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Bei ihrer Rückkehr aus dem Urlaub wartet Post auf Profilerin Sadie: Serienmörder Brian Leigh sucht Kontakt zu der Agentin, die ihn seinerzeit gestoppt und hinter Gitter gebracht hat. Bei einem Besuch im Gefängnis wittert Sadie, dass Brian etwas im Schilde führt und befürchtet einen Fluchtversuch bei Brians anstehender Verlegung nach San Quentin. Nur wenige Tage später ruft LAPD-Detective Nathan Morris mit einer Hiobsbotschaft an: Brian ist noch vor seinem Gefangenentransport geflohen – und zwar nicht allein. Er wird begleitet von Frauenmörder Tyler Evans, den Sadie vor Brian zur Strecke gebracht hat. Sofort bekommen Sadie und ihre Familie Polizeischutz, denn Brian und Tyler haben keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Rache wollen. Eine atemlose Hetzjagd beginnt …
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Rachlust
Sadie Scott 16
Psychothriller
Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen.
Isaac Asimov
„Ihr seid hier jederzeit wieder herzlich willkommen“, sagte Matt. Andrea nickte sofort.
„Das ist toll, wir haben hier noch längst nicht alles gesehen. Ich beneide euch so um euer Land!“
„Und viele Amerikaner sehen bis zur Rente nicht besonders viel davon“, sagte Matt bedauernd. „Ich habe schon jede sich bietende Gelegenheit zum Reisen genutzt, in den letzten Jahren auch mit Sadie.“
„Der Yellowstone war so toll“, schwärmte Sadie.
„Oh, der steht noch auf meiner Liste … Wir kommen wieder“, sagte Andrea.
„Geh nicht“, sagte Libby nicht ganz ernst gemeint und etwas theatralisch zu Julie, während sie ihr um den Hals fiel.
„Ich will auch gar nicht“, murrte Julie. „Es ist so viel cooler hier als in England.“
„Ach, das ja nun auch wieder nicht“, widersprach Libby. „England ist klasse.“
„Lass uns tauschen!“
„Ich fürchte, wir müssen langsam“, sagte Matt mit Blick auf die Uhr. Gern hätten sie alle Andrea und ihre Familie zum Flughafen begleitet, aber so viel Platz hatten sie nicht im Auto. Matt würde sie allein zum Thomas Bradley International Airport fahren.
„Sieht so aus“, sagte Sadie und umarmte Andrea noch ein letztes Mal. „Wir bleiben in Kontakt.“
„Wie immer“, sagte Andrea und ging zum Auto. Libby und Julie nahmen Abschied, dann blieben Sadie, Hayley und Libby in der Auffahrt zurück, während Matt den Motor startete und den Weg zum Flughafen einschlug. Sadie und Libby gingen wieder ins Haus. Hayley saß zufrieden auf Sadies Arm und zappelte herum. Sie gingen in die Küche, wo Libby sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank nahm. Dann seufzte sie traurig.
„Julie ist klasse … hier kenne ich niemanden, der ist wie sie.“
„Das verstehe ich“, erwiderte Sadie. „Mit ihrer Mutter geht es mir ähnlich.“
„Du hast mit Andrea aber deutlich mehr Gemeinsamkeiten“, sagte Libby.
„Sicher, aber Julie hat durch den Beruf ihrer Mutter eine bestimmte Sicht auf die Dinge. Sie ist schon mit vielen Dingen in Kontakt gekommen, die Gleichaltrige nicht kennen. Deshalb versteht sie dich auch gut“, sagte Sadie.
Libby nickte. „Sie wird mir fehlen.“
Das konnte Sadie wirklich gut nachvollziehen, denn sie hatte die Mädchen zusammen gesehen. Sie waren einander vertraut, konnten stundenlang reden, verstanden sich wunderbar. Und das, obwohl sie tausende Meilen voneinander entfernt lebten, mehrere Zeitzonen sie trennten und sie sich erst zweimal persönlich gesehen hatten. Aber Sadie wusste, dass sie sich regelmäßig Mails schrieben und wann immer sie Gelegenheit hatten und die Zeitverschiebung es zuließ, telefonierten sie auch. Für Libby war das ein Geschenk. Sadie war froh, dass sie die Chance gehabt hatte, Libby mit nach England zu nehmen, um ihr das zu ermöglichen.
Überhaupt konnte sie Libby so viel ermöglichen, was noch vor zwei Jahren für das Mädchen undenkbar gewesen war. Inzwischen war Libby in dieser Welt angekommen, hatte sich an alles gewöhnt, wirkte gefestigt. Aber ihr alltägliches Leben spielte dabei auch eine große Rolle: In der Schule wurde sie inzwischen ganz normal behandelt, niemand machte einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen. Sie hatte bereits den Führerschein und konnte Auto fahren – etwas, woran in der Sekte für sie kein Denken gewesen wäre. Sie durfte jetzt das normale Leben eines amerikanischen Teenagers leben, anstatt zwangsverheiratet und vermutlich vergewaltigt ihr erstes Kind eines Mannes zu hüten, der nicht bloß sie als Frau hatte. Sadie mochte sich die Trostlosigkeit und Furcht nicht vorstellen, die dieses Leben wohl prägten. Sie verstand so gut, dass Libby davor geflohen war und sie war wirklich froh, dass sie Libby jetzt ein wenig begleiten konnte. Das hatte man für sie schließlich auch einst getan.
Sadie war ebenfalls etwas traurig, dass die unbeschwerte Zeit des Urlaubs schon vorbei war. Sie hatte die Zeit am Grand Canyon genossen, auch wenn sie ihr viel zu kurz erschienen war. Sie konnte Andrea gut verstehen, die sich in ihrem Urlaub regelrecht in die Wüste der USA verliebt hatte. Es war ihr immer ähnlich gegangen.
Aber nun standen viele Veränderungen bevor. Matt würde in zwei Tagen wieder zur Arbeit gehen und Hayley würde die Tage ab Libbys Schulbeginn bei einer wundervollen und lieben Tagesmutter verbringen, nach der Sadie und Matt lange und gezielt gesucht hatten. Matt war öfter mit Hayley dort gewesen, um sie an alles zu gewöhnen, und auch Sadie hatte sich alles genau angesehen. Was ihre Tochter betraf, wollte sie ganz sicher gehen, dass sie es gut antraf. Sie liebte Hayley einfach viel zu sehr und war davon überzeugt, dass ihre Tochter das gut meistern würde.
Während Libby in ihr Zimmer ging, setzte Sadie Hayley auf dem Wohnzimmerteppich ab und räumte ein wenig in der Küche auf. Sie war schließlich so vertieft in die Hausarbeit, dass sie Matts Rückkehr erst bemerkte, als er im Flur nach ihr rief. Sie hockte in diesem Moment vor der Waschmaschine.
„Was ist denn?“, antwortete sie.
„Du hast schon wieder Post“, sagte er.
Sadie stöhnte. Sie wusste, Matt meinte damit einen weiteren Brief von Brian Leigh. Er schien es sich jetzt zur Gewohnheit zu machen, sie mit Briefen zu nerven. Den ersten hatte er ihr ziemlich unmittelbar nach der Verkündung seines Strafmaßes geschrieben, das nun war bereits der vierte. Sadie wunderte sich wirklich, dass er sein knappes Taschengeld für Briefmarken ausgab, nur um der FBI-Agentin zu schreiben, die ihn hinter Gitter gebracht hatte.
„Kannst ihn behalten“, erwiderte sie knapp.
Als keine Antwort kam, wunderte sie sich schon und dachte, dass das Problem damit erledigt sei. Allerdings hatte sie sich getäuscht. Sie fand Matt mitten in der Küche vor – lesend. Er hatte den Brief geöffnet.
„Was tust du da?“, fragte sie überrascht.
„Was du gesagt hast. Ich will wissen, was dieser Kerl dir schreibt.“
„Ich nicht“, murmelte sie.
Matt las den Brief noch zu Ende und blickte dann auf. „Solltest du aber.“
„Wieso?“ Skeptisch hob Sadie eine Augenbraue.
Wortlos hielt Matt ihr den Brief hin und Sadie nahm ihn in die Hand, bevor sie zu lesen begann.
Ich verstehe nicht, warum du mich ignorierst. Du hast doch auch mit Carter Manning hier gesprochen, das hat er mir erzählt. Ich sagte ja, hier sitzen einige, die mit dir zu tun hatten. Ihre Berichte sind teilweise deckungsgleich, sie alle haben einen gewissen Respekt vor dir. Sogar Juan Filhos – den hast du ziemlich beeindruckt, um ehrlich zu sein.
Aber die beiden meinte ich gar nicht, als ich letztens von jemandem sprach, der mir Dinge über dich erzählt hat. Eigentlich nicht bloß über dich, sondern speziell über deinen Ehemann. Sicher weißt du, was ich meine, wenn ich sage, dass Tyler Evans sie mir erzählt hat.
Ich denke wirklich, du solltest mal herkommen und dich mit mir unterhalten. Nicht unbedingt darüber … eher ganz allgemein. Lass uns reden, Special Agent Sadie Whitman, FBI-Profilerin. Du wirst es nicht bereuen.
Wobei ich einsehe, dass du Libby dann schlecht mitbringen kannst. Sie will bestimmt nicht hören, was ich dir über die Morde erzählen kann. Wir hatten ja nie mehr wirklich die Gelegenheit, ins Detail zu gehen.
Aber noch ist nicht klar, wann ich nach San Quentin komme – vielleicht haben wir bis dahin noch öfter Gelegenheit, zu reden. Was meinst du?
Sadies Blick hatte sich verdüstert. „Er droht dir?“
„Nein, so dumm ist er nicht. Er wollte ja, dass der Brief hier ankommt“, grollte Matt.
„Er will dir Scherereien machen, wenn ich nicht hinfahre! Ich fasse es nicht … Tyler hat ihm das erzählt?“ Sadie schüttelte ungläubig den Kopf.
An Tyler Evans hatte sie ja schon gedacht, seit Brian ihr das erste Mal davon geschrieben hatte, dass er im Knast mit jemandem über sie gesprochen hatte. Carter Manning hatte sie für sich ausgeschlossen, und an Juan Filhos hatte sie nicht wirklich geglaubt. Joey Baker konnte es gar nicht sein, der saß in Chino ein, genau wie der Pasadena Stalker Julio Hernandez. Aber Tyler Evans war ebenfalls in Lancaster inhaftiert. Chino war ziemlich überbelegt, deshalb war das kein Wunder. Craig Conway fiel aus, der saß seine Strafe ja längst in England ab.
Also hatte sie Recht gehabt. Es war Tyler. Und Tyler wusste von Stacy.
Sadie musste zugeben, dass sie anfangs tatsächlich hin- und hergerissen gewesen war und überlegt hatte, ob sie nicht tatsächlich nach Lancaster fahren und mit Brian sprechen sollte. Eine gewisse Neugier konnte sie nicht leugnen – allerdings hatte er ihr jede ernsthafte Lust darauf mit seinem Ausbruch im Gerichtssaal ausgetrieben. Sie hatte dabei auch an Libby gedacht, denn sie glaubte, dass Libby sich schwer damit tun würde, zu verstehen, warum Sadie jetzt noch mit Brian sprechen wollte. Nicht zuletzt war der Zeitpunkt schlecht gewesen, aber Brian gab ja einfach keine Ruhe.
„Ich kenne diesen Gesichtsausdruck“, sagte Matt.
Sadie blickte auf. „Ich könnte ihm den Hals umdrehen!“
„Weshalb?“
„Das hat mir gerade noch gefehlt, dass er mit Tyler Evans spricht.“
„Das hattest du doch sowieso vermutet.“
„Ja … leider. Die zwei verstehen sich bestimmt hervorragend.“
„Du musst das nicht meinetwegen tun“, sagte Matt. „Soll er doch machen, was er will. Evans konnte mir damals schon nichts anhaben.“
„Ich lasse es bestimmt nicht drauf ankommen“, grollte Sadie.
„Also willst du hin.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, den Brief immer noch in der Hand, und seufzte. „Ich weiß es nicht. Natürlich wäre es interessant, mit ihm zu reden, aber ich könnte ihm wirklich den Hals umdrehen. Eigentlich will ich ihn nicht wiedersehen. Und Libby freut sich bestimmt auch nicht.“
„Sie wird es verstehen.“
„Ja, schon …“ Sadie seufzte erneut. „Ich frage Cassandra, was sie dazu meint.“
„Gute Idee. Vielleicht will sie mit.“
Das hielt Sadie ebenfalls für möglich. Sie ging zum Schreibtisch und holte die anderen Briefe von Brian heraus. Cassandra kannte nur die ersten beiden, der dritte war während ihres Urlaubs gekommen. Doch bevor sie ihre Kollegin anrief, überflog sie die Briefe selbst noch einmal. Vielleicht fiel ihr noch etwas auf.
Der zweite war etwa eine Woche nach dem ersten eingetroffen und hatte sie tatsächlich ins Grübeln gebracht. Er hatte so versöhnlich geklungen.
Mein erster Brief sollte dich eigentlich erreicht haben, da hatte die Gefängnisleitung nichts zu beanstanden. Willst du es nicht machen wie John Douglas und Robert Ressler, die Urväter deiner Disziplin, und einen Austausch mit mir führen? Solange ich noch hier in Lancaster bin, wäre es doch ein Leichtes für dich. Interessieren dich meine Beweggründe denn gar nicht? Vieles hast du ja vor Gericht schon ganz richtig ausgeführt, das muss ich zugeben. Ich verstehe nur nicht, warum du glaubst, dass ich nicht zu einem eigenen Szenario in der Lage gewesen wäre. Dass ich berühmte Vorbilder hatte, heißt doch nicht, dass ich unkreativ bin. Kannst du dir vorstellen, was dazugehört, jemanden wie Dennis Rader nachzuahmen? Man hat ihn über drei Jahrzehnte nicht geschnappt. Den Zodiac-Killer hat man bis heute nicht.
Ich weiß, in diese Liga habe ich es nicht ganz geschafft. Mein Vorliebe für Libby hat mir den Hals gebrochen. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, jemanden sympathisch zu finden und ihn gleichzeitig weh tun zu wollen? Das ist ganz schön anstrengend.
Ich wünschte, ihr würdet mich besuchen kommen. Beide. Ich würde Libby gern sagen, dass ich sie nicht umbringen wollte. Auch nicht bei dem Unfall. Ich wollte, dass sie meine Caril Ann ist. Ich würde ihr ja einen Brief schreiben und ihr das selber sagen, aber den würdest du ihr vermutlich nicht geben und ich glaube auch nicht, dass sie ihn lesen würde.
Aber du liest meine Post, denn ich glaube, du bist neugierig. Antworte mir doch wenigstens.
Bei aller scheinbaren Versöhnlichkeit hatte der Brief Sadie jedoch auch geärgert, denn Brian hatte ihr für ihren Geschmack zu viel von Libby gesprochen. Sie musste ihre Adoptivtochter beschützen und hatte ihr diesen Brief auch gar nicht gezeigt. Zwar wusste Libby, dass Brian ihr schrieb, aber sie hatte nicht weiter gefragt und Sadie hatte auch von sich aus nichts mehr dazu gesagt.
In seinem nächsten Brief war er dann etwas direkter geworden.
Es ist so schade, dass du mir überhaupt nicht antwortest. Ich weiß, du hast Gründe, wütend auf mich zu sein. Nimmst du das mit Libby persönlich? Bitte nicht. Ihr müsst mir glauben, dass ich ihr nichts tun wollte. Das ist alles entgleist. Ich wollte doch auch keine Verfolgungsjagd. Das alles tut mir leid.
Willst du wirklich nicht nach Lancaster kommen, Special Agent? Ich hätte zu gern gewusst, wie du mein Profil erstellt hast. Ich könnte dir erklären, wo du vielleicht falsch gelegen hast. Das würde doch bestimmt für zukünftige Fälle helfen, oder nicht?
Immerhin in einer Hinsicht bin ich Charles Starkweather ähnlich: Man hat mich auch mit neunzehn zum Tode verurteilt. Darauf bin ich nicht stolz, aber ich bin auch nicht wütend. Ja, ich habe all diese Menschen getötet. Das habe ich nie geleugnet. Aber dafür gab es Gründe. Du hast gesagt, nicht jeder Mensch mit einer schweren Kindheit wird zum Mörder. Das stimmt, aber du hast mich nie wirklich verstanden.
Ich meine das ernst, lass uns reden. Schreib mir doch wenigstens. Ich hätte tatsächlich auch Fragen an dich. Ich habe hier Dinge über dich erfahren, die ich wirklich spannend finde. Weißt du, von wem? Du hast doch sicher einen Verdacht.
Bitte richte Libby einen ernst gemeinten Gruß von mir aus.
Diesen Brief hatte Sadie erst zwei Tage zuvor bei ihrer Rückkehr aus Arizona entdeckt und bislang weitgehend ignoriert. Überhaupt war der Besuch von Andrea und ihrer Familie der Grund dafür, dass sie sich nicht weiter mit dem Thema beschäftigt hatte. Aber davon wusste Brian natürlich nichts und es wäre ihm wohl auch egal gewesen.
Dass er sich mit Tyler Evans angefreundet hatte, gefiel Sadie überhaupt nicht. Warum konnte man ihn nicht endlich nach San Quentin verlegen? Es war ein Kreuz mit den überfüllten Gefängnissen.
Und Tyler Evans hielt sie durchaus für gefährlich. Sie konnte sich prima vorstellen, dass Brian und Tyler sich gut verstanden. Tyler war zwar ein paar Jahre älter als Brian und hatte einen ganz anderen Hintergrund, aber was brutale Morde anging, hatten sie sich etwas zu sagen. Tyler hatte Anita Paley im Drogenrausch vergewaltigt, gefoltert und brutal totgeschlagen. Er war nicht der typische Serientäter, aber unter den passenden Voraussetzungen hätte er es wieder getan.
Und Brian … sie konnte das Todesurteil für ihn einfach nicht falsch finden, denn sie hielt ihn für äußerst gefährlich. Er war erst neunzehn und hatte trotzdem schon neun Menschen getötet. Er war davon besessen gewesen, hatte es präzise und durchdacht angestellt und die Ermittler monatelang vorgeführt.
Tatsächlich war ihm nur seine Schwäche für Libby zum Verhängnis geworden. Hätte er sich ihr nicht offenbart, wäre nichts passiert. Aber er hatte sich ihr anvertraut und sie entführt – nur deshalb war Sadie misstrauisch geworden.
Er hatte etwas an sich, das ihr eine Gänsehaut bescherte. Sie konnte es nicht genau benennen, aber sie war selten bei einem Täter so froh gewesen, ihn hinter Gittern zu wissen, wie bei Brian. Wie Tyler Evans war Brian ein sadistischer Vergewaltiger. Das hatte er zwar nicht bei jeder seiner Taten bewiesen, aber der Tod seines ersten Opfers, der Schülerin Emily Bryant, musste schrecklich gewesen sein.
Matt verschwand in der Küche, während Sadie zum Telefon griff und Cassandra anrief. Sie hatte jedoch zuerst Jason am Telefon, der erst auf die Suche nach seiner Freundin gehen musste.
„Sadie für dich“, sagte er schließlich und reichte Cassandra das Telefon.
„Hey, was gibt es? Ist dein Besuch schon weg?“, fragte Cassandra.
„Ja, Matt hat sie vorhin zum Flughafen gebracht. Ich rufe an wegen Brian Leigh.“
„Ah.“ Cassandra klang wissend. „Neue Post?“
„Kann man so sagen. Ein Brief kam, als wir in Arizona waren, und vorhin noch ein weiterer. Ich überlege ernsthaft, ob wir ihm nicht am Montag einen Besuch abstatten sollen.“
Darüber musste Cassandra erst nachdenken. „Jetzt also doch?“
„Ja, er hört sonst doch nicht auf. Hören wir uns an, was er zu sagen hat.“
„Du bist neugierig.“
„Auch, wobei ich nach seiner wüsten Drohung im Gerichtssaal wirklich keine Sehnsucht nach ihm habe.“
„Glaube ich dir. Aber ja, bin dabei. Ich habe gerade keinen Fall, nur Papierkram. Passt also hervorragend.“
Sadie lächelte. „Treffen wir uns im Büro?“
„Sicher.“
„Sehr gut. Bis Montag.“
Cassandra verabschiedete sich von ihr und Sadie legte auf. Sie hatte wirklich keine Sehnsucht nach Brian, aber es half ja nicht.
Sie wollte sich erst einmal nicht weiter damit auseinandersetzen und widmete sich wieder der Hausarbeit – nach der Abreise ihrer Gäste musste noch einiges aufgeräumt werden und manches war auch liegengeblieben. Mittendrin erwachte Hayley und Sadie ging schnell nach oben, um ihre Tochter aus dem Bettchen zu nehmen. Als Hayley ihre Mutter im Halbdunkel des Schlafzimmers erkannte, streckte sie gleich ihre Ärmchen nach oben und strahlte übers ganze Gesicht. Sadie wurde warm ums Herz.
„Hey“, sagte sie und nahm ihre Tochter auf den Arm. In ein paar Tagen wurde Hayley schon ein Jahr alt. Sadie konnte es nicht fassen. Für sie war es, als sei Hayleys Geburt erst gestern gewesen. Sie konnte sich gut an alles erinnern und war stolz und glücklich zugleich, dass alles so abgelaufen war. Durch Hayley hatte sie ein ganz neues und unbekanntes Selbstvertrauen gewonnen und allein dafür liebte sie ihre Tochter über alles. Sie drückte sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die weiche Wange, dann ging sie mit Hayley hinüber zu Libbys Zimmer und klopfte dort an die angelehnte Tür. Sie konnte leise Musik hören.
Libby saß vor ihrem Laptop und war damit beschäftigt, sich Videos bei Youtube anzusehen. Sadie lächelte. Es war schön für sie, zu wissen, dass Libby inzwischen ganz normale Dinge tun konnte.
„Hey“, sagte Libby und pausierte das Video. „Da ist ja meine kleine Schwester! Gut geschlafen?“
Hayley strahlte sie fröhlich an. Das reichte Libby als Antwort.
„Was gibt’s?“, fragte Libby an Sadie gewandt.
„Ich muss mit dir über Brian reden“, sagte Sadie und nahm mit Hayley auf Libbys Bettkante Platz.
„Ah.” Libby verzog murrend das Gesicht. „Hat er wieder geschrieben?“
Sadie nickte. „Er ist da irgendwie ziemlich hartnäckig.“
„Wie viele Briefe sind das jetzt?“
„Vier.“
„Oh.“ Libby nickte. „Und was will er?“
„Mit mir reden. Er will ja, dass ich ihm antworte … oder, besser noch, zu ihm ins Gefängnis komme.“
„Das könnte ihm so passen.“
„Am liebsten hätte er es, du kämst mit.“ Sadie wollte ehrlich zu Libby sein, die nur verächtlich kicherte.
„Ist nicht sein Ernst.“
„Doch, das schon, aber natürlich kommt das nicht in Frage. Ich wollte dir nur sagen, dass ich am Montag wirklich mit Cassandra hinfahren werde. Vielleicht reicht ihm das.“
„Okay“, sagte Libby bloß.
„Ich hatte gehofft, dass es kein Problem für dich ist.“
„Nö, musst du ja wissen. Das ist deine Arbeit. Wenn du mit ihm reden willst, nur zu. Solange ich das nicht muss.“
„Nein, dafür werde ich schon sorgen. Er würde dir ja auch gern schreiben, weiß aber, dass ich dir keinen Brief geben würde.“
„Ist auch richtig so. Er hat mich geküsst und mir dann gesagt, dass er ein Serienmörder ist. Das ist doch krank.“ Mit einem unwirschen Gesichtsausdruck zog Libby die Schultern hoch und schüttelte sich.
„Du konntest es nicht wissen.“
„Nein, aber das war mies von ihm. Einfach nur mies. Und ich mochte ihn …“ Es klang, als sei Libby enttäuscht über sich selbst. Sadie lächelte ihr zu.
„So etwas passiert. Sei nicht so hart zu dir selbst.“ Mit diesen Worten stand sie auf und ging langsam zur Tür. Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick.
Hoffentlich hatte der heutige Speiseplan etwas Gescheites zu bieten. Das war einer der wirklich anstrengenden Aspekte des Gefängnislebens. Wie gern wäre Brian zwischendurch mal in einen Burger-Laden gegangen. Das konnte er jetzt vergessen. Und zwar für immer, das war ihm klar.
Gelangweilt wanderte er mit der Schlange näher auf die Essensausgabe zu. Als jemand sich hinter ihm anstellte, achtete er gar nicht weiter darauf, bis er angesprochen wurde.
„Ich habe gehört, du wurdest schuldig gesprochen.“
Brian drehte sich um. „Ich hatte nichts anderes erwartet.“
Er musterte den jungen Mann hinter sich, schätzte ihn auf Mitte zwanzig, ein paar Jahre älter als sich selbst. Er hatte dunkles Haar, war gutaussehend. Ein Machotyp. Und er hatte stahlblaue Augen. Brian wurde das Gefühl nicht los, ihn schon mal gesehen zu haben – vor seiner Haft. Außerhalb.
„Wusstest du, dass wir eine Gemeinsamkeit haben?“, fragte der andere.
Brian schüttelte den Kopf. „Ich weiß doch gar nicht, wer du bist.“
„Okay, mein Fehler.“ Er reichte Brian die Hand. „Tyler Evans.“
Brian schüttelte seine Hand und nickte ihm zu. „Weshalb sitzt du hier?“
Die Standardfrage, die immer wieder aufkam. Ihm hatte man diese Frage anfangs nur ein paar Mal gestellt, seitdem wusste jeder Bescheid. Inzwischen war er im Antelope Valley State Prison bekannt wie ein bunter Hund. So junge Serienmörder gab es nicht oft.
„Mord“, sagte Tyler. „Und Vergewaltigung.“
„Und, warst du’s?“
Tyler grinste. „Diplomatie ist ja nicht so dein Ding.“
„Wer hat denn angefangen?“, erwiderte Brian achselzuckend.
„Okay, der Punkt geht an dich.“
Brian grinste. „Ich will nur wissen, mit wem ich es hier zu tun habe.“
„Das weißt du wirklich nicht, oder?“
Fragend hob Brian eine Augenbraue. „Sollte ich?“
„Ich bin seit etwas über einem Jahr hier. Das war auch ein Thema in den Medien.“
Brian zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Erzähl mal.“
„Gleich“, sagte Tyler, denn sie waren fast an der Reihe und holten sich beide erst einmal etwas zu essen. Die unverhoffte Gesellschaft beim Essen kam Brian sehr gelegen, denn bis jetzt hatte er noch niemanden, mit dem er sich wirklich gut verstanden hätte. Niemand wusste so recht, was man von ihm zu halten hatte.
Mit gefüllten Tabletts machten die beiden sich schließlich auf den Weg zu einem Tisch in der Ecke des Speisesaals und setzten sich einander gegenüber. Brian begann hungrig zu essen. Immerhin – Chicken Wings.
„Ich war zusammen mit einem Freund in einem Hotel … wir hatten eine Edelprostituierte gebucht“, erzählte Tyler. „Wir haben gekokst … und plötzlich war sie tot. Mein Kumpel hat mich ganz schön ans Messer geliefert.“
„Ist er auch hier?“, fragte Brian.
„Nein, er ist Engländer und sitzt jetzt zu Hause seine Strafe ab. Ist auch besser für ihn, ich würde ihm am liebsten den Hals umdrehen.“
„Weil er die Frau umgebracht hat?“
Tyler schüttelte den Kopf. „Weil er sein Maul nicht halten konnte. Aber eigentlich wollte ich mit dir reden, weil uns etwas anderes verbindet.“
„Und was?“, fragte Brian mit halb vollem Mund.
„Special Agent Sadie Whitman.“
Brian hörte auf zu kauen. „Ist nicht dein Ernst.“
Tyler nickte. „Bei mir waren es auch Detective Morris und Special Agent Whitman, die mir den Hals gebrochen haben.“
„Ist ja ein Ding.“ Das meinte Brian ehrlich, er war wirklich erstaunt.
„Ich fürchte, da hattest du einfach Pech. Die Frau ist wie eine Gedankenleserin.“
„Scheiße, ja“, stimmte Brian ihm zu. „Die ist echt unheimlich.“
„Ich war erstaunt, dass sie ganz allein rausgefunden hat, was bei uns in diesem Hotelzimmer gelaufen ist. Ihretwegen sitze ich jetzt mindestens fünfundzwanzig Jahre hier, wahrscheinlich mehr.“
Brian zuckte mit den Schultern. „Bei mir müssen sie sich noch überlegen, ob ich ein paar Mal lebenslänglich kriege oder die Giftspritze.“
„Ich weiß“, sagte Tyler. „Ich wette, du könntest ihr den Hals umdrehen.“
„Hätte was“, gab Brian zu. „Mein Fehler war, dass ich eine Schwäche für ihre Pflegetochter entwickelt habe.“
„Oh“, machte Tyler und grinste süffisant. „War sie es wert?“
„Ich dachte, das wird was … aber wenn du mitbekommen hast, was gelaufen ist … diese Verfolgungsjagd auf dem Freeway …“
„Nicht genau“, gab Tyler zu. „Ich hab nur im Zuge deines Schuldspruches mitbekommen, dass sie im Gericht war. Ich dachte, darauf muss ich dich mal ansprechen, wenn ich dich sehe.“
„Klingt so, als hättest du so ein persönliches Ding mit ihr.“
„Schon. Ihr eigener Mann hat eine Frau umgebracht und sie deckt ihn.“
Brian hielt in seiner Bewegung inne und ließ die Gabel wieder sinken. „Ist nicht wahr.“
Tyler nickte. „Ich kann dir so einiges erzählen.“
„Ist ja interessant …“
„Ich sehe schon, wir müssen uns mal ausführlicher unterhalten.“
Brian grinste. „Wenn du willst.“
„Ich weiß gar nicht so viel über dich. Es hieß immer nur, du seist ein Serienmörder und erst achtzehn.“
„Inzwischen bin ich neunzehn, aber ja“, sagte Brian.
Tyler lachte amüsiert. „Als ob das einen Unterschied macht. Wie kommt man dazu, mit achtzehn so viele Leute umzubringen?“
Unschlüssig zuckte Brian mit den Schultern. „Lange Geschichte. Du kommst mir aber auch irgendwie bekannt vor.“
„Kann schon sein. Es war ein großes Thema in den Medien, dass der Sohn des Bürgermeisters eine Hure umgebracht hat.“
Brians Augen wurden groß. „Du bist …“
Tyler nickte. „Ja. Das bin ich.“
„Daher kenne ich dich! Sie hat also auch gegen dich ermittelt.“
„Ja, so wie gegen einige andere hier. Ich bin nicht der Einzige hier, der sie kennt.“
„Das habe ich bislang überhaupt nicht mitbekommen“, musste Brian zugeben.
„Sie haben hier alle Respekt vor dir. Finden dich unheimlich. Ich wusste erst nicht, was ich von dir halten soll, aber ich dachte, genau deshalb spreche ich dich mal an. Wusste gar nicht, dass sie jetzt eine Pflegetochter hat.“
„Doch … sie ist fünfzehn und kommt aus einer Mormonensekte. Sie hat mir erzählt, dass sie seit den Ermittlungen bei Agent Whitman lebt. Ihre Mutter wurde umgebracht.“
Tyler grinste breit. „Wenn man dir so zuhört, könnte man glatt meinen, du bist verknallt in die Kleine.“
„War ich auch“, gab Brian freimütig zu. „Und?“
„Das ist bitter. Hat sie dich wenigstens rangelassen?“
„Dazu kam es nie.“
„Zu dumm. Aber schon interessant – als die Ermittlungen gegen mich liefen, war das Mädchen noch nicht da.“
„Agent Whitman hat inzwischen auch ein eigenes Kind.“
Tyler lachte. „Wie ehrfürchtig du sie Agent Whitman nennst.“
Brian zuckte mit den Schultern. „Stimmt doch.“
„Schon klar … egal. Sie hat ein eigenes Kind?“
Brian nickte. „Ich wollte erst sie … hätte auch seinen Reiz gehabt. Wäre bestimmt anders gewesen mit einer Schwangeren.“
Tyler verzog mit einer Mischung aus Ekel und Anerkennung das Gesicht. „Du bist wirklich nicht mehr ganz dicht, wie die anderen sagten.“
„Was denn?“, fragte Brian arglos. „Sag mir nicht, du hättest nie drüber nachgedacht.“
„Doch, klar. Sie hätte eine richtige Abreibung verdient.“
Gedankenversunken nickte Brian. „Die Chance kriege ich wohl nicht mehr.“
„Sei doch nicht so voreilig!“
„Ist das seltsam“, sagte Matt, während er auf den Parkplatz des FBI fuhr. Innerhalb des letzten Jahres war er nicht oft dort gewesen. Zwar hatte er ein paar Wochen gearbeitet, als Sadie nach ihrer schweren Schussverletzung ausgefallen war, aber seitdem war er nur zweimal dort gewesen und fühlte sich jetzt ein wenig fremd.
„Glaube ich dir“, sagte Sadie. „Ich hoffe, wir muten Libby nicht zu viel zu.“
„Es war ihre Idee.“
„Ja, aber sie ist den ganzen Tag allein mit Hayley.“
„Sie schafft das, glaub mir.“
„Das macht sie, weil sie glaubt, sie schulde uns was.“
„Nein, das denke ich nicht. Sie liebt unsere Tochter wie eine kleine Schwester. Wir sind jetzt eine Familie, Sadie. Sie trägt jetzt sogar unseren Namen und ist erbberechtigt. Lass sie auf Hayley aufpassen. Sie meldet sich schon, wenn etwas ist.“
Das alles versuchte Sadie sich auch zu sagen, aber sie hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen. Libby hatte noch eine Woche Ferien und selbst angeboten, sich in dieser Woche um Hayley zu kümmern, damit sie noch nicht zur Tagesmutter gehen musste. Und auch, wenn Sadie sich Gedanken machte, musste sie zugeben, dass sie stolz auf Libby war.
Am Eingang ließ Matt seinen Ausweis ohne Probleme einlesen. Dabei wirkte er ein wenig unsicher, was Sadie nachvollziehen konnte. Schließlich hatte er sogar mit dem Job als solchem gehadert und machte die Arbeit am Schreibtisch jetzt als Kompromiss. Gemeinsam fuhren sie mit dem Aufzug nach oben und ungeachtet der anderen Personen im Aufzug gab Sadie Matt einen Kuss, als er auf seiner Etage aussteigen musste. Sie fuhr noch zwei Stockwerke höher und ging auf ihrer Etage gleich auf die Suche nach dem Schlüssel für einen Dienstwagen. Sie war noch dabei, den Empfang zu quittieren, als Cassandra plötzlich neben ihr stand.
„Guten Morgen“, sagte sie und begrüßte Sadie mit einer Umarmung.
„Dir auch einen guten Morgen“, erwiderte Sadie lächelnd. Cassandra musterte sie demonstrativ von Kopf bis Fuß.
„Was?“, fragte Sadie.
„Supervisory Special Agent Whitman … sieht man dir gar nicht an.“
Sadie lachte. „Nein, wie soll das auch aussehen?“
„Das ist toll. Du kannst stolz auf dich sein.“
Zwar lächelte Sadie, aber dann wurde sie wieder ernst. „Das ist kein Problem?“
Cassandra winkte ab. „Gar nicht. Ich habe überhaupt keine Ambitionen in diese Richtung. Ich freue mich nur, dass wir wirklich bald neue Kollegen bekommen.“
„Das wird auch Zeit … Und heute zur Abwechslung mal ein Ausflug.“
„Ich bin gespannt. Was denkt Libby darüber?“
„Sie ist einverstanden. Es ist ihr egal. Sie betrachtet es als Bestandteil meiner Arbeit.“
„Kluges Kind. Und sie passt heute allein auf Hayley auf? Freut Matt sich auf die Arbeit?“
Die beiden plauderten über die verschiedensten Dinge, während sie wieder nach unten fuhren und sich im Parkhaus auf die Suche nach dem Dienstwagen machten. Cassandra überließ Sadie den Fahrersitz und machte es sich daneben bequem.
„Ich muss mir doch noch mal ansehen, was Brian dir überhaupt geschrieben hat“, sagte sie dann.
„Stimmt“, sagte Sadie und griff nach ihrer Tasche, um die Briefe herauszuholen, die sie in weiser Voraussicht eingepackt hatte. Danach fuhr sie auf die Interstate 405 und schwamm in aller Ruhe im Berufsverkehr mit. Je näher sie den Bergen kamen, desto flüssiger wurde der Verkehr.
„Tyler Evans“, sagte Cassandra kopfschüttelnd, nachdem sie alle Briefe gelesen hatte. „Du hattest ja vermutet, dass es um ihn geht.“
„Das passte einfach am besten. Die beiden liegen bestimmt auf einer Wellenlänge.“
„Vermutlich … wobei ich nicht weiß, wer der Schlimmere von beiden ist.“
„Brian“, sagte Sadie ohne zu zögern. „Er hat sich bewusst dafür entschieden, ein Serienkiller zu sein. Tyler ist bloß ausgerastet.“
„Er wäre wieder dazu fähig.“
„Bestimmt, aber trotzdem ist er kein Serienmörder wie Brian Leigh.“
„Nein, das ist wahr.“ Cassandra überflog den letzten Brief noch einmal. „Dass wir jetzt hinfahren, hat aber nicht damit zu tun, dass er Matt anspricht, oder?“
Mit dieser Frage hatte Sadie nicht gerechnet. Sie starrte tunlichst geradeaus auf die Fahrbahn. „Nein, wieso?“
„Weil du dich immer dagegen verwahrt hast, Brian besuchen zu wollen. Und jetzt …“
„Er nervt mich einfach nur“, sagte Sadie.
Cassandra erwiderte nichts. Sie hatten schon einige Meilen zurückgelegt, als Cassandra das Schweigen doch wieder brach.
„Jason hat sich damals Sorgen um Matt gemacht.“
Sadie sah sie kurz an, überrascht über den plötzlichen vermeintlichen Themenwechsel. „Wann?“
„Da war doch dieser eine Tag, an dem Matt einfach von der Arbeit verschwunden ist. Das hat Jason mir nach Feierabend erzählt. Das war irgendwie seltsam. Er sagte damals, er hätte Angst, dass Matt sich was antut. Deshalb hat er dich auch gleich angerufen.“
Sadies Finger krampften sich ums Lenkrad. „Das hat er mir nie gesagt.“
„Nein, er hat das auch Matt gegenüber nie angesprochen. Nie direkt jedenfalls. Ich habe daraufhin mal überlegt … das hätte gepasst, oder?“
Sadie starrte wieder bloß auf die Straße und überlegte noch, was sie erwidern sollte, als Cassandra sagte: „Das geht zu weit, sorry. Ich ziehe die Frage zurück.“
„Nein, schon gut“, sagte Sadie. „Es ist ja keine Schande.“
„Es hat mir immer sehr leid getan, weißt du … Ich habe damals überlegt, was wohl vorgefallen sein muss, dass es ihm so geht. Dass man ihn wegen Stacy gleich zweimal verhaftet hat, hat die Sache ja auch nicht besser gemacht.“
„Nein“, sagte Sadie ohne erkennbaren Tonfall.
„Es tat mir so leid für euch beide. Er hat wirklich gelitten, das weiß ich. Es hat ihn verändert. Seitdem ist er nicht mehr derselbe.“
„Nein“, sagte Sadie wieder und spürte plötzlich, wie ihr die Tränen kamen. Sie schluckte hart und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren.
„Tut mir leid“, sagte Cassandra schnell. „Du fährst, ich sollte das jetzt nicht mit dir besprechen. Ich wollte nur, dass du weißt, dass wir hinter euch stehen. Ihr habt nie alles erzählt, was damals passiert ist, und das verrät mir genug. Ich glaube, du hast Matt damals das Leben gerettet.“
Sadie nickte wortlos und biss sich auf die Lippen.
„Was auch immer Brian gleich sagen wird … ich weiß noch gut, was Evans deinem Mann damals vorgeworfen hat. Damals wollte ich es nicht glauben. Und heute … heute ist es mir egal. Auf meine Unterstützung kannst du zählen.“
Sadie starrte immer noch geradeaus, dann löste sich eine Träne aus ihrem Auge, die sie hastig wegwischte. Cassandra legte ihre Hand auf Sadies, die auf dem Schaltknüppel ruhte, und drückte sie kurz.
„Matt ist ein guter Mensch.“
Sadie nickte bloß. Sie hatte verstanden, dass Cassandra es wusste. Das hatte sie sich manchmal gefragt, aber sie hätte nie gewagt, es anzusprechen. Dafür tat es ihr einfach zu weh und sie wollte Cassie auch nicht belasten.
„Du hast ihn allein wieder auf die Beine gebracht, oder?“, fragte Cassandra dann.
„Was hätten wir sonst tun können?“, erwiderte Sadie leise.
„Du meine Güte. Das kann ich mir kaum vorstellen.“
„Willst du auch nicht. Ich hatte einfach nur Angst um ihn.“
„Natürlich … hey, uns könnt ihr vertrauen. Das wollte ich dir nur sagen.“
„Danke“, sagte Sadie gerührt und mit zitternder Stimme. Das bedeutete ihr viel.
„Lass dich heute bloß nicht von Brian provozieren. Ich nehme ja nicht an, dass jemand irgendwas beweisen kann“, sagte Cassandra nach kurzem Schweigen.
„Nein, das konnten sie nie“, sagte Sadie.
„Manchmal hasse ich unseren Job. Er konfrontiert uns mit Dingen, die sonst niemand wissen will.“
„Das wussten wir vorher“, murmelte Sadie leise.
„Als ich vor zwei Jahren her kam, sind dem auch reifliche Überlegungen vorangegangen, ob ich überhaupt weitermachen will. Was mir passiert ist, ist nur durch meinen Job passiert. Das kennst du ja auch zur Genüge.“
„Und wie“, sagte Sadie. „Matt übrigens auch.“
„Ich denke, ich verstehe, warum er jetzt am Schreibtisch sitzt.“
„Ich hasse Stacy immer noch für das, was sie ihm angetan hat“, wisperte Sadie.
„Du kannst es nicht mehr ändern.“
„Ich nehme an, auch dazu hast du dir deine Gedanken gemacht.“
Cassandra nickte. „Ausgehend von dem, was im Bericht stand … wenn Stacys Behauptung stimmte, muss mir niemand erklären, wie ihm zumute war.“
Sadie konnte es nicht fassen. „Das stand im Bericht? Wer hat das reingeschrieben?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe das nur durch Zufall mal gesehen“, sagte Cassandra und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „Danke für dein Vertrauen.“
Sadie lächelte scheu. „Ich weiß, dass du es verdienst.“
Cassandra lächelte ebenfalls und schlug dann vor, das Thema zu wechseln. Sie erkundigte sich bei Sadie nach ihrem Urlaub und ihrer gemeinsamen Zeit mit Andrea. An einem Abend war sie mit Jason zum Grillen vorbeigekommen, um Andrea wiederzusehen. Darüber hatte sie sich sehr gefreut, aber es war natürlich nur ein flüchtiger Moment gewesen. Sadie erzählte auch von der Freundschaft zwischen Libby und Julie.
So ging die Zeit bis zum Antelope Valley State Prison in Lancaster schneller vorüber, als ihr lieb war. Schließlich parkte sie auf dem Besucherparkplatz, an den sie sich erschreckend gut erinnerte, und ging voran, denn im Gegensatz zu ihr war Cassandra noch nie dort gewesen.
Am Eingang ließen sie sich filzen, ihre Waffen hatten sie vorsorglich gar nicht erst mitgenommen. Als sie fertig waren, bat man sie, noch kurz zu warten, um Brian zu holen. Zwei Minuten später stand plötzlich der Gefängnisdirektor vor ihnen.
„Agent Whitman“, sagte er zu Sadie und begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck. Überrascht sah Sadie ihn an und stellte Cassandra vor, nachdem sie sich gefangen hatte.
„Man sagte mir gerade, dass Sie hier sind“, erklärte er sich dann. „Hat Leigh es also geschafft und Sie doch hierher gelockt?“
„Offensichtlich kennen Sie den Inhalt seiner Briefe“, stellte Sadie fest.
„Ja, ich habe sie mir persönlich angesehen, als man mir sagte, dass er Ihnen schreiben will. Gefallen hat es mir nicht, aber ich habe keinen Grund gefunden, es ihm zu verweigern. Er hat mir einfach keinen geliefert.“
„Ich weiß“, sagte Sadie. „Tatsächlich möchten meine Kollegin und ich uns mal anhören, was er zu sagen hat.“
„Das ist Ihre Entscheidung. Ich wollte Ihnen das nur sagen … wenn ich seine Briefe zukünftig zurückhalten soll, kann ich das gern tun. Ich muss es nur wissen.“
„Weiß ich noch nicht“, sagte Sadie ausweichend.
„In Ordnung. Schön, Sie auch mal persönlich kennenzulernen. Inzwischen ist Ihr Name mir geläufig, Sie haben mir ja einige Insassen hier beschert. Und keine Nobodys.“ Er sagte das mit einem freundlichen Grinsen.
„Ist Ihnen aufgefallen, dass Leigh sich mit Tyler Evans angefreundet hat?“, fragte Sadie.
„Angefreundet? Ich weiß, dass sie miteinander zu tun haben. Im Übrigen hoffe ich, dass San Quentin innerhalb der nächsten zwei Wochen grünes Licht für eine Verlegung von Leigh gibt. Die sind aber wohl noch stärker überbelegt als wir. Sie wissen ja, wie das ist.“
Sadie nickte. „Mit überfüllten Gefängnissen habe ich so meine Erfahrungen.“
Der Direktor ging nicht darauf ein. „Kommen Sie, ich habe Sie lange genug aufgehalten. Leigh ist bestimmt schon dort. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.“
Sadie und Cassandra bedankten sich und ließen sich von einem Wärter in einen speziellen Besucherraum bringen. Brian war tatsächlich schon dort. Er war mit seinen Handschellen an den Tisch gekettet und machte ein gelangweiltes Gesicht. Erst, als Sadie und Cassandra den Raum betraten, hellte seine Miene sich sichtlich auf.
„Du bist ja doch gekommen“, sagte er und grinste.
„Für dich immer noch Supervisory Special Agent Whitman“, erwiderte Sadie knapp und setzte sich ihm gegenüber. Cassandra nahm daneben Platz, während Brian Sadie mit großen Augen anstarrte.
„Du bist befördert worden.“
„So ist es“, sagte Sadie unbeeindruckt.
„Ich freue mich wirklich, dass ich dich doch motivieren konnte, herzukommen.“
„Ich kann den Gefängnisdirektor bitten, deine Briefe an mich zurückzuhalten“, erwiderte Sadie.
Enttäuschung zeichnete sich auf Brians Gesicht ab. „Das würdest du tun?“
Sadie ging über seine gezielte Provokation hinweg. „Immerhin hast du ja richtig erkannt, dass ich Libby keinen Brief von dir geben würde. Davon abgesehen würde sie auch keinen wollen.“
„Hast du ihr gesagt, dass es mir leid tut?“
„Denkst du, das will sie hören, nachdem du bei Gericht davon gesprochen hast, dass du bereust, sie nicht vergewaltigt zu haben?“
„Vergewaltigt …“ wiederholte Brian mit einem verächtlichen Unterton. „Du weißt aber schon, dass sie ein wenig in mich verliebt war?“
„Das war aber, bevor du auf diese Natural Born Killers-Schiene abgedriftet bist.“
„Sie hätte es bestimmt gewollt.“
„Siehst du, das ist der Fehler, den ihr alle macht“, murmelte Sadie. „Ihr redet es euch schön. Ihr glaubt, den Willen der Frau zu kennen. Ihn zu beachten. Dabei ist er euch ganz egal.“
„Libby war mir nie egal“, widersprach Brian.
„Was nicht dasselbe ist.“
„Du nimmst es persönlich. Sie ist doch bloß deine Pflegetochter.“
„Wir haben sie inzwischen adoptiert“, sagte Sadie. „Sie ist jetzt Libby Whitman. Und auch zuvor war sie nicht bloß unsere Pflegetochter.“
„Hätte nicht gedacht, dass ihr das tut.“
„Warum nicht?“
„Weil ihr doch eine eigene Tochter habt“, sagte er.
„Libby ist genau so unsere Tochter. Ich weiß, dass du ihr mal Angst damit machen wolltest, wir könnten sie nicht mehr lieben, wenn wir erst ein eigenes Kind haben. Das war ziemlich hinterlistig von dir.“
„Es war doch nur eine berechtigte Überlegung!“
„Könnten wir jetzt zum Thema kommen?“, bat Sadie. „Du willst über deine Motive reden und dich erklären. Mich korrigieren, wo ich falsch gelegen habe. Ich hatte tatsächlich keine Lust, deine Briefe zu beantworten, aber vielleicht kommt ja doch etwas dabei heraus.“
„Ach, du bist also nicht bloß hier, weil du Angst hast, ich könnte deinen Mann verpetzen?“ Grinsend beugte er sich vor.
Im Augenwinkel sah Sadie, dass Cassandra ein echtes Pokerface aufgesetzt hatte. Damit fühlte sie sich in diesem Moment sicher und stark. Cassandra gab ihr Rückendeckung.
„Da gibt es nichts zu verpetzen“, erwiderte Sadie ruhig.
„Ach nein? Tyler hat mir etwas anderes erzählt.“
„Das kann ich mir schon denken. Man hat Matt damals etwas angehängt, weil Tyler seine eigene Haut retten wollte.“
„Tatsache ist: Du hast dich aus den Ermittlungen zurückgezogen“, stellte Brian seelenruhig fest. Sadie spürte, wie ihr heiß wurde, aber sie versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen.
„Ist das so? Hat Conway damals nicht das belastende Geständnis, das Tyler den Hals gebrochen hat, bei mir abgelegt?“, entgegnete sie.
„Ja, aber nicht sofort. Weißt du, der Flurfunk hier im Knast ist schnell. Ich bin ja schon länger hier und es hat sich herumgesprochen, wer ich bin. Ein junger Serienkiller, dem die Todesstrafe droht – das ist schon was Besonderes. Man hat hier Respekt vor mir. Sie haben den Prozess verfolgt und irgendwann kam natürlich zur Sprache, wie man mich nach Monaten überhaupt geschnappt hat … ich habe von dir erzählt. Von deinem Profil. Und von Libby. Nach meinem Urteilsspruch im März stand plötzlich Tyler Evans vor mir und meinte, ich befände mich in guter Gesellschaft, was das Erwischtwerden von dir betrifft. Das war interessant.“
„Das wusstest du nicht vorher?“ Sadie war erstaunt.
„Nein, über ihn wusste ich tatsächlich nicht Bescheid. Er ließ ziemlich schnell durchblicken, dass er echt sauer auf dich ist.“
„Kann ich mir vorstellen“, sagte Sadie trocken. „Hat er dir auch erzählt, dass sein Vater mit seinem Wissen seinen Kumpel umbringen lassen wollte, nur um einen unliebsamen Zeugen zu beseitigen?“
„Du meinst Conway? Er hat das etwas anders formuliert. Er fühlte sich von ihm verraten.“
Sadie zuckte mit den Schultern. „Was sonst.“
„Er hat mir ziemlich schnell erzählt, dass er eine spezielle Meinung zu dir hat. Anfangs fand er dich noch ziemlich scharf, aber inzwischen findet er, dass du unlautere Methoden benutzt.”
„Mir kommen gleich die Tränen“, erwiderte Sadie unbeeindruckt. „Ich habe nur meine Arbeit gemacht, was ihm naturgemäß nicht gepasst hat. Und er hat, um mich mundtot zu machen, eine wüste Story über meinen Mann konstruiert.“
„Er hat das damals überprüft“, widersprach Brian eifrig. „Es gibt eine Tote namens Stacy Gallagher, deren Todesursache nie eindeutig geklärt werden konnte. Und eine Nachbarin von Stacy Gallagher hat deinen Mann der Vergewaltigung bezichtigt.“
„Brian“, sagte Sadie mit einem strengen Unterton. „Ich bin nicht hergekommen, um mit dir über Tyler Evans und meinen Mann zu diskutieren.“
Doch er blieb stur. „Es gibt Zeugen dafür, dass du dich nach der Drohung, ihn des Mordes an Stacy Gallagher zu beschuldigen, aus den Ermittlungen gegen Tyler zurückgezogen hast.“
Sadie stand abrupt auf. „Im Gegensatz zu dir kann ich jederzeit gehen.“
„Schon gut, schon gut …“ Brian hob beschwichtigend seine Hände. Seine Handschellen rasselten leise. „Reden wir über etwas anderes.“
Langsam setzte Sadie sich wieder. „Was wolltest du mit mir besprechen?“
Brian antwortete nicht gleich. Sadie wurde das Gefühl nicht los, dass er sie absichtlich zappeln ließ. Dass er sie beobachtete.
„Ich habe berühmte Vorbilder nachgeahmt, ja“, sagte er. „Dem lag eine bewusste Entscheidung zugrunde. Ich habe nie begriffen, warum du daraus abgeleitet hast, dass ich nichts Eigenes auf die Beine stellen kann.“
„Weil es ungewöhnlich ist, dass ein Sadist wie du nicht sein eigenes Ding macht. Täter wie du haben ihre eigenen Gewaltfantasien, ihre Wünsche, ihr Skript. Es ist ungewöhnlich, dass du es befriedigend fandest, das zu tun, was andere vorgemacht haben. Und dann auch noch so unterschiedliche Taten, die – wenn überhaupt – eigentlich nur die Gemeinsamkeit hatten, dass die Täter Kontakt mit der Polizei aufgenommen haben. Deshalb habe ich angenommen, dass du berühmte Vorbilder nachahmst, weil du kein eigenes Szenario auf die Beine stellen kannst oder willst – und um dich in einer Reihe mit ihnen zu sehen.“
Brian nickte und sah dabei überraschend gelangweilt aus. „Klingt wie aus dem Handbuch für angehende Profiler, meinst du nicht?“
„Es gibt immer wieder Ausnahmen, aber die sind selten. Die meisten Täter folgen bestimmten Schemata. Und ja, da du Douglas und Ressler angesprochen hast … sie haben das herausgearbeitet. In den meisten Fällen stimmen diese Annahmen. Gerade der Nightstalker ist da eine Ausnahme.“
„Ich weiß“, sagte Brian. „Über Serienkiller weiß ich bestimmt so gut Bescheid wie du. Ich habe gelesen, dass selbst das FBI damals erst nicht geglaubt hat, dass all diese Taten auf sein Konto gingen, weil sie so unterschiedlich waren. Modus Operandi, nicht wahr? Meiner waren die Briefe mit den Songtexten. Natürlich. Ich hatte schon erwartet, dass ihr das sonst nicht in Verbindung bringt.“
„Trotzdem hast du nicht ein einziges eigenes Szenario erdacht“, sagte Sadie. „Ich hätte erwartet, dass du dich irgendwann vom Nachahmen löst und etwas Eigenes tust. Dass du nachahmst, um dir Inspirationen zu holen. Oder war nie das Richtige dabei?“
„Jetzt stellst du die richtigen Fragen“, sagte Brian selbstsicher. Sadie fand ihn ziemlich frech – dafür, dass er zum Tode verurteilt worden war, hatte er eine ganz schön große Klappe. Oder gerade deshalb? Er hatte ja nichts mehr zu verlieren, härter hätte man ihn gar nicht bestrafen können. Auch, wenn fraglich war, ob und wann diese Strafe vollstreckt wurde – er würde das Gefängnis niemals wieder verlassen. Ein Neunzehnjähriger. Er hatte sein Leben verpfuscht.
„Ich habe mich tatsächlich ausprobiert“, sagte Brian. „Das erste Mal war natürlich ganz schön krass. Das war Emily … ich habe sie sehr sorgfältig ausgewählt.“
„Warum Bundy?“, fragte Sadie.
„Na, Bundy ist doch ein Name … und ja, es sollte ein Frauenmörder sein.“
„Ich könnte jetzt wieder von Gary Ridgway anfangen.“
Brian grinste. „Das war schon fast ein Running Gag hinterher.“
Das wäre nicht Sadies Bezeichnung gewesen, aber sie wusste, was er meinte. „Es gibt jede Menge Frauenmörder.“
„Ja, aber Bundy … Ich hatte doch erzählt, wie die Doku über ihn mich angespornt hat. Diese Bilder … das wollte ich auch. Und ja, mein erster Mord war wie ein Rausch. Dafür habe ich Emily geliebt. Sie war einfach perfekt.“
Sadie ließ sich nicht anmerken, wie abscheulich sie das fand. „Und trotzdem wurde es danach der BTK-Killer. Ein Mordfall ohne Vergewaltigung.“
„Das schon, aber nicht ohne Spaß“, sagte Brian grinsend. „Weißt du, es war schon spannend genug für mich, alles bis ins Detail zu planen. Ja, ich habe durchaus meine eigenen Ideen entwickelt. Die hätte ich auch irgendwann umsetzen wollen. Das mit Libby wäre der erste Schritt gewesen. Und du musst zugeben, ich habe meine Sache gut gemacht. Wäre ich bei Libby nicht schwach geworden, hättest du mich noch eine ganze Weile nicht gefunden.“
Das wollte Sadie ihm nicht bestätigen, auch wenn es wohl stimmte. „Du hast mir geschrieben, dass du nie wusstest, ob du sie sympathisch finden oder ihr weh tun sollst. Das klingt wirklich anstrengend.“
Brian nickte. „Das war es tatsächlich. Ich habe dich ja beobachtet und bin euch zu eurem Haus gefolgt, wo ich dann Libby gesehen habe. Und ich fand sie toll. Schon auf den ersten Blick. Sie war so …“ Er schloss die Augen, um sich besser daran erinnern zu können. „Unschuldig. Und dabei verdammt attraktiv. Meine erste Idee war ja, dir nachzustellen, aber ich fand Libby so sexy, dass sie in meinen Fokus gerückt ist. Und tatsächlich musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass ich wirklich persönlich an ihr interessiert war. Ich wollte sie nicht einfach umbringen … das war anders. Ich wollte sie kennenlernen. Ich war mir die ganze Zeit nicht sicher, ob ich mich an sie heranpirschen will, um ihr Vertrauen zu gewinnen und sie besser umbringen zu können, oder ob ich mit ihr befreundet sein will. Das war schräg. Irgendwie fand ich die Vorstellung auch ganz nett, dass sie freiwillig mit mir Sex haben würde.“
Sadie grub ihre Finger in ihre Hose, was Brian nicht sehen konnte, sehr wohl aber Cassandra. Unbemerkt tastete Cassandra unter dem Tisch nach Sadies Hand und legte ihre darauf.
„Vor Gericht klang das nicht mehr so“, erinnerte Sadie ihn.
„Nein, das war …“ Brian suchte nach Worten. „Ich war wütend, weil ich es mir selbst versaut hatte. Ich habe doch geschrieben, dass ich sie als meine Caril Ann wollte. Ich weiß nicht, wie ich auf die bekloppte Idee gekommen bin, das könnte klappen. Warum habe ich mich ihr anvertraut? Ich hätte die Klappe halten, ihre Bewunderung genießen und mit ihr Sex haben sollen. Ich habe da übrigens nicht von Vergewaltigung gesprochen.“
Sadie reagierte nicht gleich. Ihre Hand unter Cassandras war immer noch verkrampft. „Kennst du überhaupt den Unterschied?“
Brian grinste breit. „Kennst du ihn?“
„Warum willst du mich provozieren?“, fragte sie ihn ganz direkt.
„Will ich nicht“, behauptete Brian mit Unschuldsmiene. „Aber dein Vater war auch ein Vergewaltiger und ich weiß, dass es hieß, er hätte deine Schwester missbraucht.“
„Du weißt aber verdammt genau Bescheid. Und nein, mein Vater hat mich nicht angefasst. Ich war ihm zu jung.“
„Ach was“, sagte Brian. „Aber Kindesmissbrauch ist auch speziell.“
„War Emily Bryant kein Kind mehr für dich?“
Brian schüttelte den Kopf. „Sie hatte schon so hübsche kleine Brüste. Noch keine Hand voll. Dann ist man kein Kind mehr, oder?“
„Der Gerichtsmediziner hat Schlammpartikel in ihrer Lunge gefunden. Sie ist im Dreck erstickt. Das ist widerlich, Brian.“
„Ich weiß“, sagte er ungerührt. „Möchtest du wissen, was ich mir für dich überlegt habe, als ich gesehen habe, dass du schwanger bist?“
„Ich verzichte“, sagte Sadie kühl. „Wir reden hier über dich.“
„Das gehört doch dazu, oder?“
Sie starrte ihn nur an. „Wie gesagt, ich kann jederzeit gehen.“
„Noch kannst du das.“ Brian grinste sie breit an, die Finger ineinander verschränkt. Sadie war geschockt. Das hatte nichts mehr mit dem Brian gemein, mit dem sie nach dem Unfall im Krankenhaus gesprochen hatte. Man merkte ihm deutlich an, dass er mittlerweile seit einem guten Jahr im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses saß. Und er war nicht mehr in der Jugendhaft. Man ging nicht zimperlich mit ihm um.
„Drohst du mir?“, fragte sie.
„Wer, ich?“, erwiderte er mit übertriebener Unschuldsmiene. „Das würde ich nicht wagen. Aber ich habe ja verdammt viel Zeit hier, um nachzudenken. Wenn ich noch einmal die Chance hätte, würde ich es vollkommen anders machen. Und ich glaube, mit Libby wäre ich weniger zimperlich gewesen …“
Sadie hörte den Widerspruch deutlich. Erst hatte er beteuert, dass er ihr nichts hatte tun wollen – und jetzt doch?
„Woher kommt dieser ganze Hass? Vom Mobbing in der Schule? Von einer desinteressierten Mutter? Die Welt müsste voller Triebtäter sein“, sagte Sadie kopfschüttelnd.
„Es kam einiges zusammen. Aber vielleicht wird man auch einfach als Killer geboren, meinst du nicht? Dein Vater hatte doch auch keine beschissene Kindheit und trotzdem ist er einer der blutrünstigeren Serienkiller der amerikanischen Geschichte.“
„Er war“, korrigierte Sadie spitz. „Er ist seit vier Jahren tot.“
„Schon so lange“, murmelte Brian und sah ihr dann direkt in die Augen. „Ich frage mich, ob es etwas gibt, das SSA Sadie Whitman Angst macht. Was könnte das sein? Ich sehe, wie du deinen Mann schützt … bleibt noch deine Tochter. Oder deine beiden Töchter?“
Sadie lehnte sich zurück und zog ihre Hand unter Cassandras hervor. „Ich werde besser schlafen, wenn du in San Quentin bist. Das ist ja ein Stück weit weg.“
„Ich hab gehört, die Aussicht dort auf die San Francisco Bay soll ganz toll sein“, bemerkte Brian trocken.
„Tyler wird dir sicher fehlen.“
„Vermutlich. War wirklich interessant, was er über dich erzählen konnte. Er wird gespannt sein, zu hören, was ich später über deinen Besuch hier berichten kann.“
Sadie schüttelte unbeeindruckt den Kopf. „Du willst mich doch nur nerven.“
„Klappt es denn?“, fragte Brian mit einem breiten Grinsen.
„Du willst gar nicht ernsthaft mit mir über deine Motive reden, oder?“
„Im Moment macht das hier genügend Spaß.“
Erneut stand Sadie auf. „Du hast mir den letzten Brief geschrieben und ich werde auch nicht mehr herkommen. Für Spielchen bin ich nicht zu haben.“
„Ach, komm schon!