Die Sehnsucherin - Margareta Seipel - E-Book

Die Sehnsucherin E-Book

Margareta Seipel

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Beschreibung

Die weltoffene und lebenslustige Rita ist eine erfolgreiche Übersetzerin. Seit ihrer Kindheit wird sie von intensiven Träumen begleitet, die sie in ihrem 'Traumbilderbuch' festhält in der Hoffnung, eines Tages deren Bedeutung zu verstehen. Einer dieser Träume geht in Erfüllung und sie lernt in Australien nicht nur ihren Mann kennen, sondern macht mithilfe des Aborigine 'Little John' die Erfahrung, dass es tiefere Dimensionen des Lebens gibt, die ihr bisher verschlossen waren. Gemeinsam mit ihrem Mann, der Traumforscher ist, vor allem aber mit dessen griechischem Großvater, dem weisen und tiefgläubigen 'Papous' entschlüsselt Rita nicht nur ihre Träume, sondern erfährt Heilung ihrer seelischen Wunden. Sie entdeckt ihre wahre Bestimmung und findet im Jesusgebet einen Weg, eine 'alltagstaugliche' Verbindung zu Gott aufzubauen.

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Margareta Seipel

Margareta Seipel

geboren 1971 in Oberösterreich, verheiratet. Hauptberuflich im Bankwesen beschäftigt, mit einer 2-jährigen Unterbrechung für die persönliche Spurensuche in einem Kloster. Seit 2012 nebenberuflich als Humanenergetikerin tätig. Sie lebt in Söchtenau, Oberbayern.

Gewidmet meinem lieben Mann,der mich lehrte, achtsam zu träumen.

Einleitung und Dank

1

Rita

2

Abschied für immer

3

Ein Traum geht in Erfüllung

4

Der Traumforscher

5

Mein Keller

6

Der verborgene Mensch des Herzens

7

Junges Glück

8

Die Bilanz

9

Der Vergnügungspark

10

Unerwartete Geschenke

11

Das Sterndorf

12

Ohne Titel

13

Das verbindliche Ja

14

Reiselust

15

Wegweisende Gespräche

16

Ein besonderer Abend

17

Die Gärtnerin

18

Das Schwert

19

Der Liebesbrief

20

Die Überraschung

21

Das Licht aus dem wir sind

22

Das Erbe

Literaturhinweise

Einleitung und Dank

Eigentlich hatte ich nie die Absicht, ein Buch zu schreiben. Aber dann kam es doch anders. Seit vielen Jahren werde ich von Träumen begleitet. Einige haben mir geholfen, wichtige Entscheidungen in meinem Leben zu treffen, oder sie informierten und informieren mich über bestimmte Lebensabschnitte und Entwicklungsschritte auf meinem spirituellen Weg. Manche waren sehr ernster Natur, andere wieder voller Humor. Viele unserer Träume helfen uns, das Tagesgeschehen zu verarbeiten, doch manche bergen Botschaften in sich, die es genauer anzusehen lohnt.

Alle Personen dieses Romans, die Handlung und die beschriebenen Träume samt deren Interpretation sind plötzlich in mir »sichtbar« geworden und so habe ich begonnen, Ritas Geschichte aufzuschreiben.

Die Entstehung dieses Buches führe ich auf meine langjährige Suche nach dem tieferen Sinn meines Lebens zurück. Seit 1995 befasse ich mich intensiv mit unserer nahezu zweitausendjährigen christlichen Überlieferung. Meine Suche nach meinen Wurzeln führte mich zum Dem, der »von Urbeginn an war« (1 Joh 1,1).

Ich bin sehr dankbar für die Menschen, die uns in der lebendigen Gemeinschaft mit Ihm vorangegangen sind. Es sind jene, die wir als Heilige ansehen und die uns von ihrer Erfahrung schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, die nicht nur unser Wissen mehren, sondern auch Nahrung für unsere Seelen sind. Durch sie erhielt ich viele Antworten auf meine existentiellen Fragen und lernte mich dadurch selbst ein Stück besser kennen. Oft waren die schwierigsten Situationen in meinem Leben zugleich die lehrreichsten und dafür bin ich Gott unendlich dankbar.

Mein großes Interesse an allem, was mit dem Menschsein und einem größeren Verständnis von Zusammenhängen zu tun hat, führte mich 2010 zu einer Ausbildung in der Humanenergetik. Ich bin stets bemüht, Altes mit Neuem zu verbinden. Dabei ist das Neue oft nur eine Wiederholung oder Neuentdeckung von Altem, bereits Vorhandenem, das durch einen Positionswechsel des Beobachters sichtbar werden kann.

In meiner persönlichen Synergiearbeit zog ich unter anderem großen Gewinn aus den Büchern und DVDs der Forscher und Autoren der Gegenwart, wie:

Masaru Emoto, Barbara A. Brennan, Dr. Richard Bartlett, Dr. Frank Kinslow, Dr. Wolf Schriewersmann, Gregg Braden, Dr. Rupert Sheldrake, Dr. Bruce Lipton, Dr. Alex Loyd, Dr. Ben Johnson, Prof. Dr. Amit Goswami.

Diese »jungen« Forscher ermöglichten mir einen neuen Zugang zur Beschreibung des Energiefeldes, das alles miteinander verbindet; der »Informationspolitik des Lichtes«, der »Natur der Dinge« und deren Wirkung in unserem Leben und der Natur bis hin zu neuen Heilmethoden der Energiemedizin.

Wundern Sie sich daher nicht, wenn Ihnen in der vorliegenden Geschichte sowohl alte spirituelle Weisheiten, als auch Aspekte der Quantenheilung und der spirituellen Familienaufstellung begegnen, denn sie stehen nicht im Widerspruch zueinander. Wie der hl. Augustinus sagte: »Wunder geschehen nicht im Widerspruch zur Natur, sondern im Widerspruch zu dem, was wir von der Natur wissen.«

In diesem Sinne möchte ich noch viel, viel mehr von der Natur der Dinge erfahren – letztlich von Gott selbst. Für die heiligen Väter war die Physik die natürliche Kontemplation:

Zu dem gerechten Antonios kam einmal einer der damaligen Weisen und sprach: »Wie hältst du das aus, Vater, da du des Trostes, der aus den Büchern fließt, entbehrst?«

Der aber antwortete: »Mein Buch, Philosoph, ist die Natur (Physis) der Geschöpfe, und es ist stets zugegen, wenn ich in ihm die Worte (logoi) Gottes zu lesen wünsche.« (Evagrios Pontikos)

Ich möchte mich ganz herzlich bei meinen Eltern bedanken, die bereit waren, mich als sechstes Kind ihrer Familie in dieser Welt willkommen zu heißen. Sie ermöglichten mir eine wundervolle Kindheit auf ihrem Bauernhof.

Ebenso gilt mein Dank meinen fünf Geschwistern und den Freunden und Begleitern auf meinem spirituellen Weg, allen voran meinem Mann Horst, der meine Synergiearbeit vor vielen Jahren initiierte und mich liebevoll unterstützt. Meine besondere Dankbarkeit gilt jedoch dem Verursacher, Inspirator und Geber dieser Traumbilder.

Rita

Rita, eine weltgewandte, gesellige und vielseitig interessierte Frau, war seit einigen Jahren verheiratet und in ihrem Beruf gut etabliert. Sie liebte es, kreuz und quer über den Globus zu reisen und genoss es, fremde Kulturen hautnah zu erleben und sich in fremden Ländern mit Einheimischen anzufreunden, deren Gewohnheiten zu erforschen und sich etwas intensiver als »Normaltouristen« mit den Menschen vor Ort auseinanderzusetzen.

Diese Vorliebe verdankte sie wohl ihrem Vater, Ben, der berufsbedingt in verschiedenen Ländern gearbeitet hatte und immer wieder seine Frau und die drei Kinder zu sich holte, egal wohin es ihn gerade verschlagen hatte. Rita war Neuem gegenüber immer sehr aufgeschlossen und konnte sich fremde Sprachen auffällig schnell aneignen. In ihren ersten Jahren, so erinnerte sie sich, war die Familie dreimal in verschiedene Länder umgezogen.

Sie war die Jüngste im Bunde, eine Nachzüglerin. Als die Nachricht über die erneute Schwangerschaft Evelyns, ihrer Mutter, in der Familie bekannt wurde, veranstalteten die beiden älteren Brüder Tom mit acht und Eric mit neun Jahren ein Freudenfest. Sie tanzten und sprangen durchs ganze Haus, suchten ihr altes Spielzeug hervor und kochten ein leckeres Abendessen für alle. Wo Hilfe erforderlich war, legten sie Hand an. Oft durften sie den wachsenden Bauch ihrer Mutter streicheln und erzählten Rita lange Geschichten – so lange, dass Evelyn häufig dabei einschlief. Wenn sich Rita bemerkbar machte und mit ihren kleinen Füßchen nach außen trat, waren sie ganz entzückt und lachten lauthals darauf los. Manchmal schlossen die beiden sogar Wetten ab, bei wem sie sich zuerst auf diese Weise bemerkbar machen würde, wenn sie ihr wieder einmal Geschichten oder Witze erzählten.

Evelyn genoss diese Zeit mit ihren Kindern sehr, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Jungs so positiv und so sensibel auf die Schwangerschaft reagieren würden. Ein Highlight für die Brüder war auf jeden Fall, dass sie den Namen für ihre kleine Schwester aussuchen durften. Wochen und Monate durchstöberten sie Namenslexika und listeten alle infrage kommenden Namen für das Geschwisterchen sorgfältig auf. Eine Liste mit Jungennamen und eine für Mädchen, denn sie wussten ja nicht, wer da zu ihnen in die Familie kommen sollte. Im Familienrat einigte sich die ganze Familie dann auf jeweils einen Namen.

Am Tag der Geburt wurden die beiden angehalten, alleine zu Hause zu bleiben und artig zu sein, damit sich Mama und Papa keine Sorgen machen müssten, während sie im Krankenhaus waren. Ab und zu kam eine gute Freundin von Evelyn vorbei, um nach Tom und Eric zu sehen, denn die Familie wohnte zu dieser Zeit gerade in Kanada und alle ihre nahen Verwandten waren in Europa zu Hause. Den ganzen Tag über hielten sich die beiden Jungs in der Nähe des Telefons auf, um auf den Anruf von ihrem Vater zu warten.

Dann endlich gegen Abend die Erlösung. Papa war dran und teilte ihnen voll Stolz und unter Tränen mit, dass die kleine Rita geboren war.

Am nächsten Tag durften sie zum ersten Mal ihre Schwester begutachten. Beide nahmen ein kleines Willkommensgeschenk ins Krankenhaus mit – Tom ein Matchboxauto und Eric einen kleinen Teddybär. Dass Rita nicht auf ihre Geschenke reagierte, tat ihrer Freude keinen Abbruch. Rita war für alle die kleine Prinzessin. Sie war ganz anders als die Jungs – viel zerbrechlicher. Die Brüder waren stolz auf sie, führten sie allen Verwandten und Bekannten voll Freude vor und lehrten sie, als sie kaum laufen und sprechen konnte, viel, viel Blödsinn.

Rita war ein sehr aufgewecktes Kind und schaute sich viel von ihren Brüdern ab. Schon bald wusste sie sich in der Familie zu behaupten – oft auch recht lautstark. Immer wollte sie hinter ihren Brüdern her und mit dabei sein, wenn die »Großen« Streiche ausheckten.

Solange sich Rita erinnern kann, wurde sie von auffälligen Träumen begleitet. Als sie noch klein war, schrie sie häufig nachts auf und begann furchtbar zu weinen, weil die Traumbilder für sie befremdlich waren und ihr Angst machten. Sie musste sich erst an das nächtliche Geschehen gewöhnen.

Evelyn war in diesen Jahren fast jede Nacht im Einsatz, um ihre Tochter zu beruhigen, zu umarmen und erneut in den Schlaf zu wiegen. Aber niemand konnte erklären, was da vorging. Selbst die Ärzte wussten keinen Rat, mit dieser Situation umzugehen. Manche meinten, es seien wohl Wachstumsstörungen, andere vermuteten die nächtliche Verarbeitung des Tagesgeschehens, manche schlugen vor, das kleine Mädchen einmal weinen zu lassen und nicht gleich darauf zu reagieren, wenn sie unruhig war und wieder andere verschrieben Beruhigungspillen.

Ritas Mutter war mit ihrem Latein am Ende und mit diesen Ratschlägen und Erklärungsversuchen nicht einverstanden, aber auch sie fand all die Jahre keine Lösung. Sicher war jedoch, sie würde Rita in ihrem zarten Alter auf gar keinen Fall irgendwelche Medikamente für einen besseren Schlaf verabreichen. Als Mutter spürte sie, dass Rita wohl einen ganz eigenen Weg zu gehen hatte und versuchte sich selbst, die durchwachten Nächte hindurch, damit zu trösten. Nur langsam wurde Ritas Schlaf stabiler und schließlich konnte sie ab ihrem fünften Lebensjahr endlich die ganze Nacht durchschlafen. Was für eine Erleichterung für Evelyn!

Die häufigen Umzüge der Familie wurden jedes Mal mehr zum Leidwesen aller Beteiligten, die dadurch Zuhause und Freunde erneut verloren. Rita nahm dies als Kind dennoch eher »sportlich«, denn die Sehnsucht, bei ihrem Vater zu sein und die Familie als Ganzes zu erleben war wesentlich größer, als der Verlust ihrer gewohnten Umgebung. Heimat, so erklärten es ihre Eltern immer, ist da, wo die Familie ist und zusammenhält – mit Mama und Papa. Wo auf der Welt, das sei nicht wichtig.

Den beiden älteren Brüdern, Tom und Eric, fiel der Glaube an diese Erklärung jedoch immer schwerer. Das lag wohl auch an ihrem mittlerweile pubertären Alter. Sie lehnten die Bestimmung ihres Vaters über ihr Leben bald vehement ab und so gab es immer große Diskussionen und Streitereien, wenn es wieder so weit war, den Wohnort zu wechseln. Alle Erklärungsversuche Bens mündeten in großem Unverständnis, bis schließlich die Türen knallten und alle für geraume Zeit verstummten. Rita hingegen wäre ihrem Vater bis ans Ende der Welt nachgereist – die beiden verband eine ganz besondere Liebe zueinander.

Im Laufe der Zeit wurden allerdings die Auseinandersetzungen über die Umzüge immer größer und heftiger und so kam das Unausweichliche auf die Familie zu. Es galt eine Entscheidung zu treffen, um die Kinder zu »schützen«, so nannte es Ritas Mutter Evelyn. Denn die mit dem Wanderleben verbundene Entwurzelung zeigte mittlerweile ihre Auswirkungen. Evelyn, die aus Liebe zu ihrem Mann ihre eigene berufliche Karriere aufgegeben hatte und lange Zeit damit zufrieden war, die Kinder groß zu ziehen, die Umzüge zu organisieren, neue Wohnungen und Häuser einzurichten und Vermittlerin zwischen den beiden Jungs und deren Vater zu sein, verließen zunehmend ihre Kräfte. Auch die lautstarken Diskussionen zwischen Evelyn und ihrem Mann Ben nahmen unaufhörlich zu. In solchen Momenten, wenn Rita die Auseinandersetzungen mitbekam, versteckte sie sich im Haus und träumte sich in eine harmonische Umgebung, die ihr half, ihre Angst zu mildern.

Ritas Mutter wollte, genau wie Tom und Eric, oder auch aus Liebe zu ihnen, sesshaft werden und ein »normales« Leben führen. Nachdem es die berufliche Situation von Ben jedoch nicht zuließ, für längere Zeit am selben Ort zu bleiben, entschieden sich ihre Eltern, in deren alter Heimat, in Deutschland, ein Haus zu kaufen, um Ruhe in diese angespannte Situation zu bringen. Evelyn und Ben mussten sich mit der neuen Situation abfinden, immer wieder über lange Zeit voneinander getrennt zu leben.

Im neu erworbenen Haus in Bayern konnten die Brüder endlich ihren jugendlichen Interessen nachgehen, sich vor Ort einen Freundeskreis aufbauen und die ausgewählten Schulen besuchen. Schnell wurden Tom und Eric für alle Beteiligten erträglicher – sie waren für dieses Wanderleben offenbar einfach nicht geschaffen. Auch Rita tat diese Veränderung augenscheinlich gut. Evelyn erholte sich ebenfalls zusehends von den Strapazen der letzten Jahre. Der Preis, den sie zahlen musste, war jedoch sehr hoch, denn sie entfremdete sich immer mehr von ihrem Mann, selbst wenn Ben da war. Rita spürte dies besonders intensiv und eine große Traurigkeit legte sich über sie. Um nicht zusätzlichen Kummer zu schaffen, versuchte sie, obwohl sie noch so klein war, sich nichts anmerken zu lassen. Die Nächte jedoch, in denen sie leise in ihr Kissen weinte und sich ihren Papa herbei wünschte, waren unzählbar.

Ihr sehnlichster Wunsch nach einem Hund wurde in dieser Zeit erfüllt. Nach Absprache mit ihrer Mutter brachte Ben, bei einem seiner Besuche daheim, einen kleinen Welpen mit und überraschte seine kleine Rita. Er hatte ihn in einem großen Karton mit vielen Luftlöchern darin und einer großen roten Schleife verpackt. Selbst das Körbchen, die Hundedecke, Hundespielzeug und Kauknochen, ein rotes Hundebaby-Lederhalsband, zwei Leinen in verschiedenen Längen und die Futterration für die ersten Wochen gehörten mit zu diesem Geschenk.

Als Rita an diesem Freitag von der Schule kam und ihren Vater sah, ließ sie alles an der Haustüre fallen, rannte zu ihm und sprang an ihm hoch, umarmte und küsste ihn. Da gab es nur mehr ihn und sie. Sie wollte ihn ganz für sich haben und wenn er einmal da war, ließ sie die übrige Familie gar nicht zu Wort kommen. Nach der aufregenden Begrüßungszeremonie holte Ben die geheimnisvolle Schachtel in das Wohnzimmer, wo mittlerweile alle versammelt waren, denn der Rest der Familie wusste bereits von dem Geschenk zu Ritas siebtem Geburtstag. Alle waren höchst neugierig auf den kleinen Hund, obwohl Ben schon Fotos geschickt hatte.

Nun war es so weit! Rita saß neben ihrer Mutter auf dem Sofa und hatte nicht die leiseste Ahnung, was da kommen sollte. Ihr war in den letzten Tagen nur aufgefallen, dass immer alle komisch ruhig wurden, wenn sie ein Zimmer betrat – als ob sie etwas nicht erfahren sollte. Das machte sie ganz rasend. Trotzdem hielten alle dicht. Als Ben nun mit der riesigen Schachtel ins Wohnzimmer trat und auf Rita zukam, wusste sie sofort was los war und schrie vor lauter Begeisterung: »Ein Hund für mich?« Und schon hörte man den kleinen Welpen winseln. Ben stellte die Schachtel vorsichtig auf den Boden und Rita löste, höchst gespannt, die Schleife, hob den Deckel hoch und wagte einen ersten Blick hinein.

Schwuppdiwupp saß der Kleine auf ihrem Schoß, als ob er wüsste, wem er ab jetzt gehörte, wedelte ganz aufgeregt mit dem Schwanz und leckte sofort ihr Gesicht. Ben sagte lachend: »Der ist ja genau so aufgeweckt wie du!«

Der Welpe war ein Mischling und konnte keiner bestimmten Hunderasse zugeordnet werden. Aber das spielte für Rita sowieso keine Rolle. Sie gewann sofort seine volle Aufmerksamkeit. Er war ein 14 Wochen altes, dunkelbraun-weiß-geflecktes Wollknäuel mit einer wunderschönen Zeichnung im Gesicht, dunklen Knopfaugen und einer feuchten schwarzen Nase. Sein linkes vorderes und das rechte hintere Bein waren weiß; sogar die Krallen an den beiden Pfötchen waren weiß. Das rechte Vorderbein war ganz dunkelbraun mit dunklen Krallen und sein linkes Hinterbein war überwiegend weiß mit lauter kleinen braunen Pünktchen darin – das sah aus, als wäre er ein wenig schmutzig. Am restlichen Körper waren Weiß und Dunkelbraun ziemlich gleichmäßig in schönen Flecken verteilt. Auch der Schwanz des kleinen Hundes war dunkelbraun, nur das letzte Spitzchen weiß gefärbt.

»Laut Züchter soll er einmal ungefähr kniehoch werden – wohl gemerkt an Ritas Beinen gemessen – und ein gewelltes Fell bekommen wie seine Hundemama«, erzählte Ben. Evelyn und die Jungs waren auch gleich begeistert von der lieben Art des kleinen Burschen und freuten sich mit Rita, dass endlich ihr Wunsch in Erfüllung gegangen war. Jetzt, wo sie sesshaft waren, konnte ein Haustier ja auch viel leichter versorgt werden.

»Rita«, sagte Ben, »du darfst ihm einen Namen geben, denn er hat noch keinen.« Kaum hatte Ben diesen Satz ausgesprochen, rief Rita überglücklich: »Das ist Spencer!« Als ob schon immer festgestanden wäre, wie der Hund heißen sollte. »Klar, das ist Spencer, er sieht auch genau wie ein Spencer aus«, scherzten die Jungs und alle mussten lachen.

Das war ein gelungener Nachmittag für die ganze Familie mit einem überglücklichen Geburtstagskind! Sofort musste Rita Spencer sein neues Zuhause zeigen. Alle Räume wurden begangen und beschnüffelt, bis er vor Aufregung ein kleines Häufchen im Flur absetzte. Rita war sofort mit einigen Blättern von der Küchenrolle zur Stelle und machte sauber, sodass niemand die kleine Bescherung bemerkte.

»Das musst du genau so lernen wie ich vor einigen Jahren – und ich werde dir als Mami dabei helfen«, erklärte sie ihm auf dem Weg in den Garten. Auf dem frisch gemähten Rasen tollten sie herum. Spencer war recht frech und neugierig auf die neue Umgebung. Hin und wieder stolperte er über seine eigenen Beinchen, so tollpatschig war er noch – ein richtiges Hundebaby. Ganz schneidig bellte er sogar Rita an und forderte sie damit immer wieder auf, mit ihm weiter zu spielen, bis er vor Müdigkeit auf dem Rasen liegen blieb und ein kleines Nickerchen machte. Rita legte sich neben ihn und streichelte ihrem neuen Freund leicht übers Fell.

»Wir werden uns gut verstehen und richtig gute Kumpel werden«, flüsterte sie ihm ins Ohr und beobachtete ihn ganz aufmerksam beim Schlafen. Manchmal zuckte er ein wenig zusammen und winselte kurz darauf, schlief aber weiter. »Träumst du auch so viel wie ich?«, fragte die neue Hundemama leise.

Als Rita ihrem Vater eine Woche später in die Augen blickte und er sie zum erneuten Abschied umarmte, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten und hielt ihn so fest umarmt, dass es kaum möglich war, sie von ihm zu lösen. Ihr fiel es anscheinend von allen am schwersten, wenn Ben für Monate fort musste. Dieses Mal hatte Rita allerdings ein kleines Trostpflaster erhalten: die wohl schönste Woche mit ihrem Vater und mit Spencer.

Nachdem Spencer noch so jung und erst kürzlich von seiner Mutter getrennt worden war, erlaubte Evelyn, dass das jüngste Familienmitglied sein Körbchen in Ritas Zimmer bekam. Rita wurde eine ausgezeichnete Hunde-Ersatzmama. Die beiden waren unzertrennlich, wann immer Rita zu Hause war. Wenn alle im Haus schliefen und nachdem Evelyn zum Tagesabschluss zu Rita ins Zimmer gesehen hatte, holte Rita den Kleinen zu sich ins Bett – das war ihr Geheimnis mit Spencer.

Spencer lernte schnell und entwickelte sich zu einem prächtigen, treuen Familienhund. Rita studierte mit ihm viele kleine Kunststückchen ein und war ganz stolz auf ihn. So konnte er auf Kommando durch ihren Hula-Hoop-Reifen springen, eine Rolle am Boden machen, Pfötchen geben, sich tot stellen, bellen, aufgerichtet mit seinen Vorderpfoten bitten, Türen öffnen und auch schließen, wenn Rita es wünschte. Ihr Kommando »Tür zu« war immer am lustigsten, denn dann sprang Spencer einfach so lange mit seinen Vorderpfoten gegen die Türe, bis sie ins Schloss fiel. Rita übernahm auch die Verantwortung für das Futter und die Ausgänge mit ihm. Auch das übelste Wetter konnte sie nicht davon abhalten, ihre Pflicht zu tun, und mit Spencer Gassi zu gehen. Spencer nahm seinen festen Platz in der Familie ein. Immer wenn es einmal etwas lauter wurde und Zankereien oder Diskussionen stattfanden, fing Spencer laut an zu bellen als wollte er auch seine Meinung kundtun oder Ordnung in die Sache bringen. Er wurde oft so laut, sprang so aufgeregt umher, dass er alle übertönte und sie letztlich über ihn lachen mussten. Ja, das war seine Art, Frieden zu stiften, und das konnte er wirklich ausgezeichnet.

Die Abstände des Wiedersehens mit Ben wurden immer länger bis zu jenem Tag, an dem Evelyn zum großen Familienrat rief. So hieß das im Hause, wenn sich alle trafen und Entscheidungen diskutiert werden mussten. Nur gab es an diesem Abend keine Diskussion. Evelyn setzte sich zu ihren Kindern an den Tisch, ihr Blick senkte sich und sie begann, mit leiser Stimme zu sprechen. Sie versuchte, ihre Situation mit Ben zu erklären. Immer wieder betonte sie, dass Ben ihre große Liebe sei und sie beide sich ihr Leben anders gewünscht hätten. Aber schlussendlich verkündete sie das Aus ihrer Ehe.

In diesem Moment brach für Rita und ihre Brüder eine Welt zusammen. Dass die Kluft zwischen ihren Eltern so groß geworden war, hatten sie nicht für möglich gehalten. Augenblicklich, wie aus einer Pistole geschossen, fragte Eric, der Älteste, seine Mutter, ob er und seine Geschwister daran schuld wären. Evelyn schluckte laut, bevor sie erklärte, was in all den Jahren geschehen war. Sie versicherte ihren drei Kindern, dass sie die größte Freude in ihren Leben seien und sie alles für sie täten, damit es ihnen gut gehe. Die Trennung vom Vater habe nichts mit ihnen zu tun!

»Das ist allein unsere Entscheidung – so traurig es auch sein mag«, beteuerte sie den Dreien. »Wie man so sagt: Wir haben uns auseinander gelebt!«

»Bedeutet das Scheidung?«, fragte Eric.

»Nein!«, antwortete Evelyn, »das möchten wir im Moment noch nicht. Es soll zunächst nur eine Trennung sein. Euer Papa und ich – wir dürfen uns unabhängig voneinander ein neues Leben aufbauen. Eines, das uns mehr behagt und erträglicher für uns ist.«

Das Wort Scheidung war zumindest den Brüdern vertraut, denn sie hatten Freunde, deren Eltern geschieden waren. Aber jener Moment, in dem es sie selbst traf, musste erst einmal verdaut werden.

Jedes der drei Kinder reagierte anders, ganz auf seine Weise, auf diese Nachricht.

Eric, der Älteste wurde sehr anhänglich und wollte immer in Evelyns Nähe sein, redete so viel, wie noch nie in seinem Leben mit ihr, übernahm häusliche Aufgaben und fing sogar an, regelmäßig zu kochen – zum Erstaunen aller. Er suchte oft in den verschiedensten Kochbüchern kulinarische Spezialitäten aus der internationalen Küche und wollte alle damit verwöhnen. Das gelang nicht immer, aber er wurde nicht müde, es immer wieder zu versuchen und diese Mühe sollte auch eines Tages belohnt werden.

Tom versank ein wenig in Lethargie. Seine Schläfrigkeit und der damit verbundene Rückzug in sein Zimmer machten Evelyn erheblich mehr zu schaffen, als die Quasselei von Eric, denn Tom wollte und musste anscheinend viel alleine sein und niemand kam so richtig an ihn heran. Der Schulalltag war für ihn nur sehr schwer zu bewältigen.

Wenn er am Nachmittag nach Hause kam, musste er umgehend einige Stunden schlafen, um sich zu erholen. Das wiederum wirkte sich negativ auf seine Schulnoten aus. Mit Mühe und Not, viel Liebe der Großeltern und einiger Lehrer, die sich Tom besonders annahmen, konnte der spontane Energieverlust und die damit verbundene Lethargie gemildert werden.

Schließlich, nach fast zwei Jahren, war er wieder der »Alte«, nur viel nachdenklicher als früher. Was sich grundsätzlich verändert hatte, war seine Beziehung zu Eric. Eric war Toms großes Vorbild gewesen und er hatte ihm bis zu jenem Familienrat auch immer alles nachgeplappert; es schien fast so, als hätte Tom keine eigene Meinung besessen, aber das änderte sich ab diesem Zeitpunkt.

Rita, mit ihren acht Jahren, verstand die Auswirkungen dieses Wortes »Trennung« nicht wirklich. Sie wusste nicht, dass sie dadurch ihren über alles geliebten Vater noch seltener sehen würde als vorher und so fragte sie unaufhörlich nach ihm. Sie war in der Familie die »kleine Süße«, die noch nicht viel mitzubekommen schien. Die einzige Frage, die sie sich stellte: »Wo ist jetzt die Heimat geblieben, wenn ein Teil fehlt? Unsere Heimat ist doch da, wo Papa und Mama sind!« Doch diese Frage blieb unbeantwortet, so sehr sich auch alle bemühten, einen neuen Alltag zu finden.

Evelyn versuchte mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, ihren drei Kindern Vater und Mutter zugleich zu sein und es gelang ihr auch mit Unterstützung ihrer Eltern recht gut, denn sie war eine starke, entschlossene Frau, die sich mit Hingabe um ihre Sprösslinge kümmerte. Die nunmehr vierköpfige Familie musste wohl oder übel mit der neuen Situation leben lernen.

Ben blieb auch nach der Trennung von seiner Familie seinem alten Beruf treu und war nach wie vor viel in der Welt unterwegs mit langen Auslandsaufenthalten in Nord- und Südamerika, Afrika, Russland, Indien und Australien. Trotz modernster Kommunikationstechnik reduzierten sich die Kontakte zu seiner Familie drastisch. Er konnte mit dieser neuen Lebenssituation schwerer umgehen, als er gedacht hatte und um alte Wunden des Verlustes und der Trennung nicht ständig neu zu erleben, beschloss er, sich von seiner geliebten Familie ein Stück weiter zurückzuziehen, zumindest so lange, bis es ihm wieder besser ginge. Evelyn hätte sich allerdings ein wenig mehr Unterstützung durch Ben gewünscht als nur die finanzielle Absicherung.

»Aber warum sollte es nach der Trennung anders sein als vorher?«, war ihre eigene Antwort darauf. Tatkräftige Hilfe erhielt Evelyn von ihren Eltern und den Schwiegereltern, die in der Nähe wohnten.

Abschied für immer

An einem wunderschönen, sonnigen Samstag im Mai, als Eric und Tom, die inzwischen ausgezogen waren, gerade ihre Mutter und Rita besuchten, hatten sich alle am Mittagstisch versammelt und erzählten sich viel Lustiges aus den vergangenen Wochen, da klingelte das Telefon.

Evelyn nahm das Gespräch entgegen. Das Telefon befand sich in unmittelbarer Nähe zum Esstisch. Die Nummer auf dem Display kannte sie nicht. Es meldete sich ziemlich förmlich jemand vom Auswärtigen Amt. Noch während sich ihr Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung vorstellte, wurde Evelyn ganz blass und sackte völlig kraftlos in den Stuhl neben dem Telefon, denn sie ahnte, was folgen würde. Mit aller Kraft gelang es ihr gerade noch, den Hörer am Ohr zu halten. Schlagartig änderte sich die Stimmung im Esszimmer – alle verstummten.

Rita, Tom und Eric stürmten ihrer Mutter zu Hilfe. »Was ist los, was ist denn los?«, wollten alle drei gleichzeitig wissen. Evelyn bat ihren Gesprächspartner um Erlaubnis und stellte den Lautsprecher des Telefons an, sodass sie mithören konnten.

Die Nachricht war die wohl schlimmste, die eine Familie erreichen kann, denn Evelyn und die Kinder erfuhren, dass Ben bei einem Flugzeugabsturz in Australien ums Leben gekommen war. Anscheinend auf einem Inlandsflug. Immer wieder versicherte sich Evelyn beim Anrufer, ob das wirklich stimmte – sie konnte es einfach nicht fassen. Aber der freundlich bemühte Herr am anderen Ende konnte jeden Irrtum ausschließen und verabschiedete sich mit einem mitfühlenden »mein Beileid«.

Unverzüglich startete Tom die Teletextnachrichten im Fernsehen, wo vor zwei Tagen von diesem Unglück berichtet wurde. Die genaue Absturzursache konnte noch nicht erklärt werden, aber alle Insassen seien tot – das waren die aktuellsten Informationen vom Unglücksort.

Eine unheimliche Betroffenheit und Ohnmacht erfasste die Vier. Wie auf Kommando setzten sich wieder alle an den Tisch und hielten sich fest an den Händen. In jedem Einzelnen liefen Szenen und Erinnerungen aus ihrem Leben mit Ben ab. Auf diese Weise versuchten sie nun, mit ihm in Verbindung zu treten und ihn mit ihrer Liebe zu erreichen. Evelyn und Rita weinten bitterlich und fielen einander in die Arme. Auch Tom und Eric, mittlerweile 25 und 26 Jahre alt, verloren ihre Fassung.

Diese Hiobsbotschaft traf Rita im Alter von 17 Jahren. Die beiden Brüder entschieden spontan, zunächst bei ihrer Mutter und Rita zu bleiben, bis alle den ersten Schock ein wenig verdaut hatten. Die folgenden Nächte waren für alle lang, denn keiner konnte erholsamen Schlaf finden und jeder grübelte über das Unglück und die Frage, warum Ben gerade in diesem Flugzeug sitzen musste. Warum, warum, warum? Wenn, dann, hätte, wäre, würde … diese Worte waren oft die Letzten abends und die Ersten am nächsten Morgen.

Spencer durfte immer noch in Ritas Bett schlafen und leckte tröstend viele ihrer Tränen aus dem Gesicht. Immer wieder erinnerte Rita sich an ihren siebten Geburtstag, an dem sie ihn von Ben geschenkt bekommen hatte. Sie drückte ihn ganz fest an sich und wollte so ihrem Vater ganz nah sein.

Die Bergung der Leiche, die Überstellung nach Deutschland, die Freigabe zur Beerdigung und die Formalitäten dauerten fünf endlos lange Wochen. In dieser dunklen Phase ihres Lebens voller Trauer und Verzweiflung sahen sich die Vier immer wieder alte Videofilme an, in denen Ben zu sehen war und die sie auf irgendeine Weise zu trösten vermochten, denn sobald die Kamera auf ihn gerichtet war machte er mit den Kindern Späßchen, über die sie lachen mussten.

Evelyn wollte ihrer großen Liebe, trotz des Scheiterns ihres gemeinsamen Lebens, einen würdevollen Abschied bereiten und begann einige Tage nach dieser Schreckensnachricht die Beerdigung zu organisieren. Zur Verwunderung vieler Verwandter und Freunde hatten sich die beiden nie scheiden lassen. Warum das so war konnte selbst Evelyn nicht wirklich beantworten.

An so vieles musste gedacht werden. Der örtliche Bestatter und der Pfarrer bemühten sich sehr, der geschockten Familie zu helfen. Aber die Frage nach dem »Warum« konnte niemand beantworten. Aufmerksam verfolgte Rita die Gespräche mit den Verantwortlichen. Evelyn bestand auf die Beisetzung in einem Sarg, obwohl die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verkohlt war. Sie wusste, dass Ben es so gewollt hätte.

Für Rita war es ganz besonders wichtig, dass der Blumenschmuck in weiß gehalten wurde, denn sie konnte sich gut erinnern, dass ihr Ben vor vielen Jahren bei einem Spaziergang über eine blühende Blumenwiese gesagt hatte, dass ihn weiße Blumen besonders berühren. In ihnen sah er etwas Elegantes, Unschuldiges, Zerbrechliches und Reines. So suchte Rita weiße Rosen, Lilien und Margeriten aus, die zu großen Buketts und Kränzen gebunden wurden. Auch die beiden Jungs unterstützten Evelyn tatkräftig.

Es war nicht so einfach, die im Ausland lebenden Arbeitskollegen und Geschäftspartner zu eruieren, um auch ihnen eine Einladung zum letzten Geleit zukommen zu lassen. Alle waren erstaunt, als die Kondolenzschreiben aus aller Welt eintrafen. Die Worte, die viele von ihnen für Ben fanden, waren überwältigend und unterstrichen seinen besonderen Charakter. Immer und immer wieder las Rita die Briefe von Menschen, die mit ihrem Vater anscheinend mehr Kontakt hatten, als sie selbst, und das verursachte ihr großen inneren Schmerz.

Am Tag der Beerdigung versammelten sich viele Trauernde, unter ihnen eine Menge Menschen aus unterschiedlichen Ländern. Evelyn wusste bereits, wer kommen würde und hatte es nicht versäumt, die wichtigsten Teile des Gottesdienstes in mehrere Sprachen übersetzen zu lassen. Rita ließ es sich nicht nehmen, die Predigt in Englisch und Portugiesisch zu übersetzen. Sie war an diesem Tag so kraftvoll, um ihrem geliebten Vater die letzte Ehre zu erweisen. Eine ganz besondere Aura umgab sie, so meinten auf jeden Fall zahlreiche Gäste. Auch Rita selbst spürte es ganz deutlich – es war ihr Vater, der ihr den Rücken stärkte und sie aufrichtete. Dass so viele Trauernde aus dem Ausland anreisten, erfüllte sie mit Stolz. Die Zeremonie am Friedhof war sehr würdevoll; am offenen Grab gab es einige Abschiedsreden von sehr engen Freunden und seinem ehemaligen Vorgesetzten. Auch der Pfarrer fand treffende Worte für die Familie.

Der schwierigste Moment für Rita war wohl das langsame Versenken des Sarges in die Grube. Ein grausamer Augenblick des Abschiedes ohne jeden Trost. All ihre Liebe zu ihrem Vater sprach sie der weißen Rose zu, die sie ins offene Grab fallen ließ.

Wie es der Tradition entsprach, wurden die Trauergäste zum anschließenden Mahl eingeladen. In den vielen Gesprächen wurde immer wieder auf die Loyalität und Charakterstärke Bens hingewiesen. Alle Anwesenden waren froh, ihn kennengelernt und teils über lange Zeit mit ihm Kontakt gehabt zu haben.

Rita lernte nun auch die Verwandtschaft ihres verstorbenen Vaters aus Australien kennen. Es waren Cousins zweiten Grades, oder so. Mit ihnen unterhielt sie sich besonders lange und erfuhr, dass Ben seine Verwandten oft besucht hatte, wenn er gerade beruflich in ihrer Gegend war. Sie wussten allerhand von ihm zu berichten und konnten dieses Unglück auch nicht fassen. So lernte Rita an diesem Tag auch ihren Vater ein Stückchen besser kennen und noch mehr lieben.

Die anstrengenden Stunden fanden ein Ende, die Gäste reisten an den folgenden Tagen wieder ab und ließen die Witwe mit ihren drei Kindern zurück. Auch die Australier verließen sie und schlossen noch eine Europa-Rundreise an. Beim Abschied luden sie Evelyn und die Kinder sogar nach Australien ein. Obwohl der Kontakt zu Ben zuletzt nur mehr sehr sporadisch gewesen war, hinterließ sein Tod eine seltsame Leere. Diese Endgültigkeit beschäftigte die Familie noch lange Zeit.

Einige Wochen nach der Beerdigung erhielt Evelyn Post von einem Notar, der damit beauftragt war, das Erbe von Ben den rechtmäßigen Begünstigten zukommen zu lassen. Ben hatte immer sehr gut verdient und seine Familie in dieser Hinsicht nie im Stich gelassen. Evelyn nahm gemeinsam mit Eric, Tom, Rita und ihren Schwiegereltern an dem gewünschten Termin teil.

Die Verlesung des Testamentes war wie eine letzte Aufmerksamkeit Bens an seine geliebte Familie, die er zumindest in finanzieller Hinsicht abgesichert wissen wollte. So erhielten seine Eltern das angesparte Bargeld und Evelyn mit den Kindern den beachtlichen Erlös aus einer Lebensund Unfallversicherung. Diese hatte er nach der Trennung von seiner Familie ohne deren Wissen abgeschlossen und sie als Begünstigte im Schadensfall eingesetzt. Mit dieser Geste hatte die Familie nicht gerechnet und sie freuten sich, trotz ihrer Trauer, über dieses Geschenk. Es war ein tolles Startkapital in die Selbstständigkeit der jungen Erwachsenen. Das Geld wurde durch vier geteilt und jeder erhielt seinen Anteil ausbezahlt. Ritas Anteil verwaltete Evelyn noch bis zu ihrer Volljährigkeit, dann bekam auch sie den Betrag zur freien Verfügung. Sie tat sich mit dieser Erbschaft nicht leicht. Sie wollte nie Geld von ihrem Vater. Ihr wäre sein Leben wichtiger gewesen. Darum legte sie den hohen Geldbetrag auf ein Sparbuch und verbrauchte lange Zeit keinen einzigen Cent davon.

Die Jahre vergingen. Eric und Tom standen längst auf eigenen Beinen und streunten durch die Weltgeschichte. Nur Rita lebte noch bei ihrer Mutter, die einen neuen Partner gefunden hatte, den sie sehr liebte und der in ihr Haus einzog. Richard war stets bemüht, ein gutes Verhältnis zu den Dreien aufzubauen. Hin und wieder gab es natürlich Unstimmigkeiten, wenn sich Rita bevormundet fühlte, denn niemand hatte in ihren Augen das Recht, die Stelle ihres Vaters in der Familie einzunehmen. Dann versuchte ihr Evelyn, in langen Diskussionen und Gesprächen, die Situation zu erklären. Das waren oft heikle Momente, wenn Rita der Sehnsucht nach ihrem Vater verfiel. Doch Evelyn verstand es immer wieder, ihre Tochter aufzufangen und die Vernunft siegen zu lassen.

Rita entwickelte sich zu einer hübschen jungen Frau, die ihre Sprachbegabung zu nutzen verstand, ehrgeizig ihren Berufswunsch als Dolmetscherin verfolgte und mit zwanzig Jahren ihr Sprachstudium aufnahm.

Spencer, der Einzige, dem Rita ausnahmslos alles erzählte und der alle ihre Gedanken zu kennen schien, wurde im Alter von dreizehn Jahren schwer krank, genau zum Beginn ihres Studiums. Viele Tierarztbesuche folgten, aber auch die verabreichten Medikamente konnten nur mehr die Schmerzen etwas lindern.

Schweren Herzens musste Rita eine Entscheidung treffen – die Todesspritze vom Tierarzt. Sie hatte bereits für den nächsten Montagmorgen einen Termin vereinbart. Spencer war am letzten Sonntag seines Lebens sehr unruhig, als ob er gewusst hätte was geschehen sollte. Er wich Rita nicht von der Seite, obwohl er sichtlich große Schmerzen litt. Als sich Rita an diesem Abend aufs Sofa setzte, nahm sie Spencer in ihren Schoss und streichelte und liebkoste ihn sanft. Genau an dieser Stelle waren sie sich zum ersten Mal begegnet, als Spencer aus der Schachtel gehüpft war. Nun rollte er sich zusammen und atmete sehr schwer. Plötzlich hob er seinen Kopf, sah zu Rita hoch, schenkte ihr mit seinen dunklen Augen den letzten Blick, so als ob er sich für sein Leben bedanken wollte, und schlief für immer ein.

Eine außerordentliche Zeit in Ritas Leben ging damit zu Ende, denn Spencer war die lebendige Erinnerung an ihren geliebten Vater. Obwohl der Schmerz über Spencers Tod sehr groß war, war Rita doch froh, dass ihm die Todesspritze erspart geblieben war und er in aller Ruhe und Geborgenheit hatte gehen können. Die ganz Familie war sehr traurig über diesen Verlust und so beschlossen sie, Spencer im Garten, in dem er unzählige Stunden verbracht und mit Rita herumgetollt hatte, zu begraben. Richard bastelte ein Holzkreuz, hob in einer geschützten Ecke unter einer Buche eine Grube aus und besorgte große Steine zur Befestigung. Rita legte Spencer, in seine Decke gewickelt, hinein und verabschiedete sich mit einem kleinen Blumenstrauß in Weiß von ihm. Evelyn umarmte Rita ganz fest, denn sie wusste, dass es auch ein erneuter Abschied von Ben war, mit dem ihre Tochter hier zu kämpfen hatte.

An der Uni lernte Rita viele neue Freunde kennen und genoss ihre Studienzeit. Bald fand sie ihre alte temperamentvolle Seite wieder. Ihr Freundeskreis erlaubte es ihr, auch zu Hause viel unterwegs zu sein, ab und zu einen über den Durst zu trinken – alles in allem ein ausgefülltes und bewegtes Leben zu führen.

Sie paukte voller Elan, was nötig war, um das Studium mit Bravour abschließen zu können und freute sich auf ihren Beruf als Dolmetscherin. Nie verlor sie ihr Berufsziel aus den Augen. Sie beherrschte nun neben ihrer Muttersprache Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Italienisch und Russisch in Wort und Schrift. Rita übersetzte Bücher aus allen Sparten sehr exakt und gab Sprachunterricht. Sie bemühte sich darum, die Bücher nicht Wort für Wort zu übersetzen, sondern auch den Sinn in den jeweiligen Sprachen herauszuarbeiten, denn sie wusste nur zu gut, dass es durchaus Transportschwierigkeiten und Reibungsverluste zwischen den Sprachen gibt und nur zu oft die Inhalte darunter leiden. Genau diese Art ihrer Arbeit schätzten ihre Auftraggeber und beteuerten immer wieder ihre uneingeschränkte Zufriedenheit.

Ihre mit dem Studium verbundenen Reisen ließen sie sehr viel von der Welt sehen, erleben, erfahren und viele Menschen kennenlernen. Auch die eine oder andere Männerbekanntschaft war dabei, aber Rita hatte eine »unsichtbare Schranke« eingebaut, so beschrieb sie es öfter ihrer Mutter gegenüber, die eine dauerhafte Beziehung unmöglich machte. Manchmal rutschte ihr Evelyn gegenüber heraus: »Ich habe alles unter Kontrolle, auch meine Gefühle.«

Evelyn ahnte nicht, was das zu bedeuten hatte, machte sich aber oft Sorgen um Rita, denn sie wusste, dass oberflächliche Beziehungen keine erfüllende und tragfähige Perspektive für Rita sein konnten. Dafür kannte sie ihre Tochter doch zu gut. Rita erzählte ihrer Mutter lange nicht alles, was sie als mittlerweile erwachsene Frau mit Männern erlebte.

Wenn Evelyn das Gespräch mit ihr suchte, wich Rita ständig aus und blieb an der Oberfläche, was wiederum zu Spannungen zwischen den beiden führte. »Lass mich einfach mein Leben leben. Du hast es ja auch nicht besser gekonnt!« Damit würgte Rita jeden Versuch Evelyns ab, mit ihr ein persönlicheres Gespräch zu führen und sich mit den Gedanken und Einwänden ihrer Mutter auseinanderzusetzen. Solche Aussagen trafen Evelyn mitten ins Herz. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Weg ihrer Tochter als Zuschauer zu beobachten, denn sie wusste insgeheim, dass Rita sie und ihre beiden Brüder für die Trennung und das weitere Schicksal von Ben verantwortlich machte. Rita wusste in solchen Augenblicken mit so harten Worten zu ihrer Mutter genau, wie sehr sie sie damit verletzte, aber sie konnte einfach nicht anders und bemühte sich dafür an anderer Stelle wieder um Ausgleich.

Ihr Beruf ermöglichte es ihr, überall auf der Welt arbeiten zu können; sie benötigte dafür lediglich ihren Laptop. Einige Bekannte beneideten Rita, wenn sie einfach wieder für einige Zeit aufbrach und durch die Welt zog und doch immer genug dabei verdiente. Sogar die eine oder andere Partnerschaft wurde durch ihren Reisedrang abrupt beendet. Was Rita über all die Jahre geblieben war, war eine gewisse Neugierde und der Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen. Diese Neugierde war nicht jene, die Informationsvorsprung und damit gesteigerten Selbstwert verschaffte. Ihre Neugierde war ein unstillbarer Appetit auf das Leben, der sie immer wieder antrieb.

Ein Traum geht in Erfüllung

Seit vor mittlerweile dreizehn Jahren Ritas Vater verunglückte, wiederholte sich in regelmäßigen Abständen ein Traum. Sie träumte ihn mindestens dreimal im Jahr, im Durchschnitt also alle vier Monate und es war immer genau dieselbe Abfolge von Bildern, die sie sehr genau sehen konnte. Mittlerweile machte es ihr nichts mehr aus, obwohl sie nicht wusste, was der Traum bedeuten könnte. Ihr blieb nichts anderes übrig, ihn als Teil ihres Lebens anzunehmen und ihn so, wie er sich zeigte, zur Kenntnis zu nehmen. Ihre nächtliche Reaktion auf diesen Traum war allerdings nicht immer gleich. Oft schlief sie sehr ruhig weiter und konnte sich am nächsten Morgen erinnern, dass sie ihn wieder geträumt hatte und andere Male wachte sie schweißgebadet auf, voller Unruhe und Angst mit dem unbedingten Verlangen nach des Rätsels Lösung. Lange schon hatte sie den Traum aufgeschrieben, denn sie wusste, dass dieses Traumgeschehen nicht alltäglich war und nannte ihn ihren »Ersten Traum«, weil er der erste war, der immer wieder kehrte.

Als einmal ihre beste Freundin Emma in ihrer Stadtwohnung, die sie von Bens Erbe kaufen konnte, zu Besuch war und sie einen schönen Samstag miteinander verbrachten, erzählte sie ihren außergewöhnlichen Traum mit folgenden Worten: