4,49 €
Nachdem Sadie und Matt dem FBI den Rücken gekehrt haben und nach Pleasanton gezogen sind, haben sie dort Fuß gefasst: Sadie unterrichtet die Profiler von morgen an der Universität in San Francisco und ist inzwischen eine renommierte Gutachterin, während Matt sich einen Namen als Fotograf macht. Auch ihre Adoptivtochter Libby fühlt sich wohl in der Bay Area: Die inzwischen Neunzehnjährige besucht mit ihrem Freund Kieran die San José State University. Als Kieran sie mit seinem Wunsch konfrontiert, Mitglied in einer Studentenverbindung zu werden, ist Libby zunächst skeptisch. Tatsächlich wird Kieran schon bald nach seiner Aufnahme mit einem düsteren Geheimnis konfrontiert und versucht, die Wahrheit herauszufinden. Libby rät ihm, Sadie und Matt um Hilfe zu bitten, doch dazu kommt es nicht mehr …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2019
Dania Dicken
Die Seele des Bösen
Tödliche Rituale
Sadie Scott 18
Psychothriller
Mut besteht nicht darin, dass man die Gefahr blind übersieht,
sondern darin, dass man sie sehend überwindet.
Jean Paul
Mit einer Mischung aus Freude und Aufregung drückte Sadie auf die Klingel und blickte hinunter zu Hayley, die ihre Hand hielt und mit großen Augen zu ihr empor schaute.
„Du weißt ja: Ganz vorsichtig sein“, erinnerte Sadie ihre Tochter, die eifrig nickte. Matt strich Hayley lächelnd über den Kopf und Libby steckte gerade rechtzeitig ihr Handy weg, als Jason auch schon die Tür öffnete und alle hereinbat.
„Wie schön, dass ihr gekommen seid.” Nacheinander umarmte er sie zur Begrüßung. „Ich freue mich, euch wiederzusehen!“
„Ich mich auch“, sagte Sadie.
„Du bist richtig erwachsen geworden“, sagte Jason zu Libby. Zu Cassandra und Jason hatte Libby immer ein gutes Verhältnis gehabt, seit sie für ein paar Wochen bei ihnen gewohnt hatte, als Sadie und Matt aufgrund von Sadies Schussverletzung in Europa geblieben waren.
„Wie geht es euch?“, erkundigte Matt sich.
„Müde“, erwiderte Jason lachend. „Aber es ist grandios. Kommt, ich bringe euch zu Cassie und Ethan.“
Die Gäste folgten Jason ins Wohnzimmer, wo Cassandra gerade mit ihrem winzigen Sohn im Arm auf dem Sofa saß und ihn leise summend wiegte. Sadie fiel sofort auf, wie müde auch Cassandra aussah, aber das überraschte sie nicht. Leise gingen sie zu den beiden und nahmen auf dem Sofa Platz. Ethan war gerade eingeschlafen und als Cassandra sicher war, dass sich das nicht ändern würde, reichte sie ihn Sadie, die den kleinen Säugling vorsichtig auf den Arm nahm und sanft weiter wiegte.
Er hatte dichtes, dunkles Haar und auch seine Gesichtszüge erinnerten eher an seinen Vater, der sich zu Cassandra setzte und seinen Arm um sie legte. Sadie strich über den weichen Flaum auf dem Kopf des Babys und lächelte.
„Er duftet noch so herrlich, wie nur kleine Babys duften“, sagte sie.
„Ich liebe das auch“, sagte Cassandra verträumt. „Davon kriege ich überhaupt nicht genug!“
Matt überreichte den frischgebackenen Eltern das Geschenk, worüber sie sich sehr freuten. Sadie hatte mit Libbys Hilfe ein Baby-Überraschungspaket mit Kleidung, Spielzeug und Plegeprodukten gepackt, das sehr willkommen war. Schließlich reichte Sadie den Kleinen an Libby weiter, neben der Hayley saß und einen langen Hals machte, um möglichst viel von dem Baby sehen zu können. Sie war inzwischen vier Jahre alt, hatte vor zwei Monaten Geburtstag gefeiert und war ein neugieriges und aufgewecktes Kind. Hayley war völlig entzückt und wollte den Kleinen auch mal halten, wogegen seine Eltern nichts einzuwenden hatten.
Nachdem Matt ihn auch einmal gehalten hatte, ging er Jason auf der Terrasse bei den Grillvorbereitungen zur Hand. Ethan lag in seinem Stubenwagen und Libby begleitete Hayley zum Spielen in den kleinen Garten, während Sadie bei der sichtlich blassen Cassandra auf dem Sofa sitzen blieb.
„Ich hoffe, wir fallen euch jetzt nicht zur Last“, sagte Sadie.
„Nein, nicht doch“, erwiderte Cassandra kopfschüttelnd. „Ich freue mich, dass ihr gekommen seid. Ich bin vielleicht gerade nicht die beste Gastgeberin, aber Jason ist ja auch noch da.“
„Ich erinnere mich noch gut daran, wie man sich fühlt. Bei mir war es so, als hätte mich ein Laster überfahren.“
„Das kommt der Sache ziemlich nah. Inzwischen merke ich den Blutverlust, aber seit ich Eisentabletten nehme, geht es besser.“
„Die Geburt ist vier Tage her! Du darfst nicht zu viel von dir erwarten.“
„Ich weiß, aber du kennst mich. Manchmal habe ich einen fatalen Hang zum Perfektionismus. Und nachdem es ja erst hieß, wir könnten froh sein, wenn es überhaupt klappt …“
Sadie erinnerte sich daran, wie Cassandra ihr bei ihrer Hochzeit vor anderthalb Jahren etwas beschwipst davon erzählt hatte, dass sie schon länger versuchte, schwanger zu werden und man mehr zufällig festgestellt hatte, dass sie unter Endometriose litt. Voller Hoffnung hatte sie sich operieren lassen, aber der erhoffte Erfolg war weiterhin ausgeblieben. Sie hatte versucht, sich damit zu trösten, dass sie inzwischen Leiterin des Profiler-Teams war, denn die Arbeit gab ihr sehr viel. Aber dann hatte sie mit Jason ihren Weihnachtsurlaub in der Karibik verbracht und dort hatte es endlich geklappt. Zwischendurch hatte Cassandra sich Sadie anvertraut, weil sie in ihrer Freundin eine gute Ratgeberin in solchen Dingen wusste und Sadie hatte immer versucht, ihr Mut zu machen und ihre Ängste ernst genommen. Umso glücklicher stimmte es sie jetzt, zu sehen, dass Cassandras Wunsch in Erfüllung gegangen war.
„Euer Sohn ist wirklich ein wunderschönes Kind“, sagte Sadie.
„Ich liebe ihn auch sehr. Es ist ja verrückt, da ist plötzlich ein neuer, fremder Mensch, aber man liebt ihn sofort und will ihn beschützen“, sagte Cassandra und seufzte nachdenklich. „Ich bin übrigens froh, dass ich auf dich gehört habe und für die Geburt auch nach Santa Monica gegangen bin.“
„Das freut mich“, sagte Sadie ehrlich.
„Es hat mich immer beeindruckt, welche Stärke du nach Hayleys Geburt ausgestrahlt hast. Das hat dich verändert. Jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt. Wenn ich mal überlege, dass ich nach der Sache mit Whittaker erst gar nicht über Familie nachdenken wollte und später immer dachte, ich schaffe das bloß, indem ich einen Kaiserschnitt machen lasse …“
Wortlos griff Sadie nach Cassandras Hand. In dieser Beziehung verstanden sie sich ohne Worte. Zwischendurch wachte Ethan auf, so dass Cassandra ihn aus seinem Bettchen nahm und summend in den Armen wiegte, während sie ihn stillte. Das zu sehen, rief Erinnerungen in Sadie wach. Gedankenverloren beobachtete sie Hayley, die mit ihrer älteren Schwester im Garten spielte. Inzwischen hatte Hayley langes blondes Haar, das sie zu zwei Zöpfen gebunden trug. Sie war ein richtiger Wildfang, aber das gefiel Sadie. Sie war als Kind ganz anders gewesen und freute sich, dass ihre Tochter viel fröhlicher war.
Nach dem Stillen wechselte Cassandra die Windel ihres Sohnes, wobei Sadie ihr wie selbstverständlich zur Hand ging. Anschließend wiegte Cassandra den Kleinen wieder in den Schlaf und als er wieder selig schlummerte, gesellten die beiden sich zu den anderen in den Garten.
Libby saß etwas abseits auf einer kleinen Mauer und tippte eifrig auf ihrem Handy. Inzwischen unterschied sie sich nicht mehr von Gleichaltrigen. Man merkte ihr nicht länger an, dass sie vor fünf Jahren aus einer Sekte geflohen war. Sie trug hautenge Kleidung, trat selbstbewusst auf und schrieb, so vermutete Sadie, heißblütige Nachrichten an ihren Freund. Aber Sadie freute sich darüber, denn sie hätte es traurig gefunden, hätte Libby sich verhalten wie sie selbst in diesem Alter.
Jason erzählte davon, wie sehr er sich darauf freute, im Anschluss an Cassandra, die sechs Monate zu Hause bleiben würde, ebenfalls ein halbes Jahr mit seinem Sohn zu verbringen. Matt beglückwünschte ihn zu dieser Entscheidung, während er hinüber zu Hayley schielte und zufrieden lächelte. Sadie wusste, wie sehr er seine Tochter vergötterte. Er hatte mal gesagt, dass sie ihm das Leben gerettet hatte und Sadie wusste, dass es stimmte. Sie war froh darüber.
„Du gehst jetzt zur Uni, habe ich gehört“, richtete Jason sich an Libby.
„Ja, ich habe gerade angefangen“, erwiderte sie knapp.
„Was studierst du denn?“
„Erziehungswissenschaften in San José. Das macht Spaß. Ich habe auf ein eigenes Auto gespart, mit dem ich jetzt immer zur Uni fahren kann, denn ich wohne nicht am Campus. Viel zu teuer.“
„Du hast auch gesagt, dass du gern bei uns wohnen bleiben möchtest“, warf Matt von der Seite ein.
„Klar, das auch. Du würdest mir sonst viel zu sehr fehlen“, sagte Libby mit Blick auf Hayley. Die Kleine grinste breit.
Die ganze Wahrheit sah etwas anders aus: Sadie und Matt hätten es Libby gern ermöglicht, nach San José zu ziehen, aber seit Matts Prozess zwei Jahre zuvor war es finanziell einfach nicht drin. Sie beteiligten sich an den Studiengebühren und am Wochenende jobbte Libby, um ihren Eltern nicht bloß auf der Tasche zu liegen und das Auto unterhalten zu können, aber ein Studentenzimmer oder eine Wohnung in San José war einfach zu teuer. Libby legte aber tatsächlich auch keinen Wert darauf. San José lag eine halbe Autostunde entfernt und so pendelte sie nun dorthin. Die meisten ihrer Kommilitonen lebten in der Nähe der Uni, weshalb sie fast eine Außenseiterin war, aber damit kam sie zurecht.
Dafür war sie mit jemandem an die Uni gegangen, der immer hinter ihr stand: Ihr Freund Kieran, den sie an der High School in Pleasanton kennengelernt hatte, hatte dort ebenfalls gerade mit seinem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik begonnen. Er pendelte ebenfalls noch von Pleasanton an die Uni, beabsichtigte aber, nach San José zu ziehen. Nun überlegte Libby, ob sie vielleicht mit ihm zusammen ziehen sollte, aber sie war sich nicht sicher.
Danach erkundigte Cassandra sich, der Sadie erzählt hatte, dass Libby inzwischen einen Freund hatte. Kieran war ihr erster Freund, er kannte Libbys Hintergrund und störte sich überhaupt nicht daran.
„Und wie läuft es bei dir beruflich?“, erkundigte Jason sich bei Matt.
„Ich kann nicht klagen. Ich bin immer gut ausgelastet. Vom Verlag in San Francisco bekomme ich regelmäßig Aufträge und auch sonst hat es sich wohl inzwischen herumgesprochen, dass ich ganz brauchbare Fotos mache. Finanziell ist es zwar nicht mehr so luxuriös wie früher, aber ich habe viel Zeit für die Familie. Wir kommen gut zurecht.“
„Du siehst auch sehr zufrieden aus, wenn ich das mal so sagen darf“, stellte Jason fest.
„Bin ich auch. Tatsächlich vermisse ich die Ermittlungsarbeit kein bisschen.“
„Das kann ich verstehen, du musstest auch einiges wegstecken.“
„Das ist wahr, aber ich habe das Gefühl, dass meine Sehprobleme nachlassen. Damit hat zwar keiner gerechnet, aber es ist verdammt beruhigend.“
„Das glaube ich dir. Und wie ist es so an der Uni, Sadie? Gefällt es dir immer noch?“, fragte Jason.
„Sehr sogar“, sagte Sadie. „Tatsächlich macht es verdammt viel Spaß, sich bloß mit der Theorie zu befassen. Ich habe engagierte und neugierige Studenten … die meisten zumindest. Und ich bin inzwischen auch eine gefürchtete Gerichtsgutachterin.“
„Das warst du doch früher schon“, sagte Cassandra. „Ich glaube, ich vertrete dich da aber ganz würdig.“
„Davon bin ich überzeugt“, sagte Sadie. „Wobei ich zugeben muss, dass unsere Zusammenarbeit mir immer noch manchmal fehlt. Die Arbeit an der Uni ist anders, da arbeite ich nicht so im Team wie früher bei euch. Das ist manchmal schade. Wie läuft es denn bei euch?“
„Gut“, sagte Cassandra. „Kurz bevor ich meinen Mutterschaftsurlaub angetreten habe, haben wir auch noch Verstärkung bekommen, diesmal wieder ein Mann. So fühlt Dennis sich nicht ganz so einsam.“
„Und er bleibt?“
„Ja, Rob wird uns erhalten bleiben, er ist nicht bloß meine Vertretung. Unser Team ist inzwischen auch ziemlich etabliert, wir haben immer viel zu tun.“
Das konnte Sadie sich vorstellen. Das zu hören, versetzte ihr einen leichten Stich, denn ihr fehlte die Profilerarbeit. Allerdings waren die letzten beiden Jahre idyllisch und ruhig verlaufen – keine Gefahren, keine Ängste, kaum noch Stress. Auf diese Lebensqualität wollte sie nicht mehr verzichten. Jeder Blick in den Spiegel, der ihre Narben offenbarte, erinnerte sie daran, was diese Arbeit für sie bedeutet hatte, aber an der University of California in San Francisco war ihr ein Neustart gelungen. Sie verheimlichte dort nicht, wer sie war, aber sie thematisierte es auch fast nie und deshalb war es auch fast kein Thema mehr.
Jason kümmerte sich aufmerksam um seine Familie und die Gäste versuchten, möglichst pflegeleicht zu sein. Weil es nicht mehr so heiß war, konnte der kleine Ethan auch draußen in seinem Stubenwagen schlafen, während Jason für die Gäste grillte und sie zusammen aßen.
„Ich hätte nie gedacht, dass es so wunderbar ist, ein Kind zu haben“, sagte Cassandra schließlich mit liebevollem Blick auf ihren Sohn. „Er ist ein echtes Geschenk. Ich bin froh, dass wir ihn haben.“
„Ich bin auch froh über unsere zwei Mädchen“, sagte Sadie.
„Seid ihr denn fertig mit der Familienplanung?“
Sadie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie diese Frage hasste. Erstens, weil sie sie indiskret fand und zweitens, weil sie keine Antwort darauf hatte. Zwar war es etwas anderes, wenn enge Freunde danach fragten, aber sie hasste es trotzdem.
„Bisher ja“, sagte sie. „Libby wird gerade flügge und Hayley ist aus dem Gröbsten raus. Eigentlich hätte ich keine Lust, noch mal von vorn anzufangen.“
„Kann ich verstehen. Ich bin ja gerade so voll mit Hormonen, dass ich gleich wieder könnte …“
Sadie lachte. „Ja, das kann ich verstehen. Das ist ziemlich einzigartig.“
„Das ist überhaupt alles ziemlich einzigartig. Ich bin so glücklich, dass der Kleine da ist.“
„Und ich bin verdammt stolz auf dich, weil du die Geburt wirklich großartig gemeistert hast“, sagte Jason.
Sadie und ihre Familie blieben, bis sowohl bei Hayley als auch bei den frischgebackenen Eltern Ermüdungserscheinungen einsetzten. Cassandra und Jason verabschiedeten ihre Besucher selig und Matt fuhr noch bis zu der Privatunterkunft, die sie für dieses Wochenende gebucht hatten. Am Montag war Columbus Day, weshalb sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt und nach Ethans Geburt kurzfristig gebucht hatten.
Durch die dämmrigen Straßen von Los Angeles zu fahren, löste ein vertrautes Gefühl in Sadie aus. Sie vermisste die Stadt nicht, aber es hingen Erinnerungen daran. Hayley war hier geboren.
Sie hatten ein kleines Apartment mit zwei Schlafzimmern gemietet, so dass Libby ihre Ruhe hatte. Als Hayley schlief, setzten Sadie und Matt sich hinaus auf den Balkon, während Libby sich an ihrem Tablet eine Serie anschaute.
„Ich freue mich für Jason und Cassie“, sagte Matt, bevor er einen Schluck Mountain Dew nahm.
„Ja, der Kleine ist wirklich süß.“
„Und dann hat Cassie die Todesfrage gestellt.“
Sadie rollte mit den Augen. „Warum müssen alle immer danach fragen, wie viele Kinder man haben will?“
„Ich glaube, das ist oft nur als Smalltalk gemeint.“
„Das ist trotzdem viel zu privat. Was ist denn bei Leuten, die gern Kinder hätten und es klappt einfach nicht? Das müsste sie doch eigentlich kennen.“
„Sag das nicht mir. Ich würde das auch nicht fragen.“
Sadie seufzte. „Wenn wir jetzt noch mal anfangen würden, wäre Hayley fünf, wenn sie ein Geschwisterchen bekäme.“
„Fände ich okay. Vom Altersabstand her.“
„Seit wann willst du noch ein Kind?“
„Überhaupt nicht. Wir haben zwei. Gut, das eine ist längst kein Kind mehr, aber trotzdem.“
Zwar erleichterte es Sadie, dass Matt die Dinge so entspannt sah, aber sie wünschte, sie hätte für sich selbst auch eine so eindeutige Antwort geben können.
Nachdem Matt seine Familie bei Nathan abgesetzt hatte, fuhr er quer durch Los Angeles nach Chino. Das war Ehrensache für ihn. Dort angekommen, stieg Matt mit einem Gefühl der Beklemmung aus seinem Auto und atmete tief durch. Der Anblick des Gefängniskomplexes schnürte ihm die Kehle zu, aber davon wollte er sich nicht unterkriegen lassen. Er hatte Danny ewig nicht gesehen und er hatte sich ihm auch gar nicht angekündigt, aber er hoffte, dass sein früherer Zellengenosse sich über seinen Besuch freute.
Am Eingang herrschte Hochbetrieb. Zahlreiche Angehörige und Freunde warteten darauf, der Reihe nach abgefertigt und zu den Insassen vorgelassen zu werden. Da Matt Danny schon mehrmals besucht hatte, kannte er das Prozedere noch und ließ es gleichmütig über sich ergehen. Bei zwei Wärtern am Eingang spürte er vielsagende Blicke auf sich ruhen, aber beide sagten nichts. Sie erkannten ihn.
Er hasste es.
Endlich war es so weit, dass er in den Besuchsraum vorgelassen wurde. Danny kam nach wenigen Augenblicken und schaute sich erst ratlos suchend um, doch er lächelte gleich, als er Matt entdeckte.
„Hey“, sagte er und umarmte Matt zur Begrüßung. „Das ist ja eine Überraschung! Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?“
Die beiden setzten sich einander gegenüber. Matt versuchte immer noch, ruhig zu atmen und das Gefühl der Enge in der Brust zu ignorieren. Wie oft hatte er in diesem Besuchsraum auf der falschen Seite gesessen, in einem orangen Häftlingsanzug und der steten Gewissheit, dass seine Familie wieder gehen musste und er zurückbleiben würde.
„Mir geht es gut“, sagte Matt. „Wir sind spontan in Los Angeles zu Besuch, weil eine Freundin meiner Frau am Dienstag ihr Kind bekommen hat. Gestern haben wir den neuen Erdenbürger kennengelernt und ich habe natürlich die Gelegenheit genutzt, herzukommen.“
„Das ist echt in Ordnung von dir“, fand Danny. „Wie lang ist das jetzt her?“
„Zu lang“, sagte Matt. „Aber wie geht es dir?“
„Es geht seinen Gang. Ich habe jetzt die Hälfte meiner Zeit hier abgesessen und versuche, unter dem Radar zu bleiben. Bislang klappt das ganz gut. Ich werde ja die Hoffnung nicht los, dass ich auf die Art vielleicht früher rauskomme.“
„Ich würde es dir so wünschen. Hast du immer noch denselben Zellengenossen?“
Danny nickte. „Es ist okay. Mit dir war es besser, aber es war auch schon fast zu gut, um wahr zu sein. Du warst ja bloß ein paar Monate hier. Nicht, dass ich es dir nicht gönne, draußen zu sein … du hast ja nie wirklich hierher gehört. Aber daran wurde auch offensichtlich, dass du hier falsch bist.“
„Ich kann ja nicht mal etwas für dich tun, ich bin ja nicht mehr bei der Behörde.“
„Nein, schon gut. Das würde ich gar nicht erwarten. Für das, was er meiner Tochter angetan hat, hat dieser Scheißkerl bekommen, was er verdient hat.“
„Wäre mir doch nicht anders gegangen.“
„Ich weiß. Lass uns nicht darüber reden. Erzähl mir lieber von dir. Wie läuft es oben bei euch? Arbeitest du immer noch als Fotograf?“
Matt nickte und erzählte Danny ein wenig von sich und seiner Familie. Er berichtete, dass Libby nun zur Uni ging und Danny erzählte ihm, dass auch seine Tochter nun ein Studium begonnen hatte.
„Ich bin verdammt stolz auf sie. Ich finde es nur traurig, dass sie seit dieser Sache mit keinem Jungen mehr ausgegangen ist. Das klingt jetzt vielleicht verrückt, aber …“
„Nein, ich verstehe“, unterbrach Matt ihn schnell. „Das wäre normal. Kommt sie denn damit zurecht?“
„So wie meine Frau sagt, geht es inzwischen. Chelsea hatte auch Hilfe. Das Verhältnis zu meiner Tochter ist ja auch gut, sie ist mir nicht böse. Im Gegenteil … es ist manchmal, als wäre sie froh, dass ich sie gerächt habe.“
Matt nickte verstehend. „Was es hier drin einfacher machen dürfte.“
„Schon, ja. Ach, weißt du, wer nicht mehr hier ist?“
„Sag jetzt nicht Baker.“
Danny lachte und schüttelte schnell den Kopf. „Nein, ach was. Der ist seit seinem Three Strikes-Urteil in einem anderen Trakt und nervt hier nicht mehr. Ich meine Dougherty, den Wärter. Das mit dir damals konnte ihm ja nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, weil Baker ihn gedeckt hat, aber seitdem hat er noch einiges mehr auf dem Kerbholz angesammelt. Er ist jetzt schon seit fast einem Jahr weg.“
„Gut so“, sagte Matt. Er erinnerte sich gut an den Wärter, der ihn so gern drangsaliert und dafür gesorgt hatte, dass Baker ihm die Knochen brechen konnte.
„Ja, mich freut es auch. Eigentlich ist es hier gerade wirklich ganz okay, wenn man davon absieht, dass ich im verdammten Knast hocke.“
Matt nickte verstehend. „Ist auch nicht schön hier.“
„Nein … ich rechne es dir auch hoch an, dass du wirklich herkommst und mich besuchst. Ich weiß ja nicht, ob ich das könnte.“
„Es ist tatsächlich nicht einfach“, gab Matt zu. „Vorhin haben mich auch zwei Wärter erkannt. Sie haben nichts gesagt, aber es kostet mich Überwindung, hier reinzugehen. Ich erinnere mich so verdammt gut an diesen Raum und an alles, was hier passiert ist. Das ist hart.“
„Glaube ich dir. Aber diesmal bist du derjenige, der gleich hier rausspazieren darf.“
„Irgendwann darfst du auch.“
„Ich weiß. Vielleicht sehen wir uns ja vorher noch ein paar Mal.“
„Wann auch immer ich in Los Angeles bin, komme ich her.“
„Ich weiß. Du bist schon in Ordnung.“
Matt blieb noch eine Weile und unterhielt sich einfach mit Danny, weil er wusste, wie froh man als Häftling über Besuch und den damit verbundenen Zeitvertreib war. Doch schließlich war es so weit, dass er sich wieder auf den Weg machen musste, und er verabschiedete sich sehr herzlich und mit einer Umarmung von Danny.
„Halt die Ohren steif“, sagte er. „Das schaffst du hier auch noch.“
„Klar. Wir sehen uns“, sagte Danny nicht ohne einen hoffnungsvollen Unterton und Matt nickte. Er würde wirklich versuchen, Danny zu besuchen, wann immer es sich einrichten ließ.
Nachdem er den Besuchsraum verlassen hatte, ging er zur Anmeldung, um seinen Autoschlüssel wieder abzuholen. Gerade war niemand außer ihm und einem der Wärter dort, die ihn vorhin schon so aufmerksam angesehen hatten.
„Ich erinnere mich an Sie“, sprach er Matt deshalb an. „Sie waren doch auch mal hier. Der FBI-Agent, den Baker so auf dem Kieker hatte.“
Matts Gesichtsausdruck versteinerte. „Weshalb er jetzt mit Recht lebenslänglich sitzt.“
„Sie wurden freigesprochen, oder?“
„Richtig, und deshalb werde ich jetzt auch wieder gehen.“
„Hat man nicht so oft, dass ehemalige Insassen ihre Zellengenossen besuchen.“
Matt erwiderte nichts, sondern nahm nur seinen Schlüssel in Empfang und machte, dass er weg kam. Erst, als er draußen vor dem Gebäude stand, konnte er wieder frei durchatmen.
Es machte ihn fertig, wenn ihn auch noch ein Wärter erkannte und darauf ansprach, dass er hier mal gesessen hatte. Da half es auch nicht, zu wissen, dass er unschuldig war. Hätte er Danny nicht so gern gehabt und gewusst, welcher Lichtblick solche Besuche waren, er wäre nicht wieder gekommen.
Als er in seinem Auto saß, drehte er die Musik laut auf und stellte auf dem Freeway den Tempomat ein, denn sonntags um diese Zeit war nicht allzu viel los und er konnte entspannt mit dem Verkehr mitschwimmen.
Um sich auf andere Gedanken zu bringen, dachte er daran, dass er jetzt Nathan wiedersehen würde. Darauf freute er sich sehr.
Und vor allem würde er wieder bei seiner Familie sein. Während er sich von Chino entfernte, fiel die Anspannung allmählich wieder von ihm ab. Es war vorbei, er war ein freier Mann. Das wusste er inzwischen wirklich zu schätzen.
Eine Dreiviertelstunde später parkte er vor Nathans Auffahrt und klingelte. Er hörte schon das Lachen seiner Tochter aus dem Garten und wurde freundlich von Nathans Frau Lauren begrüßt, die ihn bat, hereinzukommen.
„Wie schön, euch wiederzusehen“, sagte sie auf dem Weg in den Garten. Matt war überrascht, Libby mit Nathans Sohn zusammen am Pool zu sehen. Hayley planschte mit Schwimmflügeln darin herum und freute sich lautstark, als sie ihren Vater entdeckte.
„Da bist du ja wieder“, begrüßte Sadie ihren Mann und stand auf, um ihn zu umarmen. Sie saß mit Nathan gleich am Pool, der ebenfalls aufstand und Matt umarmte.
„Es ist schon wieder viel zu lang her“, stellte er fest.
„Allerdings. Was habe ich verpasst?“
„Noch nicht viel. Die Kids sind versorgt und Sadie hat mir von eurem Leben in der Bay Area erzählt. Klingt so, als ginge es euch gut da oben.“
„Ja, sehr. Kommt doch mal zu Besuch und überzeugt euch selbst davon!“
„Das sollten wir wirklich tun. Setz dich, Matt. Was möchtest du trinken?“
Matt bat bloß um ein Wasser und nahm neben Sadie Platz. Hayley versuchte, ihre Eltern nass zu spritzen, was eine strenge Ermahnung ihres Vaters nach sich zog. Sadie hingegen griff nach der Wasserpistole und rächte sich.
„Wie war es in Chino?“, erkundigte Nathan sich, nachdem er Matt eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank besorgt und sich zu ihnen gesetzt hatte.
„Danny hat sich gefreut, mich zu sehen. Ich fand es auch toll, der letzte Besuch ist schon eine Weile her. Aber ich muss sagen, es ist verdammt merkwürdig, das Gefängnis noch einmal zu betreten.“
„Das glaube ich dir. Ich war nie gern in Gefängnissen, aber für dich ist das ja noch eine ganz andere Sache.“
„Ganz ehrlich? Ich hasse es. Zumal mich vorhin ein Wärter erkannt hat. Was das angeht, bin ich froh, nicht mehr hier zu leben. Oben in Pleasanton weiß kein Mensch, dass ich hier mal im Gefängnis saß und auch, wenn ich unschuldig bin und freigesprochen wurde, schäme ich mich immer noch dafür.“
Überrascht angesichts von Matts Offenheit hob Nathan die Augenbrauen und sagte: „Musst du nicht, aber ich kann es verstehen. Ich bin froh, dass du so einen guten Anwalt hattest.“
„Frag mich mal.“
„Dass Vincenzo und Carroll und nicht zuletzt Evans und Chief Hooker ziemlichen Ärger wegen der ganzen Sache hatten, stellt mich immer noch sehr zufrieden.“
„Das war mir ehrlich gesagt egal. Ich bin bloß froh, dass es vorbei ist. Entschuldigt mich kurz“, sagte Matt und stand auf, um ins Haus zu gehen.
Während Sadie ihm kurz hinterher blickte, sagte Nathan: „Er ist nie wieder ganz der Alte geworden, oder?“
„Nein, das nicht. Aber es geht ihm gut, wir sind glücklich. Unsere Töchter geben uns jeden Grund dazu und der Jobwechsel war die beste Idee überhaupt.“
„Tja, ich muss leider noch ein bisschen … und bei der Polizei aufhören und zu einem privaten Sicherheitsunternehmen wechseln oder etwas ganz anderes machen – das sehe ich irgendwie auch nicht“, sagte Nathan.
„Du bist ein guter Polizist. Los Angeles braucht das.“
Jetzt lachte er. „Seit wann musst du dich denn so beliebt bei mir machen?“
„Das ist mein Ernst. Ich habe gern mit dir zusammen gearbeitet und vermisse das manchmal, auch wenn ich es nicht vermisse, für die Behörde zu arbeiten.“
„Ich kann mir ja richtig vorstellen, wie du dich an der Uni machst. Schön, dass du was gefunden hast, was dir Spaß macht.“
„Absolut“, stimmte Sadie zu.
Als Matt Augenblicke später wieder nach draußen kam, fragte Nathan: „Wer hat Hunger?“
„In unserer heutigen Sitzung werden wir uns einem Thema widmen, mit dem Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn ziemlich sicher konfrontiert werden, nämlich der dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung“, begann Sadie mit Blick auf ihre Studenten. Die meisten jungen Leute wirkten interessiert, nur einige schienen nicht aufzupassen. Sadie nahm es nicht persönlich und sie störte sich auch nicht daran, denn das musste jeder Anwesende für sich entscheiden. Wenn sie die jungen Leute ansah, musste sie immer daran denken, dass Libby gerade in einem ähnlichen Hörsaal saß und hoffte, dass sie wenigstens gut aufpasste.
„Die meisten von Ihnen werden sicher eine Person kennen, auf die viele Merkmale der dissozialen Persönlichkeitsstörung zutreffen. Sie ist gekennzeichnet von der bewussten Ignoranz sozialer Normen, Verantwortungslosigkeit und mangelndem Schuldbewusstsein. Betroffene besitzen kein oder nur wenig Einfühlungsvermögen, sie verhalten sich leicht aggressiv, führen meist nur instabile Beziehungen und verfügen über eine geringe Frustrationstoleranz. Auf die verschiedenen Subtypen gehen wir gleich noch ein. Die Begrifflichkeiten und Diagnosekriterien unterscheiden sich je nach Diagnosemanual, was für unseren Anwendungsbereich nicht weiter von Bedeutung ist. Was jedoch wichtig ist, ist die Klarstellung, worum es sich bei der antisozialen Persönlichkeit in Abgrenzung zur Psychopathie und Soziopathie handelt. Alle drei Begriffe werden häufig synonym verwendet, ohne es zu sein.“
Sadie blendete eine Seite ihrer Präsentation ein, die grafisch darstellte, wie die Begrifflichkeiten sich zueinander verhielten, und erklärte das Schaubild.
„Bei der Psychopathie handelt es sich allgemein um eine besonders schwere Form der antisozialen Persönlichkeitsstörung, während es sich bei der Soziopathie um keine offizielle psychiatrische Diagnose handelt. Soziopathen sind meist in der Lage, empathisches Verhalten zumindest zu erlernen, verhalten sich aber oft bewusst von geltenden gesellschaftlichen Normen abweichend. Deviantes, also abweichendes Verhalten, ist hier das Stichwort – einer der Kernbegriffe in der Kriminologie. Sofern Sie eine Laufbahn bei der Polizei oder einer anderen Strafverfolgungsbehörde anstreben, wird Ihnen mit Sicherheit irgendwann die eine oder andere Person mit antisozialen Persönlichkeitszügen begegnen. In der Normalbevölkerung wird das Auftreten der antisozialen Persönlichkeitsstörung für die männliche Bevölkerung mit drei Prozent angegeben, rund ein Prozent sollen Psychopathen sein. Bei Frauen liegt die Zahl um mehr als die Hälfte niedriger. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass bis zu siebzig Prozent der Gefängnisinsassen Merkmale dieser Persönlichkeitsstörung tragen, etwa fünfzehn bis fünfundzwanzig Prozent könnten sogar Psychopathen sein. Das heißt nun weder, dass alle Psychopathen Mörder sind oder alle Mörder Psychopathen sein müssen, aber eine gewisse Korrelation besteht durchaus.“
Sadie blendete die nächste Seite der Präsentation ein. Sie war bemüht, es nicht zu trocken zu halten, was nicht immer einfach war.
„Das wissen wir von Kent Kiehl, Professor für Neurowissenschaften an der University of New Mexiko. Er hat einen Computertomografen in ein Wohnmobil einbauen lassen und damit alle zwölf Staatsgefängnisse des Bundesstaates besucht, wo er die Gehirne Freiwilliger im Tomografen gescannt hat. Bei dieser und ähnlichen Untersuchungen kam heraus, dass die Gehirne der Betroffenen Anomalien in mehreren Bereichen aufweisen. Die Amygdala, die vor allem für das Furchtempfinden zuständig ist, kann bei Psychopathen um bis zu zwanzig Prozent verkleinert ausfallen. Auch der mit der Amygdala verknüpfte Hippocampus verfügt bei Psychopathen oft über ein geringeres Volumen, der präfrontale Kortex kann in bestimmten Bereichen auffällig sein und der Gyrus superior temporalis ist bei Psychopathen verglichen mit der Kontrollgruppe weniger aktiv. Das ist insofern bedeutsam, als dass dieses Hirnareal maßgeblich für die Fähigkeit ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen – das Stichwort hier lautet Theory of Mind.“
Sadie blendete eine Seite ein, auf der die betreffenden Hirnareale in einer schematischen Zeichnung hervorgehoben waren und ließ den Studenten Zeit, das Schaubild zu betrachten.
„Tatsächlich konnte auch schon nachgewiesen werden, dass diese Veränderungen der Gehirnstruktur genetisch bedingt sein können. Eines dieser insgesamt drei Gene ist auch als Risikofaktor für Alkoholismus bekannt. Die Wahrscheinlichkeit, psychopathische oder zumindest antisoziale Züge zu entwickeln, steigt mit dem Vorliegen jedes weiteren dieser Gene. Aber auch dann ist die Entwicklung nicht garantiert – mit der Anlage-Umwelt-Theorie im Hinterkopf ist immer zu bedenken, dass es auch einen entsprechenden Auslöser braucht, etwa traumatische Erlebnisse in der Kindheit.“
Im Folgenden ging Sadie auf die fünf Subtypen der antisozialen Persönlichkeitsstörung ein, die der amerikanische Psychologe Theodore Millon vorgeschlagen hatte, und drei weitere Subtypen, die jedoch immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen waren. Der instrumentell-dissoziale Typ ist vor allem auf Macht und Geld ausgerichtet und vor diesem Hintergrund häufig in der freien Wirtschaft anzutreffen, denn eine gewisse Skrupellosigkeit kann von Vorteil sein, um seine Ziele zu erreichen. Der impulsiv-feindselige Typ ist hauptsächlich durch impulsives und aggressives Verhalten gekennzeichnet, fühlt sich schnell provoziert und rastet deshalb aus. Der ängstlich-aggressive Typ ist zwar eher unauffällig, kann aber in Extremsituationen regelrecht explodieren und jegliche Deprimiertheit und Schüchternheit hinter sich lassen.
„Psychopathen verfügen sowohl über spezielle Persönlichkeitsmerkmale als auch über antisoziale Verhaltensweisen, während bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung nur diese Verhaltensweisen vorliegen. Die angesprochenen Veränderungen in der Hirnstruktur bedeuten auch, dass Psychopathen nicht nur geringere negative Affekte verspüren, sondern auch positive Gefühle, das liegt daran, dass bei ihnen häufig erhöhte Dopamin- und erniedrigte Serotonin- und Cortisol-Spiegel vorliegen. Psychopathie ist also nicht bloß ein psychologisches Konstrukt, sondern forensisch nachweisbar“, erklärte Sadie und blendete die nächste Seite ein.
„Wenn man den Betroffenen nicht gleich in den Tomografen schieben will, lassen sich Merkmale der Psychopathie auch mit der Psychopathy Checklist Revised des Kriminalpsychologen Robert Hare abfragen, der unter anderem auch das FBI berät. Bei dieser Checkliste werden zwanzig Merkmale abgefragt, deren Vorhandensein mit null, einem oder zwei Punkten bewertet werden können. Wer mindestens dreißig von vierzig möglichen Punkten erreicht, wird als Psychopath eingestuft.
Aber warum ist das wichtig? Das ist deshalb wichtig, weil es gar nicht so leicht sein muss, einen Psychopathen zu erkennen. Zwar mag das limbische System eines Psychopathen anders ausgeprägt sein als bei anderen Menschen, so dass das emotionale Erleben anders ist, aber Psychopathen beherrschen die Kunst der Manipulation. Sie können sehr charismatisch sein und anderen Menschen vorspielen, was diese zu sehen wünschen. Das kann so weit gehen, dass geschickte Psychopathen erst gar nicht erwischt oder aber schneller aus der Haft entlassen werden. Überdies fällt es ihnen leicht, besonders verletzliche und hilflose Opfer auszumachen und das für sich zu nutzen. So auch Ted Bundy, der überdies immer angegeben hat, in einer liebevollen Familie aufgewachsen zu sein – wenn man von der Tatsache absieht, dass er ein uneheliches Kind war, das von seinen Großeltern aufgezogen wurde und seine Mutter für seine Schwester gehalten hat.“
In Sadies Kriminologie-Vorlesung wurde es sehr häufig psychologisch. Nicht immer, was sie noch aus ihrem eigenen Kriminologie-Studium vor über zehn Jahren kannte, aber das interdisziplinäre Fach kam auch gar nicht ohne Psychologie aus. Noch extremer war es in ihrem Aufbauseminar zum Thema Profiling. Seit dem letzten Semester bot sie außerdem ein Seminar zum Thema Traumapsychologie an, das ihr sehr am Herzen lag. Sie betreute Seminar- und Hausarbeiten, hatte inzwischen eine angehende Doktorandin und verfasste immer wieder selbst wissenschaftliche Arbeiten.
Aus persönlichem Interesse heraus forschte sie im Bereich der Gene, die für die Entstehung einer psychopathischen Persönlichkeit mitverantwortlich waren. Immer wieder hatte sie überlegt, ob sie sich selbst darauf testen lassen sollte, hatte dann aber davon abgesehen. Das zu wissen, würde ihr nichts bringen, denn selbst wenn sie die entsprechenden Gene trug, so hatten sie sich bei ihr nicht ausgeprägt. Gern hätte sie ihren Vater getestet, aber von ihm gab es kein DNA-Material mehr, das man hätte testen können und exhumieren ließ Sadie ihn bestimmt nicht. Bei ihm war es ähnlich wie bei Ted Bundy – es war kaum erklärbar, warum er zum Serienmörder geworden war, aber er war definitiv ein Psychopath, den Sadie hautnah kennengelernt hatte.
Ihre Arbeit an der University of California in San Francisco erfüllte sie vollkommen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Sadie das nicht erwartet hätte, aber tatsächlich musste sie nicht mehr raus an die Front und selbst Verbrecher dingfest machen. Das überließ sie Cassandra, Nathan und Phil.
Sie freute sich schon auf ihr Treffen mit Phil, Amelia und der kleinen Alyssa am Wochenende, mit der Hayley sich bestens verstand. Phil würde sie hoffentlich nicht auf ihre Familienplanung ansprechen, obwohl inzwischen bei ihm wieder Nachwuchs anstand.
Nachdem Sadie hinsichtlich der Merkmale der antisozialen Persönlichkeitsstörung und ihrer Subtypen ins Detail gegangen war, berichtete sie noch von Fallbeispielen aus der Praxis und schon war die Vorlesung zu Ende. Im Anschluss musste sie noch für einige Besprechungen in ihr Büro, aber sie schaffte es, pünktlich Feierabend zu machen und vor dem Berufsverkehr nach Hause zu fahren. Sie war meist früh genug zu Hause, um viel von ihrer Tochter zu haben, und sie musste auch gar nicht jeden Tag nach San Francisco. Bislang hatte es nie Probleme damit gegeben, Hayley aus dem Kindergarten abzuholen. Meist war Matt dafür zuständig, aber auch Sadie tat es oft genug und in den seltenen Fällen, in denen beide es nicht schafften, war Libby noch da.
Sie folgte der Bay Bridge nach Oakland und schaute seitlich zur Golden Gate Bridge. In goldener Herbstsonne lag sie da, weit und breit war kein Nebel zu sehen. Die Fahrt von vierzig Meilen nahm eine Stunde in Anspruch, aber das war kein Problem für Sadie. Inzwischen hatte sie ein neues Auto und genoss die entspannte Fahrt über den Freeway. Wenn sie nach Hause kam, würde Hayley schon auf sie warten. Darauf freute sie sich unbändig.
Sie parkte in der Auffahrt, weil sie Matts Auto in der Garage wähnte, und hörte fröhliches Kichern, als sie das Haus betrat. Sie ging den Geräuschen nach und fand Matt und Hayley im Wohnzimmer. Die beiden waren gerade damit beschäftigt, Memory auf dem großen Teppich vor dem Sofa zu spielen und wurden dabei von Figaro beobachtet, der es sich auf dem Sessel bequem gemacht hatte und dort genüsslich seine Pfoten leckte.
„Hey“, begrüßte Sadie ihre Familie und Hayley blickte kurz auf, bevor sie ihr winkte.
„Hier macht mich gerade wieder jemand fertig“, klagte Matt. „Warum sind Kinder so gut in Memory?“
„Das kann ich dir erklären“, sagte Sadie. „Das hat was mit der Art und Weise zu tun, wie Kinder diese Karten betrachten. Sie schauen anders hin als Erwachsene, das Gedächtnis verändert sich ja im Laufe des Lebens.“
„Oh, keine Details über das Gedächtnis, bitte“, sagte Matt mehr im Scherz, aber Sadie wusste, wie er das meinte. Das war sein wunder Punkt, über solche Dinge dachte er nicht gern nach.
„Bin gleich bei euch“, sagte Sadie und zog sich erst im Schlafzimmer um, bevor sie sich zu Matt und Hayley gesellte und sie eine neue Runde Memory begannen. Es bereitete dem kleinen Mädchen auch keine Probleme, ihre beiden Eltern zu schlagen, was sie mit großem Stolz erfüllte.
So lange Hayley wach war, nahm Sadie sich Zeit für sie. Die Arbeit konnte auch bis abends warten, wenn die Kleine schlief.
Während Sadie und Matt sich der Zubereitung des Abendessens widmeten, saß Hayley in der Küchentür und spielte mit ihren Puppen. Mitten hinein platzte wenig später Libby, die ihre Tasche einfach im Flur fallen ließ und ihre Schuhe abstreifte, bevor sie sich auf Hayley stürzte und ihr durchs Haar strubbelte. Sofort sprang Hayley auf und floh kreischend ins Wohnzimmer, wohin Libby sie lachend verfolgte. Grinsend beobachtete Sadie ihre Töchter durch die Küchentür und freute sich über die Lebendigkeit unter diesem Dach. Sie war froh, dass sie nicht nur Hayley hatten, sondern auch Libby – und dass sie ihnen immer noch erhalten blieb. Nun lebte sie schon seit fünf Jahren bei ihnen und die Zeit war wie im Nu verflogen.
Schließlich saßen sie auf der Veranda zum Essen zusammen und erzählten einander von ihrem Tag. Hayley konnte inzwischen mit ein wenig Hilfe auch schon sehr gut allein essen, worauf sie sehr stolz war.
„Ich finde es wirklich toll an der Uni“, sagte Libby. „Den ganzen Tag beschäftige ich mich mit etwas, das mich wirklich interessiert. Wenn ich mal überlege … vor ein paar Jahren hätte ich mir noch nicht träumen lassen, dass ich mal so ein Leben führen würde.“
„Es ist toll, dass es jetzt so ist“, sagte Sadie. „Ich kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen.“
„Ich mir auch nicht“, sagte Matt. „Bist du am Wochenende hier?“
„Weiß ich noch nicht. Ich muss arbeiten und Kieran ist ja auch noch da.“
„Ich frage nur wegen unserem Besuch am Samstag. Wenn Phil und Amelia kommen, wollte ich vielleicht grillen und müsste wissen, ob du da bist.“
„Ich glaube nicht, aber danke“, sagte Libby und lächelte.
Die San José State University sah nicht wirklich aus wie eine Hochschule, zumindest empfand Libby es nicht so. Die im spanischen Stil erbauten Gebäude wurden von großzügigen Grünflächen mit Palmen abgelöst. Es gefiel ihr dort und sie bereute ihre Wahl keineswegs. Viele ihrer Mitschüler hatten versucht, an Elite-Unis wie Stanford und Berkeley zu kommen, aber das hatte Libby nie interessiert. Zweckmäßig und bezahlbar musste es sein und deshalb war ihre Wahl auf San José gefallen. Die Uni in San Francisco war für sie nicht in Frage gekommen, weil sie nicht die Tochter einer Dozentin sein wollte. Da sie ja seit Jahren den Namen Whitman trug, war ihr Verhältnis zu Sadie zu offensichtlich.
Sie trottete quer über die Wiese bis zur Mensa. An diesem Tag hatte ihr Stundenplan früh begonnen, sie hatte schon eine Vorlesung und ein Seminar gehabt und jetzt eine ausgedehnte Mittagspause vor sich, bevor sie in die nächste Vorlesung musste. Sie hatte die Mensa noch nicht ganz erreicht, als sie vor der Treppe neben einer Gruppe anderer Studenten ihren Freund Kieran entdeckte. Er hatte seine Messenger Bag lässig umgehängt und die Hände in den Hosentaschen vergraben. Libby mochte vor allem seine grünen Augen, die immer ein wenig frech glitzerten. Er trug sein braunes Haar kurz, war nie ohne seine Converse-Schuhe anzutreffen und vielleicht nicht sonderlich groß, aber er hatte jahrelang Kampfsporttraining gehabt und war entsprechend gut gebaut. Als Libby ihn erreicht hatte, küsste er sie leidenschaftlich und legte ungeniert eine Hand auf ihren Po.
„Willst du mir etwas sagen?“, raunte sie ihm grinsend zu.
„Ich stehe halt auf dich“, erwiderte er augenzwinkernd und wandte sich zum Gehen. Gemeinsam betraten sie die Mensa und studierten den Speiseplan. Libby entschied sich für Chicken Curry, während Kieran den Cheeseburger mit einer Extraportion Salat nahm.
„Und wie war es bei dir?“, erkundigte Libby sich bei ihrem Freund.
„Mir raucht ganz schön der Kopf. Ich wusste ja, dass der Studiengang kein Spaziergang wird, aber die setzen Dinge voraus …“
„Das schaffst du schon, du bist ja nicht auf den Kopf gefallen.“
„Nicht umsonst nennt man meinen Studiengang ja auch im Scherz Raketenwissenschaften. Das hat definitiv einen Grund.“
„Mach dir keinen Kopf. Wir können ja am Wochenende zusammen ein bisschen für die Uni lernen. Ich muss noch ein paar Texte lesen, was von Piaget … das wäre schöner, wenn du dabei wärst.“
„Hm“, machte Kieran wenig überzeugt. „Sonntag vielleicht. Am Samstag steigt hier eine Party, zu der ich gern hingehen würde. Wann musst du am Samstag arbeiten?“
„Ich hab die Mittagsschicht. Elf bis siebzehn Uhr. Sonntag muss ich erst abends.“
„Ist doch perfekt. Danach könnten wir herfahren und auf die Party gehen.“
„Vielleicht will ich ja gar nicht“, sagte Libby achselzuckend und nahm noch einen Bissen.
„Ach, komm schon. Wir gehen am Samstag schön feiern und am Sonntag lernen wir zusammen. Vielleicht verbringen wir ja auch die Nacht zusammen“, sagte Kieran mit vielsagendem Blick.
Inzwischen errötete Libby nicht mehr, wenn er solche Anspielungen machte. Darauf war sie stolz. Sie kannte Kieran seit ihrem Wechsel auf die High School in Pleasanton, wo sie zusammen den Physikkurs und einige andere Fächer besucht hatten. In Physik war Libby nie sonderlich gut gewesen und Kieran, der schräg hinter ihr gesessen hatte, hatte sie auf Anhieb gemocht und sich berufen gefühlt, ihr unter die Arme zu greifen. Daraufhin hatten sie sich immer wieder unverfänglich nach der Schule getroffen und sich zusammen den Hausaufgaben gewidmet. Sadie und Matt hatten ihn vorbehaltlos willkommen geheißen und schon bald hatte er sich erkundigt, woher sie eigentlich kamen und warum sie nach Pleasanton gezogen waren. Deshalb hatte Libby ihm erzählt, dass ihre Eltern beim FBI gewesen waren, was Kieran sehr imponiert hatte, und auf die Frage nach dem Altersunterschied zwischen ihr und Hayley hatte sie ihm erklärt, dass sie adoptiert war und eigentlich aus einer Sekte stammte.
Weiter ins Detail war sie von sich aus nicht gegangen. Zwar hatte Kieran einige Fragen über die Fundamentalist Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints gestellt und Libby hatte sie ihm auch alle beantwortet, aber sie hatte ihm nie von Brian Leigh, Matts Zeit im Gefängnis oder der Vergangenheit ihrer Adoptivmutter erzählt. Es tat ihr gut, dass Kieran sie so annahm, wie sie war, und schon bald hatten sie angefangen, miteinander auszugehen. Kieran hatte Rücksicht darauf genommen, dass er Libbys erster Freund war und es langsam angehen lassen.
Doch irgendwann war ihre Beziehung ernster geworden. Sadie und Matt hatten keine Einwände gehabt, als er bei ihnen übernachten wollte und Libby hatte sich die Pille verschreiben lassen. Ihr erstes Mal mit Kieran war ein schönes Erlebnis gewesen, an das sie sich gern erinnerte. Er hatte sie zum Abschlussball ausgeführt und sich mit ihr zusammen für die Uni in San José entschieden. Sie war froh, dass sie ihn hatte und glücklich, wenn sie Zeit mit ihm verbringen konnte.
Und sie war stolz und erleichtert zugleich, weil sie inzwischen eine ganz normale junge Amerikanerin war. Außer Kieran wusste an der Uni niemand von ihrer Vergangenheit und man merkte es ihr auch nicht mehr an. Trotzdem hatte sie sich nicht zuletzt auch deshalb für das Studium der Erziehungswissenschaften entschieden, weil sie einen Draht zu Kindern hatte. In der FLDS hatte sie viel mit Kindern zu tun gehabt und sie liebte Hayley über alles. Tatsächlich konnte sie sich am besten vorstellen, beruflich etwas mit Kindern zu machen, und bislang hatte sie ihre Entscheidung für das Studium nicht bereut.
„Von mir aus“, sagte Libby schließlich. „Gehen wir zur Party, du übernachtest bei mir und am Sonntag lernen wir zusammen.“
„Toll“, sagte Kieran und lächelte. „Wird ja Zeit, dass wir hier ein paar Kontakte knüpfen, meinst du nicht?“
Da musste Libby ihm zustimmen. Sie hatte zwar einige Kommilitonen, die sie regelmäßig sah und mit denen sie sich gut verstand, aber abgesehen von Kieran hatte sie noch niemanden, mit dem sie ihre Tage an der Uni verbringen konnte. Aber das war vielleicht nach ein paar Wochen auch zu viel verlangt.
Nach dem Mittagessen gingen sie zusammen hinaus auf die Wiese und legten sich, wie so viele andere Studenten, in die Sonne. Kieran nahm seine Kopfhörer und hörte ein wenig Musik, während Libby ihren Kopf auf seinen Bauch bettete und ein wenig in einem ihrer Bücher las. Anlage-Umwelt-Diskussion – was formt den Menschen? Die Gene oder seine Umgebung? Sie hatte Sadie schon davon sprechen hören und fand es spannend, wie viele Überschneidungen die Pädagogik tatsächlich mit der Psychologie hatte. Sadie war deshalb eine gute Ratgeberin in Fragen, die ihr Studium betrafen.
In der Nähe war ein Infostand der Sportteams und über den Rand ihres Buches hinweg beobachtete Libby das Treiben dort interessiert. Vielleicht war das auch eine Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen.
Irgendwann zog Kieran ihr das Buch aus den Händen und machte Anstalten, sich aufzurichten. Grinsend beobachtete Libby, wie er sich über sie beugte und sie küsste. Sie genoss es aus vollen Zügen, einfach in der Sonne im Gras zu liegen und mit ihrem Freund zu knutschen. Diese Freiheit hatte sie sich noch vor ein paar Jahren nur gewünscht. Aber jetzt hatte sie nicht nur jemanden gefunden, sie führte sogar eine stabile Beziehung mit ihm. Das war toll.
So manches Mal hatte sie überlegt, ob sie ihm nicht doch mehr aus ihrer Vergangenheit erzählen sollte, weil sie das Gefühl hatte, ihn anzulügen. Allerdings hatte sie sich nie getraut und je länger es nun schon so lief, desto weniger wollte sie es riskieren. Sadie und Matt waren verständlicherweise auch froh, alles hinter sich gelassen zu haben und dabei sollte es eigentlich bleiben.
Schließlich war es für beide an der Zeit, die nächste Vorlesung zu besuchen, deshalb verabschiedeten sie sich voneinander und machten sich auf den Weg zu den entsprechenden Gebäuden.
Libby fand ihre Vorlesung äußerst interessant, denn es ging um die Sprachentwicklung bei Babys und Kleinkindern. Vor nicht allzu langer Zeit war Hayley ein lebendes Beispiel für all das gewesen, was ihre Dozentin gerade erzählte, aber umso spannender fand Libby es.
Nach der Vorlesung machte Libby sich auf den Heimweg. Manchmal fuhr sie mit Kieran zusammen, aber an diesem Tag hatte er abends noch eine Übung und musste länger bleiben. Deshalb machte Libby sich allein auf den Heimweg und folgte der Interstate 680 im zähen Berufsverkehr nach Hause Richtung Pleasanton.
Die Stadt war hübsch, viele Häuser waren ebenfalls im spanischen Stil errichtet, es lag malerisch zwischen Hügeln und war eher ruhig und beschaulich. Sadie und Matt hatten im Süden der Stadt zwischen Bäumen ein hübsches Haus gekauft, in dem Libby sich vom ersten Tag an wohl gefühlt hatte.
Sie stellte ihr Auto vor dem Vorgarten ab und war überrascht, von Geschrei begrüßt zu werden, als sie die Haustür öffnete. In der Küche sah sie dann, worum es ging – Hayley wollte unbedingt Süßigkeiten, bekam vor dem Abendessen aber keine.
„Hey“, sagte Libby und schnappte sich ihre kleine Schwester, die sie gegen ihren anfänglich starken Widerwillen durch die Luft wirbelte. Schließlich drückte sie ihr einen Kuss aufs Haar.
„Wie wär’s, wenn wir bis zum Abendessen ein bisschen spielen? Du kriegst doch danach bestimmt etwas Süßes“, sagte sie.
„Wenn sie lieb ist“, erwiderte Matt streng.
„Klar bist du lieb“, murmelte Libby. „Wäre es okay, wenn ich am Samstag mit Kieran auf eine Party an der Uni gehe und er anschließend hier übernachtet?“
„Von mir aus“, sagte Sadie.
„Wir würden gern am Sonntag zusammen lernen“, ergänzte Libby.
„Sehr anständig von euch“, sagte Matt augenzwinkernd.
„Kommt rein.“ Sadie umarmte Amelia und Phil nacheinander und begrüßte auch die kleine Alyssa, die sofort auf die Suche nach Hayley ging.
„Danke für die Einladung“, sagte Amelia, bevor sie ihre Hände wieder in ihr Kreuz stemmte. Ihr Babybauch war inzwischen zu einer beachtlichen Größe herangewachsen.
„Schön, dass ihr hier seid! Wie geht es dir?“
„Ach, ich wünschte, er wäre schon draußen. Wie soll ich das noch vier Wochen lang aushalten?“
Sadie lachte und ging voraus in den Garten. Alyssa war dort schon angekommen und hatte sich zu Hayley gesellt. Matt, der bislang mit dem Grill beschäftigt war, kam nun auch, um die Gäste zu begrüßen und bestaunte Amelias beachtlichen Bauch ebenfalls.
„Wie schnell das immer geht“, sagte er.
„Das findet aber auch nur ihr Männer!“, protestierte Amelia. „Ich bin froh, dass Phil und ich uns einig sind, mit zwei Kindern genug zu haben. Noch mal müsste ich das nicht haben.“
„Das kann ich dir gut nachfühlen“, sagte Sadie solidarisch, während sie Amelia einen kleinen Hocker holte, damit sie die Füße hochlegen konnte. Amelia lachte und bedankte sich herzlich für diese nette Geste.
„Wo ist denn Libby?“, fragte Phil, der sich suchend umgeschaut hatte.
„Arbeiten“, sagte Matt. „Sie kellnert doch im Bistro auf der Main, Ecke Neal Street. Später ist sie noch auf einer Party.“
Phil überlegte kurz, nickte dann aber. „Dabei wollte ich sie doch fragen, wie ihr die Uni gefällt.“
„Gut, wenn man ihrer Auskunft Glauben schenken darf.“
„Toll, wie das Mädchen sich gemacht hat. Und jetzt sieh sich einer unsere beiden Prinzessinnen an.“
„Seit wann ist Hayley eine Prinzessin?“, fragte Sadie. „Eher die Königin der aufgeschürften Knie.