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Frauen zwischen Tradition und Emanzipation Der Beruf der Sekretärin eröffnete Frauen eine neue Welt, den Weg in ein eigenständiges Leben. Karriere zu machen und im Vorzimmer der Macht zu sitzen, war für viele ein Traumberuf und entsprach dem Lebensgefühl des Wirtschaftswunders. Dazu gehörten auch Mode, Kino, Tanzen – und den Mann fürs Leben finden. Doch wie sah der Alltag der Sekretärinnen aus? Und wovon träumten sie? Der Weg von Frauen in die berufliche Unabhängigkeit "Die Sekretärin" stellt den Alltag der Sekretärinnen in den Fokus und lässt sie mittels bisher unveröffentlichter Tagebücher aus dem Deutschen Tagebucharchiv selbst zu Wort kommen. Im Mittelpunkt steht Doris, eine Zugsekretärin in modernen Fernzügen. Annegret Braun zeigt das Leben junger Frauen, die in den 1950er-Jahren zwischen Tradition und Emanzipation standen, während Gleichberechtigung und Frauenrechte immer wichtiger wurden. Aus den lebendigen Erzählungen der Sekretärinnen entsteht das Porträt eines Jahrzehnts, in dem sich weitreichende Umbrüche in der Gesellschaft anbahnten. "Die Sekretärin" ist ein Buch, das aufgrund der Tagebücher so nah und ehrlich ist, wie möglich, und bietet einen einzigartigen Blickwinkel auf die Geschichte der Emanzipation.
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Annegret Braun
Annegret Braun
Frauenkarriere und Lebensträume in den 1950er-Jahren
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Fazit Communication GmbH
Frankfurter Allgemeine Buch
Pariser Straße 1
60486 Frankfurt am Main
Umschlag: Nina Hegemann, Abbildung: Adobe Stock stokkete
Satz: Nina Hegemann, Abbildungen: Adobe Stock, KI
Druck: CPI Books GmbH, Leck
Printed in Germany
1. Auflage
Frankfurt am Main 2024
ISBN 978-3-96251-173-9
eISBN 978-3-96251-261-3
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Buch hat sich zu einer nachhaltigen Buchproduktion verpflichtet und erwirbt gemeinsam mit den Lieferanten Emissionsminderungszertifikate zur Kompensation des CO2-Ausstoßes.
Vorwort
1. Im Vorzimmer der Macht – Frauen zwischen Tradition und Emanzipation
2. Die gesetzliche Vorherrschaft des Mannes – eine Ära geht zu Ende
3. Sekretärin – ein Frauenberuf mit neuen Chancen
4. Dos and Don’ts – die perfekte Sekretärin
5. Die Zugsekretärin – Reisen als Beruf
6. Liebe im Büro – schwierige Verhältnisse
7. Die Suche nach der großen Liebe – Wie angelt sich eine Dame einen Ehemann?
8. Milchbar, Tanzen, Kino – Freizeitvergnügen nach Dienstschluss
9. Das schöne Leben im Wirtschaftswunder – ein neues Lebensgefühl
10. Exkurs: Sekretärinnen von Machthabern – Rückblick in eine düstere Vergangenheit
11. Der Schatten des Nationalsozialismus – Verdrängung in den 1950er-Jahren
12. Protest und Αlltag – Sekretärinnen in den 1960er-Jahren
Αnhang
Endnoten
Αutorenvita
Sekretärin war in den 1950er-Jahren für viele junge Frauen ein Traumberuf. Im schicken Kostüm, perfekt frisiert und hübsch geschminkt im modernen Büro zu sitzen und wichtige Geschäftsbriefe auf der Schreibmaschine zu tippen, das war schon etwas Besseres, als in der Küche von wohlhabenden Herrschaften zu stehen und Kartoffeln zu schälen oder Wäsche zu waschen – noch ohne Waschmaschine. Der Beruf der Sekretärin öffnete jungen Frauen eine ganz neue Welt. Es war ein Schritt in die Geschäftswelt, die Männern gehörte. Dies änderte sich, als es in der Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders einen hohen Bedarf an Sekretärinnen gab. Es war ein Beruf, der für viele junge Frauen erreichbar war, wenn sie stenografieren und Maschinenschreiben gelernt hatten. Angefangen als Stenotypistin in einem Büro, erklommen manche Frauen die Karriereleiter nach oben und erreichten als Chefsekretärin das Vorzimmer der Macht. Das war eine anspruchsvolle Aufgabe und ein großer Karriereschritt. Dazwischen gab es viele Abstufungen, die eine genaue Abgrenzung zwischen den Büroberufen erschweren. Deshalb wird in diesem Buch vor allem die allgemeine Bezeichnung Sekretärin verwendet und nur in konkreten Fällen Stenotypistin und Bürohilfskraft.
Sekretärin war ein angesehener Beruf. Die Arbeit im Büro brachte Selbstbewusstsein und ein neues Lebensgefühl mit sich. Junge Frauen verdienten ihr eigenes Geld, sie konnten sich schicke Kleidung kaufen, zum Tanzen und ins Kino gehen. Ihr Beruf machte sie unabhängig. Sie mussten keinen Versorger finden, sondern konnten aus Liebe heiraten. In diesem Buch geht es um das Leben junger Frauen, ihre Arbeit im Büro, ihre Freizeit nach Dienstschluss, ihre Lebensträume und ihre Suche nach einem Ehemann. Wenn eine Sekretärin heiratete, gab sie ihren Beruf auf. Deshalb sind die in diesem Buch vorgestellten Sekretärinnen meist jung und unverheiratet.
Das Buch gibt einen seltenen Einblick in das Leben junger Frauen und ihre Gefühlswelt, denn die Frauen kommen selbst zu Wort – in ihren Tagebüchern und Lebenserinnerungen. Biografien und historische Rückblicke betrachten die Zeit aus einer Distanz, bei der Ereignisse vergessen oder verklärt werden, Tagebücher jedoch beschreiben die Zeit ungefiltert, offen, ehrlich und oft auch detailliert. Die Tagebücher stammen aus dem Deutschen Tagebucharchiv, ein Archiv voller Schätze, um Zeitgeschichte zu erforschen. Eine der Tagebuchschreiberinnen, Doris Kraus, erzählt über ihren Beruf als Zugsekretärin, ein Beruf, der fast vergessen ist. Von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre besaßen die modernen Fernzüge ein Schreibabteil, ein fahrendes Büro für Reisende. Diesen besonderen Service der Bundesbahn nutzten vor allem Geschäftsleute, um Briefe zu diktieren. Doris Kraus lebte in Frankfurt und schrieb fast ihr Leben lang Tagebuch. Sie erzählt sehr offen und lebendig über ihren Beruf, ihre Freizeit, ihre Lebensvorstellungen, aber auch über ihre Enttäuschungen. Ihre Tagebucheinträge sind der rote Faden, der sich durch das Buch zieht. Zusammen mit den Erinnerungen und Zeitzeugnissen aus Tagebüchern von anderen Sekretärinnen und historischem Hintergrundwissen entsteht ein lebendiges Bild vergessener Frauengeschichte. Und es wird die Geschichte eines Berufes erzählt, der wie kein anderer die Entwicklung und Entstehung weiblicher Berufstätigkeit und Karrieren illustriert.
Zugleich porträtiert das Buch ein Jahrzehnt, das einen Übergang zwischen zwei Epochen bildet, die weitreichende Folgen für die Gesellschaft hatten: der Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit auf der einen und die Emanzipationsbewegung und Studentenrevolte auf der anderen Seite. Um die 1950er-Jahre zu verstehen, muss man auch einen Blick auf die Vergangenheit werfen. Auch diese Zeit wird aus der Sicht von Sekretärinnen unter Zuhilfenahme der historischen Fakten erzählt.
An dieser Stelle sei noch ein Hinweis zur Transparenz der Quellenangabe angebracht: In diesem Buch gibt es sehr viele Zitate aus den Tagebüchern. Um den Umfang des Anhangs nicht zu überstrapazieren, wird nicht jedes einzelne Zitat belegt. Alle Tagebücher, aus denen zitiert wird, sind jedoch im Quellenverzeichnis aufgelistet.
Das Buch wäre nicht entstanden ohne die Mitwirkung vieler Menschen, denen ich herzlich danke. Das sind vor allem die Tagebuchschreiberinnen und Autorinnen, die ihre Erinnerungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben. Ich danke für ihre Offenheit, mit der sie uns an ihrem Leben teilhaben lassen und uns ein besseres Verständnis dieser Zeit ermöglichen. Viele dieser Zeitzeuginnen sind nicht mehr am Leben. Ich danke deshalb auch den Angehörigen, die die Zustimmung zur Veröffentlichung gegeben haben. Herzlich danken möchte ich vor allem Ruth Moos und ihrem Sohn Karsten, der Schwester und dem Neffen von Doris Kraus. Sie haben mir viel von Doris erzählt, noch mal alle Kisten und Schachteln durchsucht, um wirklich jedes Tagebuchblatt zu finden. Ganz herzlich danken möchte ich auch Rita, die mir an einem Nachmittag sehr anschaulich und offen über ihr Leben als Sekretärin erzählt hat.
Ein großer Dank gilt auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen, ganz besonders denjenigen, die für mich die Berge an Tagebüchern bereitgelegt und wieder weggeräumt haben. Herzlich danken möchte ich auch Marlene Kayen, die DTA-Vorsitzende, die mich auf die Tagebücher von Doris aufmerksam gemacht hat. Das war die Initialzündung für dieses Buch. Ein sehr herzlicher Dank gilt auch Jutta Jäger-Schenk, die mich als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Recherche sehr unterstützt hat und immer ein offenes Ohr für meine Fragen hatte.
Aus einer Idee wird erst ein Buch, wenn es Büchermenschen gibt, die von der Idee so überzeugt sind, dass sie sie verwirklichen. Mein großer Dank gilt deshalb meiner Literaturagentin Beate Riess und ihrer Kollegin Anne-Katrin Weise, die das Buch mit ihren inspirierenden Ideen und viel Ausdauer auf den Weg gebracht haben. Meinem Lektor Dr. Jens Seeling danke ich herzlich für sein Vertrauen in das Buchprojekt und die sehr gute und sehr angenehme Zusammenarbeit. Christin Bergmann danke ich sehr, dass sie dem Buch mit ihrem sorgfältigen Lektorat den letzten Schliff gegeben hat. Herzlichen Dank auch an das ganze Verlagsteam, das mitgewirkt hat, um das Manuskript zu einem schönen Buch zu gestalten.
Mein innigster Dank gilt meinem Mann Martin und unseren Töchtern Lea und Naomi, die sich meistens interessiert meine begeisterten Ausführungen über die Geschichte der Frauen angehört und das Manuskript gelesen haben. Ihr Interesse, ihre kritischen Anmerkungen und unsere Gespräche waren Inspiration und Ermutigung während des langen Schreibprozesses.
In den 1950er-Jahren begann eine neue Zeit. 1949 gelang es den Frauen, die gesetzliche Gleichberechtigung durchzusetzen. Das öffnete ihnen in vielen Bereichen die Tür für ein selbstbestimmtes Leben. Vor allem Ehefrauen waren nicht mehr auf die Zustimmung ihres Ehemannes angewiesen. Sie konnten nun, ohne ihn zu fragen, ein eigenes Bankkonto eröffnen oder den Führerschein machen, Dinge, die für Frauen heute selbstverständlich sind. Noch in den 1950er-Jahren sprach man Frauen jedoch weitreichendere Tätigkeiten bezüglich Geschäften ab. Eine Amerikanerin, die in den 1950er-Jahren nach Deutschland zog, erzählte, dass sie in einem Geschäft eine Waschmaschine kaufen wollte. Sie war entsetzt, als der Verkäufer darauf bestand, dass ihr Mann kommen müsse, um zu unterschreiben. Dabei wusste er ja nicht einmal, wie man eine Waschmaschine bediente. Und bis 1977 brauchte eine Frau immer noch das Einverständnis ihres Mannes, wenn sie berufstätig sein wollte.
Auch die traditionelle Geschlechterordnung stand den Frauen im Weg. Jahrhundertelang hatte der Mann über das Geld der Frau bestimmt, er hatte entschieden, wo die Familie wohnte, in welche Schule die Kinder gingen und wofür das Geld ausgegeben wurde. Und nun waren Männer und Frauen gleichberechtigt, zumindest im Gesetzbuch. Im Alltag setzte sich das Bewusstsein nur langsam durch. Eine Zeitzeugin erinnert sich noch genau daran, als ihr diese neue Freiheit zum ersten Mal bewusst wurde. Sie erzählt rückblickend: „Als die Emanzipation dann durchgesetzt war, per Gesetz, da brauchte ich ‘nen Staubsauger. Meiner war kaputt, und dann kam Vorwerk und wollte ‘nen Staubsauger verkaufen. Und dann hatte ich meinen Mann angerufen, ob ich ‘nen Staubsauger kaufen kann. Nein, kommt nicht infrage. Da hab‘ ich gesagt: Weißt Du was? Du kannst mich mal. Ich bin gleichberechtigt, ich sag‘: und ich kann das selber, und ich kauf‘ den. Das werde ich nie vergessen. Das war meine erste Handlung, die ich wirklich, ohne ihn zu fragen, machen durfte. Das war so ein Erlebnis, dass ich das bis heut‘ noch nicht vergessen hab.“1
Als Sekretärin in einer Männerwelt
Eine unverheiratete Frau hatte viel mehr Freiheiten. Sie hatte keinen Ehemann, den sie um Erlaubnis fragen musste, ob sie berufstätig sein darf. Sie verdiente ihr eigenes Geld und entschied selbst, wofür sie es ausgab. Dennoch spürte auch sie im Alltag die Macht der Männer, vor allem in ihrem Beruf. Sie waren ihre Vorgesetzten, die Macher, die Entscheidungsträger, aber als Sekretärin hatte sie teil an dieser Macht, insbesondere als Direktionssekretärin oder wie man heute sagen würde, als Chefsekretärin. Mit einer Sekretärin wollten es sich die Kunden nicht verscherzen, denn sie war der Zugang zum Chef. In diese Position zu gelangen, war ein großer Karriereschritt als Frau. Für die meisten Sekretärinnen war es allerdings schwierig, aus dem Schreibbüro, das sie mit Kolleginnen teilte, in das Vorzimmer des Direktors aufzusteigen. Auch Doris Kraus, die als Sekretärin bei dem großen Frankfurter Unternehmen Degussa in der Verkaufsabteilung Durferrit arbeitete, bemühte sich darum. Der Name Degussa steht für die 1873 gegründete „Deutsche Gold- und Silber-Scheide-Anstalt“. In den 1950er-Jahren stellte Degussa Industriechemikalien her. Doris litt sehr darunter, dass sie beruflich kaum vorankam. Sie war ehrgeizig, wissensdurstig und nutzte jede Gelegenheit, sich fortzubilden. Am 12. Mai 1954 schrieb die 23-jährige Doris in ihr Tagebuch: „Das Programm der Vertretertagung fiel mir in die Hände: ‚Wettbewerb, Konkurrenz usw.‘ stand für heute morgen da. Ich bedauerte – es war bereits 8 Uhr, daß ich in den entscheidendsten Momenten schlafe, nämlich, daß ich mich nicht einsetzte, dort zuhören zu können. Die Sonne flutete schon wieder mit voller Kraft durch mein Zimmer. Da, die Tür ging auf: Herr Rani kam herein, den ich schon längst bei der Tagung glaubte. Er sagte, er gehe jetzt. Ich sagte zu ihm: ‚Nehmen Sie mich doch mit.‘ – ‚Kommen Sie!‘“ Doris war sehr überrascht, dass es so einfach war, als Sekretärin an der Tagung teilzunehmen. Man musste sich offenbar nur trauen, etwas zu fordern. Sie bemerkte allerdings schnell, wie ungewöhnlich es war, dass eine Sekretärin bei dieser Vertretertagung dabei war. Doris fühlte sich wie ein Fremdkörper unter all den Geschäftsleuten. Die Männer kannten und begrüßten sich. Von ihr als Sekretärin nahm niemand Notiz. Nur ein Vertreter aus der Schweiz erkannte sie und rief: „Guten Morgen, mein Fräulein.“ Dass sie wahrgenommen wurde, verunsicherte Doris mehr, als dass sie sich darüber freute. Sie beachtete ihn kaum, denn sie war damit beschäftigt, sich einen Platz auf diesem fremden Terrain zu suchen. Doris fand einen freien Stuhl hinter ihren Vorgesetzten. „Vor mir saß Herr Hoppe, links von ihm Dr. Müller und rechts ein Vertreter. Voegelin begann den Vortrag. Hoppe las Zeitung. Dr. Müller schraubte seine linke Stuhllehne ab, die beiden anderen machten es nach, tauschten sie aus, versteckten sie in Hosentaschen, Westeneingängen und schraubten sie wieder auf. Dann rauchten sie Zigaretten. Herr Voegelin unterbrach auch mal seinen Vortrag und ließ sich Feuer geben. Man sprach vom Einbruch der Konkurrenz und die dadurch verminderte Abnahme unserer Salze.“ Wahrscheinlich war Doris die Einzige, die den Vortrag aufmerksam verfolgte, während die Männer damit beschäftigt waren, ihre Heimwerker-Leidenschaft auszuleben und an den Stühlen herumzuschrauben. Oder sie vertrieben sich die Zeit mit Zeitung lesen und rauchen. Niemand schien sich an dem Knistern der Zeitung und an dem Herumbasteln der Männer zu stören. Heute sind die Nebenbeschäftigungen während der Vorträge viel unauffälliger und geräuschloser. Man liest auf dem Smartphone die neuesten Nachrichten, vertieft sich in ein Onlinespiel oder stellt Recherchen für das nächste Wellness-Wochenende an, um sich vom stressigen Berufsleben zu erholen. Für uns heute unvorstellbar ist, dass die Männer während der Vorträge wie selbstverständlich rauchten. Sogar der Redner unterbrach seinen Vortrag, um sich Feuer geben zu lassen. Wahrscheinlich hat der Vortragende durch die Rauchwolke kaum gesehen, dass sich seine Zuhörer mit interessanteren Dingen beschäftigten. Aschenbecher standen immer griffbereit, denn geraucht wurde überall, im Büro, in den Geschäften, im Zug, sogar bei Talkshows im Fernsehen. Auch bei Besprechungen bot man seinen Geschäftspartnern Zigaretten an. Einen Glimmstängel zwischen den Fingern zu halten war in den 1950er-Jahren so selbstverständlich wie heute ein Coffee-to-go-Becher in der Hand.
Anhand dieser Tagung wird deutlich, wie unterschiedlich die Arbeitswelten von Frauen und Männern waren. Für Doris war es eine Abwechslung von ihrem Büroalltag, für die Männer eine Pflichtveranstaltung.
Sekretärin – ein weiblicher Beruf?
Sekretärin war der ideale Beruf, der Tradition und Emanzipation miteinander verband. In dem Ratgeberbuch „Hohe Schule der Sekretärin“, ein Bestseller der 1950er-Jahre in mehreren Auflagen, wird der Beruf Sekretärin als Siegeszug der Frauen angepriesen. Verfasst haben das Buch die Journalistin Martha Maria Gehrke und ihr Kollege Walter Joachim. Während Gehrke vor allem die Kapitel über das Berufsverständnis und das Verhalten der Sekretärin schrieb, erklärte Joachim das Fachwissen, beispielsweise über Büromaterial, den Zahlungsverkehr und die Verwaltung von Akten. Martha Maria Gehrke sah die Eroberung des Sekretärinnenberufs als einen emanzipatorischen Schritt, denn die Geschäftswelt war die Domäne der Männer. Sekretärin sei kein mütterlichhausfraulicher Beruf wie Krankenschwester oder Kindergärtnerin und dennoch sei es Frauen gelungen, sich diese Welt zu erobern. Ihre weibliche Seite könne sie trotzdem einbringen: „Wie schön, wenn es einer Frau gelingt, diese nüchterne Welt mit menschlicher Wärme zu beleben.“ Aus dieser Perspektive ist es verständlich, warum die perfekte Sekretärin auch fürsorgliche Qualitäten haben sollte, wie Kaffee kochen, Blumen gießen und Besucher zu empfangen.
Der Beruf knüpfte an die damalige Frauenrolle an und war zugleich ein Schritt in die Männerwelt. Und es war ein Beruf, der Frauen die Möglichkeit bot, beruflich voranzukommen. Diese nutzte Doris. Sie war ehrgeizig und wissbegierig. Gegenüber ihren Vorgesetzten sagte sie klar und deutlich, dass sie gerne an der Vertretertagung teilnehmen würde: „Nehmen Sie mich doch mit!“ Doch die Tagung war ein männliches Terrain, in dem sie sich als Frau unwohl fühlte.
Die 1950er-Jahre waren eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs: auf der einen Seite die traditionellen Geschlechterrollen und auf der anderen Seite das 1949 verabschiedete Gleichberechtigungsgesetz. Obwohl die Frauen während des Krieges Männer in vielen Bereichen ersetzt hatten, gewannen die alten Geschlechterrollen schnell wieder die Oberhand, als die Männer aus dem Krieg oder aus der Kriegsgefangenschaft zurückkamen. Männer erinnerten die Frauen daran, dass sie gesetzlich zur Hausarbeit verpflichtet waren. Die Arbeit im Haushalt stellten Frauen nicht infrage, denn dass ein Mann kochen, putzen, Wäsche waschen und bügeln würde, dass er überhaupt fähig dazu wäre, war damals unvorstellbar – für Männer sowieso, aber auch Frauen hielten Männer dafür schlichtweg für zu ungeschickt. Man glaubte, dass das Talent für Hausarbeit in den weiblichen Genen liege, genauso wie die Fähigkeit, Kinder zu gebären. Frauen erwarteten von Männern nicht, am Waschbrett zu stehen und Wäsche zu schrubben, aber sie empörten sich über die Ungerechtigkeit, dass sie nach dem Krieg aus dem Arbeitsleben gedrängt wurden, um den Männern wieder Platz zu machen.
Machtgefälle im Büro
Dieses Machtgefälle zwischen Männern und Frauen zeigte sich in allen Lebensbereichen, auch im Büro und nicht nur zwischen dem Vorgesetzten und seiner Sekretärin, sondern auch zwischen dem Kollegen und der Kollegin. Auch Doris erlebte dieses Machtgefälle im Büro. Als sie bei Degussa als angelernte Hilfskraft anfing, wurde sie von einem Kollegen ungefragt geduzt. In ihr Tagebuch schrieb sie: „Ein Herr im Tabellierraum, wo ich vorübergehend arbeitete, sagte einfach Dorischen und du zu mir. Weil er sonst sehr anständig war, wusste ich nicht, wie ich ihn daran hindern sollte. Am 2. Tag sagte schon ein 2. Herr Doris und Du, am 3. Tag ein 3. Da ging ich einfach zu dem 1. Herrn hin, bat ihn, nicht mehr das ‚Du‘ mir gegenüber zu gebrauchen wegen der andern, die dann immer gleich ausarten. Er tat es und sagte es niemandem. Alle sagten auf einmal wieder Frl. Kraus.“
In den 1950er-Jahren siezte man sich, sowohl im Büro als auch beim Tanzen. Selbst wenn man bereits zusammen ausging, reichte das noch lange nicht, um sich zu duzen. Dafür musste man schon fast miteinander verlobt sein. Nur Kinder duzte man sofort. Wenn die Kollegen Doris also ungefragt duzten, ohne selbst das Du anzubieten, dann zeigte sich darin ein unangemessenes Verhalten. Väterlich, von oben herab, als wäre die junge Frau noch ein Kind. Das zeigt sich auch daran, dass der erste Kollege die Verkleinerungsform ihres Namens Dorischen verwendete.
Auch Benimmbücher in den 1950er-Jahren warnen, vorschnell jemanden zu duzen. Habe man mal das „Du“ angeboten, könne man das kaum zurücknehmen. „Es geht nämlich auch sehr gut ohne das ‚Du‘. Manche Freundschaft ist sogar durch die Vertraulichkeit, die es mit sich brachte, in die Brüche gegangen, und es gibt auf der anderen Seite lebenslange Freundschaften, die nur das ‚Sie‘ kannten.“2 Das Siezen wurde nicht als distanzierter Umgang gesehen, sondern als ein respektvoller Umgang betrachtet. Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre siezten sich ihr Leben lang, obwohl sie eine innige Beziehung zueinander hatten. Simone de Beauvoir erklärte, dass sie nur mit zwei bis drei Personen per Du sei, die sie dazu genötigt hätten. Vermutlich hat das Duzen nicht zu einer Vertraulichkeit der Beziehung geführt.
Wenn Doris von den Kollegen geduzt wurde, fehlte es an Respekt. Für die Kollegen war das Duzen vielleicht nett gemeint, doch Doris durchschaute sofort, dass sie dadurch kaum ernst genommen werden würde. Sie klärte also gleich die Fronten und bestand auf dem Sie. Erstaunlich, dass es ausreichte, nur den ersten Kollegen in die Schranken zu weisen, um das Siezen durchzusetzen.
Doris war nicht die angepasste Sekretärin, sondern bezog gegenüber Männern eine klare Position. Sie scheute sich auch nicht, ihren Chef zu kritisieren: „Mit Halbe hatte ich am Mittwoch einen 1a Krach. Ich brachte zum Ausdruck, daß er zu langsam diktiere und er, daß ich zu langsam Schreibmaschine schreibe.“ Das entsprach ganz und gar nicht dem, was die Ratgeberbücher den Sekretärinnen empfahlen. Doch die eigene Position zu vertreten, zeigte auch bei ihrem Chef Wirkung: „Dann tat er aber alles, um die Versöhnung wieder herbeizuführen. Das hat mich gerührt.“ Auf dem Weg zum Essen entschuldigte sie sich ebenfalls, schrieb sie in ihr Tagebuch, sie habe manchmal „einen greulichen Dickkopf“.
Nach dem Krieg waren es wieder vor allem Männer, die die Gesetze machten. Im Parlamentarischen Rat berieten gesetzte Herren im dunklen Anzug über das Grundgesetz. Bei den 65 stimmberechtigten Mitgliedern übersah man fast, dass auch vier Frauen darunter waren: Dr. Helene Weber (CDU), Helene Wessel (Zentrum), Friederike Nadig (SPD) und Dr. Elisabeth Selbert (SPD). Nur vier Frauen – viel zu wenig, wenn man bedenkt, dass Frauen in der Bevölkerung weit in der Überzahl waren. Diese Frauen im Parlamentarischen Rat waren zwar leicht zu übersehen, aber keinesfalls zu überhören.
Elisabeth Selbert und ihr Gesetzesentwurf
Elisabeth Selbert war Juristin und hatte eine eigene Anwaltskanzlei. Sie erlebte in ihrer Kanzlei oftmals, wie benachteiligt Frauen vor dem Gesetz waren. Deshalb arbeitete sie einen Gesetzesvorschlag aus, der schlicht lautete: „Frauen und Männer sind gleichberechtigt.“ Sie schlug ihrer Fraktion vor, diese Gesetzesformulierung im Parlamentarischen Rat einzubringen. Doch zu ihrer Überraschung waren ihre Parteikollegen und -kolleginnen davon nicht begeistert. Sie rechneten sich keine großen Chancen aus, das Gesetz durchzubringen, da es ein juristisches Erdbeben auslösen würde. Man müsste dann auch das Familienrecht ändern. Der Parlamentarische Rat hatte die Aufgabe, eine neue Verfassung zu schaffen, aber vom Bürgerlichen Gesetzbuch wollte man die Finger lassen. Dass die Frau in staatsbürgerlichen Dingen dem Mann gleichgestellt ist, hatten die Abgeordneten in ihrem Gesetzesentwurf bereits aufgenommen. Doch mit halben Sachen gab sich Elisabeth Selbert nicht zufrieden. Sollte die Frau in der Politik mitbestimmen dürfen, aber zu Hause dem Mann gehorchen müssen? Die Gleichberechtigung musste auf allen Ebenen durchgesetzt werden. Elisabeth Selbert überzeugte ihre Parteifreunde. Da sie nicht im Grundsatzausschuss war, brachte ihre SPD-Kollegin Friederike Nadig den Gesetzesvorschlag ein. Die Abgeordneten schmetterten den Antrag ab. Diese Forderung ging vielen zu weit. Dr. Dehler von der FDP wandte ein: „Dann ist das Bürgerliche Gesetzbuch verfassungswidrig.“ Und Herr Dr. von Mangold von der CDU argumentierte, dass man ein Recht, wenn es mal im Grundgesetz steht, nicht mehr ändern könne. Das aber war genau das Ziel von Elisabeth Selbert. Stünde die Gleichberechtigung einmal in der Verfassung, dann wäre es mit der Männerherrschaft endgültig vorbei, zumindest gesetzlich. Dann könnte keine Regierung mehr die Gleichberechtigung einschränken. Und vor allem: Es könnten keine neuen Gesetze mehr geschaffen werden, die die Frau benachteiligten. Wie weitsichtig Elisabeth Selberts Forderung war, die Gleichberechtigung ohne irgendwelche Einschränkungen ins Grundgesetz aufzunehmen, stellte sich später heraus, als die Regierung versuchte, die Gleichberechtigung wieder zu kippen. Damit standen die Politiker aber auf verlorenem Posten, denn am Grundgesetz war nichts mehr zu rütteln.
Doch bis Elisabeth Selbert die Gleichberechtigung durchbrachte, war es noch ein schwieriger Weg voller Hindernisse. Ihr Gesetzesvorschlag wurde bei der nächsten Sitzung wieder abgelehnt. Obwohl ihr Gesetzesvorschlag damit eigentlich vom Tisch war, brachte sie ihre Formulierung „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“ im Hauptausschuss höchstpersönlich vor und erklärte, warum der bisherige Gesetzesvorschlag nicht weitreichend genug sei: „Der Satz ‚Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich‘ bedeutet nicht das, was wir wollen. Der Satz: ‚vor dem Gesetz gleich‘, bezieht sich nur auf die Rechtsanwendung, nicht aber auf die Rechtssetzung.“3 Mit Nachdruck argumentierte sie: „Ich kann bei dieser Gelegenheit erklären: in meinen kühnsten Träumen habe ich nicht erwartet, dass der Antrag im Grundausschuss abgelehnt werden würde. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass man heute weiter gehen muss als in Weimar und dass man den Frauen die Gleichberechtigung auf allen Gebieten geben muss. Die Frau soll nicht nur in staatsbürgerlichen Dingen gleichstehen, sondern muss auf allen Rechtsgebieten dem Mann gleichgestellt werden.“4 Und um den Abgeordneten klar zu machen, dass sie sich auf keinen Fall auf irgendeinen Kompromiss einlassen würde, fügte sie hinzu: „Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, dass in der gesamten Öffentlichkeit die maßgeblichen Frauen dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, dass unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist.“ Das kümmerte die Abgeordneten aber nicht, auch nicht als Elisabeth Selbert ihnen vorrechnete, dass auf 100 männliche Wähler 170 weibliche Wähler kamen und die Frauen damit entscheiden, wer in Zukunft gewählt würde. Die Abgeordneten lehnten den Antrag wieder ab. Damit schien die Gleichberechtigung endgültig im Papierkorb gelandet zu sein.
Doch Elisabeth Selbert gab nicht auf. Sie schritt zur Tat und machte das wahr, was sie angekündigt hatte. Sie startete eine große Tour durch Deutschland und erklärte den Frauen, wie schlecht ihre Rechtslage war und dass es in Zukunft so bleiben würde, wenn sie sich nicht vehement zur Wehr setzen würden. Elisabeth Selbert sprach im Rundfunk zu den Hörerinnen, zu Journalisten und Journalistinnen von der Presse, zu Gewerkschafterinnen und vielen anderen Frauenorganisationen sowie zu den weiblichen Abgeordneten der Landtage. Und dann geschah etwas, womit die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat überhaupt nicht gerechnet hatten: Die Frauen setzten sich zur Wehr. Es gab Proteste aus der ganzen Bevölkerung. Elisabeth Selbert erklärte im Rückblick: „Ich war im Land landauf- und landabwärts gefahren, ich war in Hamburg, München, Frankfurt und hatte über die Gleichberechtigung der Frau gesprochen, besonders der Frau im Familienrecht. Das konnte ich ganz gut, weil ich als Anwalt seit 1934 immer wieder erlebt hatte, welche ungeheuerliche schlechte Rechtsstellung die Frau im Familienrecht hatte. Man musste sich ja vorstellen, das Familienrecht stammte aus der Zeit von 1870 bis 1900, wie das BGB auch, aus einer Zeit, als Großmama noch keine Gleichberechtigung brauchte. Es war geradezu begeisternd und erschütternd, wie die Proteste aus dem ganzen Bundesgebiet, und zwar Einzelproteste und Verbandsproteste in großen Bergen in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hingeschüttet wurden. Körbeweise! Und ich wusste, in diesem Augenblick hätte kein Abgeordneter mehr gewagt, gegen diese Fülle von Protesten anzugehen und bei seinem Nein zu bleiben.“5
Auf einmal drehte sich die Stimmung im Parlamentarischen Rat. Die Abgeordneten beeilten sich zu versichern, dass sie ja von Anfang an für die Gleichberechtigung gewesen waren. In der nächsten Sitzung wurde der Gleichberechtigungsgrundsatz einstimmig angenommen.
Heute ist fast vergessen, dass die Aufnahme der Gleichberechtigung in das Grundgesetz beinahe gescheitert wäre und nur durch den Protest von vielen, vielen Frauen durchgesetzt werden konnte. Zu verdanken ist der Sturm der Empörung Elisabeth Selbert, die unermüdlich für die gesetzliche Gleichberechtigung gekämpft hat. Was es für sie selbst bedeutet hat, schreibt sie im Rückblick: „Ich hatte gesiegt, und ich weiß nicht, ob ich Ihnen das Gefühl beschreiben kann, das ich in diesem Augenblick gehabt habe. Ich hatte einen Zipfel der Macht in meiner Hand gehabt und den habe ich ausgenützt, in aller Tiefe, in aller Weite, die mir rhetorisch zur Verfügung stand. Es war die Sternstunde meines Lebens, als die Gleichberechtigung der Frau damit zur Annahme kam.“6
Gleichberechtigung im Bürgerlichen Gesetzbuch
Frauen und Männer waren nun gleichberechtigt. Aber die Gesetze im Bürgerlichen Gesetzbuch standen noch im Widerspruch dazu. Dort gab es zum Beispiel den „Gehorsamsparagraphen“, der besagte: „Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffende Angelegenheiten zu, er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung.“ Der Mann konnte über alles entscheiden, ob seine Frau berufstätig sein durfte oder ob seine Kinder in eine höhere Schule gehen sollten. Nicht mal über ihr eigenes Geld konnte die Frau bestimmen, weder über ihr mühsam Erspartes, das sie in die Ehe brachte, noch über das Geld, das sie als Sekretärin oder Verkäuferin verdiente. Der Mann bestimmte, wie das Geld ausgegeben werden sollte. Wenn seine Frau von ihrem selbstverdienten Geld eine Waschmaschine kaufen wollte, er aber der Meinung war, dass ein Motorrad für ihn viel wichtiger sei, dann blieb der Ehefrau nichts anderes übrig, als sich weiterhin am Waschbrett die Hände wund zu scheuern. Und selbst wenn der Mann seiner Frau erlaubte, eine Waschmaschine zu kaufen, dann brauchte sie die Unterschrift ihres Mannes, denn sie war nicht geschäftsfähig. Vor dem Gesetz hatte sie die Stellung eines Kindes.
Die Gesetze im Bürgerlichen Gesetzbuch mussten gründlich überarbeitet werden. Dass dies auch geschah, haben wir engagierten Frauen in den 1950er-Jahren zu verdanken. Diese Zeit ist nicht gerade für Emanzipationskämpfe bekannt. Im Gegenteil: Bilder aus dieser Zeit zeigen Hausfrauen in sauberer Küchenschürze, hübsch frisiert, die ihren Mann mit einem Kuchen nach einem Dr. Oetker-Rezept aus dem neuen Miele-Backofen überrascht. Man sieht also, das Bild der 1950er-Jahre muss zurechtgerückt werden. Die Frauen sind zwar nicht protestierend, mit Plakaten bewaffnet, durch die Straßen gezogen, aber sie haben an der richtigen Stelle klug gehandelt und so die Vorherrschaft des Mannes gestürzt, und zwar, indem sie sich in die Politik einmischten.
Der Bundestag hatte die Aufgabe, die Gesetze dem Gleichberechtigungsgrundsatz anzupassen. Die alte Gesetzgebung im Bürgerlichen Gesetzbuch sollte nicht länger als bis zum 31. März 1953 in Kraft bleiben, danach sollten die neuen Gesetze gelten. Vier Jahre! Das sollte reichen, um einige Gesetze umzuschreiben. Doch die Frauen ahnten, dass die Mühlen in der Politik sehr langsam mahlen würden, wenn es um Gleichberechtigung ging. Deshalb bildeten einige Frauen Beratungsgruppen, um den Politikern Gesetzesvorschläge zu machen, darunter auch Juristinnen. Die Befürchtungen der Frauen bewahrheiteten sich. Anstatt die Gesetze anzupassen, versuchte die Regierung, die Gleichberechtigung auszubremsen. So setzte sie durch, dass die Zöllibatsklausel für Beamtinnen weiterhin galt. Wenn also eine Lehrerin heiratete, verlor sie ihre Stelle und alle Pensionsansprüche. Eine Lehrerin war und blieb auf immer „das Fräulein“ – oder sie war keine Lehrerin mehr.
Der 31. März 1953 kam, aber nichts war geschehen. Nun war das Schreckensszenario eingetreten, das die Gegner der Gleichberechtigung an die Wand gemalt hatten: ein absolutes Rechtschaos. Die alten Gesetze galten nicht mehr und neue waren noch nicht vorhanden. Nach den Bundestagswahlen 1953, die die CDU/CSU mit großer Mehrheit gewann, beantragte die neue Regierung, den Gleichberechtigungsparagrafen zwei Jahre lang außer Kraft zu setzen. Hier zeigt sich, dass die Gleichberechtigung am liebsten wieder abgeschafft worden wäre. Aber das ging nicht so einfach, weil die Gleichberechtigung im Grundgesetz stand. Die Frauenorganisationen protestierten wieder mit Vehemenz. Und das zeigte Wirkung. Die FDP, die Koalitionspartei der CDU/CSU, war zwar nicht für die Gleichberechtigung, aber sie wollte es sich mit den Wählerinnen nicht verscherzen und stimmte gegen die Aussetzung. Die Frauen in den 1950er-Jahren hatten durchaus Macht und setzten sie auch ein. Sie hatten das Gesetz auf ihrer Seite. Das Bundesverfassungsgericht erklärte, dass der Antrag überhaupt nicht zulässig sei. Die Gleichberechtigung sei nun das geltende Gesetz. Die Regierung sei selbst schuld, wenn sie die Gesetze nicht angepasst hätte. Dann müsse eben jedes Gericht auch ohne Gesetze nach dem Gleichberechtigungsprinzip entscheiden. Von Rechtschaos könne keine Rede sein, so argumentierte das Bundesverfassungsgericht.
Die Regierung bastelte indessen an neuen Gesetzen. Gleichberechtigung hin oder her, es muss ja einen geben, der in der Familie entscheidet, wenn ein Paar sich nicht einigen kann, so erklärte die Regierung. Deshalb brachte sie einen neuen Gesetzesentwurf ein: Der Mann sollte das Letztentscheidungsrecht haben. Und fast wäre es der Regierung gelungen, dieses Gesetz durchzubringen. Die CDU/CSU hatte allen Abgeordneten eingeschärft, für diesen Gesetzesentwurf zu stimmen. Es käme auf jede einzelne Stimme an. Daher versuchten die Politiker noch die letzten Bedenkenträger zu überzeugen. Auch die Münchner CSU-Abgeordnete Ingeborg Geisendörfer war ganz und gar nicht mit ihrer Fraktion einig. Am Abend vor der Abstimmung saßen einige CDU-Freunde im Bundeshausrestaurant zusammen und bearbeiteten Ingeborg Geisendörfer. Sie war im Zwiespalt: Sollte sie sich solidarisch mit ihrer Fraktion zeigen? Oder sollte sie ihrer Überzeugung treu bleiben und gegen die Vorherrschaft des Mannes stimmen? Nach langen Diskussionen entschloss sie sich, ihren Mann, einen Pfarrer, anzurufen und ihn nach seiner Meinung zu fragen. „Was soll ich tun?“ Auf gar keinen Fall dürfe sie für das männliche Entscheidungsrecht stimmen, antwortete ihr Mann. Das widerspreche ja der Gleichberechtigung völlig! Nachdem ihre Fraktionsfreunde alle auf sie eingeredet hatten, war Ingeborg Geisendörfer erleichtert, wenigstens von ihrem Mann in ihrer Überzeugung bestärkt worden zu sein. Und statt weiterhin zu argumentieren und sich zu rechtfertigen, schlug sie ihre Parteifreunde mit ihren eigenen Waffen: Sie hatten versucht, sie davon zu überzeugen, dass weiterhin der Mann das letzte Wort haben und die Frau sich fügen sollte. Schlagfertig antwortete Ingeborg Geisendörfer: „Ich bin in völliger Übereinstimmung mit meiner Fraktion. Ich beuge mich der Entscheidung meines Mannes und stimme gegen das männliche Entscheidungsrecht.“7 Bei der Abstimmung setzte sich die Gleichberechtigung durch. Ein Meilenstein in der Geschichte der Emanzipation!
Doch bis alle anderen Gesetze angepasst waren, dauerte es noch einige Jahre. Erst 1957 durften Frauen ein Konto eröffnen und den Führerschein machen – ohne ihren Mann vorher um Erlaubnis fragen zu müssen. Und erst ab 1977 war die Ehefrau nicht mehr verpflichtet, Hausarbeit zu machen. Bis dahin durfte sie nur berufstätig sein, wenn sie die Arbeit mit ihren Pflichten als Hausfrau vereinbaren konnte. Wenn ihr Mann der Meinung war, dass sie seine Hemden nicht ordentlich bügelte, konnte er einfach ihre Arbeitsstelle kündigen. Sich um den Haushalt zu kümmern, war Frauenarbeit. Als die Amtsgerichtsrätin Annemarie Endres in den 1950er-Jahren einen Vortrag im Innenministerium über Hausarbeit und Familienrecht hielt und dabei sagte, dass der Ehemann zwar nicht zur Hausarbeit verpflichtet sei, aber man in einer modernen Ehe durchaus Mithilfe erwarten könne, brach ein großer Shitstorm über sie herein: Sie wolle deutsche Männer zu amerikanischen Waschlappen machen! So musste Annemarie Endres im Vorzimmer des Innenministeriums die empörten Briefe beantworten, um die Gemüter wieder zu beruhigen.8
In der DDR war die gesetzliche Gleichberechtigung früher wirksam. Die sowjetische Militäradministration bestimmte schon 1946, dass Arbeiter und Angestellte den gleichen Lohn bekommen sollten, unabhängig von Geschlecht und Alter. In der Verfassung 1949 wurde der Frau die Gleichberechtigung garantiert. Per Gesetz sollten Einrichtungen geschaffen werden, die es der Frau ermöglichten, Arbeit und Familie zu vereinbaren. Während es in der Bundesrepublik noch jahrelang dauerte, bis die Gleichberechtigung im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert war, wurden in der DDR 1949 alle Gesetze und Bestimmungen ungültig, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstanden. Dennoch: Wie auch in der BRD, war in der Alltagsrealität die Frau für den Haushalt und die Kinderbetreuung zuständig, nur sollte sie nebenher noch arbeiten gehen. Ausschließlich Hausfrau zu sein, galt in der DDR als Relikt der bürgerlichen Gesellschaft.
Der Beruf der Sekretärin eröffnete Frauen ganz neue Chancen auf ein eigenständiges Leben. Endlich war für sehr viele Frauen das erreichbar, wofür die Frauenrechtlerinnen fast hundert Jahre gekämpft hatten: Sie konnten einen Beruf erlernen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Das war bis in die 1950er-Jahre für viele Frauen noch unerreichbar. Bis dahin waren sie oftmals nur angelernte Hilfskräfte, und nun konnten sie Zeugnisse und Abschlüsse vorweisen und sich stolz Stenotypistin oder Sekretärin nennen. Die Hürde, im Büro zu arbeiten, lag niedrig. Man brauchte keine jahrelange Ausbildung, Hauptsache, man konnte Stenografieren und Maschinenschreiben. Viele Mädchen lernten das bereits in höheren Schulen oder sie besuchten Handelsschulen und Abendkurse.
Stenotypistin oder Chefsekretärin – Aufstiegsmöglichkeiten im Büro
Es gab viele Möglichkeiten, im Büro zu arbeiten. Ludwig Reiners, Direktor eines großen Unternehmens, schrieb ein Handbuch für Sekretärinnen mit dem vielsagenden Titel „Fräulein, bitte zum Diktat!“ und machte dabei einen Unterschied zwischen einer Stenotypistin und einer Sekretärin.9 Eine Stenotypistin würde in einer Schreibstube für wenig Geld Texte in die Schreibmaschine tippen, die sie nicht versteht. Ganz anders sei der Beruf der Chefsekretärin, oder wie man damals sagte, Direktionssekretärin, „die mit den Problemen des Geschäftes innerlich verbunden ist, ihren Beruf souverän beherrscht, Einfluß ausübt, das Geschäft regieren hilft und ein beträchtliches Gehalt beansprucht und erhält“. Für Reiners ist die Chefsekretärin nicht nur eine Schreibkraft, die seine Anordnungen ausführt, sondern seine rechte Hand, eine Frau, die mitdenkt und die Geschäftsabläufe mitgestaltet. Sie sitzt nicht nur im Vorzimmer der Macht, sondern hat selbst einen Anteil an dieser Macht. Immerhin hilft sie, zu „regieren“ oder, wie man heute sagen würde, zu managen. Eine solche Spitzenposition sei aber nur schwer zu erreichen, schreibt Martha Maria Gehrke in ihrem Ratgeber: „Sie waren und sind die Stars ihres Berufes. Dafür muss man auf manchen freien Sonntag und manchen Abend verzichten.“10 Dafür könne man als Chefsekretärin ein großartiges Leben haben, wie sie in schillernden Farben ausmalte: „Solche Sekretärinnen reisen – wie im Film – im Luxuszug und im Flugzeug und wohnen in internationalen Hotels an blauen Küsten. Wenn das Wetter es erlaubt, können sie früh vor 8 Uhr rasch mal ins Meer springen. Ab 9 Uhr sind sie an den Konferenztisch geschmiedet, und wenn die Herren abends mit der Arbeit Schluß gemacht haben, sitzen sie an der Maschine und übertragen, telefonieren und telegrafieren.“11 Bei solchen Bildern ist es kein Wunder, dass Sekretärin zum Traumberuf wurde. Chefsekretärin war in der damaligen Zeit für viele junge Frauen ein Berufsziel. Doch Martha Maria Gehrke holt ihre Leserinnen wieder auf den Boden der Tatsachen zurück: „Wenige erreichen diese beruflichen Höhen, viele streben auch nicht einmal danach. Wer es tut, muß sich darüber klar sein, daß jedes Ding zwei Seiten hat und daß diese Lebenshöhe nicht ohne Spitzenkönnen und harte Arbeit erklommen und gehalten wird.“
Auch der Verdienst sei beachtlich. Manche Chefsekretärin in führenden Unternehmen würde mehr als 800 DM verdienen. Das war schon ein großer Unterschied zum Verdienst von anderen Büromitarbeiterinnen. Zum Vergleich: Doris Kraus verdiente bei Degussa als Stenotypistin nur 210 DM. Doch Doris war selbstbewusst genug, um ein höheres Gehalt zu fordern. Ihre Vorgesetzten waren auf diesem Ohr taub, aber Doris blieb hartnäckig. So erreichte sie zumindest eine kleine Verbesserung. Im Sommer 1954 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Mittags überreicht mir Vögelin einen Gehaltszulageschein. Er war etwas unsicher und sagte: ‚Ist es Ihnen so recht?‘ Und weiter: ‚Ich wollte ja eine Zulage für Sie, aber jetzt hat er (der Chef) es so gemacht.‘ Ich bedankte mich und sagte: ‚Das ist aber immer noch K2 und ich komme somit überhaupt nicht in K3.‘ Er: ‚Im Herbst kann ich ja nicht schon wieder kommen – Sie haben auch noch nicht die Berufserfahrung. Daß Sie fleißig sind und eifrig sich bemühen, wissen wir ja alle.‘ Ich: ‚Ja, ja, Das war auf jeden Fall schon mal sehr nett von Ihnen.‘“
Als Stenotypistin verdiente Doris nicht viel. Doch sie war ehrgeizig. Sie hatte nach ihrem Schulabschluss eine Kaufmännische Schule besucht und in Abendkursen Stenografie und Maschinenschreiben gelernt, außerdem Englisch und Französisch. Bei Degussa arbeitete sie sich von der Hilfskraft zur Fremdsprachensekretärin hoch, wie ihr Zeugnis von 1955 zeigt: „Fräulein Dorothea Kraus, geboren 1.2.1931 in Frankfurt/Main, ist am 4.10.1950 in unsere Dienste getreten. Sie war zuerst als Hilfskraft im Lohnverhältnis in unserer Powers-Abteilung beschäftigt und wurde am 7.2.1951 auf Grund ihrer guten Leistungen als Locherin ins Angestelltenverhältnis übernommen. Vom 1.5.1952 bis 28.2.1954 war sie in verschiedenen Abteilungen unseres Hauses als Stenotypistin tätig. Anschließend wurde sie in gleicher Eigenschaft zu unserer Verkaufsabteilung Durferrit versetzt. Nach angemessener Einarbeitungszeit in dieser Abteilung hat sie die ihr übertragenen Arbeiten sauber und zuverlässig erledigt. Sie besitzt eine gute Auffassungsgabe, ist sehr strebsam und erweiterte in Abendkursen ihre schon guten französischen Sprachkenntnisse. Wir konnten ihr die Übersetzung französischer Texte in die deutsche Sprache übertragen. Sie verfügt auch über gute englische Sprachkenntnisse. In beiden Fremdsprachen hat sie vorliegende Texte fehlerfrei wiedergegeben und im Französischen zum Teil auch nach Diktat gearbeitet.“
Locherin war eine einfache Tätigkeit in der frühen Datenverarbeitung, bei der Büroangestellte eine Lochkartenmaschine bedienten. Die gestanzten Löcher enthielten Daten, die von den ersten Computern gelesen werden konnten.
Doris tat einiges dafür, um ihre Aufstiegschancen zu verbessern, doch die Karriereaussichten bei Degussa waren begrenzt. Sie erbrachte viel Routinearbeit und hatte das Gefühl, unterfordert zu sein. Im Juli 1953 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ich überlege mir, ob ich nicht mal zu Dr. Untermann gehen solle, um mit ihm mal meinen Fall durchzusprechen. Es kann ja nicht mehr so weitergehen. Die Jahre gehen dahin und ich habe nichts erreicht. Was soll aus meinem Leben werden?“
