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Die junge Polizistin Nicky Sheridan bittet FBI-Profilerin Sadie um Mithilfe in einem fast zwanzig Jahre alten Mordfall. Nickys kleiner Bruder Billy wurde als Sechsjähriger auf dem Heimweg von der Schule entführt und Wochen später ermordet und verbrannt aufgefunden. Der Täter konnte nie gefunden werden, weshalb Sadie beschließt, der von Schuldgefühlen geplagten Nicky zu helfen. Gemeinsam fahren sie in Nickys Heimatort am Fuße der südlichen Sierra Nevada und rollen den alten Fall neu auf. Bei ihren Ermittlungen finden sie schnell heraus, dass in der Region über Jahre hinweg immer wieder Menschen getötet und ihre Leichen verbrannt wurden. Nicky und Sadie stoßen auf eine beispiellose Mordserie …
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Stumme Schreie
Sadie Scott 7
Psychothriller
Es gibt keine Grenzen. Nicht für den Gedanken, nicht für die Gefühle.
Die Angst setzt die Grenzen.
Ingmar Bergman
Beim Anblick ihres Vaters vor dem Schultor wusste Nicky, dass etwas passiert sein musste.
Für einen winzigen Moment blieb sie stehen, atmete tief durch und zog an den Schulterriemen ihres Rucksacks. Sie hielt die Daumen darunter geklemmt, während sie aufrecht und gleichzeitig wahnsinnig nervös auf ihren Vater zuging. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand er an seinen Wagen gelehnt da und ging auf Nicky zu, während sie den Schulhof verließ.
„Hallo, Dad“, sagte sie und blickte zu ihm auf. Sie kniff die Augen zusammen, wie sie es sonst nur tat, wenn sie in die Sonne blinzelte. Doch an diesen Tag schien keine Sonne. Es war bewölkt, der Himmel grau in grau.
„Hey, mein Kleines“, sagte er und ging vor ihr in die Hocke, um sie wortlos zu umarmen. Nicky stand wie angewurzelt da, ließ die Arme hängen und starrte über die Schulter ihres Vaters ins Nichts.
„Ist Billy tot?“, fragte sie mechanisch. Die Frage ließ ihren Vater zusammenzucken, weshalb Nicky wusste, dass sie Recht hatte. Jetzt war das passiert, was sie alle seit Wochen befürchteten.
Ihr Vater antwortete nicht. Er ließ sie auch nicht los. Es dauerte einen Augenblick, bis Nicky merkte, dass er weinte. Ausdruckslos starrte sie auf das Schaufenster des kleinen Drugstores gegenüber.
Langsam stand ihr Vater auf und strich ihr über den Kopf. Seine Augen glänzten feucht, eine Tränenspur zog sich über seine Wange.
„Steig ein“, sagte er. „Komm mit nach vorn.“
Nicky tat, was er gesagt hatte, öffnete die Beifahrertür des Chevy Caprice und streifte ihren Rucksack ab. Sie nahm ihn zwischen die Beine, nachdem sie sich gesetzt hatte und weiter auf die Straße starrte. Ihr Vater nahm auf dem Fahrersitz Platz und schlug die Tür zu. Nicky zuckte zusammen.
Sie hatte es gewusst. Schon die ganze Zeit, aber dass ihr Vater nun kam, um sie von der Schule abzuholen, verriet ihr alles. In den vergangenen fünf Wochen hatte er sie jeden Morgen zur Schule gefahren, aber er hatte sie nicht abholen können, weil er da noch arbeitete. Ihre Mutter hatte es nicht getan. So war Nicky jeden Tag nach Hause gelaufen – so wie immer.
Nur, dass Billy jetzt nicht mehr dabei war.
In den letzten Wochen war die Stimmung im Haus wie aus Eis gewesen, die Streits ihrer Eltern immer lauter. Nicky wusste, dass nur ihr Vater ihr nicht die Schuld gab.
Und jetzt war er plötzlich doch hier, stand von der Schule und holte sie ab.
Zwei Mädchen liefen lachend neben dem Caprice vorüber. Nickys Finger krallten sich in ihre Jeans.
„Die Polizei hat angerufen“, brach ihr Vater das Schweigen. Die Pause, die er dann machte, erschien Nicky endlos lang.
„Sie glauben, dass sie Billy gefunden haben.“
Sie glauben? Nickys Kopf flog zur Seite und sie bedachte ihren Vater mit einem Blick, der mehr verständnislos als fragend war.
„Ist er tot?“, stellte Nicky ihre Frage erneut.
„Sie wissen es noch nicht“, sagte Mr. Sheridan ausweichend. „Sie müssen erst noch einige Untersuchungen machen, bevor sie ...“
„Dad!“, schrie Nicky und begann zu schluchzen. „Wurde Billy umgebracht?“
Mit Tränen in den Augen erwiderte Nickys Vater den flammenden Blick seiner Tochter und nickte dann. Nicky stieß einen Schrei aus, der ihren Vater zusammenzucken ließ. Sie schrie und weinte und merkte erst gar nicht, wie Mr. Sheridan sich über die Handbremse zu seiner Tochter beugte und sie geradezu unnachgiebig in seine Arme zog. Er drückte den Kopf des zitternden Mädchens an seine Brust, küsste sie aufs Haar und wiegte sie in seinen Armen.
„Jetzt wird Mum mich für immer hassen“, stieß Nicky atemlos und unter Tränen hervor.
„Mum meint das nicht so“, sagte Mr. Sheridan.
„Doch, tut sie! Sie sagt, dass es meine Schuld war und sie hat Recht ...“
„Nein, Liebes, das hat sie nicht. Sie meint es nicht so!“
„Doch, natürlich! Und ich habe Billy ja auch allein gelassen. Ich habe ihm gesagt, er soll das letzte Stück allein laufen.“
„Es war nicht weit, das konntest du nicht wissen. Nicky, ich bin so froh, dass du noch da bist.“
Aber der Satz hatte nicht den gewünschten Effekt bei Nicky. Sie hatte ein Gefühl, als reiße ihr jemand das Herz heraus. Vor ihren Augen verschwamm alles, sie empfand nur noch Schmerz.
„Ich bin bei dir, mein Liebes“, sagte Mr. Sheridan und ließ Nicky langsam wieder los. Zitternd wischte sie sich die Tränen ab.
„Wie wurde er umgebracht?“, fragte sie.
Bestürzt sah ihr Vater sie an. „Das wissen sie nicht.“
„Warum nicht?“, erwiderte Nicky verständnislos.
„Das können sie jetzt nicht mehr sagen.“
„Aber es sind doch bestimmt nicht nur die Knochen übrig.“
„Ja, sicher ...“ Mr. Sheridan sah ein, dass er Nickys Fragen nicht entkommen konnte. „Man hat ihn verbrannt. Deshalb ist es auch so schwer, festzustellen, ob er es ist.“
Sie nickte gefasst. Das war doch immerhin eine Erklärung, mit der sie etwas anfangen konnte.
„Also weiß man nicht, ob dieser Mörder ihm weh getan hat. Ob er gelitten hat“, sagte sie und es war nicht ganz klar, ob das eine Frage oder eine Feststellung war.
„Nein“, sagte Mr. Sheridan kopfschüttelnd.
„Warum bist du jetzt hier?“
„Ich wollte dich selbst abholen und es dir sagen.“
„Also glaubst du auch, dass er es ist.“
„Sie sind sich da ziemlich sicher.“
Nicky verzog die Lippen und nickte nachdenklich. „Das ist wirklich meine Schuld.“
„Nein“, wiederholte Mr. Sheridan.
„Ich hätte ihn nicht allein gehen lassen dürfen. Es tut mir leid, Dad.“
„Das muss es nicht. Du bist nicht schuld daran.“
Nicky schniefte und wischte sich mit den Handrücken über die Wangen. „Was hat Mum gesagt?“
Mr. Sheridan atmete tief durch. „Ich war noch nicht zu Hause.“
Das zu hören, erstaunte und entsetzte Nicky gleichermaßen. „Nicht?“
„Nein ... die Polizei ist gerade dort. Ich sagte, dass ich herkommen und dich holen will.“
In diesem Moment stürzte Nickys Welt ein. Ihr kleiner Bruder war tot. Billy würde nie wieder nach Hause kommen und das war ihre Schuld. Aber in diesem Moment begriff sie auch, dass ihre Familie daran kaputt gehen würde.
Sie spürte einen dicken Kloß im Hals, aber sie versuchte, ihn herunterzuschlucken. In den letzten Wochen war nichts und doch so vieles passiert. Sie hatte gehört, wie ihr Vater in einem Streit mit ihrer Mutter gesagt hatte, dass Nicky altklug geworden war. Erst hatte sie das Wort nicht verstanden, aber jetzt glaubte sie zu wissen, was es bedeutete.
Sie hatte ein Gefühl, als verhärte sich in ihrer Brust etwas. Der Schmerz hörte auf, er quälte sie nicht mehr so furchtbar. Immerhin nahmen jetzt die ständigen Hoffnungen und Zweifel ein Ende. Anfangs hatte sie sich gewünscht, dass Billy nach Hause kam, aber irgendwann war diese zermürbende Hoffnung dem Wunsch gewichen, einfach nur zu wissen, was mit ihm geschehen war. Das konnte auch seinen Tod bedeuten, inzwischen war das Nicky gleich.
Doch jetzt, als es so gekommen war, war der Schmerz so groß, dass Nicky ihn wegschieben musste, um ihn überhaupt noch ertragen zu können.
„Fahren wir nach Hause“, sagte Mr. Sheridan. Nicky reagierte überhaupt nicht, weshalb er schließlich einfach den Motor startete und losfuhr. Nickys Blick lief ins Leere, während ihr Vater das kurze Stück nach Hause antrat.
Billy war eines Nachmittags vor fünf Wochen auf ihrem kurzen Heimweg verschwunden – auf dem letzten kleinen Stück zum Haus, das durch die Wiesen führte, in Sichtweite und zum Greifen nah. Nicky hatte ihren zwei Jahre jüngeren Bruder allein laufen lassen, weil sie sich mit Freunden vor Marty’s Store unterhalten hatte. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, denn der Weg war ja nicht mehr weit.
Aber als sie zu Hause eingetroffen war, war Billy nicht dort gewesen. Einfach weg. Sie war mit ihrer Mutter losgegangen und hatte Billy gesucht, hatte in den Wiesen nach ihm gerufen, auch als ihre Mutter schon längst mit der Polizei gesprochen hatte. Als sie damit fertig war, war das Weinen ihrer Mutter in Geschrei umgeschlagen und sie hatte Nicky mit bloßen Worten ein Messer ins Herz gestoßen.
„Wie konntest du Billy nur allein lassen? Es ist deine Schuld, wenn ihm etwas passiert!“
Ihre Eltern hatten Streit gehabt. Sie hatten sich angebrüllt, während Nicky weinend im Bett gelegen und an Billy gedacht hatte. Ihren lustigen kleinen Bruder, der gar nicht so frech war wie viele andere kleine Brüder.
Jeden Tag auf dem Heimweg war es am schlimmsten gewesen, hatte Nicky am meisten an Billy gedacht. Jeder Schritt war ihr schwer gefallen, während sie nun allein nach Hause lief. Auch darüber hatte ihre Mutter immer wieder Streit mit ihrem Vater gehabt, der das unverantwortlich fand und nicht verstehen konnte, aber auch nicht die Möglichkeit hatte, sich selbst darum zu kümmern.
Es war, als sei es Nickys Mutter egal, ob Nicky auch noch verschwand. Sie hatte auch so manches Mal überlegt, ob sie einfach weglaufen, sich verstecken und nicht nach Hause kommen sollte – immer in der Hoffnung, dass ihre Mutter sich vielleicht besann und aufhörte, ihre Tochter abzustrafen.
Aber es war nicht passiert.
Wie in Trance streifte ihr Blick Marty’s Store. Als ihr Vater auf den kleinen Feldweg abbog, der zu ihrem Haus führte, krampfte Nickys Herz sich zusammen. Irgendwo hier war Billy verschwunden. Irgendwo hier hatte ihm der Mensch aufgelauert, der ihn entführt und getötet hatte.
Nicky verstand das. Ihre Eltern hatten sie ja immer wieder gewarnt, nicht mit Fremden zu reden, weil es Menschen gab, die Kindern Böses wollten. Zwar konnte sie nicht begreifen, warum das so war – aber sie wusste, dass es so war.
Jetzt erst recht.
Ein Streifenwagen des Bear Valley Springs PD stand vor ihrem Haus, als Mr. Sheridan den Caprice auf den Vorplatz lenkte. Er parkte neben dem Polizeiwagen, holte tief Luft und stieg schließlich aus. Nicky blieb sitzen und starrte auf die Haustür. Sie hatte Angst, ins Haus zu gehen. Ihr Mutter würde weinen und schreien und toben und ihr schon wieder die Schuld geben.
Mr. Sheridan ging um die Motorhaube des Wagens herum und öffnete die Beifahrertür. Er sagte kein Wort, denn er wusste, warum seine Tochter nicht ausstieg.
Erneut blinzelte Nicky zu ihm hoch. „Wenn ich groß bin, gehe ich zur Polizei.“
Die Überraschung ihres Vaters war echt. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer solchen Äußerung.
„Wie kommst du darauf?“, fragte er.
„Ich will nicht, dass böse Menschen Kinder umbringen“, sagte Nicky. „Es soll keinem anderen Kind je wieder so gehen wie Billy.“
„Nicky, du ...“ Mr. Sheridan unterbrach sich selbst und seufzte.
„Ich meine es ernst“, sagte Nicky und stieg entschlossen aus. Sie griff nach ihrem Rucksack und atmete tief durch, während sie ihrem Vater zur Haustür folgte und nun schon das Schluchzen ihrer Mutter bis nach draußen hörte.
Einnehmend thronte der goldbraune Truthahn mitten auf dem Tisch und verströmte einen appetitlichen, würzigen Duft. Mit dem Tranchiermesser bewaffnet stand Norman vor dem imposanten Braten und begann, ihn in mundgerechte Stücke zu zerlegen. Wann immer die anderen ihm dabei helfen wollten, verscheuchte er sie und fuhr allein fort, seine Arbeit zu machen. Nacheinander füllte er die Teller der Gäste mit dem zarten Fleisch.
„Gut, dass kein Vegetarier hier ist“, scherzte Gary.
Norman reagierte überhaupt nicht darauf, sondern fuhr fort, eine besonders große Portion auf den Teller zu laden, den er schließlich seiner Tochter hinschob.
„Dad!“, protestierte Joanna. „Wer soll das alles essen?“
„Na, du und mein Enkel“, erwiderte Norman unbeeindruckt.
„Ich werde auch noch dick und rund, ohne dass du mich mästest!“
„Jetzt hab dich nicht so, das schaffst du schon.“ Norman fuhr fort, den nächsten Teller zu bestücken und reichte ihn Sandra. Auch diese Portion war besonders groß.
„War ja klar“, sagte Sandra und lachte.
„Ich sorge eben gut für meine Enkel“, sagte Norman.
„Für mich bitte eine normale Portion“, bat Sadie ihn mit einem zuckersüßen Grinsen.
„Ist genehmigt ... oder weiß ich da etwas nicht?“, scherzte ihr Onkel.
„Nein, jetzt ist Schluss mit Enkeln“, kam Matt Sadie zu Hilfe. Als Norman ihm Augenblicke später eine riesige Portion Fleisch hinstellte, blickte er kritisch zu ihm hoch.
„Und für welches Kind ist das?“, fragte Matt.
„Das ist für die Versehrten“, sagte Norman trocken.
„Jetzt hör aber auf. Das ist Monate her!“
„Dass du deine Reha beendet hast, nicht“, erinnerte Sadie ihren Mann. Matt seufzte ergeben.
Reihum nahmen sie sich Gemüse, Kartoffeln und Soße und begannen, zu essen. Für einen Moment war es fast totenstill. Sadie blickte zu den anderen und fühlte sich heimisch. In diesem Jahr war die Runde etwas kleiner als im vorigen, Phil war in Los Angeles geblieben und Tessa feierte Thanksgiving mit der Familie ihrer Freundin. Aber Norman hatte wieder Matts Familie nach Waterford eingeladen und so war es eine fröhliche Runde. Tammy grinste ihren Bruder quer über den Tisch hinweg an und Matt überlegte, ob er sie mit einer Erbse bewerfen sollte, entschied sich dann aber dagegen.
Gary schob abwechselnd sich und seinem Sohn Ben eine Gabel in den Mund. Es war noch gar nicht lang her, dass Gary und Sandra die neue Schwangerschaft verkündet hatten. Entsprechend war Sadie wenig überrascht, Sandra und Joanna mit zusammengesteckten Köpfen zu sehen. Joanna war inzwischen fast im fünften Monat und man konnte auch schon eine kleine Bauchrundung erkennen. So weit war Sandra zwar noch lange nicht, aber mit Ben hatte sie immerhin schon Erfahrung.
Sadie beschloss, sich nicht außen vor zu fühlen und unterhielt sich stattdessen mit Matts Schwester. Zu ihrem Bedauern sahen sie sich ohnehin viel zu selten, aber Tammy arbeitete unverändert in New York.
„Matt sagte mir, dass du jemanden kennengelernt hast“, begann Sadie.
Tammys Wangen röteten sich prompt. „Ja ... er heißt Danny. Bisher waren wir nur ein paar Mal zusammen aus. Wir sind noch nicht soweit, dass wir von einer Beziehung sprechen würden.“
Matt, der bislang schweigend zugehört hatte, grinste in die Richtung seines Vaters. „Sorry, Dad. Was Enkel betrifft, kannst du dich nicht auf uns verlassen!“
„Das macht nichts“, behauptete Mr. Whitman großmütig. „Ihr sollt ja auch nicht meinetwegen Kinder haben.“
„Ich hätte ja schon gern welche“, sagte Tammy verträumt und linste hinüber zu Ben.
„Wer weiß, was sich mit Danny ergibt!“, sagte Matt.
„Mir reicht es völlig, dass mein Sohn wieder wohlauf ist“, sagte Mr. Whitman und klopfte Matt auf die Schulter. „Seit wann arbeitest du jetzt wieder?“
„Seit fast vier Wochen“, sagte Matt. „Ich hätte nicht gedacht, wie lang eine solche Operation einen außer Gefecht setzen kann, aber das FBI ist da auch rigoros. Wenn du nicht absolut fit bist, kommst du nicht wieder in den Dienst.“
„Das ist ja auch richtig so“, sagte Mr. Whitman. „Und was ist jetzt deine Aufgabe?“
„Diesmal geht es um Wirtschaftskriminalität“, sagte Matt. „Mein Chef hat darauf geachtet, mich nicht wieder an irgendein mexikanisches Kartell zu verfüttern. Diesmal können mir eigentlich nur Zahlen gefährlich werden.“
„Das ist gut“, fand Mr. Whitman. „Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen! Eigentlich muss ich das ja ohnehin nicht, schließlich hat deine Frau ja ein Auge auf dich, nicht wahr?“
Sadie lachte verlegen. „Ich gebe mein Bestes.“
„Das weiß ich, Kind. Deinetwegen habe ich noch einen Sohn.“
„Ich hätte zu gern gesehen, wie du die Mexikaner zerlegst“, sagte Gary, der das Gespräch mitgehört hatte. „Aber mit dir sollte man es sich nicht verscherzen, Sadie. Das weiß ich.“
„Wie das klingt“, erwiderte Sadie.
„Das hättet ihr aber auch sehen sollen. Der Kerl hat auf mich geschossen und das hat mir irgendwie die Beine weggerissen, obwohl er mir ja nun in die Brust geschossen hat. Ich lag dann am Boden und habe nur gehofft, dass Sadie noch nicht in der Dusche ist und mit der Waffe runterkommt. Und da kam sie dann auch schon. Das sah aus wie im Film. Ich habe erst nur ihre Füße gesehen und bevor sie ganz in meinem Blickfeld war, hat sie auch schon auf den Kerl geschossen. Den anderen hätte sie danach ja beinahe auch noch zerlegt“, erzählte Matt.
„Wahnsinn“, sagte Tammy anerkennend. „Dass du das kannst.“
„Ich habe gar nicht darüber nachgedacht“, sagte Sadie. „Aber bei der Ausbildung an der Waffe lernt man das. Da gibt es ja auch eine psychologische Unterweisung.“
„Ich habe auch keine Skrupel, wenn ich eine Waffe in der Hand habe ... aber schießen kann ich trotzdem nicht!“ Matt liebte es, sich selbst aufs Korn zu nehmen.
„So schlimm ist es doch nun auch nicht“, sagte Sadie.
„Wann hast du mich denn mal sinnvoll auf jemanden schießen sehen?“, fragte Matt stirnrunzelnd. Sadie überlegte, aber dann zuckte sie mit den Schultern. Im ersten Moment fiel ihr wirklich nichts ein, bis sie sich erinnerte, dass er auf ihren Vater geschossen hatte. Aber das hatte sie selbst gar nicht gesehen und sie wollte es auch überhaupt nicht ansprechen. Das hatte in dieser Runde nichts zu suchen.
Inzwischen hatte Norman sich daran gewöhnt, dass Fanny nicht mehr da war. Sadie wusste, dass er regelmäßig Spritztouren mit dem alten Mustang unternahm, den sie ihm geschenkt hatte. Jetzt im Winter stand er sicher verwahrt in der Garage, aber Sadie wusste, dass sie ihm damit eine riesige Freude bereitet hatte. Sie bereute nichts.
Es war eine wundervolle, gesellige Runde. Irgendwann hatten auch Ben und Gary aufgegessen und Ben verlangte danach, durchs Wohnzimmer rennen und mit seinen Spielsachen spielen zu dürfen. Joanna und Sandra saßen auf dem Sofa zusammen und tauschten sich über Schwangerschaftsthemen aus – ein Anblick, den Sadie noch vor Monaten nie für möglich gehalten hätte.
Aber Joanna war nun geerdeter. Trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten wirkte sie glücklich. Sie strahlte, sah sehr gesund aus, war bester Laune. Sadie entging nicht, dass das auch Norman sehr glücklich machte. Erfreut saß er im Kreis seiner Lieben und machte einen gelösten Eindruck. Als er schließlich das Dessert aus der Küche holen wollte, ging Sadie ihm zur Hand, auch wenn er sie verscheuchen wollte.
„Du bist hier zu Gast“, mahnte er mit liebevoller Strenge.
„Ach komm, es bringt mich schon nicht um, wenn ich dir helfe“, sagte sie. „Gefühlt bin ich eine der letzten Frauen auf der Welt, die nicht schwanger sind, also lass mich.“
Norman stellte die Dessertschälchen auf der Arbeitsfläche ab und legte einen Arm um Sadies Rücken. „Das klingt so, als würde dir das etwas ausmachen.“
Unbekümmert schüttelte sie den Kopf. „Gar nicht. Aber du musst zugeben, dass Babys hier gerade ziemlich allgegenwärtig sind.“
„Ja, und das ist wundervoll! Ich habe Matts Vater gegenüber schon fast ein schlechtes Gewissen.“
„Nein, er freut sich, hier zu sein. So wie wir.“
Norman lächelte und seufzte. „Ich bin auch froh, dass ihr hier seid. Im Frühjahr komme ich noch mal mit dem Mustang runter zu euch nach Los Angeles.“
„Das wäre toll“, sagte Sadie erfreut.
„Ich fahre wirklich viel damit. Selbst jetzt im Winter kann man das bei gutem Wetter machen. So gesehen kam der Wagen mir ja gelegen ... Der Pickup hat nun wirklich Alterserscheinungen.“
„Solange der Mustang dir Freude macht.“
„Und wie.“ Norman umarmte seine Nichte. „Danke. Das hat mir wirklich auch Lebensfreude geschenkt, weißt du?“
Sadie nickte verstehend. „Schon das zweite Thanksgiving ohne Fanny.“
„Ja, das ist traurig. Sie hätte sicher gern gesehen, wie glücklich Jo jetzt ist. Oder du.“
„Hauptsache, du bist wieder glücklich“, sagte Sadie.
„Ich habe mich daran gewöhnt. Muss ich ja. Ich ziehe Freude daraus, zu wissen, dass es meinen Kindern gut geht. Und meinen Enkeln. Das gibt mir viel.“
Sadie lächelte und brachte mit ihm den Nachtisch ins Wohnzimmer. Es beruhigte sie, zu wissen, dass bei Norman alles in Ordnung war.
Im Moment galt das eigentlich für jeden, wie sie wenig später im Gespräch mit Joanna feststellen durfte. Gary brachte Sandra und Ben nach Hause, Matt saß mit seiner Familie zusammen und so blieben Jo und Sadie übrig, als Norman in die Küche ging.
„Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt“, sagte Joanna zu ihrer Kusine.
„Bedankt? Wofür?“ fragte Sadie.
„Dafür, dass du mir Mut zugesprochen hast. Dadurch konnte ich die richtige Entscheidung treffen.“
„Das freut mich“, sagte Sadie.
„Es war richtig, sich für das Kind und gegen den Vater zu entscheiden. Ich hätte mir nie vorstellen können, was für ein Erlebnis schon die Schwangerschaft ist. Das ist etwas ganz Besonderes“, schwärmte Joanna.
Sadie lachte. „Du bist ein vollkommen anderer Mensch.“
„Ich weiß! Ich merke das ja selbst. Aber es ist schön, ich mag das. Ich meine ... du arbeitest auch gern und viel, du verstehst das. Aber es gibt auch andere schöne Dinge!“
„Ich weiß“, sagte Sadie.
„Das ist etwas ganz anderes!“
„Glaube ich dir“, sagte Sadie. „Aber ich habe da keine Bedürfnisse.“
„Kommt noch ...“ prophezeite Joanna. Sadie erwiderte nichts, sondern floh schließlich zu Matt, seiner Schwester und seinem Vater. Bald war auch Gary zurück und sie setzten sich alle vor dem prasselnden Kaminfeuer auf dem Sofa zusammen.
Bis zu diesem Moment hatte es Sadie kalt gelassen, dass Jo schwanger war und nun auch Sandra ein weiteres Mal. Es hatte sie nicht gestört. Es hatte sie sogar gefreut, aber es nervte sie, dass gleich alle in ihre Richtung schielten und behauptete, dass es sie auch noch ereilen würde.
Da war nichts. Sie war glücklich mit Matt, sie machte ihren Job gern - es fehlte ihr nichts. Eine Familie ... wozu hätte sie sich das antun sollen?
Später im Bett war sie Matt dankbar, dass er nichts dazu sagte. Er hatte ein Gespür dafür, wie ihr zumute war und dass sie keine Lust hatte, darüber zu sprechen. Zwischen ihnen war es auch üblicherweise kein Thema, aber nun durch die direkte Konfrontation sahen die Dinge natürlich anders aus.
„Bin ganz erstaunt über deine Cousine“, sagte Matt. „Jo kann ja richtig nett sein!“
„Ob du es glaubst oder nicht, aber das ist auch für mich neu“, sagte Sadie amüsiert. Sie bettete den Kopf auf seine Brust und schmiegte sich an ihn – ganz so, wie sie es in ihrer ersten Nacht getan hatte. Damit war sie glücklich und zufrieden. Mehr hätte sie nicht gebraucht.
„Ich mag deine Familie“, sagte Matt.
Sadie lächelte. „Ich deine auch.“
Er setzte schon an, um noch etwas zu sagen, aber dann tat er es doch nicht. Überrascht blickte Sadie zu ihm auf.
„Was ist los?“
„Ich bin nicht sicher, ob das, was ich sagen wollte, so schlau ist.“
„Probier’s aus“, schlug sie unbefangen vor.
„Ich hätte gern deine richtige Familie kennengelernt. Deine Mutter und deine Geschwister.“
Sadie seufzte nachdenklich. „Ich stelle mir auch manchmal vor, was aus Kristy und Toby geworden wäre. Kristy wäre jetzt schon dreißig ... du hättest die beiden bestimmt gemocht.“
„So, wie du sie beschreibst, bestimmt.“
„Ich schaue morgen mal, ob Norman nicht noch Fotos hat, auf denen wir alle zu sehen sind. Eigene Familienfotos habe ich ja nicht.“
„Das würde mich interessieren“, sagte Matt. „Irgendwie traurig, dass ich von deiner Familie nur deinen Vater kenne.“
„Ja ... auch wenn das zusammengenommen keine zehn Minuten waren.“
Matt lachte kurz. „Mehr hätte ich auch nicht gebraucht. Lag wahrscheinlich daran, dass ich schon so viel über ihn wusste, aber als er da vor uns stand ...“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte wirklich Respekt vor ihm.“
„Angst?“
Matt nickte. „Schon irgendwie, ja. Angst um dich, Angst davor, dass er mich umbringt ... ich wusste ja, dass ihm das keine schlaflosen Nächte bereitet.“
„Nein, kein bisschen.“
„Ich hätte auch eigentlich erwartet, dass er mich umbringt. Nicht, dass er sich mit einem gescheiterten Versuch zufriedengibt.“
„Ich auch“, murmelte Sadie leise.
„Du hast die Situation genau richtig eingeschätzt.“
„So gut kannte ich ihn.“
„Ich weiß ... ein Glück.“ Matt küsste sie auf die Stirn. „Du hast wirklich so gar nichts von ihm.“
„Auch das ist ein Glück“, murmelte Sadie.
„Ich will noch gar nicht zurück“, stellte Sadie seufzend fest.
„Ich auch nicht ... aber wir sind ja Weihnachten wieder hier.“
Sadie nickte bloß, während sie weiter aus dem Fenster starrte und das trübe Wetter zur Kenntnis nahm. Geregnet hatte es trotzdem seit Wochen nicht. Es war novemberlich grau und auf der Interstate 5 war vergleichsweise viel Verkehr. Rückreiseverkehr an einem Sonntagnachmittag. Von Patterson aus konnten sie über diese Straße nach Los Angeles fahren, was ihnen entgegen kam.
Inzwischen waren sie kurz vor Bakersfield. Die Fahrt führte immer nur durch Felder, an Städten vorbei, rechts lagen die Berge. Im Radio dudelte irgendwas, was Sadie nicht kannte.
„Du willst wirklich nicht fahren?“, fragte Matt.
„Nur, wenn du keine Lust mehr hast.“
Er grinste. „Ich habe immer Lust.“
„Ich weiß ... du und dein Challenger.“
„Wie sich das anhört. Seit wann hast du was gegen mein Auto?“
„Ich habe gar nichts gegen dein Auto. Im Gegenteil“, sagte Sadie.
„Ich weiß. Ich ärgere dich doch nur.“
„Das liebst du.“
„Stimmt“, sagte Matt und nickte. Er hatte es sich auf dem Fahrersitz gemütlich gemacht, den Tempomat auf 70 Meilen pro Stunde eingestellt und musste nicht viel mehr tun als zu lenken.
„Bist du glücklich?“ fragte Sadie unvermittelt.
Überrascht sah Matt sie an. „Sicher, wieso fragst du?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Einfach so. Wir sind gerade etwas über ein Jahr zusammen ... und verheiratet ... und jetzt wohnen wir zusammen in Los Angeles.“
„Stimmt“, stellte Matt trocken fest.
„Es ist nur ... es ist so viel passiert. Erst jetzt, seit wir in L.A. sind, wird es etwas ruhiger.“
„So war es zumindest nicht langweilig.“
Sadie lachte. „Nein, bestimmt nicht ... dabei war es in L.A. eigentlich auch kaum ruhiger, wenn ich es mir recht überlege.“
„Doch, wenn du meine Reha mit einbeziehst, war es ruhig“, widersprach er.
„Aber das meine ich ja gerade. Du wurdest angeschossen.“
„Ja, und ich weiß noch, wer mir den Arsch gerettet hat“, sagte Matt unverblümt und zwinkerte ihr zu.
Aber Sadie ging nicht darauf ein. „Das ist doch alles nicht normal.“
Fragend zog Matt eine Augenbraue hoch. „Na ja, wir sind beide beim FBI. Dein Job ist es, Serienmörder zu jagen und mein Job ist es, Verbrecher dingfest zu machen, ohne dass sie es merken. Dafür ist doch alles ziemlich normal.“
Sie erwiderte nichts. Es war nur ein unbestimmtes Gefühl, das sie beschäftigte. Matt wirkte nicht, als sei er unglücklich und sie war es auch nicht. Aber es war jedes Mal eigenartig, zu ihrer Familie nach Hause zu fahren und zu sehen, wie ihre Verwandten lebten. Joanna arbeitete im Marketing, Sandra war eine glückliche Mutter, Gary hatte Waterford nur selten verlassen. Am Wochenende schaute er sich mit Arbeitskollegen Football an.
Sadie konnte sich nicht einmal vorstellen, so leben zu wollen. Sie war aufgewachsen wie die meisten anderen amerikanischen Kinder auch, aber schon nach dem College war alles anders geworden. Und sie liebte es.
Aber sie war auch besessen.
„Mit dir ist alles in Ordnung“, sagte Matt.
„Kannst du Gedanken lesen?“, fragte Sadie irritiert und lachte.
Er griff über die Mittelkonsole hinweg nach ihrer Hand und schenkte ihr ein Lächeln. „Bei dir kann ich das, Sadie.“
„Du bist unheimlich.“
„Wieso? Du bist meine Frau. Wär doch schlimm, wenn ich nicht wüsste, was dich beschäftigt.“
„Es ist so verrückt, wenn ich nach Hause komme und dann Jo und Sandra höre und sehe, wie meine Familie lebt – und wie wir leben. Wir haben bloß die Katzen, kommen spät nach Hause und machen einen Job, der sich mit dem schlimmsten beschäftigt, was der Mensch so hervorbringen kann.“
„Na und? Irgendeiner muss das doch tun“, sagte Matt trocken.
„Ja, aber wir könnten jetzt auch ein Häuschen in einer Kleinstadt haben, du könntest am Wochenende zum Football gehen und ich mit den Kindern am Spielfeldrand stehen und dich anfeuern. Das machen amerikanische Familien doch normalerweise.“
Matt lachte laut. „Ja, die gibt es natürlich. Um ehrlich zu sein, war das bei uns früher so.“
„Bei uns auch“, sagte Sadie. „Gary war am Wochenende immer beim Football.“
„Ich habe auch mal gespielt. Aber dann bin ich eben Polizist geworden und jetzt bin ich beim FBI. Und wir haben keine Kinder. Na und?“
„Ich finde es nur so seltsam, dass ich das nicht mal vermisse.“
Matt seufzte mitfühlend. „Manchmal möchte ich dich einfach in den Arm nehmen. Du bist fast Ende zwanzig und immer noch damit beschäftigt, deinen Platz in der Welt zu suchen, oder?“
„Manchmal“, sagte Sadie. „Ich dachte erst, ich hätte ihn gefunden, aber jetzt bekommen alle in meiner Familie Kinder und ich stehe daneben und kann nichts damit anfangen. Das macht mir schon wieder bewusst, dass ich anders bin.“
„Ja, bist du. Schon vergessen, dass ich dich deshalb liebe?“
„Nein, gar nicht...“ Sadie senkte wortlos den Kopf.
„Aber was ist dann das Problem?“
Sie blickte wieder auf und holte tief Luft. „Ich habe einfach Angst, dass dir das eines Tages fehlt. Dass du dir eines Tages auch wünschst, deine Frau und deine Kinder am Spielfeldrand zu sehen und ...“
„Jetzt hör doch mal auf damit“, sagte Matt und drückte ergeben ihre Hand. „Glaub mir, ich weiß, was ich an dir habe und auch, was ich nicht habe. Ich war schon mit anderen Frauen zusammen und glaube mir, ich war nie so glücklich wie mit dir.“
„Versteh ich nicht“, sagte Sadie resigniert.
„Aber du weißt, wie Frauen sind“, sagte Matt. „Kommst du zu spät, wollen sie wissen, wo du warst. Redest du mit einer anderen Frau, wollen sie wissen, wer das ist. Willst du kochen, jagen sie dich raus. Vergisst du im Bad ein T-Shirt, ist das der Weltuntergang. Regelmäßige Frauenabende müssen sein, aber willst du mal was mit Freunden machen, musst du dir anhören, du würdest sie allein lassen.“
„Ob du es glaubst oder nicht, aber davon habe ich keine Ahnung“, sagte sie. „Die einzige Freundin, die mir davon hätte erzählen können, ist lesbisch.“
Matt grinste. „Das ist auch gut so. Tessa ist total in Ordnung. Trotzdem ist das manchmal merkwürdig bei dir. Einerseits klammerst du überhaupt nicht, du verhältst dich anders als meine Freundinnen vorher. Aber trotzdem hast du wahnsinnige Verlustängste.“
Sadie biss sich auf die Lippen. „Die mache ich mit mir selber aus. Das habe ich irgendwann gelernt.“
„Als deine Familie tot war?“
Sadie nickte. „Mit meiner Schwester war das anders. Aber danach ... wem hätte ich es erzählen sollen? Jo? Vergiss es. Fanny gegenüber hatte ich immer ein schlechtes Gewissen, also blieb nur Norman. Aber mit Männern redet man anders.“
„Stimmt“, gab Matt zu.
„Weißt du, damals in Klamath Falls war alles anders. Mein Vater hat das alles nicht gemacht. Wenn er am Wochenende zu Hause war, dann maximal mit einem Bier auf dem Sofa. Zu Hause hatte meine Mutter zu arbeiten, da hat er sich nicht beteiligt. Es hat auch nur selten Ausflüge gegeben. Wir waren nie viel unterwegs. Meiner Mutter hat das gefehlt, sie kam ja nicht raus. Aber sie hatte Angst vor ihm. Angst, dass er sie schlägt. Das hat er auch oft genug getan. Wenn ich was erleben wollte, dann höchstens mit meinem Fahrrad in der Nachbarschaft. Ich kannte jede Straße und jede Gasse in Klamath Falls. Kristy war immer mit dabei. Wir waren Freundinnen ... aber ganz ehrlich, wenn ich heute darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich das gar nicht vermissen sollte. Wir hatten nie viel Geld. Das Haus war verwohnt. An der Wand in unserem Zimmer hing alte Tapete. Wir hatten ja nie Hunger oder so ... aber weil meine Mutter nie gearbeitet hat, fehlte uns Geld.“
Matt nickte. „Ich kann es mir vorstellen.“
„Wäre mein Vater damals nicht ausgerastet ... ich wäre heute nicht hier“, sagte Sadie und schüttelte den Kopf. „Ich hätte dich nicht.“
„Zum Glück ist es anders“, sagte Matt. „Und wie gesagt, ich bin froh, dass du anders bist. Ich liebe dich so, wie du bist.“
„Ich dich auch, Matt.“
Er lächelte. „Du verlierst mich nicht. Wie könnte ich denn eine andere Frau lieben? Was könnte mir eine Andere geben, was du nicht kannst? Du bist klug und ehrgeizig und ich weiß, dass du mich aufrichtig liebst. Du hast mir schon das Leben gerettet ...“
„Du mir auch“, erinnerte Sadie ihn.
„Ja, und das tue ich auch gern noch tausendmal, wenn es sein muss“, sagte Matt. „Ich mag unser Leben. Ich bin jetzt auch beim FBI, habe geheiratet und mein eigenes Haus. Worüber soll ich mich beklagen?“
Es klang so logisch für Sadie, als er das sagte. Manchmal tat es ihr einfach gut, seine Sicht der Dinge zu hören. Und sie glaubte ihm jedes Wort. Sie musste wirklich lernen, Dinge einfach anzunehmen, nicht alles zu hinterfragen und nicht überall etwas Schlechtes zu erwarten.
Schließlich erreichten sie die letzten Hügel vor der Stadt. Der Verkehr wurde dichter und es dauerte noch überraschend lang, bis sie zu Hause in Culver City eintrafen. Dort angekommen, fanden sie Mittens und Figaro schlafend auf dem Sofa vor. Phil hatte sich um sie gekümmert. Matt bedachte die Tiere mit einem skeptischen Blick, als sie sich überhaupt nicht für die beiden interessierten.
Er brachte die Reisetasche nach oben und stöberte im Schrank nach einer Trainingshose. Als er eine gefunden hatte, zog er auch noch einen Pullover heraus und beschloss, sich komplett umzuziehen. Sadie holte gerade ihre Sachen aus der Reisetasche und hielt inne, als sie Matt mit nacktem Oberkörper neben dem Bett stehen sah.
Sie hatte sich noch immer nicht an die Narben auf seiner Brust gewöhnt. Wäre es nur die Narbe der Schussverletzung gewesen, es hätte ihr nichts ausgemacht. Aber der lange Schnitt, der fast von seinem Hals bis knapp über den Bauchnabel reichte, ließ sie noch manchmal zusammenzucken. Er machte ihr bewusst, dass sie Matt um ein Haar verloren hätte.
Wortlos stand sie auf, ging zu ihm hinüber und blieb vor ihm stehen. Den Pullover in der Hand, hielt er inne und lächelte.
„Meine süße Sadie“, sagte er, legte einen Arm um sie und küßte sie zärtlich. Sadie umarmte ihn und seufzte.
„Wenn ich mir vorstelle, dass du jetzt tot sein könntest ...“
Sehr zu ihrer Überraschung lachte Matt.
„Was ist so lustig daran?“, fragte sie entrüstet.
„Du hast eine morbide Vorliebe dafür, den Teufel an die Wand zu malen“, neckte er sie.
„Ja, entschuldige ...“
„Nein, ist doch alles gut“, sagte er und drückte ihr wie immer einen Kuss auf die Stirn. Sie liebte das, das wusste er. Es war eine beinahe väterliche Geste und damit fühlte sie sich sehr wohl. In manchen Momenten spürte er deutlich, dass sie eben doch acht Jahre jünger war als er. Zwar hatte sie in mancher Hinsicht eine Reife, die seine noch bei weitem überstieg. Manchmal erinnerte sie ihn aber auch an ein verunsichertes, kleines Kind, das nichts weiter wollte als geliebt zu werden.
Etwas, was ihm nicht schwer fiel. Nachdenklich blickte er ihr hinterher, als sie sich von ihm löste und ins Bad ging. Dann streifte er seinen Pullover über und folgte ihr.
Zwar machte die Feststellung ihm manchmal Angst, aber er war froh, dass ihr Vater damals so ausgerastet war. Sie hatte recht: Wäre das nicht passiert, sie wären sich vermutlich nie begegnet. Und diese Vorstellung machte ihn traurig. Denn er war glücklich mit Sadie. Glücklicher, als er je zuvor gewesen war. Daran hatte auch der Versuch ihres Bruders, sie zu zerstören, nichts geändert. Sie war stark genug, damit zurechtzukommen.
Müde betrat Sadie das Büro. In der Nacht hatte sie nicht sehr gut geschlafen, sie hatte sich über zu viele Dinge Gedanken machen müssen. Zwar hatte sie versucht, das Gedankenkarussell abzustellen, aber es war ihr nicht gelungen. Sie hatte neben Matt gelegen, den Kopf wieder auf seine Brust gebettet, und auf seine ruhigen Atemzüge gelauscht. Sie wünschte, sie hätte die Dinge so auf die leichte Schulter nehmen können wie er. Er ließ sich gar nicht weiter davon beeindrucken, dass man auf ihn geschossen hatte. War eben passiert. Er lebte noch und alles andere war unwichtig für ihn. Sadie musste sich seine Unbekümmertheit wirklich als Beispiel nehmen.
In der Kaffeeküche begrüßte sie die Kollegen, plauderte kurz über den Thanksgiving-Truthahn und setzte sich dann mit einer Tasse Tee an ihren Schreibtisch.
Berichte. Sie hasste Berichte. Im Augenblick hatte sie keinen Fall auf dem Tisch, bei dem sie hätte helfen können. Es waren immer Kapitalverbrechen, bei denen sie um Unterstützung gebeten wurde. Sie hatte schon in einer Handvoll Fällen ihre Expertise einbringen können und sie machte das auch sehr gern.
Auf dem Flur lachten die Kollegen. Inzwischen wurde sie in der Abteilung sehr geschätzt, es hatte sich herumgesprochen, was ihre Aufgaben waren und wie gut sie darin war. Außerdem wusste man inzwischen, dass sie ihren Mann, der ebenfalls Agent war, vor Filmhaus’ Kartell gerettet hatte. Trotzdem war niemand dabei, mit dem sie sich auch privat hätte treffen wollen. Sie kam zum FBI, machte ihre Arbeit und ging wieder nach Hause. Wenigstens hatte sie sich inzwischen zu einem Aikidokurs angemeldet, um sich fit zu halten und mal rauszukommen.
Das Textdokument war schon offen, aber rechte Lust hatte Sadie nicht. Sie blickte auf, als eine junge Frau, etwa in ihrem Alter, vor ihrem Schreibtisch stehen blieb und sie verlegen anlächelte. Sie trug ihr blondes Haar zu einem Zopf gebunden. An ihrer Bluse heftete ein Besucherausweis.
„Agent Whitman?“, fragte sie zögerlich.
Sadie nickte. „Genau richtig. Wie kann ich helfen?“
„Officer Nicole Sheridan, LAPD. Ich bin gekommen, weil ich gehört habe, dass Sie Profilerin sind.“
„Stimmt“, sagte Sadie. „Setzen Sie sich. Ich bin Sadie.“
„Nicky“, sagte ihre Kollegin und blickte sich kurz um. „Genau genommen bin ich privat hier.“
„Okay. Worum geht es?“, fragte Sadie interessiert.
Nicky schluckte und holte tief Luft. „Es geht um meinen Bruder.“
Sadie lehnte sich zurück und musterte Nicky interessiert. „Okay.“
Ihr entging nicht, dass Nicky immer nervöser wurde. Sie setzte mehrmals mit einer Erklärung an, sagte dann aber nichts.
„Hat er etwas ausgefressen?“, fragte Sadie vorsichtig, um ihr auf die Sprünge zu helfen.
Die Polizistin schüttelte den Kopf. „Er ist tot.“
Damit hatte Sadie nicht gerechnet. Erst wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte, aber dann entschied sie sich für eine neutrale Nachfrage. „Wie kann ich dabei helfen?“
„Das ist achtzehn Jahre her“, begann Nicky und hob den Kopf. Sie kämpfte sichtlich mit den Tränen. „Er hieß Billy. Er wurde ermordet.“
Sadie nickte langsam. „Und der Mord wurde nie aufgeklärt?“, mutmaßte sie.
„Nein ... nie. Und ich kann nicht damit abschließen.“
Das konnte Sadie verstehen. Während Nicky eine Träne wegblinzelte, fragte sie: „Was ist passiert?“
Nicky atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. „Ich komme aus Bear Valley Springs, das liegt am Fuße der Sierra Nevada. Ein kleines, verschlafenes Nest, in dem die Leute ihre Häuser nicht abschließen. Ringsum sind nur Berge und Wälder. Es ist eine schöne Gegend. Ich war acht, als mein Bruder eingeschult wurde. Ich sollte auf ihn aufpassen und ihm alles zeigen, mit ihm zur Schule gehen. Das habe ich auch immer gemacht. Es war ja nicht so weit bis zur Schule. Vielleicht eine Meile oder so. Wir sind immer zusammen gegangen, morgens und nachmittags. Und an diesem einen Tag …“ Nicky unterbrach sich kurz selbst. „Auf dem Weg liegt ein kleiner Laden. Dort waren zwei Freunde von mir und haben sich etwas Süßes gekauft. Ich wollte auch noch etwas haben, aber Billy musste wahnsinnig dringend pinkeln. Ich habe dann überlegt – es war nicht mehr weit bis nach Hause. Bloß noch zwei Straßen. Ich habe ihm gesagt, er soll schon mal allein vorgehen. Und das war der Fehler meines Lebens …“ Plötzlich verschwanden Nickys Augen hinter einem Meer von Tränen.
„Du warst ein Kind“, sagte Sadie beherzt. Nicky holte tief Luft und versuchte, sich wieder zu beruhigen.
„Ich habe mir eine Tüte mit Süßigkeiten gekauft und noch ein bißchen mit meinen Freunden geredet, bevor ich auch nach Hause gegangen bin. Ich habe mich nicht beeilt. Warum auch? Aber als ich ankam … da war Billy nicht zu Hause. Er war einfach nicht da. Meine Mum hat mich gefragt, wo er ist. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihn vorgeschickt habe. Aber er war nicht da.“ Zitternd wischte Nicky sich die Tränen von den Wangen. „Wir haben ihn dann gesucht. Überall. Die Nachbarn haben uns geholfen. Aber er war weg. Spurlos verschwunden. Und niemand hat etwas gesehen. Er muss auf dem letzten einsamen Stück zum Haus verschwunden sein.“ Sie zog die Schultern hoch und atmete durch. Sadie sagte nichts, sie wartete einfach nur ab.
„Fünf Wochen später wurden seine verkohlten Überreste dreißig Meilen entfernt in einem Wald gefunden. Und diese fünf Wochen … die waren die Hölle. Meine Eltern haben überall nach ihm gesucht, mit Freunden und Verwandten. Die Polizei hat gesucht. Sie haben mich immer wieder befragt, aber ich wusste doch nichts! Ich wusste nur: Ich bin schuld. Ich habe ihn allein gehen lassen und deshalb konnte er entführt werden. Jemand hat ihn mitgenommen. Ich weiß nicht mal, ob er noch lang gelebt hat. Aber seine Leiche ist verbrannt worden. Es gab keine Spuren. Die Polizei hat gut ermittelt, aber es gab einfach nichts für sie. Irgendwann haben sie aufgegeben. Der Mord an meinem kleinen Bruder blieb ungeklärt.“
Sadie nickte langsam. „Ist der Fall wieder aufgerollt worden?“
Das bejahte Nicky. „Mehrmals sogar. Mich hat das nie losgelassen. Ich bin deshalb Polizistin geworden ... immer wieder habe ich mich damit beschäftigt. Ich habe die Akten gewälzt, aber ich finde auch nicht mehr als die Polizei damals.“
„Vielleicht ist das was für die BAU in Quantico“, sagte Sadie.
„Das habe ich mir auch gedacht. Vor ein paar Wochen habe ich eine Anfrage hingeschickt - ich dachte, unter Kollegen hilft man sich vielleicht. Ich habe ja auch eine nette Antwort bekommen, aber die Kollegen haben einfach keine Kapazitäten frei. Nicht für so einen alten Fall.“
„Verstehe“, sagte Sadie. Sie konnte sich auch nicht erinnern, wann die BAU zuletzt einen Cold Case angefasst hatte.
„Letzte Woche habe ich gehört, wie ein paar Kollegen sich über dich unterhalten haben. Sie sagten, wie gut es ist, dass es jetzt hier auch eine Profilerin gibt. Da habe ich mal ein bisschen genauer zugehört und mich schlau gemacht. Ich dachte ...“ Nicky zögerte. „Ich hoffe, du kannst mir helfen. Ich will doch nur verstehen, was mit meinem Bruder passiert ist ...“
Seufzend sah Sadie sie an. „Das kann ich wirklich verstehen, Nicky. Ich kann mir das ja mal ansehen.“
Sofort hellte Nickys Miene sich auf. „Wirklich? Das würdest du tun?“
Sadie nickte. „Sicher. Im Moment habe ich auch Zeit dafür.“
Erneut schossen Nicky die Tränen in die Augen, aber diesmal vor Freude. „Das ist toll. Ich wollte ja gar nicht wirklich hoffen, dass das klappt ...“
„Ich nehme die Fälle, wie sie kommen“, sagte Sadie. „Alles, was ich hier noch auf dem Tisch habe, ist nicht dringend. Das klingt nach einem sehr verfahrenen Fall und vielleicht finde ich ja etwas.“
„Das hoffe ich so sehr! Du bist wirklich meine letzte Hoffnung.“
Sadie lächelte ermutigend in ihre Richtung. „Bist du von der Polizei in Santa Monica oder in Pasadena?“
„In Pasadena“, sagte Nicky. „Ich habe davon gehört, dass du ein Profil für den Pasadena Stalker angefertigt hast. Sein Prozess beginnt jetzt bald. Ich habe mich dann erkundigt ... und hier bin ich.“
„Sehen wir uns das mal an“, schlug Sadie vor. „Hast du etwas, was du mir zeigen kannst?“
„Ja“, antwortete Nicky mit einem Nicken. Sie hatte eine Tasche dabei und holte einen großen Umschlag voller Unterlagen heraus. Das hätte auch einen Aktenordner füllen können. Dann reichte Nicky Sadie den Umschlag.
„Das ist alles, was ich bisher zusammengetragen habe. Alle Ermittlungsergebnisse, Akten, einfach alles.“
„Also dann“, sagte Sadie und zog die Unterlagen heraus. Ganz oben lag ein Foto des kleinen Billy Sheridan. Es zeigte ihn bei seiner Einschulung, nur Wochen vor seinem Tod. Eine Zahnlücke blitzte ihr frech entgegen. Billy war so blond wie seine Schwester und hatte unzählige Sommersprossen gehabt. Er sah aus wie ein kleiner Lausbub. Frech, aber sympathisch. Er trug einen Pullover mit breiten bunten Querstreifen und lehnte stolz auf seinem Schulrucksack. Sadie nahm das Foto und legte es mitten auf den Schreibtisch. Sie musste Billy vor sich sehen. Sehen, wofür sie arbeitete. Sie hatte bereits eine Ahnung, welches Drama die Familie Sheridan ereilt hatte.
Billy war an einem Tag Ende September verschwunden. Der Zeitpunkt seines Todes war vollkommen unklar. Sein Leichnam war an einem siebten November in einem Waldstück gefunden worden – zumindest das, was davon übrig gewesen war. Mehr als verkohlte Überreste waren es nicht mehr gewesen, er hatte auch nur mittels DNA-Analyse identifiziert werden können. Entsprechend dürftig waren die Ergebnisse der Obduktion ausgefallen. Todeszeitpunkt nicht feststellbar, Todesursache ebensowenig. Verwertbare Spuren gleich null.
Sadie blätterte weiter, während Nicky schweigend zusah. Über viele Seiten erstreckte sich ein Protokoll der großangelegen Suche nach dem Jungen. Die Polizei war mit Hundertschaften, Suchhunden und Helikoptern mit Wärmebildkameras ausgerückt und hatte die südlichen Ausläufer der Sierra Nevada tagelang auf den Kopf gestellt. Zahllose Anwohner waren befragt worden, aber niemand, wirklich niemand hatte irgendetwas gesehen.
Der Ausschnitt eines Stadtplans mit Maßstab lag dabei. Sadie konnte verstehen, dass die damals achtjährige Nicky sich nichts dabei gedacht hatte, ihren Bruder noch um die nächste Ecke bis nach Hause zu schicken. Es war nicht weit gewesen. Aber das Haus, in dem Familie Sheridan gewohnt hatte, lag etwas außerhalb. Ein Stück von etwa hundertfünfzig Metern führte nur zwischen Wiesen hindurch. Genau dieses Stück war eingekreist worden, die Polizei hatte vermutet, dass Billy dort verschwunden war. Entführt worden war. Weggelaufen war er wohl kaum, darauf hatten die Hunde keinerlei Hinweise gefunden und irgendjemand hatte ihn ja schließlich auch umgebracht.
Die Suchhunde waren seiner Fährte von der Schule bis zu einem Stück auf diesen hundertfünfzig Metern gefolgt. Dort hatte seine Spur sich verloren. Hinweise hatte es überhaupt keine gegeben, niemand hatte einen Wagen oder eine verdächtige Person bemerkt. Billys Rucksack war nie gefunden worden, auch bei seiner verkohlten Leiche nicht.
Ob der Fundort der Leiche auch der Ort gewesen war, an dem Billy ermordet worden war, konnte nicht geklärt werden. Aber er war dort verbrannt worden. Niemand hatte bemerkt, wann das passiert war. Die Forensiker hatten anhand der Brandspuren und der zurückkehrenden Vegetation vermutet, dass das Feuer etwa vier Wochen zuvor gebrannt haben musste. Es war heiß geworden und Spuren von Brandbeschleuniger waren gefunden worden, was erklärte, warum von der Leiche nicht mehr viel übrig gewesen war.
Das war ein Horror-Fall für jeden Polizisten. Es gab überhaupt nichts, woran ein Ermittler anknüpfen konnte. Absolut überhaupt nichts. Das war ja für einen Profiler schon nicht besonders leicht. Aber je weiter Sadie durch die Akte blätterte, desto stärker wurde ihre Gewissheit: Sie hatten es mit einem erfahrenen Täter zu tun. Der machte das nicht zum ersten Mal. Er war nicht gesehen worden, hinterließ keinerlei verwertbare Spuren – das war kein Anfänger. Insofern stand für Sadie fest, dass sie nach ähnlichen Fällen suchen musste. Sie war nur nicht sicher, wonach sie suchen sollte. Tote Kinder, speziell Jungen? Verbrannte Leichen?
„Sagt dir das irgendwas?“, riss Nicky sie aus ihren Überlegungen.
„Ich habe schon erste Ideen“, erwiderte Sadie.
„Im Ernst? Was denn?“
„In Billys Fall gibt es absolut nichts, womit wir arbeiten könnten. Aber genau diese Tatsache hilft uns. Warum wissen wir nichts? Weil er ein Profi ist. Der hat das schon mal gemacht.“
Die Polizistin nickte langsam. „Ja, das macht Sinn …“
„Das war kein Glückstreffer. Der hat Erfahrung. Er ist ein Wiederholungstäter und wir müssen jetzt die anderen Fälle finden. Irgendwann, irgendwo wird er einen Fehler gemacht und eine Spur hinterlassen haben. Die müssen wir finden.“
„Okay ...“ murmelte Nicole. „Das Foto war zum Zeitpunkt seines Verschwindens sieben Wochen alt. Er war noch so klein, verstehst du? Und ich habe ihn allein gelassen. Irgendjemand hat ihn auf diesem kleinen Stück entführt und ich weiß bis heute nicht, was danach mit ihm passiert ist. Das macht mich vollkommen verrückt!“
„Das kann ich verstehen“, sagte Sadie. „Kann ich wirklich.“
„Ich bin so froh ... danke, Sadie.“
„Deshalb bin ich hier. Deshalb bin ich zum FBI gegangen. Solche Fälle sind es, die mich interessieren.“
„Danke ...“ Nicky stand auf. „Ich muss zum Dienst.“
„Kein Problem. Lass mir deine Karte hier und ich rufe dich an, wenn ich weiß, was wir jetzt tun können.“
Nicole nickte und legte Sadie ihre Karte auf den Tisch. „Dafür werde ich dir ewig dankbar sein.“
Sadie grinste. Sie wusste nicht, zum wievielten Male Nicky sich jetzt bedankt hatte. Schließlich verabschiedete sie sich und ging. Nachdenklich blickte Sadie ihr hinterher. Wahrscheinlich ahnte Nicky nicht, dass Sadie genau wusste, wie es sich anfühlte, wenn die eigenen Geschwister ermordet wurden. Das hätte sie mit Sicherheit angesprochen.
Aber genau das war auch der Grund, weshalb Sadie ihr helfen wollte. Sie hatte auch einen kleinen Bruder gehabt, der ermordet worden war. Das Gefühl kannte sie viel zu gut und deshalb musste sie Nicky einfach helfen.
Sie wühlte weiter in den Unterlagen herum, bis sie eine Telefonnummer der zuständigen Polizei fand. Auf gut Glück klemmte sich das Telefon zwischen Kinn und Schulter und wählte die Nummer.
„Watson“, meldete sich eine gestresst klingende Männerstimme nach dreimaligem Klingeln.
„Special Agent Whitman vom FBI in Los Angeles. Ist Inspector Barber zu sprechen?