Die Seele des Bösen - Vermisst - Dania Dicken - E-Book

Die Seele des Bösen - Vermisst E-Book

Dania Dicken

0,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gemeinsam mit ihrem Kollegen Nick Dormer aus Quantico und ihrer Familie reist Profilerin Sadie zu einer Fachtagung ins ferne London. Ihre Freundin und Kollegin Andrea Thornton hat die beiden FBI-Experten als prominente Sprecher eingeladen. Sadie genießt den fachlichen Austausch, während ihre Pflegetochter Libby in Andreas gleichaltriger Tochter Julie eine Freundin findet. Doch während Matt mit Julie und Libby auf Sightseeing-Tour in London geht, verschwinden beide Mädchen plötzlich quasi vor seinen Augen. Die einzige Spur, die von ihnen bleibt, sind ihre Taschen in einem Müllcontainer. Jetzt sind Andrea und Sadie gleichermaßen gefordert …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2018

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Die Seele des Bösen

Vermisst

 

Sadie Scott 14

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe,

die wir hinterlassen, wenn wir weggehen.

 

Albert Schweitzer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 17. November

 

„Grüß Nick bitte lieb von mir“, sagte Cassandra, bevor sie nach ihrer Tasse griff und aufstand.

„Ist doch klar“, erwiderte Sadie und lächelte. Sie gab ihrem Computer den Befehl, herunterzufahren und stand dann ebenfalls auf. Nachdem sie ihre Jacke übergezogen hatte, prüfte sie mit einem Blick, ob sie alles eingepackt hatte. Sie hatte einen Laptop dabei und eine Mappe mit allen Unterlagen, die sie in London brauchen würde.

Das würde klasse werden, so viel stand fest. Sie freute sich schon seit Wochen auf ihren Besuch in Europa. Die Profilerin Andrea Thornton hatte sie und BAU-Teamchef Nick Dormer zu einer Profiling-Tagung ans Birkbeck College in London geladen, an dem sie lehrte. Und da der Termin praktischerweise in die Thanksgiving-Woche fiel, hatte Sadie die Chance, für ein paar Tage mit ihrer ganzen Familie nach Europa zu reisen, denn Libby hatte Schulferien.

Als Cassandra aus der Küche zurückkehrte, umarmte Sadie sie zum Abschied und wünschte ihr schon einmal ein frohes Thanksgiving, dann ging sie zum Aufzug und fuhr nach unten in die Eingangshalle. Beim Verlassen des Gebäudes suchte sie in ihrer Schultertasche nach dem Autoschlüssel und ging schnurstracks zum Challenger. Inzwischen hatte sie eine gewisse Routine darin, mit Matts Auto zu fahren. Er hatte es ihr angeboten, da er im Augenblick fast nie ein Auto brauchte und Sadies Wagen schon deutlich bessere Tage gesehen hatte.

Gut gelaunt drehte sie das Radio lauter und fuhr parallel zum Freeway nach Hause. Die Interstate musste sie im Moment nicht versuchen, zum Feierabendverkehr gesellte sich nun auch schon der erste Urlaubsstau.

So sehr sie sich daran gewöhnt hatte, mit dem Challenger zur Arbeit zu fahren, so seltsam war es für sie, es allein zu tun. Seit sie in Los Angeles lebten, hatte sie das nicht allzu oft getan. Sie vermisste Matt, wenn sie allein unterwegs war.

Und nicht nur ihn.

Je näher sie Culver City kam, desto ungeduldiger wurde sie. Als sie die Keystone Avenue erreicht hatte, war sie erleichtert, wenig später vor der Garage parken zu können und beeilte sich, ins Haus zu kommen. Von oben aus Libbys Zimmer hörte sie leise Musik und aus dem Wohnzimmer fröhliche Laute und ein Rasseln. Sadie stellte ihre Tasche ab, zog ihre Schuhe aus und beeilte sich, zu Matt und Hayley zu kommen.

Sie fand die beiden mitten auf dem Wohnzimmerteppich. Matt hatte es sich seitlich neben dem Spielbogen bequem gemacht, unter dem Hayley lag und konzentriert nach einem herunterhängenden Spielzeug tastete. Fröhlich strampelnd streckte sie ihre Beinchen in die Luft und strahlte, als sie das Spielzeug zu fassen bekam. Den niedlichen Strampler mit Disneyfiguren hatte Tessa ihr geschenkt. Sadie mochte ihn sehr.

„Hey“, sagte sie und kniete sich neben die beiden auf den Teppich.

„Hey“, erwiderte Matt und richtete sich auf, um sie zu küssen. Sadie erwiderte seinen Kuss nur zu gern, dann hockte sie sich neben den Spielbogen und streichelte Hayley. Als ihre Tochter sie ansah, strahlte sie übers ganze Gesicht und gluckste.

„Hallo, meine Kleine“, sagte Sadie, während ihr warm ums Herz wurde. „Hattet ihr einen schönen Tag?“

Matt nickte. „Heute ist sie ziemlich gut drauf. Aber sie hat Hunger für zwei.“

„Ein Wachstumsschub?“, mutmaßte Sadie.

„Und wehe, ich habe das Fläschchen nicht fertig, wenn sie Hunger kriegt.“

Sadie grinste. „Da weiß jemand, was er will.“

„Unbedingt“, stimmte Matt zu.

Er war ganz bei sich, wirkte entspannt. In der Vaterrolle ging er voll auf. Von Anfang an hatte er sich eingebracht, Windeln gewechselt und Sadie in jeder nur denkbaren Hinsicht unterstützt. Er hatte sie ermutigt, Hayley zu stillen und gab nun selbst das Fläschchen wie selbstverständlich. Er liebte seine Tochter und es freute Sadie, das zu sehen, denn sie wusste Hayley in den besten Händen. So konnte sie jeden Morgen beruhigt und guten Gewissens zur Arbeit gehen. Doch es wäre gelogen gewesen, hätte sie behauptet, dass Hayley ihr nicht fehlte. Das hatte sie unterschätzt. Sie hatte nicht damit gerechnet, wie sehr sie diesen neuen, kleinen Menschen lieben würde, der ihr gleichzeitig so fremd und doch so vertraut war.

Hayley war nun dreieinhalb Monate alt, Sadie ging seit einigen Wochen wieder arbeiten. Anfangs war ihr das unfassbar schwer gefallen, auch wenn sie Hayley bei Matt sicher wusste. Aber die Liebe zu ihrer Tochter hatte sie nicht nur überrascht, sondern schier überwältigt. Nicht auf Anhieb, tatsächlich hatten sie sich erst aneinander gewöhnen müssen und die Liebe war langsam gewachsen. Nun fiel es Sadie schwerer als erwartet, morgens ihre Tochter zu stillen und dann das Haus zu verlassen.

Aber so hatten sie es abgesprochen und so machten sie es jetzt auch. Es störte Matt überhaupt nicht, den Tag mit der Kleinen zu verbringen und sie liebevoll zu hüten. Sadie glaubte eher, dass das Gegenteil der Fall war. Die Auszeit tat ihm gut.

Ungeachtet der Tatsache, dass sie immer noch ihre Bürokleidung trug, lag Sadie neben ihrer Tochter unter dem Spielbogen auf dem Teppich und machte Faxen. Hayley liebte es, wenn man sanft mit ihr sprach und Grimassen schnitt. Schließlich schnappte Sadie sie sich, setzte sie auf ihren Arm und ging mit ihr nach oben, um sich dort umzuziehen und Libby zu begrüßen. Wie meist um diese Zeit saß das Mädchen über ihren Hausaufgaben und blickte erfreut auf, als sie Sadie und Hayley kommen sah.

„Sadie.“ Lächelnd stand sie auf und grinste Hayley breit an, die gleich zurück grinste.

„Guten Tag gehabt?“, fragte Sadie.

„Klar, jetzt sind ja Ferien. Und du?“

„Mein Tag war auch gut. Ich habe die letzten Vorbereitungen für die Tagung getroffen.“

„Ich muss auch bald packen ... ich bin schon so aufgeregt!“, sagte Libby mit einem Lächeln.

„Das glaube ich dir. Es ist ja auch mein erstes Mal in Europa.“

„Wahnsinn. Und dann nehmt ihr mich einfach mit.“

„Ist doch klar!“, sagte Sadie beinahe empört. „Das könnte ja auch sehr aufschlussreich für dich werden.“

„Ich bin gespannt“, sagte Libby.

Sadie bat sie, ihr kurz Hayley abzunehmen, damit sie sich umziehen konnte. Libby tat ihr zu gern den Gefallen und setzte sich das Baby auf den Schoß. Hayley hatte gerade entdeckt, dass die Welt anders aussah, wenn man sie sitzend betrachtete und wollte nun ganz viel sitzen. Sie war ein aufgewecktes, liebes und fröhliches Baby, wofür Sadie sehr dankbar war.

Als sie fertig war, gingen sie zu dritt nach unten und gesellten sich zu Matt. Er hatte bereits damit begonnen, Vorkehrungen für den abendlichen Besuch zu treffen. Phil und Amelia hatten sich angekündigt, bevor Sadie, Matt, Libby und Hayley am nächsten Abend ihren Flug nach London antraten. Sadie war gespannt, wie die Kleine den langen Flug meistern würde. Als sie die Anfrage aus London bekommen hatte, war sie erst nicht sicher gewesen, ob sie die Einladung annehmen sollte. Sie hatte mit Matt beratschlagt, was zu tun war, und schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, dass Sadie nicht allein fliegen, sondern die ganze Familie sie begleiten würde. Bis dahin hatten sie gewusst, dass Hayley ein liebes Kind war, mit dem man eine solche Reise riskieren konnte.

Libby ging Matt in der Küche zur Hand, während Sadie sich ganz auf Hayley konzentrierte. Mit ihrer Tochter auf dem Arm ging sie durchs Wohnzimmer und zeigte der Kleinen alles in ihrem Zuhause. Sie genoss diese Momente immer in vollen Zügen. Matt nahm ihr die lästige Hausarbeit kommentarlos ab und ließ ihr die Zeit mit ihrer Tochter. Sie wusste, dass er es tat, weil er glaubte, es ihr schuldig zu sein. Das sah sie zwar anders, aber weil sie ihn davon sowieso nicht abbringen würde, ließ sie ihn machen.

Matt und Libby kochten gemeinsam mexikanisch für sie alle. Die Enchiladas waren gerade im Ofen, als es klingelte. Mit Hayley an der Schulter ging Sadie zur Tür und hieß Phil und Amelia willkommen.

„Kommt doch rein“, bat Sadie ihre Gäste und umarmte sie nacheinander mit einem Arm. Phil grinste Hayley an, die ihn sprachlos anstaunte, und Amelia geriet beim Anblick der Kleinen sofort in Verzückung.

„Sadie, deine Tochter ist wunderhübsch. Du bist zu beneiden!“

Irritiert blickte Sadie auf Amelias Bauch. „Als ob du nicht selbst auch bald eine Tochter hättest.“

„Wenn es denn wirklich eine wird.“

„Der Arzt war sich doch sicher.“

„Ja ... ach, hoffen wir es einfach.“

Sadie sagte nichts. Sie wusste, dass Amelia sich auch eine Tochter wünschte – eine kleine Prinzessin, das hatte sie gesagt. Phil schien es auch ganz recht zu sein.

Nachdem Phil und Amelia auch die anderen begrüßt hatten, ließ Amelia sich langsam auf das Sofa sinken. Mit einem geradezu strafenden Blick sah sie zu Sadie.

„Hast du es gut, dass du nicht so lang schwanger warst“, sagte sie.

Sadie verstand Amelia nicht gleich. „Hayley war fast noch eine Frühgeburt.“

„Ich hoffe, die Kleine kommt in den nächsten Tagen. Es sind ja auch nur noch neun Tage bis zum Termin!“

„Das wird schon“, sagte Sadie. „Ganz bestimmt. Nett übrigens, dass ihr vor diesem Hintergrund hergekommen seid.“

„Ach was, ich war ja bis vor kurzem auch noch arbeiten. Und wegen Hayley ist das doch mit Sicherheit besser für euch.“

„Es ist unkomplizierter“, sagte Matt aus der Küche.

„Demnächst kommen wir dann einfach zu euch“, sagte Sadie.

„Ihr reist doch ausgerechnet jetzt erst mal ins ferne Europa“, neckte Phil sie augenzwinkernd.

„Ich arbeite da. Die ganze Woche ist Arbeitszeit für mich“, erinnerte Sadie ihn.

„Hast du es gut! Und Matt hütet den Nachwuchs?“

„Wie immer“, rief Matt, der auch das gehört hatte.

„Wir verpassen schon nichts“, sagte Sadie. „Sollte es nächste Woche losgehen, seid ihr doch kaum zu Hause, wenn wir wieder zurück sind.“

„Das wird schon“, sagte Amelia und streichelte ihren großen Bauch. Nur Minuten später stellte Matt das Essen auf den Tisch. Amelia bat sich eine kleinere Portion aus, wofür Sadie vollstes Verständnis hatte. Trotzdem lobte sie die Köche ausdrücklich.

Während des Essens beobachtete Sadie, wie zufrieden Phil und Amelia wirkten. Sie freuten sich auf ihr Baby, was Sadie verstehen konnte. Matt erkundigte sich bei Phil, wie lang er sich frei nehmen würde, und Phil verkündete stolz, dass er sich an Matt ein Vorbild genommen und auch Pflegezeit für die Familie beantragt hatte.

„Das ist es mir wert“, fügte er schließlich noch hinzu.

„Du wirst es nicht bereuen“, versprach Matt.

Als sie mit dem Essen fertig waren, holte Libby noch den Nachtisch. Davon aß Amelia eine beträchtliche Menge, was sie mit überbordenden Schwangerschaftsgelüsten begründete. Sadie konnte sie verstehen.

Schließlich machten sie es sich auf dem Sofa bequem. Libby stahl sich wieder in ihr Zimmer davon und Hayley war auf Matts Arm eingeschlafen. Damit schien er ganz zufrieden zu sein.

„Ich traue mich ja nicht das, was du gemacht hast“, sprach Amelia Sadie an.

„Was meinst du?“

„Das Kind außerhalb eines Krankenhauses zu bekommen. Ganz ohne Schmerzmittel ...“

„Wenn man dich machen lässt, brauchst du keine“, sagte Sadie.

„Ich finde deine Entscheidung mutig.“

„Ich deine auch.“

Amelia überlegte kurz. „Die meisten Frauen gehen doch ins Krankenhaus.“

„Ja, aber nötig ist das nicht. Wirklich nicht. Und du musst keine Angst haben, Amelia.“

„Wenn du das sagst ...“ Sie klang nicht überzeugt. Sadie versuchte, ihr zu erklären, was ihre Hebamme ihr seinerzeit gesagt hatte. Besonders in der westlichen Welt betrachtete man Geburten als riskant, schmerzhaft und etwas, das in die Hände von Medizinern gehörte. Aber Sadie hatte selbst erlebt, dass das nicht stimmte. Unter den Wehen hatte sie bloß ihre Hebamme gebraucht, die sie leitete und ihr sagte, dass sie es richtig machte.

Aber Amelia war unsicher und Sadie versuchte nicht, sie in ihrer Entscheidung zu beeinflussen. Parallel hörte sie, wie Phil hoffnungsvoll versuchte, bei Matt irgendwelche Tipps zu ergattern, was die erste Zeit mit Baby anging. Hayley schlief inzwischen nachts sehr gut, zwischen sechs und acht Stunden hielt sie ohne Nahrung durch. Aber Sadie hätte nicht sagen können, dass sie dafür irgendwelche Tricks bemühten. Sie hörten einfach auf ihren Instinkt und beobachteten Hayley.

Sie bekam später noch ein Fläschchen und Sadie brachte sie schließlich ins Bett. Libby erklärte sich wieder einmal bereit, sich mit ihrem E-Reader neben Hayleys Bettchen zu setzen und auf sie aufzupassen, bis sie eingeschlafen war.

„Das ist lieb von dir“, sagte Sadie.

„Ist doch klar. Ihr habt Besuch von euren Freunden und ich kann mich nützlich machen. Das tue ich gern.“

„Vermutlich wird sie ohnehin schlafen.“ Jedenfalls wirkte es auf Sadie so, denn Hayleys kleine Augen fielen immer wieder zu.

„Ich bin so gespannt auf Katie.“

„Das glaube ich dir“, sagte Sadie. „Andrea hat mir von ihr auch nur erzählt.“

„Man kann eigentlich gar nicht vergleichen, was wir erlebt haben. Nicht direkt jedenfalls.“

„Das stimmt, aber es geht ja darum, dass euch beiden die normale Welt ziemlich fremd war. Sie kann dir bestimmt einiges erzählen.“

Libby nickte nur. Andrea hatte vorgeschlagen, dass Libby Katie Archer kennenlernte, die als Kind mit ihrer Schwester entführt, acht Jahre lang gefangen gehalten und unzählige Male missbraucht worden war. Mit siebzehn war ihr die Flucht gelungen, doch die Rückkehr in die Außenwelt war ein Schock für Katie gewesen. Inzwischen war sie neunundzwanzig und hatte  sogar einen Freund. Sadie begrüßte Andreas Idee, Libby und Katie miteinander bekannt zu machen. Vielleicht konnte so Libby, die vor einem knappen Jahr aus der Sekte geflohen war, in die sie geboren wurde, von Katie etwas lernen.

Nicht zuletzt freute Sadie sich auch darauf, Andreas Familie kennenzulernen. Sie kannte Andreas Mann Gregory und ihre sechzehnjährige Tochter Julie immerhin schon vom Telefon. Vielleicht freundeten Julie und Libby sich auch miteinander an, das hätte ihr gefallen.

Sie war wirklich aufgeregt vor dieser Reise. Bislang hatte sie die USA noch nie verlassen und nun würde sie auf der zweitägigen Konferenz mehrere Vorträge halten, einen zusammen mit Nick Dormer. Sie würde vor Profilern aus ganz Europa sprechen und hoffte, niemanden zu enttäuschen. Auf die Experten aus den USA waren bestimmt alle besonders gespannt. Sie würde dabei auch über ihren Vater sprechen, immerhin hatte sie auch schon ein Essay über ihn verfasst.

In solchen Momenten war sie froh, dass sie weiter als Profilerin arbeitete. Zwar fehlte Hayley ihr schrecklich, wenn sie tagsüber im Büro war, aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit Matt zu tauschen. Oft genug war ihr Job hart, aber er war unendlich sinnvoll und sie liebte es, ihn zu machen.

 

 

Sonntag, 19. November

 

Sadie war schon oft innerhalb der USA geflogen, was von Küste zu Küste auch gut fünf Stunden dauern konnte. Doch dieser Flug war etwas anderes. Auf ihrem Schoß und an sie gekuschelt lag Hayley und schlief. Gleiches galt für Libby, die neben ihr am Fenster saß. Matt saß auf der anderen Seite am Gang und war fast damit fertig, sich einen Film anzuschauen. Ihrem eigenen Bildschirm entnahm Sadie, dass sie mitten über dem Atlantik waren. Grönland lag gerade hinter ihnen und draußen war es hell, aber alle Fenster waren verdunkelt und viele Passagiere schliefen.

Für Sadie war kein Denken daran. Sie war zwar einmal kurz eingenickt, aber sie hatten morgens ausgiebig ausgeschlafen, sofern man mit einem Baby davon sprechen konnte. Und jetzt war sie viel zu aufgeregt, um Schlaf auch nur in Erwägung zu ziehen.

Hayley atmete und schlief ganz friedlich. Sie hatte dichten blonden Flaum auf dem Kopf und war angenehm warm auf Sadie. Plötzlich legte Matt seine Hand auf Hayleys Kopf und streichelte ihn. Sadie warf ihm ein Lächeln zu.

„Bin froh, dass sie das mitmacht“, sagte er.

„Und ich bin froh, dass der Flug über Nacht geht. Ich bin gespannt, wie sie den Jetlag verkraftet.“

„Wahrscheinlich besser als wir.“ Matt grinste.

Sie waren um kurz vor zehn abends Richtung London gestartet und gegen die Dämmerung geflogen, so dass es nur kurz dunkel draußen gewesen war. Landen würden sie nachmittags in England, was nicht die schlechteste Lösung war. Bei der Flugbuchung hatte Sadie darauf geachtet, einigermaßen erträgliche Zeiten zu ergattern. Und so war es Hayley tatsächlich egal, dass sie in einem Flugzeug saß, denn für sie war es Nacht und sie schlief einfach. So hatten sie keine Schwierigkeiten damit, sie füttern oder eine Windel wechseln zu müssen.

Das kündigte sich erst an, als sie auf halbem Weg zwischen Island und Irland waren. Hayley bekam Hunger und Matt bat eine Stewardess um Hilfe, um ein Fläschchen für die Kleine zuzubereiten. Schließlich fütterte er sie auch.

Inzwischen war auch Libby aufgewacht und spielte mit ihrem Bildschirm herum. Aus dem Fenster zu schauen, lohnte sich kaum über dem Atlantik. Dennoch entging Sadie nicht, wie faszinierend Libby das alles fand. Gleich ihr allererster Flug war ein Langstreckenflug auf einen anderen Kontinent.

Wenig später bekamen sie noch etwas zu essen – Frühstück. Sadie fand es befremdlich, um vierzehn Uhr Ortszeit ein Croissant mit Marmelade zu bestreichen, aber man richtete sich anscheinend noch nach amerikanischer Zeit.

Als sie einen strengen Geruch bemerkte, war Matt schon fast unterwegs mit Hayley zur Toilette, um sie zu wickeln. Sadie bot ihm an, es zu übernehmen, aber er winkte ab. Dafür erschien er wenig später fluchend wieder bei ihr und regte sich darüber auf, dass er sich in der engen Flugzeugtoilette den Kopf gestoßen hatte.

Hayley verlor allmählich die Geduld mit dem Flug, aber sie landeten auch keine Stunde später auf dem Londoner Flughafen Heathrow. Sadie war unendlich erleichtert, endlich das Flugzeug verlassen zu dürfen. Zuvor hatte sie mit Matts Hilfe die Kleine in ihre Tragehilfe vor dem Bauch gesetzt, so dass sie jetzt frei hantieren konnte. Während sie am Gepäckband auf ihre Koffer warteten, wiegte Sadie Hayley in den Schlaf.

Sie waren angekommen. Sehr anders fühlte es sich noch gar nicht für sie an, in England waren alle Schilder so englisch wie in den USA auch. Erst, als sie den Sicherheitsbereich verließen und sich dem Ausgang des Flughafens näherten, bekam sie ein Gefühl dafür, in Europa zu sein.

Sadie entdeckte Andrea zuerst. Sie wartete am Ausgang auf ihre Gäste und begann übers ganze Gesicht zu strahlen, als Sadie und ihre Familie auf sie zu kamen.

„Willkommen!“, sagte sie und umarmte Sadie, so gut sie konnte. „Willkommen in England. Lass doch mal sehen!“

Damit meinte sie Hayley und betrachtete das schlafende Baby in der Trage entzückt.

„Liebe Güte, ist das lang her bei mir. Du bist zu beneiden!“ Dann wandte sie sich zu Matt. „Schön, dich wiederzusehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits“, sagte er und schüttelte ihre Hand.

„Du musst Libby sein. Ich bin Andrea Thornton“, stellte Andrea sich Libby vor und blickte schließlich in die Runde. „Hattet ihr einen guten Flug?“

„Ja, war in Ordnung“, sagte Sadie.

„Mit einem so kleinen Kind zu fliegen stelle ich mir spannend vor. Die Ehre hatte ich nie.“

„Wickeln auf Flugzeugtoiletten ist kein Spaß“, grummelte Matt.

„Oh, das kann ich mir denken. Kommt mit, wir gehen zum Auto. Greg und Julie wären zu gern mitgekommen, aber so viel Platz ist ja nicht im Auto.“

„Das macht nichts“, sagte Sadie.

„Ist das schön, dass ihr hier seid! Ich habe mich wirklich darauf gefreut.“

„Ich mich auch. Wir alle, glaube ich.“

„War das dein erster Flug?“, erkundigte Andrea sich bei Libby auf dem Weg zum Parkhaus. Sie folgten Andrea zu einem unauffälligen Kombi. Sadie schlug vor, dass Matt vorn sitzen konnte und es brach allgemeines Gelächter aus, als Matt unversehens die Tür zur Fahrerseite öffnete.

„Verdammt“, brummte er und grinste, dann ging er um die Motorhaube herum und stieg auf der linken Seite ein.

Während Andrea ebenfalls noch grinste, sagte sie: „Was meinst du, wie oft mir das am Anfang passiert ist.“

„Wie kann man bloß auf der linken Straßenseite fahren?“, sagte Matt mit einem nicht ganz ernst gemeinten Kopfschütteln.

„Man gewöhnt sich dran“, sagte Andrea trocken und stieg auf der rechten Seite ein.

„Großartig, dass du wirklich einen Babyschale hast“, sagte Sadie, während sie Hayley dort hineinlegte.

„Die habe ich extra von meinem Schwager aus Norwich geholt“, sagte Andrea. „Frag mich jetzt nicht, warum er sie noch hatte, denn eigentlich sind seine Kids da längst rausgewachsen. Aber für diese Gelegenheit habe ich sie gern genommen!“

„Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil du dir solche Umstände gemacht hast.“

„Musst du nicht, wir sind doch sowieso regelmäßig in Norwich.“ Andrea drehte sich zu ihnen um. „Ich finde es großartig, dass ihr alle hier seid.“

„Wir auch“, sagte Sadie und quetschte sich auf der Rückbank in die Mitte. Hayley gähnte und hielt den Finger ihrer Mutter fest.

„Hatte ich dir eigentlich gesagt, dass Katie Archer auch an der Tagung teilnimmt?“, fragte Andrea.

Sadie stutzte. „Nein, hattest du nicht.“

„Das hatte sie selbst angeboten. Sie sagte, es könnte für Profiler interessant sein, auch die Sichtweise eines traumatisierten Gewaltopfers zu hören.“

„Natürlich. Ich habe mich ja auch traumapsychologisch fortbilden lassen.“

„Stimmt“, sagte Andrea, die sich offensichtlich erinnerte. „Katie kommt morgen. Darauf freue ich mich sehr, ich habe sie lange nicht gesehen.“

„Schön, dass sie sich so engagiert.“

„Ja, da ist sie anders als ihre Schwester. Tracy hat das zwar auch weggesteckt, möchte sich aber nicht mehr damit auseinandersetzen.“

„Was auch verständlich ist“, sagte Sadie. Andrea verließ das Parkhaus und fädelte sich in den Verkehr um Heathrow ein. Der Weg führte sie auf die M4 Richtung London. Selbst von hinten sah Sadie, wie angespannt Matt neben Andrea auf dem Beifahrersitz saß.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie überrascht.

„Dieser Verkehr ... wir fahren auf der falschen Seite!“, sagte er unerfreut.

Andrea amüsierte sich prächtig. „Das ist genau wie Rechtsverkehr, nur anders herum.“

„Das ist überhaupt nicht genau so! Du liebe Güte, bin ich froh, dass du fährst.“

Darüber lachte Andrea lauthals. „Matt, du bist herrlich. So habe selbst ich mich wegen des Linksverkehrs nicht angestellt.“

„Ganz davon zu schweigen, dass ihr andere Verkehrsregeln habt. Gott, wo bin ich hier gelandet?“

„Ich finde es spannend“, sagte Libby, die geradezu am Fenster klebte.

„Ich auch“, stimmte Sadie zu. In der Tat fand sie es aufregend, sich das Treiben auf dem Motorway anzuschauen. Das kam ihr seltsam vertraut vor, in Los Angeles waren die Autobahnen ja auch nicht kleiner – im Gegenteil.

Je näher sie London kamen, desto besser konnten sie die Skyline der Stadt sehen. Hochhäuser, der Big Ben, das Riesenrad des London Eye. Andrea sprach von einer halben Stunde Fahrt bis zu ihrem Haus in Fulham. Sadie bestaunte durchs Fenster die charakteristischen englischen Häuser mit ihren Kaminen. Sie wusste, dass der Vergleich mit Los Angeles sich hinsichtlich der schieren Größe der Stadt aufdrängte. Es war faszinierend.

Als Andrea schließlich die Autobahn verließ und sich über Stadtstraßen vorarbeitete, machte es allmählich auch Sadie nervös, sich das anzusehen. Europäer fuhren anders als Amerikaner – und die Straßen waren viel schmaler. Nun war auch Sadie froh, dass Andrea fuhr und sie mit dem hektischen Gewusel der Londoner nichts am Hut hatte. Die Straße war gesäumt von dicht stehenden Häusern mit zahllosen kleinen Shops. Es hatte den Charme eines Krämerviertels, was Sadie sehr gefiel.

Schließlich verließ Andrea die Hauptstraße und fuhr an einem Park entlang in ein Wohngebiet mit dichtstehenden Häusern. Die ganze Straße war zugeparkt. Wenig später hielt sie in der Einfahrt eines kleinen Häuschens mit schmuckem Erker und winzigem Vorgarten.

„Da wären wir“, sagte sie und stieg aus. Matt tat es ihr gleich und streckte sich. Sadie kletterte aus dem Wagen, sobald Libby ausgestiegen war, und hatte die Babyschale noch gar nicht herausgeholt, als sie in der Tür des Hauses ein junges Mädchen bemerkte. Sie hatte eine lange braune Lockenmähne, ihr hübsches Gesicht verriet eine gewisse Ähnlichkeit mit Andrea. Für ihr Alter typisch hatte sie einige kleine Pickel, trug Jeans und ein knallbuntes T-Shirt.

„Julie“, sagte Sadie und hob eine Hand zum Gruß.

„Willkommen in London“, sagte Julie freundlich und kam näher. „Jetzt lerne ich Sie auch mal kennen!“

„Nicht so förmlich, bitte. Ich bin Sadie. Die Amerikanerin.“

Julie errötete. Sie erinnerte sich, Sadie einmal am Telefon so bezeichnet zu haben. Dann warf sie einen Blick auf Hayley und grinste. Andrea stellte sie auch Matt und Libby vor.

„Schön, dich kennenzulernen“, sagte Julie zu Libby. „Mum sagte, du bist fünfzehn. Das ist cool, ich bin nur ein Jahr älter.“

„Das hat Sadie mir erzählt“, erwiderte Libby.

Sadie bekam nicht mit, was die beiden weiter besprachen, denn in der Tür erschien ein Mann. Sie erkannte Gregory sofort. Er hatte dieselben dunklen Locken wie seine Tochter, wenn auch deutlich kürzer und bereits von Grau durchsetzt. Er war charismatisch und durchaus gutaussehend. Plötzlich schoss ein weißes kläffendes Etwas an ihm vorbei, das er vergeblich zu bändigen versuchte.

„Lizzie!“, rief er, aber er hatte keine Chance. Der West Highland Terrier raste von einem Paar Beine zum nächsten, beschnupperte alle und sprang an ihnen zur Begrüßung hoch. Schließlich schnappte Julie sich ihren Hund und nahm ihn auf den Arm.

„Du sollst doch nicht immer alle überfallen“, sagte sie.

„Lass sie doch“, sagte Matt lächelnd.

„Willkommen in London“, sagte nun auch Greg und begrüßte die Gäste nacheinander. Bei Sadie angekommen, blieb er ebenfalls kurz stehen und blickte auf die noch schlafende Hayley.

„So ein hübsches Kind. Meinen Glückwunsch!“

„Danke“, sagte Sadie und fühlte sich geschmeichelt.

„Wir haben oben ins Gästezimmer ein Bettchen für sie gestellt. Libby kann sich aussuchen, ob sie ebenfalls im Gästezimmer schlafen will oder lieber bei Julie.“

„Ich beiße auch nicht“, sagte Julie zu Libby, die noch etwas schüchtern dastand und alles auf sich wirken ließ.

Gregory und Andrea halfen Matt dabei, das Gepäck ins Haus zu bringen. Julie und Libby folgten mit dem Hund, zuletzt kam Sadie. Sie betrat ein wunderbar verwinkeltes und gemütliches Haus, das durchaus geschmackvoll und durchdacht eingerichtet war. Das überraschte sie nicht, wusste sie doch, dass Greg als Innenarchitekt arbeitete. Es war ganz anders, als sie es von zu Hause gewöhnt war, aber sie fühlte sich auf Anhieb wohl.

„Danke, dass ihr so gastfreundlich seid“, sagte sie zu Andrea.

„Das ist doch klar. Ich freue mich so, dass ihr hier seid und mit der Kleinen ist es doch hier viel einfacher als im Hotel. Es ist vielleicht etwas eng, aber ich denke, es wird schon gehen.“

„Und selbst dieses Häuschen hat hier ein halbes Vermögen gekostet“, sagte Greg auf halbem Weg nach oben. Er hatte einen Koffer in der Hand und trug ihn die Treppe hinauf. Andrea begann eine kleine Führung für Sadie und Libby und zeigte ihnen alles. Schließlich waren sie oben im Gästezimmer angekommen, das Andrea liebevoll hergerichtet hatte. Am Fußende des Gästebettes stand ein Reisebett für Kinder, auch einen Wickelplatz hatte sie vorbereitet.

„Ich bleibe bei Julie“, verkündete Libby. „Dann habt ihr mehr Platz.“

„Au ja“, freute Julie sich. „Ich hole das Gästebett.“

„Sagt Bescheid, wenn ihr Hunger habt“, wandte Andrea sich wieder an Sadie. „Greg kocht dann etwas für euch.“

„Wir wollen keine Umstände machen“, sagte Matt schnell.

Andrea schüttelte den Kopf. „Greg liebt es, zu kochen. Also, ich lasse euch dann einen Moment allein und ihr gebt Bescheid.“

„Danke“, sagte Sadie ehrlich erfreut und atmete tief durch. Das würde eine tolle Woche werden.

 

„Macht dir der Job deiner Frau etwas aus?“, erkundigte Gregory sich interessiert bei Matt.

Der zuckte nur mit den Schultern. „Das kann ich so überhaupt nicht sagen. Ja, er ist nicht ohne, aber sie ist gut darin. Welches Urteil könnte ich mir da erlauben?“

Der Tisch war inzwischen abgeräumt, nur die Dessertschalen standen noch dort. Libby und Julie hatten sich nach oben in Julies Zimmer verzogen, Hayley schlief gemütlich in den Kissen auf dem Sofa.

„Ich gebe zu, ich habe es manchmal verflucht“, fuhr Greg fort. „Und ich habe mich schon gefragt, ob Profiler von Berufs wegen höheren Risiken ausgesetzt sind. Den Eindruck könnte man manchmal gewinnen.“

„Mag sein, aber da bin ich nicht besser. Ich habe auch schon verdeckt ermittelt und bin angeschossen worden“, sagte Matt.

„Wo hat es dich erwischt?“, fragte Andrea.

„In die Schulter und die Brust. Letzteres war durchaus ernst.“

Sie nickte verstehend. „Schulter tut auch weh, da kann ich mitreden.“

Gregory nahm noch einen Schluck Wasser. „Es ist schon speziell, wenn deine Frau dir blutend in einer kugelsicheren Weste entgegenkommt, nachdem sie mit einem Amokläufer verhandelt hat.“

„Und gescheitert ist“, sagte Andrea. „Das war damals in Glasgow.“

„Ich hasse es, zu verhandeln“, gab Sadie zu.

„Ja, es ist auch nicht gerade meine Lieblingsdisziplin“, erklärte Andrea solidarisch.

„Aber ich muss auch sagen, so schwer ich mich manchmal mit dem Job meiner Frau getan habe, so oft hat er uns auch schon gerettet“, erklärte Greg. „Er hat dafür gesorgt, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Manches hat schon seine Spuren hinterlassen … im wahrsten Sinne, Jonathan Harold und Amy Harrow haben mir buchstäblich Narben verpasst. Das war schon nicht einfach. Wobei es mir nie etwas ausgemacht hat, dass ich Jonathan Harold in Notwehr erschossen habe. Amy Harrow hat mich weitaus mehr beschäftigt.“

„Ist doch verständlich“, sagte Sadie.

„Es ist mir immer schwer gefallen, das alles zu begreifen.“

„Du hast auch selbst einen ganz anderen Hintergrund“, gab Sadie zu bedenken.

„Ja, das ist wahr. Ich habe lang gebraucht, um mit Andreas Arbeit ins Reine zu kommen, aber sie macht das gut und es ist auch wichtig, dass das jemand macht. Nichtsdestotrotz bin ich froh, dass es ruhiger geworden ist.“

„Bei uns auch“, sagte Sadie. „Allein im Hinblick auf unsere Tochter ist das wichtig.“

„Ich habe meine Familie immer als Rückzugsort gebraucht. Anders könnte ich den Job gar nicht machen“, sagte Andrea.

„Es ist bestimmt auch angenehm, dass Greg etwas ganz anderes macht“, mutmaßte Sadie.

„Schon“, sagte Andrea.

„Ihr habt euch bei der Polizei kennengelernt, oder?“, erkundigte Greg sich bei Sadie und Matt.

„Ja, damals in Waterford“, sagte sie. „Seitdem ist viel passiert.“

„Wir haben uns ja auch zuletzt vor fast drei Jahren gesehen“, sagte Andrea.

„Ja, leider. Wir hätten schon viel früher herkommen sollen!“, sagte Sadie. Ihre Blicke wanderten über die zahlreichen Fotos, die über dem Kamin hingen. Schließlich stand sie auf, um sie näher zu betrachten. Gregorys Bruder erkannte sie auf Anhieb, die beiden sahen einander durchaus ähnlich. Das Bild zeigte Jack Thornton mit Frau und beiden Kindern. Es gab auch ein Bild von ihrer Schwiegermutter mit Julie als Kind und ein Foto von Andreas Familie aus Deutschland. Viele Bilder von Greg, Andrea und Julie hingen dort. Nur eins konnte sie nicht auf Anhieb zuordnen, es zeigte einen Mann allein, der nirgends sonst auftauchte.

Andrea gesellte sich zu Sadie. „Betreibst du psychologische Studien?“

Sadie schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Wer ist das?“ Sie deutete auf das Foto des Mannes.

„Oh, das ist Joshua Carter, mein Vorgänger als Leiter des Profiler-Teams. Er hat als einer der wenigen Auslandsstudenten die FBI Academy in Quantico durchlaufen, weil er dort unbedingt das Profiling erlernen wollte.“

„Tatsächlich?“

Andrea nickte. „Seit seinem Tod hängt hier ein Foto.“

„Er ist tot?“

„Er starb durch einen Anschlag. Das war unser letzter gemeinsamer Fall … die Terroristen hatten eine Bombe unter seinem Wagen platziert. Ich stand gar nicht weit entfernt, als sie hochging.“

Sadie schluckte. „Das tut mir leid.“

„Es war ein einziger Feuerball.“ Andrea schlang die Arme um den Leib und zog die Schultern hoch. „Das war schlimm.“

„Das glaube ich dir.“

„Ich wurde dann die Teamleiterin. Es ist seltsam, dass ich seinen Platz eingenommen habe. Wir waren gute Freunde.“

Sadie erwiderte nichts. Alles, was sie hätte sagen können, wäre unpassend gewesen.

Schließlich deutete sie auf das Foto von Jack und Rachel. „Du hast nicht übertrieben, deine Schwägerin ist wirklich bildhübsch.“

„Ja, das ist sie. Und sie hat Jack gezähmt. Der war mal ein ziemlicher Schürzenjäger.“

Sadie grinste. In diesem Moment erwachte Hayley wieder und begann wenig später zu weinen. Sadie nahm sie hoch und versuchte, dem Grund für das Weinen auf die Spur zu kommen, aber es gelang ihr nicht. Hayley schien ihr weder hungrig zu sein, noch eine frische Windel zu brauchen.

„Du hast bestimmt Jetlag“, murmelte sie, während sie versuchte, ihre Tochter zu beruhigen. Als das nicht gelingen wollte, beschloss sie, mit ihr ins Gästezimmer zu gehen. Andrea bot an, sie zu begleiten und ihr zu helfen, was Sadie gern annahm. Aus Julies Zimmer hörten sie Musik und leise Stimmen.

„Sie scheinen sich zu verstehen“, sagte Andrea.

„Das freut mich. Jede neue Freundschaft tut Libby sehr gut.“ Sadie wiegte Hayley weiter, deren Weinen allmählich leiser wurde.

„Wenn die beiden sich gut verstehen, kann Julie gern mal in den Ferien zu uns kommen“, bot Sadie dann an.

„Das würdet ihr tun?“ Andrea wusste gar nicht, wie sie reagieren sollte.

„Natürlich. Das wäre bestimmt toll für sie.“

„Oh, und wie! Libby ist natürlich auch immer herzlich eingeladen.“

Sadie lächelte. „Ihr seid wirklich sehr gastfreundlich.“

„Hey, das versteht sich doch von selbst. Auf diese Gelegenheit habe ich mich schon seit langem gefreut. Wir haben uns wirklich viel zu lang nicht gesehen.“

Sadie nickte zustimmend. Obwohl sie einander nur zweimal persönlich getroffen und ansonsten nur Kontakt per Telefon oder E-Mail gehalten hatten, verstanden sie einander auch ohne Worte.

„Wenn ich dich so mit deiner Tochter sehe, beneide ich dich ein wenig“, sagte Andrea. „Sie ist wirklich süß.“

„Ich bin auch froh, sie zu haben.“ Sadie lächelte.

„Das ist gut. Wenn ich mich daran erinnere, wie du vor drei Jahren gedacht hast, als ich wieder nach Hause geflogen bin ...“

„Damals war für mich auch kein Denken an Kinder. Sean hat da viel kaputtgemacht.“ Für einen Moment blickte Sadie ins Nichts. „Ich habe lange gebraucht, um das wegzustecken, und Hayley wurde auch in keinem Krankenhaus geboren. Ich habe mich rein auf die Hilfe meiner Hebamme verlassen, die meine Geschichte kannte.“

„Klug“, sagte Andrea und betrachtete Hayley lächelnd. „Rückblickend hätte ich gern ein zweites Kind gehabt. Anfangs war ich zu sehr mit meinem Job beschäftigt und dann gab es eine Zeit, in der hätte ich vor einer Geburt unfassbare Panik gehabt. Damals war ich nicht bereit für ein weiteres Kind. Und als ich es wieder war, erschien Julie uns schon zu alt für ein Geschwisterchen. Die Chance haben wir verpasst.“

„Ich verstehe das.“

Andrea zuckte mit den Schultern. „Nun ist es so. Glücklich sind wir trotzdem und du siehst auch sehr glücklich aus.“

„Das bin ich auch. Tatsächlich kann man aus einer Geburt auch gestärkt hervorgehen“, sagte Sadie.

„Das ist schön. Julies Geburt damals war ganz normal, aber das war auch, bevor es zur Konfrontation mit den Entführern der Archer-Schwestern kam.“

Sadie verstand Andreas vorsichtige Umschreibung ihrer Vergewaltigung. „Es tat gut damals, dass du mich verstanden hast.“

„Fiel mir nicht schwer“, erwiderte Andrea. Inzwischen war Hayley wieder eingeschlafen. Sadie bettete sie vorsichtig auf ein Kissen und setzte sich daneben. Nachdenklich streichelte sie das Köpfchen ihrer Tochter. „Dass ich das mal nicht wollte … und jetzt macht es mich so glücklich.“

„Es hat dich sehr verändert“, sagte Andrea. „Matt aber auch. Toll, dass er sich kümmert.“

„Das tut ihm gut“, sagte Sadie.

Die Blicke der beiden trafen sich. Sadie entging nicht, dass Andrea etwas sagen wollte, doch dann tat sie es nicht.

„Es ist schön, dass ihr hier seid. Ich freue mich auf unsere gemeinsame Woche. Das wird sicher toll für uns alle“, sagte sie dann.

„Ganz bestimmt“, stimmte Sadie zu.

 

„Britische Musik ist echt cool“, sagte Libby und wippte im Takt mit.

„Was hörst du denn so?“, erkundigte Julie sich bei ihr.

„Unterschiedlich … meine Freunde haben mir inzwischen einiges gezeigt und ansonsten höre ich viel von dem, was Matt und Sadie mir gezeigt haben. Matt mag Stoner Rock.“

„Was ist das?“, fragte Julie neugierig. Die beiden Mädchen saßen nebeneinander auf Julies Bett. An ihrem Smartphone ging Julie ihre Lieblingsbands durch und spielte die Musik über ihre Bluetooth-Lautsprecher ab.

„Such mal nach Monster Magnet oder Queens of the Stone Age“, sagte Libby.

„Ah“, machte Julie wissend. „Mein Onkel Jack mag Queens of the Stone Age. Dann weiß ich, welche Musikrichtung das ist. Nicht schlecht.“

„Gefällt mir auch.“

„Muss cool sein mit so jungen Eltern.“

„Sie sind ja nicht meine richtigen Eltern“, wandte Libby ein.

„Ja, schon klar, so meine ich das nicht.“

„Ich weiß. Was hat deine Mum von mir erzählt?“

Julie zuckte mit den Schultern. „Dass du letztes Jahr aus einer Sekte weggelaufen bist und seitdem bei deinen Pflegeeltern lebst.“

„Nicht mehr?“ Libby war überrascht.

„Nicht viel … Sie hat mir erklärt, dass du anfangs nicht viel darüber wusstest, wie es hier draußen so zugeht. Muss seltsam gewesen sein.“

„War es auch“, sagte Libby. „Ich weiß noch, wie ich die Wolkenkratzer in Los Angeles bestaunt habe. Du musst dir vorstellen, dass ich überhaupt nie rausgekommen bin … ich kannte gar nichts. Kein Handy, kein Fernsehen, kein Internet. Ich sollte bloß mit vierzehn meinen Onkel heiraten.“

„Deinen Onkel? Ist das erlaubt?“ Julie war irritiert.

Libby blickte zu Boden. „Da, wo ich herkomme, haben immer Verwandte untereinander geheiratet und die Männer haben mehrere Frauen.“

„Oh“, sagte Julie betroffen und verzog das Gesicht. „Klingt nicht schön.“

„War es auch nicht.“ Libby erzählte ein wenig von ihrem Leben in der Sekte und Julie hörte mit einer Mischung aus Spannung und Schrecken zu, dabei sparte Libby die gruseligsten Details noch aus.

„Puh“, machte Julie schließlich. „Das ist krass.“

„Deshalb musste ich da unbedingt weg.“

„Kann ich verstehen. Falls es dich beruhigt, du bist nicht großartig anders oder so.“

Libby lächelte gelöst. „Schön, dass du das sagst.“

„Nein, im Ernst. Nach dem, was meine Mum sagte, hatte ich mir das anders vorgestellt.“

„Na ja, ich bin ja jetzt auch schon ein ganzes Jahr weg. Fast.“

„Das ist gut. Übrigens finde ich deinen Akzent so cool. Ich mag Amerikanisch.“

„Ich mag deinen Akzent“, erwiderte Libby lachend. „Der klingt so … sauber.“

„Manches hier ist so spießig. Ich will auch mal nach Los Angeles. Ist bestimmt cool“, sagte Julie verträumt.

„Schon. Für mich war das ja auch neu.“

„Klar. Schon nett von den Whitmans, dass sie dich aufgenommen haben. Wo sind deine richtigen Eltern?“

Libby erzählte es ihr und Julie entschuldigte sich, so neugierig gewesen zu sein. Sie hatte nicht damit gerechnet, von Libby zu hören, dass ihr Vater im Gefängnis saß, weil er ihre Mutter umgebracht hatte.

„Konntest du ja nicht wissen“, sagte Libby achselzuckend.

„Tut mir trotzdem leid.“

„Muss es nicht.“

„Wie findest du es denn, dass deine Pflegemutter Profilerin ist?“

„Nur deshalb bin ich bei ihr“, sagte Libby. „Es ist ein krasser Job.“

„Ja, das ist er. Ich meine, ich kenne es gar nicht anders. Meine Mum war das schon, bevor ich geboren wurde. Ich weiß noch, wie sie mir das alles erklärt hat. Dass ein Serienkiller sie entführt hat und so … sie denkt, ich weiß nicht so viel darüber, aber ich habe recherchiert.“

„Echt?“ Libby machte große Augen.

„Ja. Ich weiß, wer der Typ war, der sie entführt hat. Was der so gemacht hat. Das ist ganz schön widerlich. Und auch später … Morgen kommt ja Katie. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sie damals bei uns war und an manches, was da passiert ist. Mich hat Mums Job schon ganz schön beeinflusst. Ich glaube, sie weiß nicht, wie sehr. Das fände sie schlimm, deshalb sage ich nichts dazu.“

„Verstehe“, sagte Libby und nickte langsam.

„Da gab es schon mehrere Polizeieinsätze und so. Ich hoffe, das passiert dir nie.“

Libby verzog das Gesicht. „Das ist es längst.“

„Was, echt?“

„Ja … bevor Hayley geboren wurde, war Sadie hinter einem Serienkiller her, der berühmte Killer aus den USA nachgeahmt hat. Sie hat ihn monatelang nicht gefunden. Und weißt du warum?“

Julie schüttelte den Kopf.

„Weil er selber noch ein Junge war. Achtzehn Jahre alt. Irgendwann ist er auf mich gestoßen und hat so getan, als würde er sich mit mir anfreunden wollen. In Wahrheit wollte er natürlich etwas anderes …“

Entsetzt sah Julie sie an und wusste gar nicht, was sie sagen sollte.

„Er ist mit mir rumgefahren und hat sich schließlich mit der Polizei eine Verfolgungsjagd geliefert“, sagte Libby und erzählte dann etwas ausführlicher, was vorgefallen war. Die ganze Zeit über hörte Julie aufmerksam und staunend zu.

„Wow“, sagte sie dann. „Das ist heftig. Kommst du damit klar?“

Libby zuckte mit den Schultern. „Sicher. Bald beginnt der Prozess gegen Brian, da werde ich wieder aussagen.“

„Würde ich auch machen.“

„Hast du eigentlich einen Freund?“, wechselte Libby das Thema.

Julie schüttelte den Kopf. „Nein, ich hatte bis vor kurzem einen, aber … nee.“

„Was ist passiert?“

„Er wollte mich unbedingt ins Bett kriegen und immer fummeln. Das hab ich mir eine Weile angeguckt und dann habe ich ihm gesagt, er soll das woanders probieren“, sagte Julie achselzuckend.

„Oh.“

„Ach, na ja, das ist nicht schlimm. Ich meine … viele Jungs in meinem Alter sind so, glaube ich. Ich habe auch nix gegen Sex, aber muss man mit sechzehn gleich nach zwei Wochen damit anfangen? Nicht wirklich, oder?“

Libby schüttelte den Kopf. „Ich glaub, Brian hätte das auch gewollt.“

„Bestimmt. Ich versuche immer, mir zu sagen, dass nicht alle so sind. Aber wenn man eine Mum hat, die es dauernd mit Vergewaltigern und Frauenmördern zu tun kriegt …“

Julies abgeklärter Tonfall jagte Libby beinahe einen Schauer über den Rücken. „Ich kann ja jetzt nicht mehr sagen, dass ich das nicht hatte.“

„Solange er dir nichts getan hat.“

„Nein, aber er hätte gern.“

„Das ist scheiße“, sagte Julie unverblümt. „Ich weiß noch, wie meine Mum mir das mal erzählt hat.“

„Von diesem Killer?“

„Auch. Vielleicht versteht sie sich auch deshalb so gut mit Sadie.“

„Wahrscheinlich. Sadie hat mir erzählt, dass deine Mum ihr geholfen hat.“

„Ja, das weiß ich noch“, sagte Julie. „Da ist sie rüber geflogen, als Sadie verschwunden ist und hat geholfen, sie zu finden. Und dann hat sie verlängert, um Sadie zu helfen.“

„Sadie hat mir davon erzählt. Wer er war und was er getan hat.“

„Das ist echt schlimm. Aber ich finde, man merkt es ihr nicht an. Bei meiner Mum war das mal ziemlich schlimm.“

„Kann ich verstehen“, sagte Libby, ohne ins Detail zu gehen. Sie hatte einen Moment gebraucht, um sich an Julies offene und lebhafte Art zu gewöhnen. Andreas Tochter witterte da eine besondere Verbundenheit und begegnete ihr ohne Vorbehalte. Dadurch fühlte Libby sich einerseits ein wenig geehrt, andererseits überforderte es sie auch. Julie schien mehr über Sadie zu wissen als sie über Andrea. Sadie hatte ihr nur gesagt, dass Andrea auch eine Profilerin war und es, genau wie Sadie, schon persönlich mit Serienkillern zu tun bekommen hatte. Aber wenn sie Julie da richtig verstanden hatte, hatte es Andrea schon ähnlich böse erwischt wie Sadie.

Und das war etwas, wo sie ansatzweise mitreden konnte, aber das wollte sie nicht weiter erörtern. Sie wollte sich nur unbefangen mit Andreas netter Tochter unterhalten und vielleicht Freundschaft schließen. Sie bereute auch ihre Entscheidung, mit in Julies Zimmer zu schlafen, nicht. Ganz bestimmt würden sie sich wunderbar verstehen und so hatten Sadie und Matt auch ihre Ruhe mit der Kleinen.

„Hattest du schon einen Freund?“, riss Julie sie plötzlich aus ihren Gedanken.

Libby schüttelte den Kopf. „Früher war das verboten, und seitdem … da war ja bloß Brian. Ich dachte, da wäre vielleicht was, aber dann stellte sich ja heraus, dass ich auf einen Serienkiller reingefallen bin.“

„Ach, mach dich nicht verrückt. Es ist ja nichts passiert. Mein Dad sagt immer, wir haben noch Zeit und in unserem Alter sind Jungs sowieso noch zu nichts zu gebrauchen.“

Libby grinste. „Er muss es ja wissen.“

Darüber lachte Julie. „Das habe ich ihm auch gesagt!“

 

 

 

Montag, 20. November

 

Es hatte Julie ziemlich gewurmt, dass sie zur Schule musste, während Libby frei hatte. Lautstark beschwerte Andreas Tochter sich darüber, dass es in England keine Ferien zu Thanksgiving gab, und machte sich nach dem Frühstück auf den Weg zur Schule. Wenig später brach auch Gregory zur Arbeit auf. Sadie saß mit Hayley im Arm auf dem Sofa und fütterte sie mit einem Fläschchen. Libby spielte mit ihrem Handy herum und Matt saß noch mit Andrea am Frühstückstisch und unterhielt sich.

„Ich fand die Frage deines Mannes gestern interessant“, sagte er. „Wie ich es finde, dass Sadie als Profilerin arbeitet.“

„Bei euch liegen die Dinge anders als bei uns, ihr seid beide beim FBI“, erwiderte Andrea. „Es gab Zeiten, da hatte Greg wirklich enorme Probleme mit meinem Job. Ich konnte das auch verstehen, aber es war keine Alternative für mich, aufzuhören. Ich halte diesen Job für enorm sinnvoll und war immer gut darin.“

„Sinnvoll ist er, aber er kann wirklich gefährlich werden. So wie meiner, da besteht kein großer Unterschied.“

„Hat das eine Rolle gespielt bei eurer Entscheidung, wer sich um eure Tochter kümmert?“

Matt schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Das war total pragmatisch.“

Sadie beobachtete, wie die beiden sich unterhielten und konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Andrea Matt irgendwie zu analysieren schien. Sie kommentierte es jedoch nicht, dafür war sie zu sehr mit Hayley beschäftigt. Schließlich setzte sie sich selbst mit Andrea zusammen und besprach einiges zur bevorstehenden Konferenz, während Matt und Libby zusammen mit Hayley vor dem Fernseher saßen und sich britisches Fernsehen anschauten. Andrea hatte gesagt, dass Katie sich für kurz vor elf angekündigt hatte. Als Sadie Libby im Augenwinkel beobachtete, entging ihr nicht, wie aufgeregt Libby war. Das konnte sie verstehen.

Sie waren noch nicht lange mit ihrer Vorbesprechung fertig, als es an der Tür klingelte. Mit einem Lächeln stand Andrea auf und ließ Katie herein. Sadie blieb weiter hinten im Flur stehen und beobachtete, wie die beiden einander fest und lang umarmten.

„Komm rein“, sagte Andrea und gab den Blick frei auf eine schlanke junge Frau mit fast hüftlangem blondem Haar. Sie hatte große grüne Augen, ein hübsches Gesicht und trug einen Trekkingrucksack auf dem Rücken.

„Wie war die Fahrt hierher?“, erkundigte Andrea sich bei Katie.

„Der Weg von Leicester nach London ging ja fast schneller als der von St. Pancras nach Fulham“, erwiderte Katie. Sie hatte eine sanfte, helle Stimme und strahlte eine ruhige Art aus. Wortlos stellte sie ihren Rucksack im Flur ab.

„Katie, ich möchte dir gern Special Agent Sadie Whitman vom FBI vorstellen“, sagte Andrea. Beherzt ging Katie auf Sadie zu und schüttelte ihre Hand.

„Katherine Archer, aber alle nennen mich Katie.“

„Ich bin Sadie“, erwiderte sie und fügte hinzu: „Freut mich sehr. Andrea hat schon viel von dir erzählt.“

„Von dir auch. Schön, dich kennenzulernen.“

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Andrea auch die anderen einander vorstellte. Herzlich schüttelte Katie Libbys Hand und sagte: „Ich habe mich sehr darauf gefreut, deine Bekanntschaft zu machen. Wie gefällt es dir in England?“

Für einen Moment suchte Libby nach Worten und sagte dann: „Es ist toll. Ich mag es.“

„Als ich so alt war wie du, hätte ich auch gern eine solche Reise gemacht. Ich war übrigens schon mal in den USA und fand es toll.“

„Ehrlich?“, fragte Libby erstaunt. „Wo warst du denn?“

„Dort, wo du herkommst. An der Westküste. Ich war schon mal in Los Angeles. Ganz schön große Stadt!“

„Das stimmt“, sagte Libby. „Das ist mir manchmal auch noch unheimlich.“

„Das glaube ich, wobei London ja keinen Deut besser ist.“ Katie setzte sich an den Tisch.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Andrea.

„Ja, das wäre prima. Wasser reicht.“

Andrea holte ihr etwas, während Katie sich umschaute. „Ich war viel zu lang nicht hier.“

„Du bist auch beschäftigt“, sagte Andrea ungerührt.

„Was machst du denn?“, erkundigte Sadie sich bei Katie.

„Wo soll ich anfangen?“ Katie lachte. Es war ein glockenhelles Lachen und Sadie spürte schon jetzt, dass sie eine sehr selbstbewusste Frau vor sich hatte, die ihr furchtbares Trauma überwunden hatte. Nun, als Katie ihr gegenübersaß, wurde ihr klar, dass sie beide fast gleich alt waren. Katie war nur ein Jahr jünger als sie. Immer, wenn Andrea von ihr gesprochen hatte, hatte Sadie die Siebzehnjährige vor sich gesehen, die aus ihrer Gefangenschaft geflohen war. Nur war das schon zwölf Jahre her. Sadie konnte sich problemlos in Katie hineinversetzen.

„Ich habe ja vor fünf Jahren meinen Schulabschluss nachgemacht und danach erst mal die Zeit genutzt, um zu reisen“, begann Katie zu erzählen.

„Ist ja toll“, sagte Sadie. „Andrea sagte, du bist mit deiner Schwester von einem Privatlehrer unterrichtet worden.“

„Ja, den hat der Auftraggeber unserer Entführer bezahlt. Wir haben auch Geld von ihm bekommen, so eine Art Schadensersatz, wenn man das so nennen will … das hat das Gericht bei seinem Urteil festgesetzt. Er sollte für unseren Lebensunterhalt aufkommen. Damals habe ich aber noch mit meiner Schwester bei meiner Mutter gelebt und so habe ich gespart, um dann auf Reisen gehen zu können.“

„Das ist doch wunderbar“, sagte Sadie.

„Ich bin durch Europa und Amerika gereist“, sagte Katie. „Danach habe ich überlegt, was ich tun soll und mich für ein Studium entschieden. Ich studiere jetzt Psychologie. Nächstes Jahr bin ich fertig.“

„Und jobben gehst du außerdem“, sagte Andrea.

„Das stimmt. An der Uni habe ich auch jemanden kennengelernt, Ryan. Ich dachte erst lange, dass er gar nicht weiß, wer ich bin. Er ist so nett und unbefangen mit mir umgegangen. Als wir dann zusammen ausgegangen sind und ich ihm kompliziert erklären wollte, dass ich acht Jahre in einem Kellerverlies eingesperrt war, sagte er mir, das wüsste er längst und es störe ihn nicht. Das ist jetzt zwei Jahre her. Inzwischen wohnen wir zusammen.“

Sadie lächelte. „Wie schön.“

„Wie geht es Tracy und ihrem Sohn?“, erkundigte Andrea sich.

„Gut! Tracy hätte zwar auch gern wieder einen Freund, aber leider hat sich da in letzter Zeit nichts ergeben.

---ENDE DER LESEPROBE---