Die Seele des Bösen - Unter Verdacht - Dania Dicken - E-Book

Die Seele des Bösen - Unter Verdacht E-Book

Dania Dicken

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Beschreibung

Auch in ihrem neuen Fall arbeitet Sadie mit LAPD-Detective Nathan Morris zusammen. Der Polizist bittet die FBI-Profilerin um Hilfe, als eine Edelprostituierte ermordet in einem Hotelzimmer aufgefunden wird. Sadie erkennt schnell, dass die widersprüchlichen Indizien am Tatort auf einen zweiten Täter hindeuten – ohne zu ahnen, in welche Kreise die Ermittlungen sie führen werden. Auch privat ist Sadie gefordert, denn die Begegnung mit seiner Stalkerin hat Matt verändert. Sadie macht sich große Sorgen um ihren Mann, der sich schweigsam und zurückgezogen gibt. Während sie sein Verhalten anfänglich auf die zurückliegenden Ereignisse schiebt, wird ihr irgendwann klar, dass Matt etwas vor ihr verbirgt …

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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Dania Dicken

 

Die Seele des Bösen

Unter Verdacht

 

Sadie Scott 11

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Liebe mich dann, wenn ich es am wenigsten verdient habe,

denn dann brauche ich es am meisten.

 

Anonym

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mittwoch

 

„Bald ist ja auch schon wieder Thanksgiving.“ Cassandra seufzte dramatisch, was Sadie ein Lachen entlockte.

„So schlimm? Ein paar Wochen Schonfrist haben wir ja noch.“

„Ja, schon klar ... Das ist der einzige Nachteil daran, dass ich jetzt hier arbeite. Der Flug nach New Jersey dauert ewig.“

„Ich verstehe dich nur zu gut“, sagte Sadie, während sie ihren Rechner herunterfuhr und nach ihrer Tasse griff.

„Und wofür? Damit meine Stiefmutter meinen Vater wieder anzickt und Brad sich volllaufen lässt.“ Cassandra stieß, den Kopf in die Hände gestützt, einen weiteren Seufzer aus und brachte Sadie so zum Lachen.

„Du könntest kneifen.“

„Dann werde ich bestimmt enterbt. Nein ... ich werde mich wohl fügen müssen.“ Mit diesen Worten fuhr Cassandra ebenfalls ihren Rechner herunter und folgte Sadie in die Küche, wo sie ihre Tassen in die Spülmaschine stellten. Zurück an ihrem Schreibtisch griff Sadie nach ihrer Tasche, verabschiedete sich von Cassandra und lief die zwei Stockwerke nach unten über die Treppe. Dort angekommen, kreuzten bereits einige von Matts Kollegen ihren Weg. Sie wartete, bis sie das Büro seiner Abteilung betreten konnte und ging hinüber zu seinem Schreibtisch. Darunter stand ein Hocker, den er für seinen Fuß brauchte. Gerade war er dabei, nach seinen Krücken zu greifen und mit ihrer Hilfe aufzustehen. Jason stand daneben und wollte seine Hilfe anbieten, aber Matt schüttelte schon im Voraus den Kopf.

„Da ist deine Frau“, sagte Jason. Matt hob den Kopf und lächelte kurz, dann hatte er es geschafft und stand mit den Krücken. Er spekulierte darauf, den Gips in der Folgewoche loszuwerden. Das wurde auch mal Zeit, wie Sadie fand. Inzwischen trug er ihn schon seit fast fünf Wochen und regte sich jedes Mal beim Duschen fürchterlich auf.

Es war nun schon die zweite Woche, in der er wieder arbeiten ging. Sobald der Arzt seine Blutwerte nicht mehr für allzu bedenklich gehalten hatte, hatte Matt darauf gedrängt, wieder als arbeitsfähig eingestuft zu werden. Der Gips hielt ihn ja nicht wirklich davon ab, ins Büro zu gehen und für den Arbeitsweg sorgte Sadie. Sie selbst war auch froh, dass er wieder arbeiten ging, denn während seiner Krankschreibung war er ziemlich unleidlich gewesen. Das konnte sie gut verstehen, sie kannte es auch von sich selbst.

„Hey, Sadie“, sagte Jason zu ihr. „Bis morgen.“

„Bis morgen“, erwiderte Matt und folgte ihm in Sadies Richtung. Gemeinsam gingen sie zur Tür, die Sadie vorausschauend für ihn aufhielt. Gemeinsam gingen sie zum Aufzug, wo sie Jason wieder begegneten. Als die Aufzugtüren sich öffneten, machten die Leute im Aufzug Platz für Matt. Er fing sich manchmal fragende Blicke ein, weil er mit Krücken und Gips im Büro erschien, aber das prallte einfach an ihm ab.

Als sie das Gebäude verließen, entdeckte Sadie Cassandra auf dem Parkplatz und winkte ihr zu. Sie ging langsam voraus zum Challenger, für den Matt im Augenblick völlig unerschrocken eine Sonderparkgenehmigung unweit des Gebäudes beantragt hatte, und Sadie nahm ihm die Krücken ab, als er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Nachdem sie die Krücken in den Kofferraum gelegt hatte, stieg sie ebenfalls ein und fuhr los. Sie hatten den Parkplatz noch nicht verlassen, als Matt kommentarlos die CD wechselte und danach wieder aus dem Fenster starrte.

„Und, wie war dein Tag?“, fragte Sadie ins Schweigen hinein, während Monster Magnet aus den Lautsprechern schallte.

„Normal“, erwiderte Matt knapp.

„Klingt ja nicht sehr aufregend.“

„War es auch nicht.“

„Für Aufregung ist es vielleicht auch noch etwas zu früh.“

„Oh, so ein bisschen Abwechslung würde nicht schaden. Ich würde gern wieder raus auf die Straße, aber das geht ja nicht.“ Matt starrte auf seinen Gipsfuß und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Geduldig warst du ja noch nie“, stellte Sadie augenzwinkernd fest, während sie die Auffahrt zum Freeway nahm.

„Nein, vor allem nicht bei so etwas. Ich vermisse meine Arbeit.“

Sadie nickte nur. Sie konnte ihn verstehen, nur helfen konnte sie ihm nicht.

Durch den dichten Verkehr schlängelte sie sich nach Hause. Es war jetzt fast fünf Wochen her, dass Matt beinahe verblutet wäre, was er nach seiner Schussverletzung im Vorjahr mit Fassung trug. Dass er in Lebensgefahr geschwebt hatte, machte ihm nichts aus. Was ihn wurmte, waren die ganzen Umstände dahinter.

„Ich freue mich auf heute Abend“, versuchte Sadie, das Gespräch wieder aufleben zu lassen.

„Wird bestimmt nett“, stimmte Matt zu.

Sie seufzte leise und gab es auf. Sie konnte ihn wirklich verstehen, aber er machte es ihr auch nicht gerade leicht. In manchen Momenten bemühte er sich redlich, in anderen hatte sie keine Chance. Gerade war es wieder soweit.

Sie brachten den Heimweg schweigend hinter sich. Zu Hause angekommen, reichte Sadie Matt die Krücken wieder an und schloss die Haustür auf. Wie so oft führte ihr erster Weg in die Küche, um die Katzen zu füttern. Mittens stand schon bereit und erwartete sie miauend. Das rief Augenblicke später auch Figaro auf den Plan.

Im Augenwinkel sah Sadie, wie Matt sich auf die Treppe setzte, seinen rechten Schuh auszog und sich dann mit einer Krücke auf den Weg nach oben machte. Sie hatte es aufgegeben, ihm ihre Hilfe anzubieten, denn er lehnte sie grundsätzlich ab. Sadie stellte es nicht in Frage und nahm zur Kenntnis, dass sein Stolz in solchen Momenten größer war.

Als sie in der Küche fertig war, folgte sie ihm nach oben und zog sich ebenfalls um. Für den Abend wählte sie eins ihrer wenigen Kleider. Matt pfiff durch die Zähne, als er aus dem Bad zurückkehrte und sah, was sie angezogen hatte. Er trug bereits eine dunkle Jeans und ein ebensolches Hemd. Sadie drehte sich zu ihm um und lächelte.

„Du solltest öfter Kleider tragen“, sagte Matt. „Steht dir wahnsinnig gut.“

„Danke.“ Sadie errötete und senkte verlegen den Blick.

„Hey.“ Matt arbeitete sich mit seiner Krücke zu ihr vor und umarmte sie mit dem rechten Arm. Er drückte sie fest an sich, vergrub eine Hand in ihrem langen roten Haar und küsste sie unerwartet leidenschaftlich. Sadie schloss die Augen und lächelte. In solchen Momenten war er immer ganz der Alte, ihr Matt, ihr geliebter Ehemann. Sie gab sich seinen Zärtlichkeiten ganz hin und erwiderte seine Umarmung, so fest sie konnte.

„Meine wunderschöne Sadie“, raunte er ihr zu und grinste.

„Soll das ein Angebot sein?“, fragte sie überrascht.

„Na ja ... mein Fuß ist kaputt. Für andere wichtige Körperteile gilt das nicht ...“

Sie lachte, während er sich langsam von ihr löste und wieder auf den Weg nach unten machte. Schweigend blickte Sadie ihm hinterher und ging ins Bad, um sich zu frisieren. Es war nicht das erste Mal, dass Matt sich so verhielt, aber trotzdem wusste sie oft nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie war nämlich nicht sicher, ob das nur aufgesetzt oder ernst gemeint war.

Allerdings verschwendete sie in diesem Moment keinen weiteren Gedanken daran, denn sie mussten sich allmählich auf den Weg machen. Es war schon kurz nach sechs und Nathan hatte den Tisch für sieben Uhr reserviert. Er hatte einen Inder in Downtown vorgeschlagen, womit Matt einverstanden war. Ein Parkhaus lag in der Nähe und solange er nicht weit laufen musste, war ihm alles recht.

Wenig später machten sie sich wieder auf den Weg. Anfänglich starrte Matt aus dem Fenster, doch plötzlich tastete er nach Sadies Hand. Auf der Interstate brauchte sie ihre rechte Hand sowieso nicht, deshalb verschränkte sie ihre Finger mit seinen und schenkte ihm ein Lächeln.

„Dass es dir nicht zu lästig ist, mich herumzukutschieren“, sagte er.

„Ach was. Sonst fährst du immer, jetzt eben ich. Ich habe schon Typen kennengelernt, die ihre Frau oder Freundin nicht mit dem heiligen Auto hätten fahren lassen ...“

„Ja, das sind auch die Typen, die denken, der beste Liebhaber sei der, der am schnellsten fertig ist“, erwiderte Matt trocken und grinste.

Sadie lachte. „Du hast ja Vergleiche.“

„Das ist mein Ernst. Denen sind Frauen fürs Bett gut genug, aber ansonsten nicht auf Augenhöhe. Da stellen sich mir die Nackenhaare auf.“

Sadie drückte seine Hand und überlegte, was sie erwidern sollte, aber ihr fiel nichts ein. Sie war froh, dass Matt so anders war und liebte ihn für seine ganze Art.

Auf dem Weg nach Downtown hinein betrachteten sie den beachtlichen Stau auf der Gegenfahrbahn. Matt navigierte Sadie bis an ihr Ziel, das sie zwar zu früh erreichten, aber Sadie war lieber überpünktlich als zu spät. Für den Weg zum Restaurant brauchte Matt auch wieder ein bisschen. Zwar war er inzwischen gut darin, mit den Krücken zu hantieren, aber so schnell wie gewöhnlich war er damit trotzdem nicht.

Als sie am Eingang von einem Kellner in Empfang genommen wurden und Nathans Namen für die Reservierung nannten, nickte der Kellner und eilte geflissentlich voraus. Weder Sadie noch Matt waren überrascht, Nathan bereits an einem gemütlichen Tisch in einer ruhigen Ecke zu entdecken.

„Ihr seid ja auch schon da“, sagte er und stand gleich auf, um sie zu begrüßen. Matt klemmte sich die Krücke unter den Arm, um Nathan die Hand zu schütteln und setzte sich schließlich. Nathan und Sadie machten ihm unter dem Tisch etwas Platz, so dass er den Fuß ausstrecken konnte.

„Du siehst gut aus“, sagte Nathan und nickte Matt aufmunternd zu.

„Danke, ich bin auch fast wieder ganz der Alte“, sagte Matt und blickte zu seinen Krücken. „Bis auf die da vielleicht.“

„Ach, wer hatte noch nie einen gebrochenen Knochen? Das ist doch halb so wild. Wann gehst du wieder arbeiten?“

„Er geht schon längst“, sagte Sadie.

Überrascht hob Nathan die Augenbrauen. „Tatsächlich?“

„Schon seit letzter Woche“, sagte Matt. „Seit mein Arzt glaubt, dass ich nicht morgens neben der Kaffeemaschine umkippe.“

„Ganz schön motiviert“, fand Nathan.

„Er war unerträglich zuhause“, sagte Sadie kopfschüttelnd.

„Ja, vor allem in der zweiten Woche“, stimmte Matt trocken zu. „In der ersten warst du ja noch da, aber in der zweiten waren es bloß die Katzen und ich. Da wird man verrückt.“

„Arbeitstier“, sagte Nathan kopfschüttelnd und blickte zu Sadie. „Und wie geht es dir?“

„Gut. Endlich geht alles wieder seinen gewohnten Gang.“

„Es tut mir leid, dass ich es nicht vorher einrichten konnte“, sagte Nathan. „Heute wollte der Chief mir auch schon wieder den Feierabend versauen, aber dagegen habe ich gestreikt.“

„Was ist denn los?“, erkundigte Sadie sich. Sie wurden unterbrochen, weil der Kellner mit den Speisekarten kam und die Getränkebestellung aufnahm.

Als er fort war, antwortete Nathan: „Ein neuer Mordfall. Ihr kennt das ja ... zwar ist derjenige schon tot, aber alle stehen Kopf. Dabei habe ich im Gefühl, dass ich in der Angelegenheit einen langen Atem brauche.“

„Das klingt ja nicht sehr ermutigend“, fand Sadie.

„Nein ...“ Nathan seufzte. „Aber lassen wir das. Ich freue mich, dass wir es endlich geschafft haben, uns wiederzusehen. Auch wenn wir uns vielleicht nicht unter den glücklichsten Umständen kennengelernt haben, würde ich doch sagen, dass wir Freunde geworden sind. Das schaffe ich teilweise mit langjährigen Kollegen im Department nicht.“

„Danke für die Blumen“, sagte Sadie und lächelte. Ihr entging nicht, dass Matt ausdruckslos auf den Tisch starrte.

„So etwas erlebt man ja nicht alle Tage“, sagte Nathan.

„Hast du noch etwas von Manning gehört?“

„Nein, aber ich kann mich mal schlau machen, falls du das möchtest.“

„Das würde mich tatsächlich interessieren“, sagte Sadie.

„Das war wohl auch für dich kein ganz alltäglicher Fall.“

„Ganz und gar nicht“, stimmte Sadie mit einem Lächeln zu. Dann widmeten sie sich der Speisekarte und gaben beim Kellner ihre Bestellung auf, als er ihre Getränke brachte. Sadie erkundigte sich nach Nathans Familie und erzählte ein wenig von Phil. Dabei entging ihr nicht, wie Nathan Matt immer wieder fragende Blicke zuwarf und vergeblich darauf wartete, dass Matt sich am Gespräch beteiligte.

Schließlich wurde es ihm zu bunt. „Wie lang musst du den Gips noch tragen?“

Matt blickte auf. „Hoffentlich nur noch bis nächste Woche. Ich bin ihn so leid ... inzwischen juckt es darunter pausenlos, das ist die Hölle!“

Nathan lachte. Sie sprachen über die verschiedensten Dinge, bis das Essen kam und setzten ihr Gespräch auch während des Essens fort. Matts einziger Gesprächsbeitrag bestand jedoch aus der Feststellung, dass sein Chicken Curry ziemlich scharf geraten war. Nach dem Essen schnappte er sich seine Krücken und hinkte damit in Richtung der Toiletten. Er war gerade erst um die nächste Ecke verschwunden, als Nathan sich mit ernster Miene zu Sadie beugte und kurz überlegte.

„Alles in Ordnung mit ihm?“, fragte er dann ganz direkt.

„Definiere in Ordnung“, erwiderte Sadie, den Kopf in die Hände gestützt.

„Ich kenne ihn ja nun nicht besonders gut und ich habe ihn auch nicht lang erlebt, bevor das mit Stacy Gallagher passiert ist, aber ich habe den Eindruck, er hat sich ziemlich abgeschottet.“

Sadie seufzte tief und zuckte mit den Schultern. „Das ist tagesformabhängig. Manchmal wechselt das auch von einer Minute zur anderen. Inzwischen schläft er besser und dass er wieder arbeiten kann, hilft ihm ungemein. Ich weiß, wie das ist. Das braucht einfach Zeit.“

Nathan hob die Hände. „Du bist die Expertin.“

Sie lächelte. „Nein, schon gut. Du hast recht, er tut sich noch etwas schwer. Es würde mir Sorgen bereiten, würde ich nicht sehen, dass es stetig besser wird.“

„Gut“, sagte Nathan. „Wenn du meine Hilfe brauchst, zögere nicht, es zu sagen.“

„Danke, Nathan, aber ich wüsste nicht, wie du da helfen könntest. Da hilft gerade eigentlich nur Geduld.“

„Wenn das jemand beurteilen kann, dann du“, sagte er und lächelte. „Ich glaube, du hilfst ihm ungemein.“

„Ich tue mein Bestes“, sagte Sadie. Das tat sie wirklich, aber dass Nathan sie auf Matts Verhalten angesprochen hatte, beunruhigte sie. Zwar stimmte es, sie hatten sich seit Wochen nicht gesehen, aber sie hielt Nathan für sensibel genug, um sich bewusst zu machen, dass die vergangenen Ereignisse nicht spurlos an Matt vorübergingen. Dass es ihn trotzdem beschäftigte, ließ ihre Alarmglocken schrillen.

Sie kamen nicht dazu, das Thema weiter zu vertiefen, weil Matt schon wieder auf dem Rückweg war. Sadie lehnte sich wieder zurück und lächelte ihrem Mann zu, der das Lächeln vorbehaltlos erwiderte.

„Eine Laufbahn als Detective hätte ich mir auch vorstellen können“, sagte Sadie zu Nathan, während Matt sich wieder setzte.

„Ja, das ist nicht schlecht. Manchmal ist es der Wahnsinn, aber generell mag ich meine Arbeit“, sagte Nathan.

„Worum geht es denn in deinem neuen Fall? Darfst du darüber sprechen?“

„Da wir unter uns sind ...“ Nathan holte tief Luft. „Es geht um eine Prostituierte, die ermordet in einem Hotelzimmer aufgefunden wurde. Klingt erst mal nicht spektakulär, aber es war ein Luxushotel und die Dame hat Stundensätze genommen ... da schlackern dir die Ohren.“

„Um ehrlich zu sein, klingt das auch erst mal nicht ungewöhnlich“, sagte Sadie.

„Nein, das stimmt schon, aber ich kriege noch keinen Kopf an der Sache. Das ist ganz schön schlecht, wenn man der leitende Ermittler ist!“ Nathan lachte.

„Du weißt, ich helfe dir immer gern“, erinnerte Sadie ihn.

„Ich komme darauf zurück, wenn ich muss“, sagte Nathan. „Dabei kannst du dir doch sicher auch Besseres vorstellen, als mir dauernd den Hintern zu retten!“

„Ich rette jeden Hintern, der gerettet werden muss“, sagte Sadie.

„Ja, mal sehen. Ich gebe mich noch nicht geschlagen. Es ist eben die übliche zähe Polizeiarbeit ... Obduktionsergebnisse abwarten, mit dem Umfeld des Opfers sprechen, mögliche Zeugen verhören, Verdächtige ausschließen ... ehrlich gesagt sind wir da noch nicht besonders weit. Ich weiß bis jetzt nur, dass sie an dem Abend nicht offiziell über ihre Escortagentur gebucht wurde, sondern unter der Hand. Die Frage ist jetzt, von wem.“

„Da will jemand unentdeckt bleiben“, sagte Sadie.

Nathan nickte. „Mit absoluter Sicherheit. Es bleibt spannend.“

„Du kriegst das schon hin“, sagte plötzlich Matt und lächelte. Nathan nickte ihm zu.

Die beiden ließen sich schließlich Bier kommen. Sadie war es recht, sie hätte auch nichts trinken wollen, wenn sie nicht gefahren wäre. Sie bestellte sich nur einen alkoholfreien Cocktail, den sie in aller Ruhe austrank.

Als Matt erst mal etwas Bier getrunken hatte, wurde er etwas gesprächiger und plauderte mit Nathan über die Arbeit und andere Themen. Sie blieben noch recht lang in dem Restaurant. Es war schon kurz vor halb elf, als sie sich vor dem Eingang voneinander verabschiedeten. Sadie umarmte Nathan und schenkte ihm ein Lächeln.

„Du meldest dich, wenn du Unterstützung brauchst“, wiederholte sie.

„In Ordnung. Ich weiß das zu schätzen. Gute Heimfahrt, ihr beiden. Bis dann!“ Nathan hob die Hand zum Gruß und verschwand in die andere Richtung. Sadie und Matt gingen zum Parkhaus und traten den Heimweg an. Während Sadie ihren Mann im Augenwinkel musterte, hatte sie das Gefühl, dass er deutlich ruhiger und entspannter war als zuvor. Bis auf das Leuchten der Armaturenanzeigen war es dunkel im Wagen. Die Musik dudelte nur leise, so dass das laute Röhren des V8-Motors nicht zu sehr in den Hintergrund trat.

„Nathan ist schwer in Ordnung“, sagte Matt plötzlich ins Schweigen hinein.

„Ich mag ihn auch sehr“, stimmte Sadie zu.

„Ich bin froh, dass er für uns da war. Ohne seine Hilfe hätte das alles anders ausgesehen.“

Sadie nickte nur. Darüber wollte sie am liebsten überhaupt nicht nachdenken.

„Bist du glücklich?“

Die Blicke der beiden trafen sich, als Sadie Matt erstaunt ansah. „Natürlich. Wie kommst du darauf?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich mache es dir nicht leicht.“

„Du machst doch gar nichts.“

„Ach komm“, sagte er und atmete tief durch.

„Ich verstehe dich, Matt“, sagte Sadie ungerührt. „Wundert dich das etwa?“

„Nein ... aber ich weiß, du machst dir Sorgen. Das musst du nicht. Was ich vorhin zu Hause gesagt habe, habe ich übrigens ernst gemeint.“

Sadie musste kurz überlegen. „Als du mir das Kompliment gemacht hast?“

Er nickte. „Ich liebe dich unverändert und ich finde dich wunderschön. Du sollst meinetwegen auf nichts verzichten.“

„Was kommt denn jetzt?“, fragte Sadie irritiert.

„Du kannst es mir sagen, wenn dir der Sinn nach mehr steht. Das ist okay.“

„Ich weiß“, sagte sie knapp. Das hatte er ihr bereits bewiesen. Sie hatte keinen Unterschied gespürt und geglaubt, dass das bei Matt nicht anders gewesen war, aber das wusste sie eben nicht. Er hatte es unbedingt probieren wollen, sobald er sich körperlich dazu in der Lage gesehen hatte und es war auch nicht bei dem einen Mal geblieben.

Trotzdem verstand sie nicht, warum er das jetzt ansprach.

Erneut tastete er nach ihrer Hand. Seine war ganz kalt. Sadie drückte sie ganz fest.

Es war eigenartig. Bislang war Matt immer derjenige gewesen, der sich um Sadie gekümmert hatte und versucht hatte, ihr Halt zu geben. Im Augenblick hatte Sadie das Gefühl, sie hätten die Rollen getauscht. Es war nicht, dass es sie störte – aber es beunruhigte sie. Oft verhielt er sich zurückgezogen und abwesend, aber in anderen Momenten war er nicht nur ganz der Alte, sondern intensiv um sie bemüht. Sadie war so unaussprechlich froh, dass sie ihn noch hatte und er nicht an diesem Tag vor einigen Wochen an der Stichverletzung verblutet war. Mit diesem Gedanken beschäftigte sie sich kaum, weil sie ihn nicht ertrug.

Sie verließ den Freeway und fuhr das letzte Stück nach Hause ganz gemächlich. Es war kurz nach elf, als sie dort eintrafen. Sadie schaute noch einmal nach den Katzen und goss die Orchidee, die Cassandra ihr kürzlich geschenkt hatte. Einfach so. Sadie freute sich immer noch darüber.

Matt war schon nach oben gegangen. Als sie das Schlafzimmer betrat, fand sie ihn bequem auf dem Bett liegen mit seinem Tablet in der Hand. Als sie sich neben ihn legte, um zu spionieren, was er machte, fand sie eine Seite mit Fotos.

„Das ist ein Fotograf, dem ich folge“, sagte Matt. „Ich habe schon viel zu lang nicht mehr fotografiert.“

„Das stimmt“, sagte Sadie und schmiegte sich an ihn, um mit ihm gemeinsam die Fotos anzusehen. Als sie schließlich müde wurde, stand sie auf, zog sich um und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Wenig später erschien auch Matt, um es ihr gleich zu tun. Als er in Shorts hinter ihr stand, konnte sie mit einem Blick in den Badezimmerspiegel auch die Operationsnarbe an seinem linken Oberschenkel sehen. Sie war noch ganz frisch und leuchtend rot. Seine älteren Narben verblassten inzwischen immer mehr.

Schließlich machte Sadie ihm Platz und wartete im Bett auf ihn. Als er dort angekommen war, stellte er die Krücke neben dem Bett ab, ließ sich ins Bett fallen und streckte einladend einen Arm aus. Sadie verstand und schmiegte sich seitlich an ihn, weil sie wusste, wie sehr er das immer liebte. Dabei rutschte die Bettdecke ihr bis an die Hüfte herab. Sie trug das Nachthemd, das Matt ihr einmal geschenkt hatte – aus eiskalter Berechnung, das war ihr klar. Der Stoff war ganz weich und der Schnitt verbarg nur das Nötigste.

Tatsächlich hatte Matt es darauf abgesehen. Er streckte auch den anderen Arm nach ihr aus und fuhr den Ausschnitt ihres Nachthemdes ganz sanft mit den Fingerspitzen nach, so dass Sadie eine Gänsehaut bekam. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich einfach auf seine Berührung. 

Schließlich strich er ihr übers Haar und küsste sie auf die Nasenspitze. „Ich liebe dich, meine süße Sadie.“

„Ich liebe dich auch.“

Er lächelte ihr zu und löschte das Licht. Sadie ließ ihren Kopf auf seiner Schulter liegen und konzentrierte sich ganz auf seine Nähe und Wärme. Vielleicht war er auch einfach nur so liebeshungrig, weil er sie beinahe verloren geglaubt hatte. Was auch immer es war, Sadie nahm es zur Kenntnis. Für sie zählte nur, dass zwischen ihnen alles in Ordnung war.

 

 

Donnerstag

 

Als Sadie unwirsch den Wecker ausstellte, wurde sie dessen gewahr, dass die Betthälfte neben ihr leer war. Im nächsten Augenblick korrigierte sie sich – es war zwar nicht Matt, der neben ihr lag, aber Figaro hatte ihn abgelöst. Er lag gleich unterhalb von Matts Kopfkissen in einer warmen Kuhle, hatte sich dort bequem zusammengerollt und schnarchte leise.

Sadie lächelte und drehte sich zu dem schlafenden Kater, um ihn zu kraulen. In Windeseile wurde das Schnarchen von einem Schnurren abgelöst. Dann hörte Sadie das Wasserrauschen aus dem Bad. Matt war wohl duschen gegangen.

Sadie hoffte, dass er einfach nur früh aufgewacht und nicht von einem Alptraum aus dem Schlaf gerissen worden war. Die hatte es in letzter Zeit zu häufig bei ihm gegeben. Er hatte immer versucht, das mit sich selbst auszumachen, aber er hatte ihr auch erzählt, wovon er da träumte. Ausgehend von seinen Berichten hatte sie mit vielem gerechnet, denn Stacy hatte ihm sehr zugesetzt. Tatsächlich träumte er aber meistens von dem Moment, in dem Stacy Sadie gezwungen hatte, eine Überdosis ihrer eigenen Beruhigungstabletten zu schlucken. Das verschob sich wohl gelegentlich, er hatte auch schon davon geträumt, dass Stacy Sadie erstach. In einer Nacht war es besonders schlimm gewesen, da war er heftig zusammengezuckt und hatte Sadie erst nach längerem Nachfragen erzählt, er hätte geträumt, wie er mit Stacy zu Sadies Beerdigung erschienen sei. Ihm hatte jeder Fluchtimpuls gefehlt – eine Flucht hätte ihm auch nichts gebracht, denn Sadie war ja ohnehin tot.

Sadie kannte das alles zu gut. Sie verstand, wie sehr Matt unter diesen Erinnerungen litt. So fiel es ihm schwer, zu vergessen. Es machte ihr auch nichts aus, jetzt für ihn da sein zu müssen. Es machte ihr sehr viel mehr aus, zu wissen, wie ihm dabei zumute sein musste. So etwas hätte ihm nie passieren dürfen.

Sie hoffte, dass die Zeit auch bei ihm alle Wunden heilte. Im Augenblick schwankte er immer wieder zwischen völliger Abschottung und dem Bedürfnis, ihre Nähe zu suchen. Sie ließ ihn gewähren, beobachtete ihn aber seit Wochen voller Sorge. Oft schalt sie sich selbst dafür und sagte sich, dass sie aufhören musste, ihn durch die Brille eines Profis zu betrachten.

Dabei machte sie sich einfach nur Sorgen. Auch jetzt wieder, weil er nicht mehr im Bett war. Das hatte meistens Gründe.

Sadie strich Figaro über den Kopf, warf die Bettdecke zurück und stand auf. Sie betrat das Bad in dem Moment, als Matt aus der Dusche stieg. Er hatte sich das Handtuch schon umgebunden, aus seinen Haaren tropfte Wasser.

„Hey“, sagte er und lächelte ihr zu. „Auch schon wach.“

„Ja, es ist Zeit. Bist du schon lang wach?“

„Eine Stunde vielleicht“, sagte er. Sadie atmete tief durch, sie hatte es befürchtet. Als Matt vor ihr stand, umarmte sie ihn ungeachtet der Tatsache, dass er am Rücken immer noch nass war.

„Alles okay?“

„Alles gut“, erwiderte er knapp.

„Keine Alpträume?“

„Und wenn schon“, sagte er wortkarg und löste sich aus ihrer Umarmung. Sadie reagierte nicht weiter, sondern begann ebenfalls, sich für den Tag fertig zu machen. Das kannte sie schon, sie würde jetzt nichts aus ihm herausbekommen, also versuchte sie es gar nicht erst.

Sie bereitete das Frühstück vor und fütterte die Katzen. Mittens war sofort da und fraß ihren Napf leer. Sadie stellte Figaros Napf beiseite, damit Mittens seine Portion nicht auch noch fraß, und schnappte sich die Katze dann. Mittens wehrte sich nicht dagegen, als Sadie sie an sich drückte und liebevoll kraulte.

„Na, meine Hübsche“, sagte sie und vergrub ihr Gesicht im Fell der Katze. Da war sie wieder, die Sorge. Sie wurde sie einfach nicht los.

Matt kam in die Küche gehinkt, setzte sich an den Tisch und fiel hungrig über seinen Toast her. Sadie setzte sich zu ihm und musterte ihn sorgenvoll, aber das merkte er überhaupt nicht. Auch während der Fahrt zur Arbeit sagte sie nicht besonders viel. Er war ebenfalls schweigsam, deshalb war es bis auf die Musik aus dem Radio wieder still im Auto.

Nach ihrer Ankunft beim FBI verabschiedeten sie sich im Aufzug voneinander. Sadie setzte den Weg in ihr Büro fort, wo sie bereits Cassandra an ihrem Schreibtisch vorfand. Ihre Kollegin war gerade dabei, ihren Rechner hochzufahren.

„Hey“, sagte sie freudig zu Sadie und hielt dann inne. „Was machst du denn für ein Gesicht?“

„Mache ich ein Gesicht?“, fragte Sadie. Das war ihr bis gerade überhaupt nicht bewusst gewesen.

„Allerdings. Was ist los?“

Es war noch nicht viel Betrieb im Büro, deshalb setzte Sadie sich neben Cassandra, startete ebenfalls ihren Rechner und sagte dann: „Matt scheint immer noch Alpträume zu haben.“

„Na überleg mal, was er erlebt hat. Das kennen wir doch von uns selbst, so etwas ist hartnäckig.“

„Ich weiß ... aber es macht mich rasend, mir das anzusehen. Irgendwie war es leichter, selbst betroffen zu sein.“

Cassandra lachte. „Das glaube ich. Jason hat so etwas auch schon gesagt.“

„Aber du hast doch keine Alpträume mehr, oder?“, fragte Sadie erstaunt.

„Nein, das nicht. Inzwischen nicht mehr. Aber es ist immer schwer, sich Sorgen um einen geliebten Menschen zu machen.“

„Allerdings“, sagte Sadie und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Hey, es sind erst fünf Wochen. Sie hat ihn fast umgebracht.“

„Er sagte, er träumt viel öfter davon, dass sie mich fast umgebracht hat.“

Cassandra seufzte verträumt. „Er betet dich einfach an.“

Doch die Schwärmerei prallte an Sadie ab. „Wahrscheinlich bin ich nur paranoid.“

„Ja, bist du. Ist denn ... nein, vergiss das“, unterbrach Cassandra sich kopfschüttelnd selbst.

„Was denn?“, fragte Sadie arglos.

„Ist denn sonst alles in Ordnung zwischen euch?“

Diese Frage erstaunte Sadie sehr, denn Cassandra wusste gar nicht, was Stacy mit Matt gemacht hatte. Für einen Augenblick suchte sie nach Worten.

„Ja, schon. Warum fragst du?“

„Ich könnte mir vorstellen, dass Stacy ziemlich aufdringlich war – nach allem, was du erzählt hast.“

„Ja, das stimmt auch. Aber seit es Matt besser geht ...“ Sadie errötete. „Nein, es ist alles gut.“

„Siehst du. Klar träumt er übles Zeug, aber das hört auf. Mach dir keine Sorgen, dein Mann ist robust.“

Sadie nickte und hoffte, dass Cassandra da recht hatte. Wahrscheinlich sponn sie sich nur etwas zusammen.

Sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern widmete sich wieder dem Gutachten, an dem sie gerade arbeitete. Die viele Schreibtischarbeit nervte sie an ihrem Job, sie war lieber unterwegs und suchte Verbrecher draußen auf der Straße. Aber das gehörte dazu und es machte ihren Job immerhin abwechslungsreich. Andererseits war sie auch nicht traurig, dass sie gerade mal nicht nach irgendwelchen Verrückten oder Serienmördern suchen musste. Das würde früh genug wieder passieren.

Schließlich war es an der Zeit für die Mittagspause. Cassandra und Sadie machten sich gemeinsam auf den Weg in die Kantine.

„Gestern war es irgendwie einsam ohne dich“, sagte Cassandra, während sie mit dem Aufzug nach unten fuhren.

„Es hätte sich ja nicht gelohnt, mittags in die Kantine zu gehen, wenn abends noch ein Restaurantbesuch auf dem Plan steht.“

„Das stimmt. Wie geht es dem Detective?“

„Ganz gut. Er sagte, er betrachtet uns als Freunde, wie findest du das?“

„Ist doch super“, sagte Cassandra.

„Ich bin gespannt, ob er bald wieder meine Hilfe braucht. Er hat da etwas angedeutet.“

Cassandra grinste. „Wäre doch toll. Darauf freust du dich doch schon.“

„Bin ich so leicht zu durchschauen?“, fragte Sadie amüsiert.

„Ich kenne dich nur einfach sehr gut“, erwiderte Cassandra ausweichend.

Als sie die Kantine betraten, fanden sie Jason, Matt und Phil bereits an einem Tisch vor. Sie gesellten sich schnell dazu und begrüßten einander erfreut.

„Wir sind etwas früher gekommen, weil wir gleich pünktlich ins Meeting müssen“, erklärte Jason zwischen zwei Bissen. Cassandra nickte verstehend.

„Wie geht es Nathan?“, fragte auch Phil nun an Sadie gewandt.

„Gut“, erwiderte Sadie und erzählte ein wenig von ihrem Abendessen. Matt beteiligte sich nicht an dem Bericht, er widmete seine Aufmerksamkeit dem Essen. Sadie maß dem keine Bedeutung bei. Sie erkundigte sich bei Phil nach Amelia, bevor das Gespräch sich der Arbeit zuwandte. Tatsächlich verschwanden Matt und Jason sehr pünktlich wieder ins Büro, während Sadie noch an ihrem Obstsalat saß.

„Hast du gleich noch kurz Zeit?“, fragte Phil sie, als Matt und Jason gerade gegangen waren.

„Klar, was ist denn?“

„Ich habe nur eine Frage“, sagte Phil uneindeutig. Cassandra verstand, dass er das nicht in ihrer Gegenwart erörtern wollte und kehrte allein ins Büro zurück.

„Worum geht es?“, fragte Sadie, als sie allein waren.

„Um deinen Mann“, sagte Phil.

„Jetzt fang du auch noch an“, erwiderte Sadie.

„Wieso auch noch?“

„Matt saß gestern beim Abendessen schon stumm wie ein Fisch da, bis er und Nathan sich später Bier bestellt haben. Da ging es dann einigermaßen. Aber Nathan ist das auch aufgefallen.“

„Das fällt ja auch auf“, sagte Phil. „Ich mache mir doch nur Sorgen, und du bist die Expertin.“

„So komme ich mir auch vor. Ich beobachte das doch selbst die ganze Zeit.“

„Und was hältst du davon?“ Phil lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich habe seinerzeit länger gebraucht.“

„Was auch irgendwie kein Wunder ist.“

„Findest du?“, fragte Sadie.

„Würde ich schon sagen. Es ist nur ...“ Phil zuckte unschlüssig mit den Schultern.

„Was denn?“

„Du hast vielleicht länger gebraucht, aber du hast immer mit uns gesprochen. Ich weiß noch, als ich bei euch zum Essen war und du mir sagtest, dass du fast etwas Dummes getan hast.“ Phil drückte es diplomatisch aus. „Ich konnte mich mit dir unterhalten. Das konnten wir sogar schon damals im Krankenhaus.“

„Ja, aber ich bin eine Frau.“

„Na und? Reagieren wir Männer wirklich so anders?“

„Das musst du doch wissen“, sagte Sadie augenzwinkernd.

Phil blickte sich sorgsam um, bevor er sich über den Tisch beugte und sagte: „Bei der Sache kann ich aber nicht mitreden. Ich wollte dich nur mal fragen, denn eigentlich ist mir das schon längst aufgefallen, aber ich dachte, das wird schon alles irgendwie stimmen ... nur langsam mache ich mir doch meine Gedanken.“

Sadie wunderte sich nicht darüber, welches Gespräch sie da gerade mit Phil führte. Sie waren so vertraut und so eng befreundet, dass er ihr solche Fragen stellen konnte. Bei Männern erlebte sie das selten, aber mit Phil war das etwas anderes – und er kannte ja die ganze hässliche Wahrheit um Stacy.

„Er ist schweigsam, ja“, stimmte Sadie zu. „Das ist auch bei mir nicht anders. Glaub mir, ich habe ein Auge darauf ... aber sie hat ihn fast umgebracht und den Rest weißt du ja auch. Er spricht naturgemäß auch nicht gern darüber.“

„Ja, schon klar. Aber ihr kommt zurecht?“

Sadie lächelte. „Ja, es ist alles in Ordnung, Phil.“

„Okay. Wenn etwas ist, kannst du es mir sagen. Du weißt, ich rede auch immer gern mit Matt, falls das hilft.“

„Danke ... aber das ist es ja gerade. Er redet überhaupt nicht. Er ist lieb und er bemüht sich richtig, aber das braucht Zeit.“

„Ja, wahrscheinlich hast du recht. Bei dir habe ich davon weniger gesehen, aber Matt sehe ich gerade jeden Tag und ich wundere mich. Ich dachte, bei der Arbeit ist er anders.“

Das hatte Sadie auch erwartet, aber sie sagte es nicht. Schließlich standen die beiden auf und verabschiedeten sich vor der Tür voneinander. Gedankenversunken wartete Sadie auf den Aufzug.

Die Bemerkungen der anderen gaben ihr schon zu denken, weil sie so geballt kamen. Bis jetzt hatte eigentlich niemand etwas gesagt, doch jetzt plötzlich kamen alle auf einmal. Vielleicht auch, weil sie inzwischen ein anderes Verhalten bei Matt erwarteten.

Sadie wusste nicht, was sie tun oder dazu sagen sollte. Mit traumatischen Erfahrungen kannte sie sich aus, sowohl in fachlicher als auch in persönlicher Hinsicht. Aus ihrer Fortbildung wusste sie, dass Männer nicht unbedingt anders auf solche Erfahrungen reagierten als Frauen. Sie kannte die Unterschiede und bislang stellte sie nichts Besorgniserregendes fest. Matt hatte ja das große Los gezogen mit einer Frau, die ihm gegenüber zudringlich wurde; ein Problem, das selbst in ihrer Fortbildung nur am Rande gestreift worden war.

Allerdings wollte sie ihn nicht bedrängen. Sie hatte ihre Entführung durch Sean und ihren Selbstmordversuch ganz ohne fremde Hilfe und doch recht erfolgreich verarbeitet, wie sie fand und sie sah Matt beim besten Willen nicht bei einem Therapeuten sitzen und davon erzählen, was Stacy getan hatte. In ihrer Fortbildung hatte sie gelernt, was auch Andrea ihr später bestätigt hatte: Manchmal bewirkte eine Aufarbeitung auch nur eine Retraumatisierung. Und es war ja überhaupt nicht, dass Matt sie auf Distanz hielt. Ganz im Gegenteil, er bemühte sich wirklich um sie.

Trotzdem fragte sie sich, ob ihr nicht schlicht und ergreifend die Objektivität fehlte, um die Situation wirklich abschließend zu beurteilen. Sie tendierte dazu, Matt in Ruhe zu lassen, weil er auch genau das getan hatte, als sie es gebraucht hatte. Er wäre auch nie auf die Idee gekommen, sie zu einem Therapeuten zu schicken.

Sie beschloss, ihm einfach noch mehr Zeit zu geben. Fünf Wochen waren nichts bei einer solchen Erfahrung – und sie wusste, wenn man Verletzungen davongetragen hatte, erinnerten die einen noch viel mehr an alles, was geschehen war. Das war nie gut.

Sie schob den Gedanken beiseite, als sie das Büro betrat und sich wieder an die Arbeit machte. Zwar warf Cassandra ihr einen Blick zu, der irgendwas zwischen neugierig und fragend war, aber Sadie hatte nicht vor, ihr zu erzählen, worüber sie mit Phil gesprochen hatte. Sie wollte das Thema nicht ständig vertiefen.

An diesem Tag sehnte sie den Feierabend entgegen, genaugenommen sogar das Wochenende. Nur noch einen Tag. Irgendwie war ihr nach Urlaub zumute, aber sie hatte erst an Thanksgiving wieder frei.

Wie jeden Tag holte sie Matt im Büro ab. Das tat sie von sich aus, denn wenn er auf Krücken unterwegs war, war es leichter für ihn, wenn ihm jemand die Türen aufhielt. Sadie fand es gut, dass er wieder arbeiten ging, denn so hatte er eine Aufgabe, Ablenkung und war etwas ausgeglichener. Das hatte sie damals nach ihrer Entführung etwas vermisst.

Auf dem Heimweg konzentrierte sie sich auf den Verkehr. Der Freeway war verstopft, aber die Parallelstraßen waren nicht viel besser.

„Du bist so still“, sagte Matt plötzlich ins Schweigen hinein. Überrascht sah Sadie ihn an.

„Du sagst auch nichts.“

„Nein, aber bei dir ist das ungewöhnlich. Bei mir ...“

„Ich mache mir eben Sorgen.“

„Hat Nathan etwas gesagt?“

Ertappt sah Sadie ihn an. „Warum fragst du?“

„Weil er eine gute Beobachtungsgabe hat.“

„Um ehrlich zu sein, hat Nathan gefragt und Cassandra und Phil ist es auch schon aufgefallen“, sagte Sadie unverblümt.

„Oh“, machte Matt. „Und du?“

„Was soll ich dazu sagen? Jeder verarbeitet solche Erfahrungen individuell. Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst.“

Matt nickte. „Weiß ich. Ich habe nur keine besondere Lust, das mit dir zu erörtern. Mit dir nicht und auch mit sonst niemandem.“

„Kann ich verstehen.“

„Ich muss nur an sie denken und schon platzt mir die Hutschnur.“

Sadie wusste das und deshalb vermied sie es auch tunlichst. Matt war immer gleich auf hundertachtzig, wenn man Stacys Namen nur erwähnte.

„Für mich ist das alles in Ordnung“, sagte sie schnell.

„Ja, weil es auch vorbei ist. Manchmal träume ich nachts davon, wie sie mir aus dem Gefängnis schreibt und behauptet, sie sei schwanger.“

Im Augenwinkel sah Sadie, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Er starrte stur geradeaus, hatte sich an den Autositz gedrückt.

„Ich bin so froh, dass sie tot ist“, sagte er dann. Es klang seltsam tonlos.

Sadie griff nach einer seiner Hände und lächelte ihn kurz an. „Es ist alles gut. Solltest du reden wollen, bin ich da.“

„Ich weiß. Danke.“ Er erwiderte ihr Lächeln und es wirkte echt. Darüber war sie sehr froh.

„Ich liebe dich, Sadie“, schob er hinterher und drückte ihre Hand ganz fest.

„Ich weiß. Ich liebe dich auch.“

Allmählich entspannte er sich wieder etwas, worüber sie froh war. Sie machte sich ja doch Sorgen. Das alles fiel ihr schwer, aber nichts, was sie hätte tun können, hätte es besser gemacht. Sie wollte ihn nicht unter Druck setzen; das hatte er auch nicht getan und das brauchte er jetzt auch nicht.

Nach ihrer Ankunft zu Hause kochten sie gemeinsam, widmeten sich dem Essen und Sadie kümmerte sich ein wenig um die Hausarbeit, während Matt sich an den Computer verzog. Er half ihr nach Kräften, aber stehen konnte er kaum und herumlaufen auch nur sehr schlecht. Es störte sie nicht, seinerseits hatte er das Meiste übernommen, als sie damals den Armbruch gehabt hatte.

Sie surfte ein wenig im Internet, bis sie beschlossen, sich gemeinsam vor den Fernseher zu setzen und eine Serie anzusehen.

„Ich vermisse mein Training“, sagte Matt missmutig, während er den Fernseher einschaltete.

„Das glaube ich dir.“

„Dein Armbruch war zwar auch lästig, aber du warst wenigstens mobiler.“

Sie lächelte. „Jetzt warte bis Montag, vielleicht bist du den Gips dann los.“

„Ich hoffe.“

Matt startete die Serie und Sadie schmiegte sich an ihn. Draußen war es inzwischen schon dunkel. Figaro stromerte in der Küche herum und verspeiste ein paar Cracker, bevor er mit einem Satz aufs Sofa sprang und sich in der Nische zwischen Sadies angewinkelten Beinen zusammenrollte. Sadie kraulte ihn mit einem Arm, während sie an Matt lehnte und die Serie verfolgte.

„Ich hätte jeden Grund, eifersüchtig auf diesen anderen Mann in deinem Leben zu sein“, sagte Matt augenzwinkernd, während er die nächste Episode startete.

„Du meinst Figaro?“, fragte Sadie, während sie Figaro zwischen den Ohren streichelte.

Matt grinste. „Kastriert oder nicht, aber er ist ein Mann.“

„Jetzt komm schon.“

„Ich liebe dich eben“, sagte Matt. „Das will ich nicht teilen ...“

Er ließ seine Finger durch eine Strähne ihres langen roten Haares gleiten, legte einen Arm um sie und ließ seine Hand auf ihrer Brust ruhen. Sadie reagierte nicht darauf und Matt tat nichts weiter, aber als die zweite Folge sich dem Ende näherte, küsste er Sadie auf die Schläfe und strich mit den Fingerspitzen am Ausschnitt ihres T-Shirts entlang.

„Möchtest du mir etwas sagen?“, fragte Sadie leise.

„Mit Reden hat das, was ich vorhabe, nicht besonders viel zu tun“, erwiderte Matt mit einem unbeteiligten Gesichtsausdruck und einem gleichgültigen Tonfall, aber Sadie wusste, er spielte es nur.

„Ist das ein Angebot, Mr. Whitman?“, fragte Sadie belustigt.

„Du weißt, dass ich deine roten Haare wahnsinnig heiß finde ...“

„Du willst doch nicht mit meinen Haaren ins Bett.“

„Aber die sind dabei und das mag ich.“

Während der Abspann einsetzte, wandte Matt sich ihr vollständig zu, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie begierig. Sadie erwiderte seinen Kuss nur zu gern. Er legte einen Arm um sie, zog sie an sich heran und wisperte: „Kriege ich dich rum?“

Sadie lächelte. Er hatte sich nie abgewöhnt, so charmant zu fragen, und sie nickte. Matt packte sie und bevor sie wusste, wie ihr geschah, saß sie auf seinem Schoß und er vergrub das Gesicht zwischen ihren Brüsten. Seine Hände wanderten von ihren Schultern bis hinab auf ihren Po, dann verschwanden sie unter ihrem T-Shirt und glitten nach vorn. Sadie schloss die Augen und ließ ihn gewähren. Gerade war sie verdammt empfänglich für seine Zärtlichkeiten. Matt streichelte sie durch die Unterwäsche, zog schließlich ihr T-Shirt hoch und machte weiter. Als Sadie ihn berühren wollte, verschränkte er sanft seine Finger mit ihren und hielt ihre Hände fest, zog die Träger ihres BHs mit den Zähnen von ihren Schultern und übersäte ihre Haut mit Küssen. Sadie lachte leise. Zwischendurch blinzelte Matt argwöhnisch zu Figaro, der immer noch neben ihnen auf dem Sofa lag und schlief.

„Wehe, er sieht uns zu ...“

„Tut er nicht“, sagte Sadie mit geschlossenen Augen und lächelte. Sie trug noch immer ihr T-Shirt, als Matt ihr die Unterwäsche halb vom Leib riss und sie mit seinen Lippen liebkoste. Sadie legte den Kopf in den Nacken und hielt sich an seinen Händen fest. Er ließ sie nicht los, während er sich vergnügt daran machte, sie in den Wahnsinn zu treiben. Sie stöhnte leise und rutschte unruhig auf seinem Schoß herum.

„Was denn, soll ich aufhören?“

„Nein, bitte nicht ...“

Er grinste und machte weiter. Schließlich löste er seine Hände von ihren und legte mit Unschuldsmiene eine Hand zwischen ihre Beine. Ein Schauer überlief sie.

„Ich bin total verrückt nach dir“, raunte er. Sadie legte die Arme um ihn und drückte ihn ganz fest an sich, wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

„Ich will jetzt nicht erst ins Schlafzimmer gehen“, beklagte Matt sich.

„Dann bleiben wir eben hier.“

Er hielt kurz inne und überlegte. „Der verdammte Gips. Aber du könntest sitzenblieben wie jetzt, nur ohne Hose ...“

Sadie grinste und verstand. Augenblicke später saß sie so gut wie nackt auf ihm, hatte ihm die Hose nur so weit wie nötig heruntergezogen und hielt ihn immer noch an sich gedrückt. Mit einem lauten Aufprall sprang Figaro vom Sofa und verschwand.

„Gut, keine Zeugen“, sagte Matt atemlos.

Sadie hatte die Augen geschlossen und hielt die Luft an. Sie hatte eine Gänsehaut und bewegte sich keinen Millimeter. Damit wollte sie Matt ärgern und tatsächlich wurde er Sekunden später ungeduldig.

„Verdammt, du bist immer so gemein, wenn du am Zug bist“, beklagte er sich.

„Armer Matt“, sagte sie spöttisch und fuhr ihm durchs Haar, während sie doch allmählich begann, rhythmische Bewegungen zu machen.

„Ich bin verrückt nach dir“, sagte er atemlos, streichelte und liebkoste sie, bis sie im Handumdrehen ekstatisch wurde. Er wusste ganz genau, wie er das anstellen musste und sie genoss es jedes Mal. In diesen Momenten vergaß sie alle übrigen Sorgen, in diesen Momenten war Matt ganz er selbst und gehörte nur ihr. Sie wünschte, sie hätte sich seinerzeit so leicht damit getan, aber während sie sich auf die Lippen biss und versuchte, einen Schrei zu unterdrücken, machte sie sich wieder einmal bewusst, dass Matt es war, der ihr die Freude daran wiedergegeben hatte. Wahrscheinlich erging es ihm gerade ähnlich.

Sie klammerte sich an seinen Schultern fest, als sie zusammenzuckte und einen Schrei ausstieß. Mühelos riss sie ihn mit und sank zitternd gegen ihn. Matt hielt sie fest und strich ihr übers Haar.

„Meine liebe, süße Sadie“, sagte er keuchend und küsste sie auf die Stirn.

Sie lächelte. „Ich liebe dich, Matt.“

„Ich liebe dich auch.“

Sie löste sich nur widerwillig von ihm, suchte nach ihrem Höschen und zog sich ihr T-Shirt wieder an. Er tänzelte auf dem rechten Bein, während er ebenfalls versuchte, seine Hose wieder anzuziehen. Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick.

Sadie hatte gar nicht gemerkt, wie sehr sie das jetzt gebraucht hatte. In dieser Hinsicht hatten sie tatsächlich kein Problem, was ihr genug verriet. Sie gab Matt einen Kuss, stand auf und fütterte die Katzen noch einmal. Wenig später gingen sie beide nach oben, was bei Matt in den üblichen Kampf ausartete, aber er schlug sich wacker. Er tauchte hinter Sadie im Bad auf, während sie sich die Zähne putzte, und umarmte sie von hinten. Sie spürte, wie er auf einem Bein balancierte und sich an ihr festhielt, aber das störte sie nicht.

Sie ging voraus ins Bett und wartete, bis er ebenfalls auftauchte. Er legte die Krücke neben dem Bett ab, machte es sich neben Sadie bequem und schloss sie von hinten ganz fest in die Arme. Er küsste sie in den Nacken, was ihr erneut eine Gänsehaut bescherte, und löschte nur kurz das Licht, bevor er sich wieder von hinten an sie presste und sein Gesicht an ihrer Schulter verbarg. Sadie legte ihre Hand auf seine und schloss mit einem zufriedenen Lächeln die Augen. In diesem Moment war sie glücklich und sorglos. Es war alles in Ordnung und schon bald würde vergessen sein, was passiert war.

Sie schlief im Handumdrehen ein und merkte nicht mehr, wie Matt hinter ihr irgendwann blinzelte und in die Finsternis starrte. Er war hellwach. Zwar versuchte er, sich auf Sadies ruhige Atemzüge zu konzentrieren, aber es ging nicht. Er streichelte ihre Finger mit seinen, vergrub das Gesicht in ihrem Haar, sog den vertrauten Duft ihres Shampoos ein. Das Entsetzen hatte ihn trotzdem im Griff.

 

 

Sonntag

 

Sadie blinzelte unwirsch, als Mittens unten in der Küche ein Hungergeheul anstimmte. Der Blick auf die Uhr ergab, dass es bereits kurz nach acht war. Matt erweckte nicht den Anschein, die Katze gehört zu haben, aber das war nicht weiter relevant, weil er mit seinem Gipsfuß ohnehin ewig gebraucht hätte, um nach unten zu kommen.

Sadie war noch nicht ganz aufgestanden, als sie einen krampfartigen Schmerz im Unterleib spürte. Sie verdrehte die Augen und machte, bevor sie nach unten ging, noch einen Umweg übers Bad. Es war also wieder soweit. Nach Bauchweh stand ihr zwar gerade überhaupt nicht der Sinn, aber da musste sie jetzt durch.

Als sie unten in der Küche eintraf, saß Mittens mit anklagendem Blick vor dem leeren Napf. Sadie ging an ihr vorbei, holte eine Dose Katzenfutter aus dem Schrank und teilte sie auf die beiden Näpfe auf. Mittens hatte gerade begonnen, geräuschvoll zu schmatzen, als Figaro erschien und sich zu ihr gesellte. Sadie kniete sich hinter die beiden und kraulte sie. Ein Leben ohne die beiden Katzen konnte sie sich kaum vorstellen.

Der Schmerz trieb sie schließlich zurück ins Bett. Sie wusste, sie würde bald frühstücken müssen, um eine Schmerztablette zu nehmen. Aber noch hatte sie dazu keine Lust.

Der Schmerz ließ nach, als sie erst einmal wieder im warmen Bett lag und sich entspannte. Sie hatte sich kaum hingelegt, als Matt nach ihr tastete und einen Arm um sie legte.

„Du bist kalt“, stellte er fest.

„Ich habe die Katzen gefüttert.“

„Oh, fütterst du mich auch?“

Sadie lachte leise. „Frühstück ans Bett oder was?“

„Oh, das wäre doch toll ... Erst ein leckeres Frühstück und zum Nachtisch würde ich dich verspeisen ...“ Mit diesen Worten ließ Matt seine Hand unter der Decke verschwinden und wanderte mit ihr über Sadies Bauch abwärts. Gleichzeitig begann er, sie in den Nacken zu küssen, doch sie hielt seine Hand fest und seufzte.

„Heute leider nicht. Ich habe Bauchschmerzen.“

Matt seufzte leidend. „Nicht schon wieder ... wie hält man das als Frau alle vier Wochen aus?“

„Muss man ja“, erwiderte Sadie trocken.

„Meine arme Sadie.“ Matt rutschte etwas näher an sie heran und ließ seine Hand auf ihrem Bauch ruhen. Sadie lächelte mit geschlossenen Augen. Sie fand die Wärme seiner Hand angenehm und er wusste das.

„Du hast es wirklich ernst gemeint, dass du es mit dem Kinderkriegen noch mal versuchen willst?“, fragte Matt unvermittelt.

Sadie wandte ihm den Kopf zu. „Ja. Wieso?“

„Ich weiß nicht, du musst das nicht meinetwegen tun. Nur, wenn du unbedingt willst.“

„Willst du nicht mehr?“, fragte sie verdutzt.

„Ach was, nein ... vergiss es. Ich musste nur eben daran denken, wie froh ich bin, dass es diesbezüglich mit Stacy naturgemäß kein Problem mehr gibt.“

Sadies Irritiation wuchs. Es kam selten genug vor, dass Matt überhaupt von Stacy sprach – und dann in dieser Situation ...

„Was?“, fragte Matt, den ihr Schweigen überraschte.

„Ich habe mich nur gewundert, dass du von ihr sprichst.“

„Soll vorkommen“, sagte er und vertiefte das Thema nicht weiter. Sadie fand es trotzdem eigenartig. Irgendwie war das alles immer noch beunruhigend. Sie hatte nicht vergessen, wie die anderen sie in der letzten Woche angesprochen hatten. Aber es war so eigenartig – manchmal gab Matt sich stumm wie ein Fisch und in anderen Momenten war er wie immer. Sadie war nicht sicher, was sie davon halten sollte und es ärgerte sie, weil sie es hätte wissen müssen.

Schließlich standen sie auf, gingen duschen und frühstückten gemeinsam. Dabei nahm sie eine Schmerztablette und wartete darauf, dass die Wirkung einsetzte. Wie so oft in letzter Zeit verschwand Matt danach am Computer, was Sadie weder kommentierte noch besonders beachtete. Sie beschloss, etwas zu tun, das sie viel zu lang nicht mehr gemacht hatte und setzte sich mit ihrem Zeichenblock und einem Stift draußen auf die Terrasse. Sie zeichnete die Rosenranke, die in der Nähe des Hauses wuchs, und es gelang ihr, darüber vollkommen abzuschalten. Inzwischen hatte sie auch keine Bauchschmerzen mehr. Ihr Bild war fast fertig, als das Telefon klingelte. Erst hatte sie keine Lust, aufzustehen, aber als es weiter klingelte, tat sie es doch. Vielleicht hörte Matt es durch seine Kopfhörer nicht, denn eigentlich saß er gleich neben einem Telefon.

Sie erkannte die Nummer nicht auf Anhieb, aber die Vorwahl war aus der Stadt. „Sadie Whitman.“

„Sadie, ich bin es, Nathan“, meldete der Polizist sich. „Hast du kurz Zeit?“

„Natürlich, was ist los?“

Sie hörte ihn atmen, er schien nach Worten zu suchen. „Gilt dein Angebot noch?“

Sadie lächelte. „Natürlich gilt das.“

„Kannst du morgen ins Department in Downtown kommen?“

„Kann ich. Der Fall mit der Prostituierten?“

„Genau der. Wir sind noch damit beschäftigt, die Videoüberwachung des Hotels auszuwerten, um einen Verdächtigen auszumachen, aber ich glaube, irgendwas ist anders an dem Fall.“

„Jetzt bin ich gespannt“, sagte Sadie.

„Also, da du jetzt an Bord bist: Sie ist wirklich brutal umgebracht worden, aber sie lag aufgebahrt in dem Bett. Es gibt so viele widersprüchliche Hinweise ... ich musste unwillkürlich an Manning denken.“

„Okay, ich bin gespannt. Wann soll ich morgen da sein?“

„Wir haben um halb zehn Lagebesprechung. Wenn du es bis dahin schaffst, wäre das super. Dann kann ich dich gleich vorstellen.“

„In Ordnung. Ich freue mich schon, wieder mit dir zusammenzuarbeiten.“

Er lachte kurz. „Sag das nicht ... ich hasse den Fall jetzt schon.“

„Ach, das wird. Ganz bestimmt. Wir haben auch Manning zusammen geknackt.“

„Nein, du hast ihn geknackt. Deshalb setze ich alle Hoffnung in dich. Wenn wir das hinkriegen, lade ich euch zum Grillen ein!“

„Bau nur Druck auf“, sagte sie belustigt.

„Hey, hast du nicht bislang jeden deiner Fälle aufgeklärt? Na also. Als ob sich das jetzt ändern würde.“

Sadie grinste. Dadurch wurde der Druck nicht eben geringer, aber sie wusste, Nathan wollte sie motivieren.

„Ich bin gespannt und ich freue mich auf morgen“, sagte sie. „Danke für dein Vertrauen, Nathan.“

„Na hör mal, das hast du auch verdient. Was machst du heute noch Schönes?“

„Im Moment sitze ich draußen im Garten. Wir haben heute nichts Spezielles vor, und du?“

„Ich komme gerade aus dem Büro. Alle sind ausgeflogen und auf dem Sportplatz. Ich denke, ich werde hier jetzt noch ein wenig arbeiten.“

„Nicht übertreiben“, mahnte Sadie.

„Ich doch nicht. Also dann, bis morgen.“

Sadie verabschiedete sich und legte auf. Es freute sie, dass Nathan ihre Hilfe wieder angefordert hatte. Es war sehr angenehm, mit ihm zu arbeiten. Jetzt war sie guter Dinge, denn im Büro hatte sie ohnehin Leerlauf.

Ihr fiel auf, dass einige Blumen im Garten die Köpfe hängen ließen, deshalb bewaffnete sie sich mit der großen Gießkanne und versuchte, Abhilfe zu schaffen. Das hatte sie schon in Waterford gemocht und setzte es hier jetzt fort.

Trotzdem freute auch sie sich darauf, dass Matt seinen Gips bald los wurde. Dann konnte sie am Wochenende wieder etwas mit ihm unternehmen.

Sie war noch gar nicht ganz fertig, als das Telefon erneut klingelte. Sadie stellte die Gießkanne ab und ging zurück auf die Terrasse. Sie erkannte die Nummer auf dem Display und lächelte. „Hey, Nick.“

„Schön, dass ich dich erreiche, Sadie. Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Nein, überhaupt nicht“, erwiderte sie und ging mit dem Telefon wieder nach draußen.

„Ich wollte dich schon Ende der Woche anrufen, aber du weißt ja, wie das ist. Wir waren noch unterwegs in einem Fall, als ich eine Nachricht der American Society of Criminology bekommen habe. Ich hatte ja dein Essay dort eingereicht.“

„Und?“, fragte Sadie gespannt.

„Sie wollen ihn nehmen. Allerdings nehmen sie ihn schon für die nächste Ausgabe, wenn niemand Einwände hat. Sie schrieben mir, dass wohl jemand einen Artikel zurückgezogen hat und wenn wir einverstanden sind, dann erscheint er in zwei Wochen.“

„Oh. Okay“, sagte Sadie überrascht.

„Hast du etwas dagegen?“

„Nein, überhaupt nicht. Ich bin schon gespannt.“

„Toll. Dann gebe ich grünes Licht. Dazu habe ich aber auch noch eine Frage. Ich fände es toll, wenn du bei Gelegenheit zu uns an die Academy kommen könntest, um den Rekruten etwas dazu zu erzählen. Was hältst du davon?“

Sadie lächelte. „Dachte ich mir, dass du danach fragen würdest.“

„Du musst nicht.“

„Doch, das gehört in dem Fall dazu. Ich spreche mal mit meinem Chef und dann komme ich rüber zu euch.“

„Das wäre famos, Sadie. Meld dich einfach und ich sehe, dass ich alles in die Wege leite. Das übernehmen selbstverständlich wir.“

„Kein Problem“, sagte sie.

„Und wie geht es dir sonst?“

„Alles in Ordnung. Ich kann nicht klagen“, behauptete sie.

„Und Matt?“

„Er bekommt vielleicht in den nächsten Tagen den Gips ab.“

„Gut zu hören“, sagte Nick. „Das war aber nicht meine Frage.“

„Er geht jetzt schon seit zwei Wochen wieder arbeiten, das tut ihm gut.“

„Das glaube ich sofort. So kenne ich ihn. Aber zum Glück hat er ja in dir eine Expertin für solche Situationen.“

Sadie schluckte schwer. „Das hoffe ich ...“

„Ich bitte dich, du kennst dich auf jeder denkbaren Ebene mit dem Problem aus.“

„Ja, aber er ist mein Mann, verstehst du? Bei ihm gehe ich nicht hin wie bei Zeugen und Verbrechensopfern, mit denen ich bei der Arbeit konfrontiert werde, und versuche es auf die zaghaft-konfrontative Art. Letzte Woche wurde ich von mehreren Leuten darauf angesprochen, wie schweigsam er immer noch ist.“

„Du glaubst, du bist nicht objektiv genug?“

„Genau ... Die anderen machen sich alle Sorgen.“

„Wer?“

„Phil und der Polizist, Detective Morris ... und mit Cassandra habe ich auch gesprochen.“

Nick seufzte tief. „Wie siehst du das?“

„Ich weiß es nicht.“ Sadie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Er schläft immer noch schlecht.“

„Du liebe Güte, es ist fünf Wochen her. Er ist doch kein Superheld.“

„Aber Phil sagte auch, er ist anders als ich damals.“

„Was auch kein Wunder ist, denn es ist etwas anderes passiert und außerdem ist er ein Mann. Du weißt, wir Männer reagieren in solchen Situationen anders.“

„Ja, ganz offensichtlich. Ich versuche, es zu handhaben, wie er es damals getan hat: Ich bin für ihn da, aber ich bedränge ihn nicht.“

„Ganz ehrlich? Das klingt in meinen Ohren goldrichtig.“

Ein riesiger Stein fiel Sadie vom Herzen. „Danke, Nick. Das tut gut zu hören.“

„Was hat Cassandra gesagt?“

„Ihr ist sein Verhalten aufgefallen, aber sie meinte, ich soll mir keine Sorgen machen und abwarten.“

„Das denke ich auch, Sadie. Vertrau deinem Instinkt, denn der lag noch nie falsch.“

Sadie bedankte sich für seinen Zuspruch und verabschiedete sich schließlich von ihn. Ruhe ließ es ihr trotzdem keine. Ihr Instinkt lag nie falsch ... das mochte stimmen, aber das war gleichzeitig auch genau das Problem. Sadie hatte eben nicht das Gefühl, dass es mit Abwarten getan war.

Kurzerhand ging sie ins Wohnzimmer und holte eins der Bücher aus dem Regal, die sie seit ihrer traumapsychologischen Fortbildung besaß. Das Seminar hatte sie darin bestätigt, dass es manchmal ganz gut war, nach traumatischen Erfahrungen einfach Geduld zu haben. Die allermeisten Menschen verarbeiteten sie problemlos und ohne fremde Hilfe, viele wuchsen daran. Das hatte sie an sich selbst gesehen.

Die Gründe für ein Trauma lagen oft in der Hilflosigkeit, die man in einer Gefahrensituation erlebte. Das kannte Sadie von sich selbst. Danach litt man oft unter Alpträumen und es kam vor, dass bestimmte Situationen oder andere Reize die Erinnerung an die traumatisierende Situation zurückholten. Das war ihr selbst ja in ihrer eigenen Hochzeitsnacht passiert, als sie statt Matt plötzlich Sean in ihrem Kopf gehört hatte.

Sie wusste, sie hatte es damals geschafft, die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung zu verhindern. Jedenfalls, was Sean betraf. Sie wusste auch, dass sie als Kind unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung gelitten hatte, denn der tödliche Ausraster ihres Vaters hatte sie nachhaltig beeinflusst. Das war auch alles kein Wunder.

Aber egal, wo sie nachlas: Matt zeigte die typischen Anpassungsstörungen nach einer Gewalterfahrung. Die Alpträume waren nicht ungewöhnlich, seine Schweigsamkeit war es auch nicht. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Männer ihre Erfahrungen öfter nach außen trugen. Hatte sie versucht, ihre Verzweiflung mit sich selbst auszumachen und schließlich ein Messer gegen sich selbst gerichtet, setzte Matt sich an den Computer und spielte Ballerspiele. Er ging arbeiten, er schwieg Stacy tot und manchmal, wenn es doch aus ihm herausbrach, äußerte er sich aggressiv. Das alles war normal.

Ihre Fachliteratur erinnerte sie daran, dass Matt nach seinen Erfahrungen genauso unter Selbstzweifeln und Gefühlen von Einsamkeit litt, wie sie es seinerzeit getan hatte. Männer gingen nur anders damit um. Die Opferrolle war etwas, das Männer nur schwerlich annehmen konnten – manche profitierten davon und versuchten aktiv, diese Rolle zu überwinden.

In der Folge fand Sadie bestätigt, dass sie tatsächlich alles richtig machte. Es war gut, einfach für ihn da zu sein und ihm klar zu machen, dass er ihr nichts vorspielen musste. Es empfahl sich auch nicht, mit ihm über Stacy zu sprechen, wenn er das nicht wollte.

Sie wusste das alles und sie handelte entsprechend. Es hatte keinen Sinn, sich ihm aufzudrängen. Trotzdem verwirrte es sie, dass Matt sehr wohl an Zärtlichkeiten interessiert und generell sehr aufmerksam ihr gegenüber war, sich aber in vielen anderen Bereichen noch so schwer tat. Inzwischen erzählte er ihr auch nicht mehr von seinen Alpträumen. So sehr Sadie sich auch davon zu überzeugen versuchte, dass alles normal war und sie alles richtig machte – ihr Instinkt protestierte. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, denn ihr fehlte jeder Anhaltspunkt. Vielleicht wurde es wirklich besser, wenn er erst den Gips los war.

Zumindest hoffte sie das.

Sie schlug das Buch zu, stellte es wieder ins Regal und ging nach oben, wo Matt immer noch vor dem Computer saß. Allerdings spielte er nicht mehr und er trug auch seine Kopfhörer nicht. Als Sadie hinter ihn trat, war er gerade damit beschäftigt, Sonderangebote bei Filmen durchzusehen. Er wandte den Kopf zu ihr und lächelte.

„Mit wem hast du telefoniert?“

„Mit Nathan“, sagte Sadie. „Er hat mich nun doch gebeten, mit ihm gemeinsam zu ermitteln.“

„Das ist ja keine Überraschung“, sagte Matt und grinste.

---ENDE DER LESEPROBE---