Die Seele des Bösen - Rettung unter Freunden - Dania Dicken - E-Book

Die Seele des Bösen - Rettung unter Freunden E-Book

Dania Dicken

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Aus dem fernen Los Angeles versucht Profilerin Sadie, ihrer früheren FBI-Kollegin Cassandra in einem Fall verschwundener Frauen im Großraum Washington, D.C. zu helfen. Als das erste Opfer brutal ermordet aufgefunden wird, ahnen beide, dass sie es mit einem skrupellosen Serientäter zu tun haben. Doch Sadie kann sich kaum auf den Fall konzentrieren, denn auch in nächster Nähe wird sie gebraucht. Weil ihr alter Freund und SWAT-Scharfschütze Phil bei einer Razzia in Notwehr den Bruder eines Drogenbosses erschossen hat, ist er ins Visier der Gangster gerückt, die nun Jagd auf ihn machen. Sadie versucht an beiden Fronten zu helfen, doch dann überschlagen sich die Ereignisse …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Die Seele des Bösen

Rettung unter Freunden

 

Sadie Scott 8

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

Der beste Weg, einen Freund zu haben,

ist der, selbst einer zu sein.

 

Ralph Waldo Emerson

 

 

 

 

Bei Manassas, Virginia

 

Sie hätte einfach still sein sollen. Immer diese Auflehnung, diese Rebellion ... darin war sie gut gewesen. Aber nein, sie hatte die anderen noch aufgestachelt. Diese ständigen Fluchtversuche ... immer hatte sie sich gewehrt. Eigentlich hatte es ihm ja gefallen, sie hatte Charakter gehabt.

Aber auf Dauer wäre das nicht gut gegangen.

Er blickte in den Rückspiegel. Weil es dunkel war, konnte er den Kofferraum, in dem ihre Leiche lag, nicht sehen. Er sah auch niemanden im Rückspiegel. Im Augenblick war er ganz allein auf den Straßen unterwegs, aber es war auch schon spät in der Nacht.

Die beste Zeit, um eine Leiche loszuwerden.

Er hatte gezögert. Er hatte sie nicht wirklich töten wollen, aber es war das Beste gewesen. Um die anderen abzuschrecken, hatte er sich dafür entschieden, es auf eine blutige, eine brutale Art zu tun. Leid tat es ihm nicht, auch wenn er ihren Verlust bedauerte. Er hatte sie gemocht, ihren weichen Körper wertgeschätzt.

Während er weiter Richtung Fluss fuhr, bedauerte er vor allem den Verlust seines Kindes. Sie hatte es lang genug geheimgehalten, aber irgendwann war es doch aufgefallen. Es war nicht gleich klar gewesen, was jetzt zu tun war. Das Kind hätte kein Problem sein müssen. Er hätte sich sogar darum gekümmert.

Aber nun war es ebenfalls tot. Es hätte ihn interessiert, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden wäre. Ob es etwas von ihm gehabt hätte, irgendeine Ähnlichkeit.

Doch das würde er nun nicht mehr erfahren.

Er sah sie immer noch vor sich, ihren flehenden Blick, ihre Tränen. Aber dann hatte er das Messer angesetzt und es getan, ihr die Kehle durchgeschnitten. Sie hatte nach Luft geschnappt, gehustet und war dann schnell verblutet. So leicht war es, ein Leben auszulöschen.

Genaugenommen zwei.

Darum war es eigentlich nie gegangen. Die Frauen hatten nie sterben sollen. Aber Laurie hatte immer nur Probleme bereitet. Sie hatte sich immer gewehrt, sie hatte Nahrung verweigert, war nie fügsam gewesen. Niemals. Eigentlich hatte er sie genau deshalb geschätzt. Das hatte ihn herausgefordert, ihm Spaß bereitet. So musste es doch sein!

Aber er hatte eingesehen, dass es so nicht ging. Und jetzt war sie tot.

Er bog vom Highway ab und folgte einem schmalen Weg bis ans Wasser. Das war wohl die beste Art, um Laurie loszuwerden. Er fragte sich, ob jemand sie vermisst hatte. Bestimmt war das so. Nun würde ans Licht kommen, was mit ihr passiert war. Dass sie tot war.

Er fühlte sich fast ein bisschen stolz. Es gab allen Grund, ihn zu fürchten. Er war ein Entführer. Ein Vergewaltiger. Und jetzt war er auch ein Mörder.

Er fuhr bis ans Ufer des Potomac und parkte den Wagen oberhalb der Böschung, dann stieg er aus und ging zum Kofferraum. Laurie war immer noch nackt und voller Blut, das inzwischen getrocknet war. Er fasste unter ihren leblosen Körper, zerrte ihn hoch und zog ihn aus dem Kofferraum. Es hatte ihn schon Mühe gekostet, ihn überhaupt hineinzubekommen, aber ihn wieder herauszuwuchten war auch nicht leichter. Mit zusammengebissenen Zähnen mühte er sich ab und schleifte den Leichnam zum Wasser. Wenigstens leuchtete ein Viertelmond vom Himmel und erhellte die Umgebung ein wenig, so dass er etwas sehen konnte. Das Mondlicht spiegelte sich auf den Wellen, die am Ufer leise plätscherten.

Er blickte Laurie noch einmal ins Gesicht, in ihre starren, kalten Augen, bevor er sie losließ und den Fluten des Potomac übergab. Was für ein Verlust. Das hätte nicht passieren sollen.

Aber jetzt würde es besser laufen, dessen war er sich sicher. Die anderen waren eingeschüchtert, denen würde er schon zeigen, wo es langging. Er würde sich beweisen – er würde es ihnen beweisen. Er hatte das Zeug dazu.

Er setzte sich wieder in den Wagen, wendete und fuhr davon. Er konnte stolz auf sich sein.

 

 

Donnerstag

 

Der Pazifik lag bleiern und grau da, hin und wieder aufgepeitscht von einzelnen Windböen. Gedankenversunken starrte Sadie aus dem Fenster aufs Meer. Es war Mitte März und irgendwie war sie den Winter leid. Es wurde Zeit für den Osterurlaub.

Es war ein Donnerstag und Sadie sehnte das Wochenende herbei. Es war noch nicht ganz klar, ob Matt zu Hause sein würde – seine Undercoverermittlungen hatten ihn nun doch wieder in den Untergrund geführt. Diesmal ging es um einen Drogenboss.

Und Sadie saß gelangweilt am Schreibtisch. Sie erwischte sich immer wieder dabei, wie ihr die Ermittlungen der Behavioral Analysis Unit fehlten. Selbst das Reisen fehlte ihr irgendwie – aber sie wollte nicht zurück. Nicht nach Quantico.

Das Klingeln ihres Telefons riss sie aus ihren trüben Gedanken. Als hätte sie es geahnt: Es war die Vorwahl von Quantico.

„Special Agent Whitman“, meldete sie sich nichtsdestotrotz förmlich.

„Sadie, ich bin es, Cassandra.“

„Das ist ja eine Überraschung“, sagte Sadie erfreut. „Wie geht es dir?“

„Ziemlich gestresst“, sagte Cassandra. „Und bei dir?“

„Es geht. Hast du nicht bald schon Feierabend?“

„Schön wär’s. Ich habe jetzt den ganzen Tag überlegt, ob ich dich anrufen soll oder nicht, aber Nick meinte, ich soll es tun.“

„Was ist denn los?“

„Wir haben einen Fall ganz hier in der Nähe. Da ist ein Kerl, der blonde Frauen aus ihren Wohnungen entführt – und die tauchen einfach nicht wieder auf. Gerade vor ein paar Tagen wurde die erste Leiche gefunden, mit Fesselspuren und allem, was dazugehört. Sie wurde gefangengehalten, gefoltert und ermordet.“

„Verstehe“, sagte Sadie.

„Ich komme mir so mies dabei vor.“

„Musst du nicht. Liegt doch auf der Hand, mich zu fragen.“

Cassandra atmete hörbar aus. „Du bist echt unglaublich.“

„Nick hat recht. Du kannst mich ruhig um Rat fragen.“

„Okay ... wenn du das sagst.“

„Schieß los. Wie kann ich dir helfen?“, fragte Sadie.

„Mit allem, um ehrlich zu sein ... Die Polizei hat nicht viel. Bisher sind vier Frauen verschwunden, die erste wurde jetzt tot aufgefunden. Bei keiner gab es Einbruchsspuren an Türen oder Fenstern, so dass die Polizei davon ausgeht, dass der Täter hereingelassen wurde.“

„Gibt es denn Kampfspuren?“, fragte Sadie.

„Nicht wirklich.“

„Und woher dann die Theorie mit der Entführung?“

„Im Moment ist das wirklich eher eine Theorie, das stimmt. Bislang ging es nur um verschwundene Frauen, die irgendwann von ihren Arbeitgebern oder ihren Putzfrauen vermisst wurden. Die Frauen sind alle Singles und beim Betreten der Wohnungen hat die Polizei festgestellt, dass sie ungeplant verlassen wurden. Alles war noch da: Schlüssel, Kreditkarte ... in einer Wohnung haben sie einen halb verhungerten Hund gefunden.“

„Und niemand hat etwas gesehen?“

„Nein. Als jetzt die Leiche der ersten Vermissten aufgetaucht ist, hat die Polizei uns eingeschaltet. Aber ehrlich gesagt stapeln sich hier gerade die Fälle und bei dem, was der Frau passiert ist, musste ich gleich an dich denken.“

„Schon gut“, sagte Sadie. „Ich schaue mir das gern an. Schick mir einfach, was du hast.“

Cassandra atmete erleichtert auf. „Danke, Sadie. Das ist so lieb von dir.“

„Kein Problem. Das mache ich gern.“

„Gern?“ Cassandra lachte. „Und das soll ich dir glauben?“

„Na ja, es ist mein Job. Wenn ich dir helfen kann, tue ich das.“

„Nick hat uns im Winter erzählt, dass es dir gut geht. Das war schön zu hören.“

„Ja, es ist alles okay. Der Umzug war eine gute Idee.“

„Das glaube ich dir. Wir haben ja seitdem nie wieder wirklich gesprochen ... du bist ja nicht mehr zur BAU zurückgekommen.“

„Nein, aber das hatte ja nichts mit euch zu tun.“

„Ich weiß“, sagte Cassandra.

„Es war nur sehr schwer. Es war schwer, weiter in dieser Wohnung zu leben. Nach Kalifornien zu gehen, hat vieles besser gemacht.“

„Das glaube ich dir. Ich bin froh, dass du so stark bist. Ich fand das immer schrecklich.“

„Inzwischen macht es mir nichts mehr aus“, sagte Sadie. „Es ist jetzt fast ein Jahr her. Irgendwie verrückt. Inzwischen denke ich kaum noch daran.“

„Das ist auch besser so. Wie geht es Matt?“

„Alles bestens. Er ist da an einer Sache mit einem Drogenboss dran.“

„Undercover ermitteln ... das klingt spannend!“

„Als ob wir als Profiler jemals Langeweile gehabt hätten.“

Cassandra lachte. „Das stimmt. Langweilig war es nie. Nick hat uns ein bisschen davon erzählt, dass du das hinten in L.A. auch machst.“

„Klar ... das kann ich eben am besten.“

„Toll, Sadie. Wirklich. Ich habe Menschen an weniger zerbrechen sehen.“

„Ich auch“, stimmte Sadie unbeeindruckt zu. „Wenn ich sarkastisch bin, sage ich immer: Übung macht den Meister.“

„Das ist aber wirklich sarkastisch.“

„Ich weiß. Das ist meine Art, damit umzugehen. Und Matt ist eine große Hilfe.“

„Ach, wenn ich das höre ... ich hätte auch gern wieder einen Freund!“

„Keiner in Aussicht?“

„Hm ... vielleicht“, sagte Cassandra uneindeutig.

„Hast du jemanden kennengelernt?“

„Ich habe ihn noch nicht persönlich getroffen, aber ja ... ich habe jemanden im Internet kennengelernt.“

„Ist doch toll“, sagte Sadie.

„Er heißt Lucas und kommt aus DC“, sagte Cassandra. „Wir wollen uns bald wieder treffen.“

„Glückwunsch! Seit wir uns kennen, warst du Single.“

„Ich hatte schon immer mal wieder Dates mit Männern, aber der Richtige war nicht dabei. Nicht so wie bei dir – der erste entpuppt sich gleich als Traumprinz!“

„Dafür hat er aber auch lang auf sich warten lassen“, erinnerte Sadie sie.

„Das stimmt. Aber kanntest du Matt nicht schon länger?“

„Sicher, aber anfangs war er noch in einer Beziehung.“

„Ja, so ist das immer. Man trifft den Prinzen und er ist vergeben ...“

„Damals war er noch nicht mein Traumprinz. Damals hat er mich immer mit geschmacklosen Kommentaren an Tatorten vergrault.“

„Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen!“ Cassandra lachte.

„Oh, glaub mir, das war grenzwertig. Er hat mich auch schon neben einer Leiche nach einem Date gefragt.“

Cassandra kam aus dem Lachen nicht mehr heraus. „Dein Mann?“

„Ja ... mein Mann. Wen habe ich mir da nur angelacht?“

„Matt ist toll“, sagte Cassandra. „Vielleicht habe ich jetzt mit Lucas auch Glück.“

„Ich würde es dir so wünschen“, sagte Sadie.

„Wäre mal eine tolle Abwechslung. So, aber jetzt genug getratscht. Ich schicke dir die Fallakte und du sagst mir, was du davon hältst, ja?“

„Mache ich“, versprach Sadie. „Ich halte dich auf dem Laufenden mit meiner unmaßgeblichen Meinung.“

„Die ist nicht unmaßgeblich. Irgendwas sagt mir, dass dieser Kerl Strangler-Format hat.“

„Dann sollte er sich besser warm anziehen!“, verkündete Sadie entschlossen. Cassandra bedankte sich noch einmal und legte auf. Weil ihre Mail Augenblicke später eintraf, ging Sadie davon aus, dass Cassandra alles schon vorbereitet hatte. So kannte sie ihre Kollegin. Cassandra hatte die Anhänge in der richtigen Reihenfolge angefügt und Sadie begann, sich durchzuarbeiten.

Das erste Opfer war Laurie Cooper, achtundzwanzig, Anwältin aus Bethesda. Sie war noch im Sommer des letzten Jahres nachts spurlos aus ihrer Wohnung verschwunden. In der Kanzlei hatte man sie am nächsten Tag vermisst und bei der Polizei eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Laurie hatte keinen Freund, kein Haustier, sie war nicht krank gewesen oder hatte eine Reise geplant. In ihrer Wohnung war ersichtlich, dass sie sie ungeplant verlassen hatte. Die Nachbarn hatten sie noch am Vorabend nach Hause kommen sehen. Das war das letzte Lebenszeichen der Frau. Einbruchsspuren gab es nicht.

Ähnlich war es zwei Monate später Suzanne Holden ergangen, einer selbstständigen Fotografin Anfang Dreißig. Ihre Putzfrau hatte festgestellt, dass sie verschwunden war und sich bei der Polizei gemeldet. Suzanne kam aus Manassas, was gar nicht so weit von Bethesda entfernt war – und von Dale City, wie Sadie feststellen musste. Dort hatte sie doch mit Matt gewohnt.

Das dritte Opfer, Clara Belmont, war kurz vor Weihnachten in Rockville verschwunden. Sie war selbstständige Maklerin und ihre Nachbarn waren auf den tagelang winselnden Hund aufmerksam geworden. Da hatte die Polizei alle Fälle schon miteinander in Verbindung gebracht, aber das hatte ihr auch nicht geholfen. Gemeinsam hatten die Frauen nur, dass sie allein lebten, alle blond und etwa im selben Alter waren.

Opfer Nummer vier war Allison Michaels, eine Psychotherapeutin aus Arlington. Sie war vor etwa sechs Wochen spurlos verschwunden. Bisher war nur das Schicksal von Laurie Cooper geklärt, sie war Anfang der Woche von einem Jogger am Ufer des Potomac gefunden worden. Sadie öffnete das Dokument mit den Fundortfotos. Obwohl sie damit gerechnet hatte, etwas Schlimmes zu finden, hatte sie nicht mit dem gerechnet, was sie auf den Bildern zu sehen bekam. Sie sah eine ziemlich abgemagerte Frau, die rein äußerlich nicht mehr viel mit der Laurie Cooper vom Vermisstenfoto gemein hatte. Ihr Haar war verfilzt, sie hatte Blutergüsse am ganzen Körper, Schnittwunden, Hautabschürfungen an Hand- und Fußgelenken. Sie sah aus, als hätte man sie monatelang gefoltert.

Der dazu angehängte Obduktionsbericht legte es nahe. Sie war immer wieder vergewaltigt worden – und sie war zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger gewesen, schon im dritten Monat. Sie war blutig ermordet worden, man hatte ihr die Kehle aufgeschnitten und sie einfach verbluten lassen. Sadie las aus den wenigen Informationen eine bodenlosen Hass auf Frauen und eine enorme Brutalität.

Aber sie verstand, warum Cassandra ihre Hilfe brauchte. Mit sadistischen Serienmördern, die Frauen entführten, kannte sie sich nun einmal am besten aus. Ihr hätten auch die Fakten über das Verschwinden der Frauen gereicht, um zu ahnen, dass sie es mit einem skrupellosen Serientäter zu tun hatten. Die erste Frage, die sich ihr stellte, war, wie er es geschafft hatte, die Frauen unbemerkt aus ihren Wohnungen zu entführen. Das war dreist und erforderte ein bestimmtes Maß an Planung. Sadie vermutete, dass die Frauen ihn hereingelassen hatten - also kannten sie ihn. Sie konnte der Polizei nicht mal übel nehmen, dass sie darüber noch nichts wusste, denn erst seit dem Fund der ersten Toten hatte der Fall eine bestimmte Tragweite erreicht. Sadie war sicher, dass man in den Wohnungen der Toten einen Hinweis auf den Täter finden konnte – vielleicht in ihrem Computer. Vielleicht gab es Mails vom Täter oder Hinweise in Datingportalen. Das hatten sie doch alles schon erlebt.

Oder er tarnte sich als Handwerker. Kaum hatte Sadie die Idee gehabt, verwarf sie sie wieder. Die Frauen waren alle nachts verschwunden. Wer machte abends einem Handwerker die Tür auf?

Sie musste das unbedingt herausfinden. Und sie fragte sich, warum er Laurie nach Monaten die Kehle aufgeschnitten hatte. Scheinbar liebte er es ja, Frauen zu entführen, gefangenzuhalten und zu foltern. Das machte ihm wohl über die Dauer Spaß. Sie kannte es von anderen Tätern, dass sie es als lohnend empfanden, ein Opfer möglichst lang gefangenzuhalten und es nicht gleich zu töten.

Dabei musste sie sofort an ihren Vater denken. Er hatte es so gemacht. Er hatte gesagt, dass das Versteck selten leer gewesen war. Irgendeine Frau hatte er dort immer eingesperrt. Nur die erste hatte er gleich in der ersten Nacht getötet.

Cassandra hatte recht. Sadie war sofort im Fall, sie kannte solche Typen. Sie wusste, worauf es ihnen ankam, was sie motivierte, wie sie dachten und handelten. Und der hier war wie die meisten – und doch irgendwie anders. Laurie Cooper war erst einen Tag tot gewesen, als man sie gefunden hatte. Das bedeutete, dass er sie die ganze Zeit über gehabt hatte, zusammen mit den anderen.

Mehrere Opfer auf einmal ... das war wirklich neu. Sadie studierte erneut die Wunden der Toten und überlegte. Die Frauen hatten ihn hereingelassen. Sie hatten ihm vertraut. Er war vielleicht gutaussehend – auf jeden Fall nicht hässlich. Vielleicht hatte er sich auch als Polizist ausgegeben.

Sie musste es wissen. Sofort suchte sie die Nummer der zuständigen Polizeidienststelle heraus und ließ sich mit dem ermittelnden Detective verbinden.

„Detective Morgan“, meldete sich eine tiefe, aber vertrauenerweckende Männerstimme.

„Special Agent Sadie Whitman vom FBI“, sagte sie. „Meine Kollegin Cassandra Williams hat mir die Akten im Fall Laurie Cooper und der anderen Frauen weitergeleitet.“

„Freut mich, dass Sie sich um den Fall kümmern. Wie kann ich dabei helfen?“

„Ich suche die Verbindung zwischen allen Fällen. Wer ist der Kerl? Warum haben die Frauen ihm alle die Tür geöffnet?“

„Fragen Sie mich was Leichteres. Wir wissen es nicht.“

„Haben Sie die Computer der Frauen überprüft?“

„Ein Techniker sitzt gerade dran. Er hat aber noch kein Ergebnis, soweit ich weiß.“

„Ich halte verschiedene Szenarien für denkbar. Sie könnten in Datingportalen aktiv gewesen sein, dort hat der Täter sie vielleicht gefunden. Oder er hat sich als Handwerker, Polizist oder anderweitig vertrauenswürdiger Mensch ausgegeben. Hatten die Frauen noch weitere Gemeinsamkeiten?“

„Nein. Keine Überschneidungen in jeglicher Hinsicht. Keine gemeinsamen Supermärkte, Arbeitswege oder Vereine. Das haben wir schon überprüft.“

„Okay. Wissen Sie, wann mit Ergebnissen vom Techniker zu rechnen ist?“

„Ich hoffe, er schafft das bis morgen, aber ich weiß es nicht.“

„Können Sie mir Bescheid geben, wenn Sie mehr wissen?“

„Kann ich machen. Wo erreiche ich Sie?“

Sadie diktierte ihm die Nummer, woraufhin der Mann stutzte. „Wo sitzen Sie, wenn ich fragen darf?“

„In Los Angeles. Ich war bis letztes Jahr aber auch bei der BAU. Meine Kollegen haben mich um Rat gebeten.“

„Also nehmen sie das ernst.“

„Das tun sie. Sehr sogar.“

„Was vermuten Sie denn?“

Sadie zögerte kurz. „Meine Kollegen zweifeln nicht daran, dass immer derselbe Täter dahintersteckt. Ich nehme an, bis zum ersten Leichenfund haben Sie das immer als Vermisstensache behandelt?“

„So ist es. Natürlich ist uns das irgendwann seltsam vorgekommen, aber wir hatten keine Anhaltspunkte. Wir können ja schlecht die schweren Geschütze auffahren, wenn wir keinerlei Hinweise auf ein Gewaltverbrechen haben.“

„Sicher“, sagte Sadie. „Deshalb hatten sie die Computer auch noch nicht untersucht, nehme ich an?“

„Nein, bisher sahen wir dazu keine Veranlassung. Ehrlich gesagt tappen wir im Dunkeln. Nur kam mir jetzt die Idee, dass das nicht nur ein Serientäter sein könnte, sondern sogar ein Serienmörder.“

„Die Vermutung liegt nahe“, sagte Sadie vage.

„Was denken Sie? Womit haben wir es zu tun?“

„Ich denke, dass dieser Täter ein machtbesessener Sadist ist, der die übrigen Frauen noch in seiner Gewalt hat. Er hat sie ausgekundschaftet, denn nur so konnte es ihm gelingen, sie so unbemerkt zu entführen. Ich halte es durchaus für möglich, dass er zuvor Kontakt mit ihnen aufgenommen hat. Er wusste ganz genau Bescheid und ihm ist noch kein Fehler unterlaufen.“

„Und dann glauben Sie, dass wir in den Computern etwas finden?“

„Sie würden sich wundern, welche Fehler ich schon bei ansonsten hochintelligenten Tätern erlebt habe.“

Er lachte. „Da haben Sie auch wieder recht. Ich halte Sie auf dem Laufenden.“

„Und Sie erfahren von mir oder meinen Kollegen, wenn wir ein Profil vorzuweisen haben.“

Der Detective bedankte sich und legte auf. Sadie überlegte, ob der Täter sich wirklich auf diesem Wege ertappen lassen würde – ob er tatsächlich auf einem nachvollziehbaren Weg Kontakt mit den Frauen aufgenommen hatte?

Sadie hatte dem Detective schon einiges gesagt, was sie bislang eigentlich als Vermutung bezeichnet hätte. Aber es konnte nicht anders sein. Er musste machtbesessen sein und er war auch ein Sadist. Er musste auch viel über seine Opfer wissen, sonst hätte er das alles nicht so geschickt anstellen können. Er hatte sie gestalkt. Er wusste, wer seine Opfer waren. Ihr war noch nicht ganz klar, warum er so viele Frauen auf einmal entführte und was er mit ihnen vor hatte, aber sie kannte solche Typen. Manche bekamen einfach den Hals nicht voll.

Sie konnte nicht viel tun, solange sie nicht wusste, ob der Täter mit seinen Opfern im Internet Kontakt aufgenommen hatte oder nicht. Klar war nur: Blonde Frauen zu verletzen war sein Ding.

Sadie versuchte, das alles nicht zu sehr an sich heran zu lassen. Es machte sie nervös, sich vorzustellen, dass dieser Typ ungestraft tun und lassen konnte, was er wollte. Dass er Frauen in seiner Gewalt hatte, denen er weh tun und Angst machen konnte. Das war eine Hölle, die man niemandem wünschten durfte.

Aber Sadie wusste auch, dass sie nicht jeden retten konnte. Sie konnte es nur versuchen.

Sie kniete sich tiefer in alle Unterlagen und versuchte, mehr über den Täter herauszufinden. Man hatte noch DNA-Spuren an Laurie sichern können und bereits einen Abgleich mit der Datenbank gemacht – ohne Erfolg. Sadie fiel es schwer, sich vorzustellen, dass dieser Kerl nicht vorbestraft war. Solche Typen legten doch eine bestimmte Karriere hin. Spannerei, sexuelle Belästigungen, irgendwann erste Übergriffe, dann Mord. Das steigerte sich.

Aber er wählte auch untypisch alte Frauen. Die meisten Serienmörder begannen in ihren frühen Zwanzigern mit dem Morden, aber diese Opfer hier waren älter. War der Täter es auch?

Sadie zerbrach sich den Kopf. Irgendwas passte da nicht. Sie fragte sich, ob vielleicht Lauries Schwangerschaft zu ihrem Tod geführt hatte. Vielleicht hatte das nicht in seinen Plan gepasst.

Aber für das, was er da tat, brauchte er Platz. Er brauchte ein gutes Versteck, wenn er mehrere Frauen so lang gefangenhielt. Was war das für ein Verrückter?

Sadie machte sich Stichpunkte. Sie fand es schwierig, das Alter des Täters einzugrenzen und sie fragte sich, wo und warum er die Frauen gefangenhielt. Wie stieß er auf sie? Wie brachte er sie dazu, ihm die Tür zu öffnen?

Sie machte sich Sorgen, dass er seine Spuren gut verwischt haben würde. Bisher war man ihm nicht auf die Schliche gekommen – konnte sich das so plötzlich ändern? Hatte er wirklich einen so dummen Fehler begangen?

Dabei hatte sie selbst schon erlebt, dass auch die klügsten Serienmörder Fehler machten. Ihr Vater hatte damals seine Flucht mit ihr minutiös geplant. Er hatte sie beobachtet und gewusst, dass sie kaum allein anzutreffen sein würde – aber auch, dass Matt ihr Schwachpunkt war. Dort hatte er sie getroffen. Er hatte gewusst, dass er verschiedene Fluchtwagen brauchte und war lange unter dem Radar geblieben, aber dann hatte er einen Wagen gestohlen, der GPS hatte.

Und Seans kapitaler Fehler, ihr Handy zu vergessen, hatte Sadie das Leben gerettet. Oder vielmehr seine Unachtsamkeit mit seinem eigenen Handy. Wenn sie es nicht geschafft hätte, es zu erreichen ...

Sie wollte es sich gar nicht vorstellen. Sean hatte ihr prophezeit, dass er sich Zeit für sie nehmen würde. Er hätte sie qualvoll in seinem Keller dahinsiechen lassen. Sie war so froh, dass sie es riskiert hatte, mit seinem Handy Hilfe zu rufen.

Und auch dieser Täter hier würde Fehler machen. Sadie musste ihn nur dabei ertappen. Ein Mörder konnte nicht alles wissen. Vielleicht führten digitale Spuren zu ihm und seinen Opfern. Sie hoffte es so sehr.

 

Besonders konzentriert war Sadie an diesem Tag wirklich nicht. Sie machte pünktlich Feierabend und begab sich auf den Heimweg. In diesem Augenblick war die Erinnerung an Sean zu allgegenwärtig. Das war nicht wirklich Cassandras Schuld, aber sie hatte den Gedanken noch verstärkt. Es war, wie Sadie gesagt hatte: Ihre Entführung durch Sean jährte sich in zwei Tagen. Das konnte sie nicht ignorieren, so sehr sie das auch versuchte. Und ausgerechnet jetzt bat Cassandra sie in einem ähnlichen Fall um Hilfe.

Manchmal war Sadie die ganze Welt leid – so auch an diesem trübgrauen Tag auf dem Heimweg. Es ernüchterte sie, zu sehen, dass es noch andere Kerle wie Sean gab und andere Opfer, die das durchmachen mussten, was sie erlebt hatte. Sie konnte damit umgehen, aber auch wenn es eine ferne Erinnerung war, war sie immer noch schmerzhaft, wenn sie erwachte.

Während sie hinter einem anderen Wagen vor der roten Ampel stand und auf Grün wartete, drehte sie den rechten Arm ein wenig zur Seite, so dass sie ihren Unterarm sehen konnte. Im Büro versteckte sie die Narben immer noch. Bislang war es ihr gelungen, sie zu verbergen.

Sie sah immer noch, wie Sean mit dem Messer über ihren Unterarm ritzte und beobachtete, wie das Blut über ihr Haut lief. Erst das Hupen des Wagens hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Sie trat aufs Gas und rief sich zur Ordnung. Sie hatte keine Lust, auf dem Heimweg auch noch einen Unfall zu bauen.

Schließlich traf sie zu Hause ein und seufzte, als sie sah, dass noch niemand dort war. Matts Challenger stand zwar sowieso immer in der Garage, aber es war noch dunkel im Haus. Sadie schloss die Haustür auf und machte ein Lockgeräusch für die Katzen. Aus der Küche kam eine gemaunzte Antwort von Figaro.

„Da bist du ja“, sagte sie und ging in die Knie, als der Kater auf sie zulief. Sie wartete auf ihn und hob ihn auf den Arm, als er bei ihr war. Er begann sofort zu schnurren.

„Ich hab dich lieb, Kater“, sagte sie und vergrub die Nase in seinem Fell. Figaro rieb seinen Kopf an ihrem. Sadie trug ihn zum Sofa und setzte sich mit ihm. Sie lehnte sich hinterrücks an, so dass der Kater quer auf ihrem Oberkörper liegen konnte, und kraulte ihn hingebungsvoll. Figaro schloss genüsslich die Augen.

Sadie war so froh, die Katzen zu haben. Sie hätte sich ein Leben ohne die beiden nicht vorstellen können.

Ihr Blick fiel auf ihr Hochzeitsfoto, das an der gegenüberliegenden Wand hing, und fror auf ihrem Gipsarm fest. Unwillkürlich krallte sie ihre Finger in Figaros Fell. Der Kater nahm es ihr nicht übel.

Sie schloss die Augen und erinnerte sich daran, dass Sean tot war. Er hatte bekommen, was er verdiente.

Er hatte es ja auch nicht geschafft, sie zu vernichten. Er hatte es versucht, aber es war ihm nicht gelungen. Trotzdem hatte er sie verändert. Unbeschwert war sie nie gewesen, aber inzwischen gab sie sich nach außen abgeklärt und regelrecht kühl. Anders ging es nicht.

Sie zuckte zusammen, als die Haustür geöffnet wurde. Figaro hob den Kopf und sah Sadie fragend an, aber er hörte, dass es Matt war und interessierte sich deshalb nicht weiter für seine Ankunft.

Augenblicke später hörte Sadie Matt näherkommen. Er ging um das Sofa herum und setzte sich neben sie. Figaro beobachtete ihn durch seine Schlitzaugen und räkelte sich genüsslich, als Matt ihn ebenfalls zu kraulen begann.

„Was ist denn hier los? Flirtest du etwa mit einem anderen Mann?“, fragte er leise.

Sadie grinste. „Du bezeichnest Figaro als Mann?“

„Ist er etwa keiner?“

„Ein Kater.“

„Okay. Der Punkt geht an dich.“ Matt beugte sich vor. „Es ist so still und dunkel hier.“

„Ich musste eben mit Figaro flirten“, sagte Sadie.

„Du siehst traurig aus“, legte Matt gezielt den Finger in die Wunde.

Sadie seufzte unwillig. „Es ist nichts.“

„Ach komm. Dafür kenne ich dich zu gut.“

„Hast du mal auf den Kalender geguckt?“, erwiderte sie gereizt.

„Natürlich“, erwiderte er gelassen. „Hätte mich gewundert, wenn du es vergessen hättest.“

„Halt mich fest“, sagte Sadie und hielt die Luft an, um nicht losheulen zu müssen. Matt verstand und legte seine Arme um sie. Figaro fühlte sich gestört und rollte sich nun neben Sadie zusammen, so dass sie Matts Umarmung erwidern konnte.

Er küsste sie aufs Haar. „Das wird nie wieder passieren, Sadie. Nur über meine Leiche.“

„Ich weiß ... aber es tut einfach immer noch weh.“

„Denkst du, mir nicht?“, erwiderte er.

„Ja, schon klar ... das hat dich auch betroffen.“

Matt nickte bloß und krallte seine Finger in ihre Oberarme.

„Au“, sagte Sadie und er ließ sofort wieder los.

„Sorry.“

„Du bist ein Held. Du bist geblieben.“

Er nickte. „Natürlich. Ich wusste, dass ich trotzdem glücklich mit dir sein würde.“

Das war zuviel für Sadie. Sie begann, zu schluchzen und vergrub das Gesicht an Matts Brust.

„Mau?“, machte Figaro fragend.

„Ach, Kater“, sagte Matt und seufzte, während er Sadie beruhigend über den Rücken strich.

„Ich liebe dich“, sagte Sadie unter Tränen.

„Ich liebe dich auch“, sagte Matt. „Das weißt du, oder?“

„Und wie ich das weiß ...“

„Hey, alles gut. Denk nicht dran. Sean ist tot.“

„Ich weiß ... zum Glück. Das vergesse ich Phil nie.“

„Ich auch nicht. Aber du weißt, sonst hätte ich es getan.“

„Ich bin froh, dass du es nicht getan hast“, murmelte Sadie. „Das hätte dir den Hals gebrochen.“

„Du weißt, ich tue alles für dich“, sagte Matt.

Sie zuckte fast zusammen. „Sag sowas nicht.“

„Warum nicht?“, erwiderte er unbekümmert.

„Dann habe ich ein schlechtes Gewissen.“

„Musst du nicht. Ich liebe dich eben.“ Matt gab ihr wieder einen Kuss und stand auf. „Ich habe Hunger.“

„Ich auch“, erwiderte Sadie zaghaft.

Er ging in die Küche, spähte in den Kühlschrank und sagte: „Morgen steht eine Razzia an. Soweit ich weiß, wird Phil vor Ort sein.“

„Und du bist nicht dabei?“

„Nein, das ist was für die SWAT-Leute.“

Sadie wischte sich scheu über die Augen, holte tief Luft und stand auf. Sie ging hinüber zu Matt, legte einen Arm um ihn und warf ebenfalls einen Blick in den Kühlschrank.

„Wie wäre es mit Hot Dogs?“, schlug sie vor.

„Gute Idee. Das wäre jetzt genau meine Kragenweite“, sagte Matt und nahm die Würstchen aus dem Kühlschrank. Sadie ging auf die Suche nach Hot Dog-Brötchen und im Handumdrehen hatten sie einen leckeren Snack gezaubert.

„Es beruhigt mich ja irgendwie, dass du bei der Razzia morgen nicht dabei bist“, gab Sadie zu, während sie nebeneinander auf dem Sofa saßen und ihre Hot Dogs verspeisten.

„Hast du Angst, man könnte wieder auf mich schießen?“

„Klar“, sagte Sadie geradeheraus. „Das bräuchte ich nicht noch mal.“

„Ich übrigens auch nicht.“ Matt grinste. „Dabei findest du meine Narben doch sexy, oder?“

Sadie lachte. „Du bist so eigennützig, Matt.“

„Ist doch so. Nur Narben machen aus einem Mann einen echten Kerl.“

Sie prustete erstickt. „Und albern bist du auch.“

„Deshalb liebst du mich doch.“

„Deshalb?“, fragte Sadie skeptisch. „Na, ich weiß nicht.“

„Zumindest schmälert es deine Zuneigung nicht.“

Sie knuffte ihn in die Seite. „Manchmal bist du eine echte Nervensäge.“

„Ich weiß. Das macht eben zuviel Spaß! Und ich liebe es, wenn du über mich lachst.“

„Auch eine Sichtweise.“

Aber sie musste zugeben, dass er irgendwie recht hatte. Es war wirklich gerade seine unbekümmerte und alberne Art, die Sadie so mochte – und trotzdem nahm er sie immer ernst. Er hatte eine sehr gesunde Sichtweise auf die Welt – gesünder als ihre, das stand außer Frage. Seine bodenständige Art kam ihm auch bei seiner Arbeit zugute. Seit kurzem war er nun wieder draußen auf der Straße unterwegs, angesetzt mit einigen anderen Agents auf einen neuen Großdealer in South Central. Joey Baker wurde der neue Meth-König von Los Angeles genannt, er hatte in kurzer Zeit ein beachtliches Imperium auf die Beine gestellt und dealte darüber hinaus mit allen anderen Drogen, die er in die Finger kriegen konnte. Matt versuchte gerade noch, sich in das Imperium einzuschleusen, doch anscheinend hatten die Vorgesetzten bereits beschlossen, es Joey Baker mal ziemlich ungemütlich zu machen. Sadie wusste immer, woran Matt arbeitete, auch wenn er es ihr genaugenommen nicht hätte erzählen dürfen. Er beschloss, es zu ignorieren, weil sie nicht nur seine Frau, sondern selbst beim FBI war. So blieb es in der Familie.

„Wie war dein Tag?“, fragte Matt schließlich.

Sadie zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Weiß nicht, ich war nicht besonders auf der Höhe. Cassandra hat mich heute Mittag angerufen und um Hilfe in einem Fall gebeten.“

„Wirklich? Ist ja lustig. Als hätte die BAU keine Profiler!“ Matt grinste.

„Die BAU hat genug Profiler, aber es geht um einen Sadisten, der Frauen entführt. Sie hat überlegt, ob sie mich fragen soll, aber Nick sagte ihr, sie soll es tun.“

„Verstehe“, sagte Matt ohne erkennbaren Unterton.

„Ich warte noch auf Infos von der Polizei.“

„Das kam dir heute bestimmt sehr gelegen.“

Sadie seufzte. „So etwas kommt mir nie gelegen. Aber ich helfe ihr natürlich.“

„Kann ich verstehen.“ Matt wischte sich die Finger ab und legte einen Arm um sie. „Sollen wir uns nachher einen Film ansehen?“

„Gern“, sagte Sadie. „Ich glaube, ich nehme jetzt erst mal ein Bad.“

„Gute Idee“, fand Matt. „Ich bin solange am Computer und blamiere mich noch ein bisschen vor Phil.“

„Du Armer“, neckte Sadie ihn. Sie gingen gemeinsam nach oben und während Sadie sich Wasser in die Badewanne einließ, ging sie ins Schlafzimmer, um sich bequemere Sachen zu holen. Dabei stellte sie fest, dass Mittens auf ihrer Bettdecke schlief.

„Hier bist du“, sagte Sadie, aber die Katze ignorierte sie. Als Sadie ins Bad zurückkehrte, warf sie einen Blick ins Nachbarzimmer und beobachtete Matt kurz beim Spielen. Er hatte sich Kopfhörer aufgesetzt und war ganz konzentriert in das Geschehen auf dem Bildschirm vertieft. Sadie konnte sich erinnern, dass sie in ihrer Jugendzeit auch immer wieder Computerspiele mit Gary gespielt hatte, aber das war lange her. Inzwischen konnte sie sich nicht mehr so sehr dafür begeistern, aber es störte sie nicht, wenn Matt es tat.

Schließlich legte sie sich in die Wanne und schloss die Augen. Vielleicht konnte sie so die Welt vergessen – die Welt und alle schrecklichen Dinge darin. Sie hätte nicht erwartet, wie sehr die bloße Tatsache, dass ihre Entführung sich jetzt jährte, sie aus dem Konzept bringen würde. Wenigstens hatte sie inzwischen einen guten Umgang damit gefunden – meistens zumindest. Momente der Schwäche waren wohl ganz normal.

Sadie hielt die Luft an und tauchte in der Wanne unter. Sie versuchte, sich treiben zu lassen und abzuschalten. Vielleicht half es auch, sich für das Wochenende etwas vorzunehmen. Ablenkung war gut.

Schließlich stieg sie wieder aus der Wanne, trocknete sich ab und band sich ein Handtuch um den Kopf. Sie hatte sich gerade angezogen, als sie das Klingeln des Telefons hörte. Sie lief nach nebenan und griff nach dem Telefon. Matt war zu vertieft in sein Spiel, er hatte das Telefon zwar gehört, konnte die Spielrunde aber nur schlecht unterbrechen.

„Whitman“, meldete sie sich.

„Hier ist Jo“, sagte ihre Cousine. „Immer noch seltsam, dass du jetzt einen anderen Namen hast.“

„Um ehrlich zu sein, gefällt es mir.“

„Das kann ich mir vorstellen. Weißt du, was mir gar nicht gefällt?“

Sadie grinste. „Lass mich raten: Dein dicker Bauch?“

Joanna lachte selbstironisch. „Allerdings. Ich weiß nicht, wie ich das noch fünf Wochen lang aushalten soll.“

„Das weiß ich auch nicht ... aber ich fürchte, du hast keine Wahl!“ Grinsend schlenderte Sadie mit dem Telefon am Ohr durch den Flur.

„Stör ich dich bei irgendwas?“

„Nein, du hast Glück, ich war vorhin in der Badewanne und jetzt sehe ich mit dem Handtuch auf dem Kopf aus wie ein persischer Sultan!“

Joanna amüsierte sich prächtig. „Ja, das kenne ich. Auch wenn mir die Geduld fehlen würde, mein Haar so lang zu tragen wie du.“

„Du weißt, eigentlich sind meine Haare pflegeleicht.“

„Und schön sind sie auch. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe dich immer beneidet!“

Sadie lachte. „Das glaube ich wirklich nicht. Ich habe die Farbe früher gehasst.“

„Ich weiß. Damit konnte man dich prima hänseln.“

„Erinnere mich bloß nicht daran. Wie geht es dir?“

„Sagte ich doch eben. Ich hasse meinen Bauch!“

Während sie gemeinsam lachten, staunte Sadie darüber, dass sie es taten. Noch vor einem Jahr hätte sie sich nicht vorstellen können, dass es jemals dazu kam. Sie hatte immer mit Jo auf Kriegsfuß gestanden. Etwas anders verhalten hatte Joanna sich an Ostern, als Sadie mit Gipsarm und Ehering in Waterford aufgetaucht war. Joanna hatte kaum gewusst, wie sie Sadie begegnen sollte, denn sie hatte ja auch gewusst, was Sadie Wochen zuvor zugestoßen war. Aber das alles hatte sich aufgelöst, als Sadie versucht hatte, ihr hinsichtlich der ungewollten Schwangerschaft einen Rat zu geben. Da hatte Joanna gemerkt, dass sie mit Sadie sprechen konnte.

„Freust du dich denn?“, fragte Sadie ihre Cousine.

„Ja, schon irgendwie. Bestimmt manipulieren mich meine eigenen Hormone, aber ja, ich freue mich auf die Kleine.“

„Ich bin schon so gespannt. Hast du jetzt einen Namen?“

„Ja ... ich dachte an Michelle.“

„Verstehe“, sagte Sadie. „Das ist eine schöne Idee.“

„Ich weiß, Gary wollte den Namen auch nehmen, aber er bekommt ja ständig Jungs!“

„Das ist dann sein Pech“, sagte Sadie trocken. „Weiß Dad schon davon?“

„Ja, er mag die Idee. Immerhin war das ja auch Mums echter Name.“

„Ja ... ach, Mum. Sie hätte ihre Enkel so gern kennengelernt.“

„Sie hätte sie auch sehr geliebt. Sie fehlt mir.“

„Mir auch ... Ach, lass uns davon aufhören. Das macht mich nur traurig“, sagte Sadie.

„Ja, da hast du recht. Im Moment bist du bestimmt sowieso gestresst, oder?“

„Du meinst, weil es jetzt ein Jahr her ist?“, fragte Sadie unpräzise.

„Genau ... ich wusste nicht, wie ich es sagen soll.“

„Mehr, als mir lieb ist“, gab Sadie zu. „Aber du kannst es ruhig sagen. Du kannst ihn auch beim Namen nennen.“

„Ich finde es großartig, wie du damit umgehst.“

„Geht auch nicht anders. Sonst könnte ich mich ja erschießen.“

„Da hast du recht ... ich hätte mich auch erschießen können, als der Schwangerschaftstest positiv war. Und jetzt bin ich trotzdem glücklich!“

„So klingst du auch.“

„Schöner wäre es mit dem Vater dazu ... aber es geht schon. Ich freue mich riesig auf die Kleine! Nur vor der Geburt habe ich Angst.“

„Wer begleitet dich?“

„Weiß ich noch nicht ... ich hatte an Sandra gedacht, aber sie wohnt ja nicht gerade um die Ecke.“

„Und wenn du dich bei Dad einquartierst?“, schlug Sadie vor.

„Das ist eine gute Idee, weißt du das? Ich habe sowieso schon Urlaub gehortet bis zum Gehtnichtmehr und im Büro vereinbart, dass ich eine Woche vor dem Termin nicht mehr komme. Dann könnte ich zu Dad fahren.“

„Aber dann würde sie in Modesto geboren.“

„Kann sie ja. Das ist mir völlig egal.“

Sadie und Joanna unterhielten sich über zahlreiche Fragen rund um die Geburt. Sadie freute sich, dass sie inzwischen ein gutes Verhältnis zu ihrer Cousine hatte, denn so lebte es sich deutlich angenehmer. Sie freute sich auch, dass es Joanna mittlerweile so gut mit der Schwangerschaft ging. Anfangs war sie so unglücklich gewesen, was Sadie gut verstehen konnte. Aber jetzt war Jo zufrieden. Ihre gute Laune färbte auf Sadie ab, so dass sie besserer Stimmung war, als sie schließlich auflegte und ins Bad zurückkehrte, um ihr Haar zu bürsten und zu fönen.

Sie war noch gar nicht ganz fertig, als Matt in der Tür erschien und sie von hinten umarmte. Sie bemühte sich, ihn nicht mit dem Fön zu treffen, legte ihn schließlich beiseite und lächelte Matt an.

„Du bist irgendwie süß, weißt du das?“, sagte sie.

„Ich gebe mir Mühe. War das eben Jo?“

Sadie nickte. „Sie sagte, sie kann sich kaum noch bewegen.“

„So schlimm? Aber wir haben sie ja auch seit Weihnachten nicht gesehen.“

„Sie ist total glücklich. Das freut mich für sie.“

„Mich freut es, dass ihr endlich miteinander reden könnt, ohne euch die Augen auszukratzen“, sagte Matt.

„Ja, damit hätte ich nie gerechnet. Sie kann echt nett sein!“ Sadie bürstete sich die Haare und lächelte.

„Hab keine Lust mehr“, sagte Matt. „Phil hat mich wieder abgezogen. Jetzt wäre mir nach einem sinnlosen Actionfilm!“

„Gute Idee“, sagte Sadie. Danach stand ihr jetzt der Sinn.

 

 

Freitag

 

Sadie wollte gerade einen Schluck Wasser nehmen, als ihr Telefon klingelte. Sie stellte das Glas wieder ab und griff nach dem Hörer.

„Special Agent Sadie Whitman.“

„Guten Morgen, Agent Whitman, Officer Madden vom LAPD. Man sagte mir, dass Sie spezialisiert auf die Vernehmung traumatisierter Verbrechensopfer sind.“

„So in der Art“, erwiderte Sadie. „Worum geht es?“

„Letzte Nacht wurde ich zu einem Einsatz gerufen – ein prügelnder Ehemann hat seine Frau fast in ihre Einzelteile zerlegt. Sie liegt im Krankenhaus und ist ansprechbar, aber sie verweigert jede Aussage. Ich vermute, sie hat Angst.“

„Gibt es keine anderen Zeugenaussagen?“

„Doch, die Nachbarn haben eine Menge gehört. Aber sie verweigert nicht nur die Aussage, sie will ihn nicht mal anzeigen. So etwas habe ich schon gesehen. Wenn man da nicht aktiv wird ... der bringt seine Frau noch um.“

„Kann ich mir vorstellen“, sagte Sadie. „Und jetzt hoffen Sie, dass ich helfen kann.“

„Ja, das hoffe ich in der Tat ... Ich will diesen Kerl nicht davonkommen lassen, verstehen Sie?“

„Das verstehe ich gut. Ich kann mein Glück gern mal versuchen.“

„Perfekt. Ich hole Sie gern ab. Sie sind am Wilshire Boulevard?“

„Richtig. Ich kann unten auf Sie warten.“

„Ich denke, ich bin in zwanzig Minuten da. Wie finden wir uns?“

„Halten Sie Ausschau nach roten Haaren. Das dürfte nicht allzu schwer sein“, sagte Sadie grinsend.

„Okay. Bis gleich.“

Die Polizistin legte auf und Sadie tat es ihr gleich. Jetzt blieb ihr gar nicht mehr viel Zeit. Sie trank noch etwas, gab kurz ihrem Vorgesetzten Bescheid und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Sie stand noch keine fünf Minuten unten, als eine junge Frau in Uniform von LAPD auf sie zuhielt und ihr die Hand reichte.

„Officer Shirley Madden“, sagte sie. „Sie hatten recht, man erkennt Sie ziemlich gut!“

Sadie lachte. „Die Haarfarbe kann auch ein Vorteil sein.“

Officer Madden grinste. Sie war brünett und trug ihr schulterlanges Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Eine hübsche Frau, die eigentlich zu zerbrechlich für eine Polizistin wirkte. Gemeinsam verließen die beiden das Gebäude und setzten sich in den Streifenwagen, mit dem Officer Madden gekommen war. Sadie nahm auf dem Beifahrersitz Platz und gähnte verstohlen. Die Polizistin merkte es nicht. Sie fuhr los und konzentrierte sich anfänglich aufs Fahren.

„Ich hoffe, Sie können die Frau überzeugen“, sagte sie dann. „Ich war schon mehrmals dort, der Kerl ist ein prügelnder Säufer. Aber sie schafft es trotzdem nicht, ihn zu verlassen. Meist haben die Nachbarn uns gerufen. Wenn wir dann da sind, gibt er sich lammfromm und sie hat ihn auch noch nie angezeigt. Aber gestern ... er hätte sie auch totgeschlagen, wenn wir nicht gekommen wären.“

„Okay“, sagte Sadie. „Wie ist ihr Name?“

„Sie heißt Ava Hamill. Langsam muss da etwas passieren. Ich fürchte wirklich, dass er sie noch umbringt, wenn sie dort bleibt.“

„Wenn er sie so schwer verletzt hat, muss ich nicht unbedingt ihre Aussage darüber haben. Aber anzeigen sollte sie ihn.“

„Wir müssen sie davon überzeugen, zu handeln. Sie kann nicht bleiben und untätig zusehen, wie er sie zugrunde richtet. Das kann ich mir nicht ansehen – und ich habe gehört, dass Sie richtig gut sind in dem, was Sie machen.“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“, fragte Sadie.

Madden zuckte mit den Schultern. „Das hat schon so die Runde gemacht. Kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Es hieß nur immer, dass wir uns an Agent Whitman vom FBI wenden sollen, wenn wir mal irgendwie nicht weitergkommen – sei es mit einer Aussage oder überhaupt mit Ermittlungen. Als ich vorhin Ihre Nummer gesucht habe, war ich erst irritiert und wusste nur, dass ich richtig bin, weil Sie eine Frau sind.“

„Verstehe“, sagte Sadie. „Sie sind noch über Matt Whitman gestolpert.“

„Richtig. Aber er konnte es nicht sein.“

„Nein, das ist mein Mann.“

„Oh!“ Madden lachte. „Dann hätte er mir ja auch sagen können, wer mir helfen kann.“

„Ja, das hätte er. Aber er arbeitet in einer ganz anderen Abteilung.“

„Haben Sie sich beim FBI kennengelernt?“, fragte die Polizistin.

„Nein, wir kannten uns vorher schon. Wir waren vorher beide bei der Polizei. Er ist mir zum FBI gefolgt.“

Die Polizistin pfiff durch die Zähne. „Nicht schlecht. Dann habe ich es ja wirklich mit einer Kollegin zu tun. Wie lang waren Sie bei der Polizei?“

„Ein paar Jahre“, sagte Sadie und wusste, jetzt hatte sie den Respekt der Polizistin sicher.

„Toll. War das auch hier?“

„Nein, das war oben in Waterford, in der Nähe von Modesto.“

„Ja, das kenne ich. Kleinstadt, was?“

„Ja, das ist nicht ganz wie hier.“

„Man lebt vermutlich sicherer!“

Sadie grinste. „Schon, ja. Es ist ruhiger.“

„Keine prügelnden Ehemänner?“

„Selten“, sagte Sadie. „Kommt aber auch vor.“

„Das Böse ist überall“, orakelte Madden. Sadie sagte nichts dazu. Sie überlegte, ob sie noch weitere Infos über Ava Hamill brauchte, aber sie glaubte, dass sie auch ohne zurechtkam. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wozu prügelnde Ehemänner in der Lage waren – und dass die betroffenen Frauen voller Furcht waren. Das hatte sie an ihrer Mutter gesehen.

Sie erreichten das Krankenhaus und Sadie folgte Officer Madden bis zu dem Zimmer, in dem die Frau lag. Auf der Station duftete es nach Kaffee, eine Schwester lief hastig an ihnen vorbei. Dann betraten sie Avas Zimmer.

Sie war allein dort. Sadie schluckte kurz, als sie die Frau sah. Sie war gerade dreißig, zumindest vermutete sie das. Die Schätzung fiel ihr schwer, denn schon ihr Gesicht war grün und blau geschlagen. Beide Augen waren dick angeschwollen, eine Augenbraue und die Lippe aufgeplatzt, die Nase gebrochen. Darüber hinaus waren Verbände an ihren Armen und ein zusätzlicher Gips sichtbar. Sadie hatte eine ungefähre Ahnung, wie ihr Mann gewütet haben musste.

„Guten Morgen, Ava“, sagte Officer Madden. „Geht es Ihnen besser? Haben Sie noch Schmerzen?“

Ava nickte nur. Der Fernseher war ausgeschaltet, deshalb war es still auf dem Zimmer.

„Ich habe jemanden mitgebracht, Agent Whitman vom FBI“, sagte die Polizistin. „Sie kennt sich mit Fällen wie Ihrem aus.“

Sadie nickte, auch wenn das nicht so ganz stimmte. Allerdings wollte sie Ava nicht erschrecken. Sie musste nicht wissen, dass sie normalerweise Serienmörder jagte.

Sadie und die Polizistin setzten sich neben das Bett. Shirley hielt sich zurück und überließ Sadie das Wort.

„Ich habe gehört, was gestern passiert ist“, sagte Sadie. „Es tut mir sehr leid, dass es dazu gekommen ist.“

„Ist ja nicht Ihre Schuld“, sagte Ava heiser.

„Es tut mir trotzdem leid. Ich kann mir vorstellen, dass das alles sehr weh tut.“

Unentschlossen zuckte Ava mit den Schultern. „Geht schon. Muss ja. Aber warum ist das FBI hier?“

„Dass ich vom FBI bin, ist gar nicht weiter wichtig“, sagte Sadie. „Aber ich habe schon mit Frauen gesprochen, denen Ähnliches zugestoßen ist wie Ihnen.“

„Dann wissen Sie ja, was passiert ist.“

Sadie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was Ihnen passiert ist. Aber ich würde es gern wissen.“

„Ich will nicht darüber reden.“ Ava mauerte sofort wieder.

„Wie heißt Ihr Mann?“

„Mason“, erwiderte Ava knapp.

„Wie lang kennen Sie sich?“

„Schon eine Weile.“

„Hat er Ihnen schon einmal gesagt, dass er Sie liebt?“, fragte Sadie. Irritiert kniff Ava die Augen zusammen.

„Sie stellen ja komische Fragen.“

„Ja, weil ich Sie kennenlernen will.“

„Mich kennenlernen?“

Sadie beugte sich vor und sah Ava für einen Moment nur an. „Können Sie sich daran erinnern, dass er es Ihnen gesagt hat?“

Ava holte tief Luft und dachte nach. „Keine Ahnung. Ist bestimmt schon eine Weile her.“

„Finden Sie das gut?“

Die Frau zuckte zaghaft mit den Schultern. „Nein, irgendwie nicht. Aber so ist er eben.“

„Warum nehmen Sie ihn in Schutz?“ fragte Sadie.

„Er ist kein schlechter Mensch.“

„Das vielleicht nicht ... aber er ist der Mensch, der Ihnen gestern den Arm und die Nase gebrochen hat. Das tut weh, das weiß ich. Und ich meine nicht nur den Schmerz, wenn ein Knochen bricht. Das verletzt auch die Seele.“

Ihr entging nicht, wie Officer Madden hinter ihr zusammenzuckte, wohingegen Ava ganz ruhig blieb.

„Und woher wollen Sie das wissen?“

„Ich hatte auch schon den Arm in Gips. Und ich kann mich erinnern, dass mein Vater meine Mutter ins Krankenhaus gefahren hat, nachdem er ihr auch den Arm gebrochen hat.“

„Tatsächlich?“, fragte Ava skeptisch.

Sadie nickte. „Mein Vater war kein Trinker, aber er war herrisch und brutal. Meine Mutter hat sich nie getraut, ihn zu verlassen, auch wenn er uns Kinder geschlagen hat.“

„Das sagen Sie doch jetzt nur.“

„Nein. Das ist wirklich passiert.“

„Hm“, machte Ava. „Was ist aus ihm geworden?“

„Er ist ins Gefängnis gekommen“, sagte Sadie.

Ava schluckte. „Hat Ihre Mutter ihn angezeigt?“

„Dazu ist sie nicht mehr gekommen.“

„Was ... was hat er gemacht?“ fragte Ava.

„Er hat sie erschossen.“ Sadie straffte die Schultern und sah Ava geradeheraus an.

„Ich glaube Ihnen nicht.“

„Das können Sie aber. Ich war damals elf. Ich wünschte, meine Mutter wäre viel früher zur Polizei gegangen. Er wurde bestraft, aber für sie kam es zu spät.“

„Und was wurde dann aus Ihnen?“, fragte Ava.

„Ich bin bei Verwandten aufgewachsen. Sie haben keine Kinder, oder?“

Ava schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Ansonsten würde ich Ihnen jetzt auch befehlen, zu handeln. Aber auch, wenn Sie keine Kinder haben – Sie müssen etwas tun. Wollen Sie riskieren, dass er irgendwann nicht mehr weiß, wann er aufhören muss?“

„Er ist kein böser Mensch ...“

„Ava, er hat Ihnen den Arm gebrochen. Er hat sie verprügelt. Ich weiß, wie das vonstatten geht. Wahrscheinlich hat er Sie noch getreten, als Sie am Boden lagen, oder?“

Sadie merkte, dass Shirley dazwischengehen wollte, aber sie achtete nicht auf sie. Was sie da tat, war gewagt, aber bei Gewaltopfern wie Ava Hamill waren Samthandschuhe am falschen Platz. Sie würde ihren Mann noch schützen, wenn er ihr eine Waffe an den Kopf hielt. Das ging nicht.

Eine Träne löste sich aus Avas Auge. „Sie haben das wirklich erlebt, oder?“ fragte sie.

Sadie nickte. „Ich habe Sie nicht angelogen. Ich bin Polizistin und FBI-Agentin geworden, um Menschen vor dem zu schützen, was mir passiert ist. Lassen Sie mich Ihnen helfen, Ava.“

„Aber ich liebe ihn ...“

„Er verdient Ihre Liebe nicht, Ava. Männer, die ihre Frauen lieben, schlagen sie nicht. Sie brüllen sie nicht an. Sie beschimpfen sie nicht. Nein, sie ...“ Sadie suchte nach Worten. „Sie sagen Ihnen, dass sie sie lieben, sie helfen ihnen, sie hören ihnen zu und trösten sie, wenn es ihnen schlecht geht. Sie nehmen sich zurück und sie lassen ihre Frauen spüren, dass sie ihnen wichtig sind. Sie trampeln nicht darauf herum, verstehen Sie? Jeder Mann muss sich die Liebe einer Frau verdienen und er darf sie nicht schlagen. Nicht auch nur ein einziges Mal. Das hat keine Frau verdient.“

„Aber er hat gesagt, dass ich es verdiene ...“

Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, Ava. Nichts, was sie getan haben, rechtfertigt, dass er sie zusammenschlägt. Das darf er einfach nicht.“

„Aber was wird er tun, wenn ich ihn verlasse?“, fragte Ava mit zitternder Stimme.

„Ich werde Ihnen sagen, was Sie tun müssen.“ Sadie holte tief Luft. „Sie zeigen ihn an. Hier und jetzt. Sie sagen uns, was er getan hat. Wir brauchen Ihre Aussage. Ich nehme an, er sitzt in Untersuchungshaft?“ Sie drehte sich um zu der Polizistin.

„Ja, bis heute Nacht“, sagte Madden.

Sadie blickte wieder zu Ava. „Er wird im Gefängnis bleiben, wenn Sie jetzt mit uns reden. Er wird bestraft und Ihnen kann nichts mehr passieren.“

„Aber er kommt irgendwann wieder raus ...“

„Wir können Sie beschützen, Ava. Es gibt richterliche Anordnungen und wenn es sein muss, gibt es auch Zeugenschutzprogramme. Sie müssen sich nie wieder schlagen lassen. Nicht ein einziges Mal. Sie sind ein liebenswerter Mensch und Sie verdienen das nicht.“

Plötzlich begann Ava zu schluchzen. „Ich habe solche Angst ...“

„Ich weiß. Die hatte meine Mutter auch. Ich wünschte, sie hätte keine Angst gehabt, dann wäre sie jetzt noch am Leben.“

„Ist Ihr Vater noch im Gefängnis?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Er ist tot. Er tat mir nicht eine Sekunde lang leid.“

„Wie konnte er das tun? Seine eigenen Kinder ...“

„Es ist egal, ob es die Frau oder die Kinder trifft. Kein Mann darf so etwas tun. Eine Familie verdient man sich ... und man muss sich um sie kümmern. Sie verdienen auch einen Mann, der sich um Sie kümmert.“

Ava schniefte, dann liefen ihr die Tränen über die Wangen. „Aber ich habe ihn immer geliebt ... ich kann nicht ohne ihn leben!“

„Sie können“, sagte Sadie. „Meine Mutter hatte auch immer Angst davor, mit drei Kindern allein dazustehen. Aber alles, wirklich alles wäre besser gewesen als das, was passiert ist. Und ich habe Angst, dass Ihnen das auch irgendwann passiert, Ava.“

„Er würde nicht ...“

„Er würde was nicht?“, unterbrach Sadie sie. „Ihnen weh tun? Sie töten? Doch, er würde. Das sehen Sie doch. Er hat sie schon oft geschlagen, das weiß ich. Und es wurde langsam immer schlimmer. Er weiß nicht, wann Schluss ist. Sie müssen jetzt den Schlussstrich ziehen.“

Ava schluchzte laut. „Ich kann nicht ...“

„Doch, Sie können. Sie sind stärker, als Sie glauben. Das haben Sie nur vergessen.“

Zitternd wischte Ava sich über die Wangen. „Er ist doch mein Mann.“

„Wer seine Frau schlägt, hat sie nicht verdient. Kommen Sie. Sie können uns vertrauen. Sagen Sie uns, was passiert ist und zeigen Sie ihn an.“

„Bitte“, fügte Shirley hinzu.

Ava schniefte und nickte schließlich. „Also schön ...“

 

„Puh“, machte Shirley Madden. „Sie sind aber wirklich hart rangegangen. Damit hatte ich nicht gerechnet ...“

„Ich mache das anders als die meisten“, sagte Sadie, während sie neben Shirley zurück zum Ausgang des Krankenhauses ging. „Man muss zwar Verständnis zeigen, aber in solchen Fällen braucht es auch ein wenig konfrontative Härte. Wenn man der Frau nicht klar macht, womit sie es zu tun hat und dass er sie vielleicht irgendwann umbringt, dann passiert das wirklich.“

„Ja ... ich meine, ich habe ja gesehen, dass es funktioniert, auch wenn ich das nicht geglaubt hätte. Zwischendurch dachte ich ein paar Mal, Sie gehen zu weit ...“

Sadie lächelte. „Man ist es nicht gewöhnt. Er hat sie beinahe totgeschlagen und der natürliche Reflex ist, sie mit Samthandschuhen anzufassen. Aber wir mussten ihr die Konsequenzen klar machen, wenn sie selbst keine zieht.“

„Es hat geklappt. Jetzt bleibt er in U-Haft.“

„Und das ist auch gut so.“

Die Schiebetüren öffneten sich, als die beiden näher kamen und das Krankenhaus verließen. Sadie war vollkommen entspannt und zufrieden. Das hatte gut funktioniert.

„Was Sie da gesagt haben ... stimmte das wirklich? Das mit Ihrem Vater, meine ich“, fragte Madden zaghaft.

„Ja, das stimmte wirklich“, sagte Sadie. „Mein Vater hat meine Mutter geschlagen und er hat sie irgendwann erschossen. Sie und meine Geschwister und mich auch beinahe.“

„Oh Gott ...“

„Hm“, machte Sadie achselzuckend. „Er kann niemandem mehr etwas tun. Aber ich habe ihn gern bemüht, um Ava zu zeigen, worum es hier geht. Scheinbar hat es geholfen.“

„Das war wirklich krass. Aber die Kollegen hatten recht, Sie können das.“

„Danke“, sagte Sadie und spürte, wie sie errötete.

„Ist das damals in Waterford passiert?“, fragte Shirley.

Sadie schüttelte den Kopf. „Nein, das war in Oregon. Es ist lange her.“

„Und Sie sind wirklich deshalb Polizistin geworden?“

„Ja. Irgendeinen Grund hat doch jeder von uns.“

„Stimmt ... aber nicht so einen.“

„Nein, das hoffe ich doch.“ Sadie öffnete die Beifahrertür und setzte sich. Shirley schnallte sich an, startete den Motor und fuhr los.

„Ist bestimmt nicht leicht, die eigene Geschichte als Türöffner zu verwenden.“

„Ich mache das auch eigentlich nicht gern, aber besonders in solchen Fällen hilft es. Opfer häuslicher Gewalt fühlen sich ja unverstanden. Alle Welt sagt ihnen, sie sollen sich trennen, dabei sind sie dazu nicht in der Lage. Ich konnte so offen mit ihr sprechen und ihr die Konsequenzen vor Augen führen, weil ich weiß, wovon ich rede. Das macht mich glaubwürdig.“

„Stimmt. Wenn ich ihr dasselbe gesagt hätte, hätte das vermutlich nicht funktioniert.“

„Nein“, sagte Sadie. „Und wie Sie gesehen haben, dauert es nicht einmal lang, jemanden zu knacken. Man muss nur wissen, wie.“

„Sie haben Psychologie studiert, oder?“

Sadie nickte. „Ich war ja ursprünglich bei der Behavioral Analysis Unit.“

„Was, die Einheit, die nach Serienmördern sucht?“, fragte Madden überrascht.

„Richtig. Deshalb bin ich so einiges gewöhnt ...“

„Das glaube ich Ihnen. Aber egal, mir ist bloß wichtig, dass dieser Mann in den Knast geht. Ich werde ja nie verstehen, warum verprügelte Ehefrauen ihre Männer decken.“

Sadie seufzte. „Das ist mangelndes Selbstwertgefühl. Sie glauben, das irgendwie verdient zu haben oder selbst schuld zu sein. Ich kann mich erinnern, dass meine ältere Schwester meine Mutter irgendwann gefragt hat, warum sie nicht geht. Meine Mutter hatte einfach Angst. Sie fühlte sich abhängig von meinem Vater. Er beherrschte auch dieses Wechselspiel, das die meisten Haustyrannen beherrschen: Schläge und anschließender Trost. Hat er sie an einem Abend geschlagen, hat er ihr am nächsten Blumen mitgebracht. Meine Mutter konnte sich nie von ihm lösen.“

„Aber dass er dann einfach seine ganze Familie tötet ...“

„Er war ein Bilderbuchsoziopath“, sagte Sadie.

„Dafür können Sie anderen jetzt wirklich helfen.“

„Das hoffe ich doch“, sagte Sadie.

Wenig später hatten sie das FBI-Gebäude erreicht und Shirley setzte Sadie dort ab, nachdem sie sich noch einmal bedankt hatte. Sadie winkte ihr zum Abschied und ging ins Gebäude.

Ja, sie hatte Ava ziemlich hart rangenommen, aber das war auch ihre Strategie gewesen. Als jemand, der selbst betroffen gewesen war, durfte man so sprechen. Und in solchen Fällen war es wichtig, den Frauen aufzuzeigen, dass ihr Mann sich niemals ändern würde. Darauf hofften die Frauen ja. Sie glaubten den immer wiederkehrenden Versprechungen ihrer prügelnden Männer und lieferten sich ihnen aus. Sadie hatte Ava erst sagen müssen, dass sie etwas Besseres verdient hatte. Das war Ava selbst nicht klar.

Die junge Frau hatte lang mit ihnen gesprochen. Sadie drehte nur noch eine kurze Runde durch die Kantine und holte sich ein Sandwich, denn die Essensausgabe war fast geschlossen. Als sie ins Büro kam, hatten sich einige ihrer Kollegen um einen Tisch geschart und schienen Kriegsrat zu halten.

„Was ist denn hier los?“, fragte Sadie.

„Die Kollegen vom SWAT sind unterwegs zu ihrer Razzia“, sagte McNamara. „In die Ermittlungen sind ja mehrere Abteilungen involviert.“

„Ich weiß“, sagte Sadie.

„Haben Sie nicht selbst einen Bekannten beim SWAT?“

Sie nickte. „Vermutlich ist er jetzt dort.“

„Ich hoffe, die Sache ist von Erfolg gekrönt.

---ENDE DER LESEPROBE---