nicht. BTK war auch sehr mitteilungsbedürftig. Vielleicht ist euer Täter ja auch so?“

„Bisher hat er sich noch nicht geäußert ... nicht, dass ich wüsste. Aber du bringst mich wirklich auf was. Vielleicht muss ich nach anderen Kriterien suchen!“

„Schön, wenn ich helfen konnte“, sagte Andrea. „Du weißt, wenn etwas ist, kannst du mich immer fragen.“

„Ja, sicher. Danke dafür! Bestimmt finde ich jetzt etwas.“

„Das denke ich auch. Halte mich auf dem Laufenden“, bat Andrea.

„Werde ich machen. Ich bin gespannt, was ich hier rausfinde. Davon muss ich Nathan berichten!“

„Viel Erfolg und viele Grüße an Matt.“

„Danke. Bis dann“, verabschiedete Sadie sich und atmete tief durch. Wie immer half es, sich mit einem Kollegen auszutauschen. Das erweiterte den Horizont und brachte einen auf Ideen, die man allein nie gehabt hätte.

Während sie noch überlegte, ob sie Nathan anrufen oder ihm eine Mail schreiben sollte, fiel ihr die zwar gedämpfte, aber nichtsdestotrotz laute Musik aus Libbys Zimmer auf. Scheinbar hatte ihre Pflegetochter sich gleich nach dem Frühstück dort verkrochen. Im Augenblick war sie etwas schweigsam, was Sadie nicht kalt ließ. Nicht, dass es doch wegen der Schwangerschaft war ...

Sie klopfte an die Tür zu Libbys Zimmer, aber als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür einfach und fand das Mädchen bäuchlings auf dem Bett vor ihrem Tagebuch. Als sie zu Sadie aufblickte, entging Sadie der frustrierte Gesichtsausdruck nicht für eine Sekunde.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie. Aus der Stereoanlage dröhnte One Republic.

Libby lächelte kurz. „Es gibt nichts, was du tun könntest.“

Sadie drehte die Musik ein wenig leiser und ging hinüber zu Libby, die ihr Tagebuch zuklappte. Langsam setzte Sadie sich zu ihr auf die Bettkante.

„Was ist los?“, fragte sie.

Libby stöhnte und setzte sich in den Schneidersitz. „Ich hätte nicht gedacht, dass es hier draußen so anstrengend sein kann.“

„Oh, das kann es durchaus. Das weiß ich. Als ich so alt war wie du, habe ich mich wie ein Marsmensch auf der Erde gefühlt.“

Libby grinste kurz. „Das ist nicht die schlechteste Beschreibung.“

„Was hast du auf dem Herzen?“

„Ach ... das ist doch bestimmt alles albern.” Libby machte eine wegwerfende Handbewegung.

Sadie schüttelte den Kopf. „Sag sowas nicht. Warum sollte ich deine Sorgen nicht ernst nehmen?“

„Verglichen mit anderen Problemen ist das doch nur Kinderkram.“

„Nein, ach was. Was ist los?“

Libby seufzte. „Der Unterricht ist ja okay. Aber in den Pausen ... dann sind da die anderen Kids. Ich kann mich gar nicht mit denen unterhalten.“

„Warum nicht?“

„Da sind einige, die sich darüber lustig machen, was ich alles nicht kenne. Ich kenne ja keine Filme oder Bands. Ich höre den anderen zwar gern zu, um alles kennenzulernen, aber ich kann gar nichts dazu beisteuern. Und wenn sie über das Internet reden, ist es ganz vorbei.“

„Aber du hast doch deinen Computer hier“, sagte Sadie und deutete auf den Laptop auf Libbys Schreibtisch. „Finde es heraus!“

„Das tue ich ja, aber die anderen sind damit groß geworden. Für mich ist das alles neu. Sie finden mich langweilig.“

„Und was ist mit Mary?“

Libby seufzte erneut. „Von ihr kann ich ja auch nichts lernen. Im Gegenteil ... sie will ja gläubig sein. Ich will davon nichts mehr wissen und sie spricht von der Sonntagsmesse und all diesen Dingen. Das will ich auch nicht.“

„Verstehe“, sagte Sadie und nickte ernst. Libby lebte nun seit gut drei Monaten bei ihnen und ging seit ein paar Wochen zur Schule. Die kalifornische Schulbehörde hatte sich etwas schwer mit ihrem Fall getan. In Utah kannte man es schon, dass Kinder von Sektenmitgliedern plötzlich normal zur Schule gehen wollten und mussten, aber das Schulamt in Los Angeles wusste nicht viel mit Libby anzufangen. Erst war wochenlang gar nichts passiert und dann hatte man sie immerhin zu einem Einstufungstest bestellt, der ergeben hatte, dass sie ein Schuljahr tiefer eingestuft werden musste, als es ihrem Alter entsprach. Deshalb hatte sie nun noch etwas über ein Jahr Middle School vor sich und soweit Sadie das beurteilen konnte, erbrachte Libby in ihrem zugeteilten Jahrgang fast ausnahmslos gute Leistungen. Sie war fleißig und engagiert und ließ sich von einigen Wissenslücken auch nicht abbringen. Problematischer als ihr Wissensstand waren eher ihre Kontakte zu ihren Mitschülern – ein Problem, das Sadie ihr mehr als gut nachfühlen konnte. Auch sie hatte, abgesehen von Tessa, jahrelang kaum Freunde in der Schule gehabt. Tessa hatte sich sofort auf sie eingeschossen und war von sich aus auf sie zu- und eingegangen, sonst hätte Sadie auch nicht gewusst, wie sie auf ihren neuen Mitschülern begegnen sollte.

Genau dieses Problem hatte Libby jetzt. Sie war ein Jahr älter als die meisten ihrer Mitschüler, aber deutlich unerfahrener. Schließlich kam sie aus einer ganz anderen Welt, hatte einen völlig anderen Hintergrund. Sie war plötzlich mitten im Schuljahr aufgetaucht und naturgemäß gehemmt im Umgang mit den anderen, weil ihre bisherigen Lebensumstände vollkommen andere gewesen waren.

Zwar lernte sie schnell – Sadie hatte schon in der Zeit, bevor Libby wieder zur Schule gegangen war, dafür Sorge getragen, dass sie einen Computer bekam, nach Lust und Laune fernsehen konnte und sie hatte sich auch mit ihr hingesetzt, um sie mit dem Internet vertraut zu machen.

Aber all das ersetzte nicht das Leben in Freiheit und die normale Kindheit, die Libbys Mitschüler gekannt hatten. Libby musste immer wieder nachfragen und kam sich deshalb dumm vor. Zusammen mit ihren neuen Lehrern hatten sie sich zwar darauf geeinigt, mit offenen Karten zu spielen und zu sagen, dass Libby bislang in einer Sekte gelebt hatte und alles neu für sie war. Aber Sadie konnte sich vorstellen, dass es trotz aller Bemühungen der wirklich netten Lehrer schwierig für Libby war, Anschluss an ihre Mitschüler zu finden.

„Ich kann gern noch einmal für dich mit Mr. Hammond sprechen“, schlug Sadie vor. „Vielleicht weiß er noch jemanden, mit dem du dich gut verstehen würdest.“

„Aber das muss ich doch selber können!“, begehrte Libby auf. In diesem Moment erschien Matt in der Tür und lächelte den beiden zu.

„Na, Kriegsrat?“, fragte er unbefangen.

„Vielleicht hast du ja einen guten Rat für uns“, sagte Sadie zu ihm, woraufhin er das Zimmer betrat und sich den beiden gegenüber auf Libbys Schreibtischstuhl setzte.

„Worum geht es?“

„Du warst doch später so beliebt in der Schule. Wie kam das?“

Matt grinste. „Blöd gesagt, kam das durch meinen Wachstumsschub. Plötzlich war ich die absolute Sportskanone und Mutter Natur war der Meinung, dass ich ganz ansehnlich aussehen sollte ... der Rest kam von selbst. Wer gut im Sport ist, ist meist automatisch beliebt.“

„Das hilft jetzt wenig“, fand Sadie.

„Was ist denn das Problem?“

„Ich kann mit meinen Mitschülern überhaupt nicht reden“, beklagte Libby sich. „Ich kenne doch nichts von dem, worüber sie sprechen. Klar habe ich jetzt auch Internet und kann mir Filme ansehen, aber das ist doch nicht dasselbe. Für mich ist das alles neu und fremd und das merken sie.“

„Klar“, sagte Matt trocken. „Ich stelle mir vor, wie du immer daneben stehst und versuchst, alles mitzukriegen und aufzuholen, aber das geht kaum und natürlich merken sie es. Da kommt man sich blöd vor, oder?“

„Total“, murrte Libby.

„Wie wäre es denn, wenn wir einige deiner Mitschüler zu einer Party einladen, wenn du Geburtstag hast? Die, die du oft siehst und die du nett findest. Dann können sie sehen, wie du lebst und ihr könnt euch ein bisschen besser kennenlernen.“

Erwartungsvoll sah Matt sie an, aber Libby wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

„Ich finde die Idee gut“, sagte Sadie deshalb.

„Von mir aus“, murrte Libby unentschlossen.

„Hey, jetzt lass dich nicht so runterreißen. Du kannst nicht ändern, wer du bist und woher du kommst. Es hat auch keinen Sinn, das zu verschweigen. Wenn du ein Geheimnis aus allem machst, bist du den anderen nur suspekt“, sagte Matt.

„Mache ich ja gar nicht.“

„Nein, ich weiß. Solltest du auch nicht. Aber vielleicht fehlt den anderen bislang die Möglichkeit, dich kennenzulernen. Wahrscheinlich bist du für sie bis jetzt das Mädchen aus der Sekte, das von nichts eine Ahnung hat. Das sollten wir ändern, meinst du nicht?“

Libby lächelte kurz. „Es klingt so einfach, wenn du das sagst.“

„Ich weiß. Ist es nicht. Aber das mit der Party sollten wir machen und vielleicht solltest du auch mal jemanden, den du nett findest, ins Kino einladen oder so. Du solltest dich auch wirklich einem der Schulclubs anschließen, denn da siehst du noch mal neue Gesichter und hast andere Möglichkeiten, auf die Leute zuzugehen.“

„Aber ich traue mich nicht ...“

„Ich weiß, aber du musst. Sieh es mal so: Die anderen waren schon da. Für die hat auch ohne dich alles funktioniert. Aber für dich funktioniert nichts ohne sie, deshalb bist du jetzt am Zug.“

„Ich kann aber gar nicht mit denen reden!“, begehrte Libby auf.

„Du weißt auch Dinge. Hast du nicht früher gern gesungen? Die Schule hat doch einen Chor. Oder beherrschst du ein Instrument? Interessierst du dich für Astronomie? Basketball?“ Matt hätte seine Aufzählung ewig fortführen können.

„Schon ...“ murmelte Libby.

„Eben. Das wird schon. Davon abgesehen hat niemand behauptet, dass in der Schule alles einfach ist. Die Kids hier draußen sind anders, was?“

„Ganz anders“, fand Libby.

„Aber du hast auch Dinge zu bieten. Ich weiß, du siehst immer nur deine Schwächen, wenn du dich mit den anderen vergleichst. Du kennst vieles nicht, was sie kennen. Dafür weißt du aber auch vieles, was sie nicht wissen. Du kannst richtig gut kochen und kommst mit vielen Dingen zurecht, die die anderen noch nicht können; das kannst du mir glauben. In vielerlei Hinsicht bist du sehr selbstständig. Und überleg mal, wie mutig du warst. Du bist ganz allein in eine fremde Welt geflohen. Da können die anderen überhaupt nicht mitreden!“

„Die Glücklichen“, brummte Libby.

„Frag doch morgen jemanden, den du nett findest, ob er am Wochenende mit dir ins Kino geht. Und bis du Geburtstag hast, überlegen wir uns, wie deine Party aussehen könnte“, schlug Matt vor.

„Okay.“ Noch klang Libby unschlüssig.

„Außerdem sind deine Pflegeeltern total cool, weil sie beim FBI sind. Hat auch nicht jeder.“

Darüber mussten sowohl Libby als auch Sadie lachen.

„Du bist unmöglich“, sagte Sadie kopfschüttelnd. „Wenn sie das sagt, hat doch jeder Angst vor uns.“

„Meinst du? Ich hätte das cool gefunden. Wir sind ja auch nett und verhaften nicht gleich jeden.“

„Das wäre ja auch noch schöner.“

Matt lächelte Libby zu. „Das wird schon. Du bist jetzt erst seit ein paar Wochen in der Schule. Niemand findet sofort Freunde.“

„Das sagst du doch jetzt nur so", murrte Libby.

„Nein, das stimmt schon. Ich habe damals auch lange gebraucht“, eilte Sadie Matt zu Hilfe.

„Also gut ... wenn ihr meint“, brummte Libby. „Aber in solchen Momenten wünsche ich mir, ich wäre nicht weggelaufen.“

„Das glaube ich dir, aber vergiss nie, was die Alternative gewesen wäre“, erinnerte Sadie sie. „Es ist jetzt vielleicht nicht ganz einfach, aber zusammen schaffen wir das.“

„Hoffentlich habt ihr Recht.”

„Klar, ich kenne mich aus!“, sagte Matt nicht ganz ernst gemeint und ließ die beiden wieder allein.

Sadie fühlte sich Libby in vielerlei Hinsicht sehr nah, denn sie war auch als junges Mädchen in eine neue Familie und eine neue Stadt gekommen, sogar unter einem neuen Namen. Eigentlich hatte sie sich die ganze Schulzeit hindurch wie ein Fremdkörper gefühlt, aber das würde sie Libby nicht sagen. Stattdessen wollte sie ihr eine Freundin sein und ihr zur Seite stehen. Libby war so wissbegierig und warmherzig. Matt hatte Recht: Wenn sie es jetzt schaffte, auf ihre Mitschüler zuzugehen und ihnen zu beweisen, dass sie Qualitäten hatte, würden sie es schon merken. Sie würde Freunde finden.

Zumindest hoffte Sadie es.

Später kam Libby wie so oft mit einem ihrer Schulbücher und richtete ein paar Fragen an Matt und Sadie. Das tat sie öfter. Diesmal traf es Chemie – eins der Fächer, in denen Libby die größten Wissenslücken hatte. In den Naturwissenschaften generell war sie nicht gut aufgestellt, was Matt und Sadie schon in den Wochen vor ihrem Schuleintritt aufzufangen versucht hatten. Aber darüber hinaus unterstützten sie auch die Lehrer an der Schule, die ihr angeboten hatten, jederzeit nach dem Unterricht in der Lernphase zu ihnen zu kommen, was Libby auch rege nutzte. So bekam sie eine Art persönliche Nachhilfe, was sehr hilfreich für sie war.

Anschließend ging sie wieder nach oben, um ein bisschen im Internet zu surfen, wie sie sagte. Sadie wusste, sie würde auch nicht sehr spät ins Bett gehen. Das hatte sich nie geändert, Libby war es von früher so gewöhnt, früh schlafen zu gehen. Tatsächlich fand Sadie das sehr angenehm, denn sie hatte unverändert viel Zeit, die sie mit Matt allein verbringen konnte.

Und danach war ihr in letzter Zeit sehr zumute.

Als Libby wieder nach oben gegangen war, versuchte Sadie, Nathan zu erreichen, aber sie hatte keinen Erfolg. Wahrscheinlich hatte er zu tun. Sie schickte ihm eine kurze Mail mit der Bitte, dass er sich melden sollte, und setzte sich dann zu Matt aufs Sofa. Er legte einen Arm um ihre Schultern und drückte einen Kuss auf ihre Stirn.

„Schon verrückt“, sagte er. „Ein Kind haben wir schon und demnächst dann ein zweites. Plötzlich Familie!“

„Allerdings“, sagte Sadie. „Wobei ich Libby nicht als mein Kind betrachte. Eher als meinen Schützling.“

„Trotzdem haben wir jetzt ein richtiges Familienleben mit Schulkind.“

„Das stimmt. Und in einem halben Jahr haben wir keinen Schlaf mehr.“

Matt grinste. „Tausche Schlaf gegen Baby. Aber ich freue mich drauf.“

„Ich mich inzwischen auch“, sagte Sadie und meinte es so.

„Hätte nie gedacht, dass du das mal sagen würdest.“

„Ich auch nicht“, gab Sadie offen zu. „Aber jetzt, wo es soweit ist, fühlt es sich anders an.“

„Dabei merkst du doch noch gar nichts.“

„Nicht das Baby, nein. Aber so viele andere Dinge.“ Anfangs war Sadie oft übel gewesen und sie hätte anfallsartig wie ein Murmeltier schlafen können, aber das hatte sich nach drei Monaten gelegt. Inzwischen war es eher, dass sie literweise Milch trinken wollte und verstärkt auf Streicheleinheiten von Matt aus war, was er gar nicht schlimm fand. Und tatsächlich, wenn sie nackt vor dem Spiegel stand, konnte sie schon einen kleinen Bauchansatz sehen und ihre Unterwäsche passte inzwischen auch nur noch schlecht. Das machte es echt. Sie würde ein Kind bekommen.

Matt legte seine Hand auf ihren Bauch. „Ich bin schon so gespannt, wie es sich anfühlt.“

„Ich auch“, sagte Sadie und legte ihre Hand auf seine. „Irgendwie ist das alles ein Wunder. Ich freue mich so darauf, zu sehen, wie dieser kleine Mensch sein wird. Und ich möchte ihn ständig beschützen.“

„Geht mir auch so. Vor allem dich. Klar, eigentlich wollte ich das immer ... aber jetzt erst recht. Und ich freue mich so, dass du keine Angst mehr hast.“

„Nein, irgendwie nicht. Ich habe mir immer so viel Schlimmes vorgestellt, aber das ist doch Quatsch. Ich bin nicht wie mein Vater, also muss mein Kind es auch nicht sein. Ich habe mich da in etwas reingesteigert. Jetzt ist wirklich alles anders.“

Besonders seit der letzten Ultraschalluntersuchung hatte sich Sadies Einstellung zum Thema verändert. Als sie auf dem Bildschirm den kleinen Körper des Babys gesehen hatte, mit Armen und Beinen und voll funktionstüchtig, hatte sie sich regelrecht verliebt. Da war ein kleiner Mensch in ihrem Bauch. Ein gemeinsames Kind von ihr und Matt. Und irgendwie war sie stolz auf sich, dass sie dazu in der Lage war, dieses kleine Leben zustande zu bringen. Weggeblasen waren alle Ängste und Zweifel. Vielleicht war sie auch längst ein Opfer ihrer eigenen Hormone – wenn sie Matts Nähe suchte oder ihm unverhohlen zu verstehen gab, dass sie wieder mit ihm ins Bett gehen wollte, behauptete er das jedenfalls.