Die siamesischen Brüder - Alain Claude Sulzer - E-Book

Die siamesischen Brüder E-Book

Alain Claude Sulzer

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Beschreibung

Eine historisch inspirierte Fantasie über den spektakulären und rätselhaften Lebenslauf der Siamesischen Zwillinge Chang und Eng, die zwei Schwestern heirateten, mit ihnen zahlreiche Kinder zeugten und die Einbildungskraft der Zeitgenossen aufs heftigste beschäftigten. Chang und Eng werden Anfang des 19. Jahrhunderts, an der Brust zusammengewachsen, auf einem Flosshaus in Bangkok geboren. Als Kinder von einem englischen Kapitän gekauft, reisen sie später auf Tourneen durch die Hauptstädte Europas und Amerikas. Sie werden berühmt, sind Monster und Artisten zugleich – doch nie können sie auch nur einen Schritt ohne den anderen tun.

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Seitenzahl: 466

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Alain Claude Sulzer

Die siamesischen Brüder

Roman

Kurzübersicht

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Inhaltsverzeichnis

Erster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelTeil Zwei5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelTeil Drei10. Kapitel11. KapitelBrief Edwards an seine Schwester RebeccaDank
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Erster Teil

1

Das schwimmende Haus bewegte sich sachte hin und her. In die Bewegung kam Ruhe. Untrennbar lagen sie nebeneinander, Eng neben Chang und Chang neben Eng, sahen sich auch mit geschlossenen Augen, spürten einander ständig, wiegten sich gleichzeitig im abnehmenden Schaukeln der knarrenden Wände. Eng versuchte, Chang abzuwehren, und Chang versuchte, Eng abzuwehren, erfolglos, ohne genau umrissenes Ziel. Jeder kämpfte dagegen an, seinen Bruder noch mit geschlossenen, fest geschlossenen Augen deutlich vor sich zu sehen, so als stünde, säße oder läge er neben ihm. Sie waren allein, Chou-Chou, ihre Mutter, hatte im Nebenzimmer englischen Besuch. Die unmögliche Trennung, ein Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben, nahm, wenn sie es sich recht überlegten, immer deutlicher die befremdliche Gestalt zweier Wesen an, zweier Menschen, getrennter Jünglinge, die sich in verschiedene Richtungen voneinander entfernten, um schließlich eines schönen Tages bloß noch Schatten und Erinnerung zu sein, Schatten und Erinnerungen an den einen und an den anderen. Noch lagen sie in ihrem Bett auf dem Fluss. Einer auf der linken Seite, einer auf der rechten Seite. Chang links, Eng rechts, ungetrennt.

Eng, der hörte, wie Chou-Chou im Nebenzimmer für die Dauer nur weniger Silben die Stimme erhob, horchte auf Changs Atem. Der würgende Griff würde sich lockern, sobald sie getrennt wären; aber niemand war da, der sie auseinanderzureißen vermochte. Seine Gedanken bewegten sich nach draußen, verließen das Floßhaus, die Gegend, das Land. Chang schlief oder tat zumindest, als ob er schliefe. Er zog an der imaginären Klingel eines fremden Hauses, niemand öffnete. Er, der so unverbrüchlich mit seinem Bruder verwachsen war, bewegte sich frei von seinem Zwillingsbruder, mit dem er seit seiner Geburt, wie jener mit ihm, verbunden war. An das eigentümliche Aussehen der chinesischen Zwillinge, wie man sie in Siam nannte, weil der Vater Chinese und die Mutter Halbchinesin war, hatten sich die Einwohner von Macklong längst gewöhnt; so konnten sie sich hier frei bewegen, ohne dass Neugierige stehen blieben, mit Fingern auf sie zeigten, gestikulierten, Schreie ausstießen oder gar das ungewöhnliche Paar berühren wollten. Der ihn würgende Griff, der ihn am Einschlafen hinderte, lockerte sich allmählich, als er glaubte, sein Bruder Chang schlafe.

Aber Chang schlief nicht, sondern versuchte, nicht anders als Eng, den unzähligen Gedanken an seinen Bruder zu entfliehen, der neben ihm lag und wohl schlief. Keinen einzigen Schritt entfernten sie sich voneinander, kein Gedanke riss sich vom anderen los, stets kehrte der eine zum anderen zurück. Er hörte, wie der Engländer im Nebenraum auflachte, aufstand, das Floßhaus durch seine Schritte von Neuem leicht ins Schwanken brachte und Chou-Chou ein unverständliches Angebot machte, das sie offenbar ablehnte. Sie entfernten sich nicht voneinander, wenn sie sich einander auch nicht annäherten. Der Frühling hatte begonnen, es regnete, die Wärme sog die Feuchtigkeit auf. Eines Tages würden sie verschmelzen, dachte Chang, nichts als ein einziger einsamer Fleck bliebe übrig, ein großer Schatten ohne Erinnerungen. Chang wird sich nicht an Eng und Eng sich nicht an Chang erinnern; ich mich nicht an ihn, und er sich nicht an mich, nur ein verschwommenes, da und dort von Licht durchbrochenes Rechteck bliebe von ihnen übrig, ein Kopf und ein Rumpf, zwei Füße, zwei Hände. Irgendwo auf dunklem, flachem Land, im Reich Blinder, im Reich Tastender, im Reich Stummer. Nicht getrennt, sondern verschwommen wie die Umrisse des Zimmers, die ihn wie an Stricken in den Schlaf zogen. Das Schaukeln des Floßhauses nahm wieder ab.

Auch Eng hatte die Augen geschlossen und lag wach, ohne auch nur ein Wort dessen zu verstehen, was im Nebenzimmer zwischen Chou-Chou und dem Fremden besprochen wurde, dessen Gesicht ihm bekannt vorgekommen war. Chou-Chou hatte die Zwillinge in ihr Zimmer geschickt, nachdem sie ihm vorgestellt worden waren. Eng spürte, wie sich Changs Zehen und gleichzeitig seine Finger krümmten, im Schlaf zuckten, denn nun schlief er. Er war eingeschlafen, während er sich schlafend stellte. Bald würde Engs Atem in seinen Atem einstimmen, ununterscheidbar entwiche ein einziger Ton ihren beiden Mündern. Sie waren, wie Chou-Chou manchmal sagte, doppelt so schnell herangewachsen wie gewöhnliche Kinder. Sie sind keine gewöhnlichen Kinder, sagte sie im Nebenzimmer zu dem Engländer. Aber auch diese Bemerkung drang nicht bis an Engs Ohr.

Es war Nachmittag, und die Bewohner der anderen Floßhäuser begannen sich auf die lange Nacht vorzubereiten. Niemand betrat das Zimmer. Wie beruhigend, zu erfahren, sie hätten uns vergessen; als habe es uns nie gegeben, dachte Eng, als ihn die Stimmen seiner Mutter und des Fremden nicht mehr ablenkten, sondern in den Schlaf zu wiegen begannen. Der Fremde war ihnen bereits vor einigen Tagen zum ersten Mal aufgefallen, als er ihnen, wie auch an den darauffolgenden Tagen, heimlich den Fluss hinauf folgte. Die Stimmen aus dem Nebenzimmer wurden mehr und mehr von den anschwellenden Geräuschen aus den anderen Floßhäusern zugedeckt. Einer müsste verschwinden, dachte Eng. Sie holten gleichzeitig Luft und stießen sie gleichzeitig aus, aber schon seit einigen Monaten schliefen sie nicht mehr gemeinsam ein. Ihre Herzen mochten gleich schlagen, gleich schnell, stets im gleichen Takt, wenn sie sich bewegten, gewiss schneller, in kürzeren Abständen, besonders, wenn sie schwammen, aber während der Zeit, die dem Einschlafen vorausging, verlor sich die Gleichzeitigkeit der Herzschläge. Eng lag stets länger wach als Chang.

Wie ein Riese beugte er sich, statt zu schlafen, über andere weit entfernte Orte, nach allen Seiten, vor und zurück, über Berge und Wälder und Häuser hinweg, nach Norden und Süden. Er dachte an seine Mutter, vergaß den Bruder, an Tiere, immer wieder Elefanten, in weiter Ferne gezähmte und wilde Pferde, an seinen Vater, nördlich liegende weitere Flussläufe, die sie bisher nicht erreicht hatten, die sie eines Tages sehen würden, an sich darin badende, sich waschende Mädchen mit gelösten Haaren, Kämme schwammen auf der Wasseroberfläche, gingen unter, weshalb er nach ihnen tauchte, um sie den Mädchen zurückzugeben, zwischen ihren Füßen, zwischen den Zehen fanden sich die Kämme im feinen Sand, zwischen den randgeschliffenen, farbenprächtigen Sternchen. Chang verschwand mit der Dunkelheit.

Noch war es nicht einmal Abend, aber bei geschlossenen Augen dämmerte es doch, wurde es bereits dunkel, war es finster, brach die Nacht herein, voller Tier- und Menschengeschrei, sodass es nicht selten am nächsten Morgen hieß, jemand sei erstochen, erwürgt oder einfach ertränkt worden. Mit jedem hinter ihm liegenden, vorbeigehuschten Augenblick fühlte Eng sich etwas freier, beweglicher, durch ein Fenster, das nicht rechteckig, sondern rund war, sah er stechend helle, kalte Sterne blitzen, er hörte einzelne, aus der Nacht in den Himmel aufsteigende Schreie, und er hörte jemanden stöhnen. Jetzt aber, in Wirklichkeit, klangen die vernehmlichen Stimmen freundlich und arglos. Stimmen ohne Gesichter hinter unsichtbaren Wänden, unter Türen, in Fenstern, auf dem Fluss und am Ufer. Nachts konnte auch der schlafende Chang ein anderer Mensch oder zu einem Tier werden, er wurde ein Haus oder eine Pflanze, ein ruhendes oder sich drehendes Rad, ein Automat, dessen Innenteile vibrierten, dessen Außenteile silbern glänzten. Irgendwo, Eng sah nicht, an welchem Ort, zu welcher Zeit, flogen die Türen auf, öffneten sich von unsichtbarer Hand Fenster, durch die heißer Wind eindrang, ein besonderer, ungesunder Wind, allen bekannten Winden unähnlich, wie durchlöchert von pfeilgleichen Eisströmen, der Wind nahm Eng mit und schob Chang weg, sie wurden fortgerissen und weggeschoben, jeder in eine andere Richtung, der eine nach vorn, der andere nach hinten oder seitlich, einer nach rechts, einer nach links; trotz des glücklichen Gefühls bei diesem Gedanken wurde Eng schwindlig davon. Der Wind also würde sie trennen, wo kein Messer half.

Des Windes wegen, der heftiger wurde, trat der Fluss über die Ufer und überschwemmte die Borde, alles Grüne, die Böschungen, das Bunte, Lebendige mit Schlamm, deckte es dann zu mit sprudelndem Wasser; die badenden Mädchen, spielenden Hunde, die Jungen mit den schmutzigen Beinen und verkrusteten Zehen, alle, die am Fluss gesessen und gespielt, herumgestanden oder gelegen hatten, sah er ertrinken, er sah zu, wie sie erfolglos mit hohen, bald heiser werdenden Stimmen um Hilfe riefen, die Augen weit aufgerissen, die Münder offen, bereit, gegen ihren Willen das Wasser aufzunehmen, die Körper unbeweglich zu machen, zu gefüllten Schläuchen.

Chang schlief abends ein, sobald sie sich hingelegt hatten, immer vor Eng, der am nächsten Morgen dennoch vor Chang aufwachte, der wie ein Stein schlief, auch wenn er ihn wach zu rütteln versuchte. Chang bewegte sich nicht, es gab keinerlei Möglichkeit, sich zu rühren, gar umzudrehen. Engs Rücken schmerzte, täglich, jeden Morgen, die Beine waren taub und fühlten sich an wie aufgeschwemmtes Treibholz.

Eng schlief also weniger als sein Bruder, da er nach ihm einschlief und vor ihm aufwachte. Geräusche weckten ihn morgens auf, die seinen Bruder am Schlafen nicht hinderten, und hielten ihn nachts wach, ohne seinen Bruder zu stören, der sie nicht einmal wahrnahm. Er horchte auf sie so lange, bis er sie vermisste, wenn sie ausblieben, und nur selten entdeckte sein Gehör ein neues, noch unbekanntes Geräusch, einen bisher nie gehörten Ton. Manchmal setzte sich ein neuer aus zwei bekannten alten Geräuschen zusammen. Wie oft wäre er morgens gern früh aufgestanden, noch vor der Mutter, vor den anderen Geschwistern, um am Ufer spazieren zu gehen, aber es half nichts, Chang schlief, er schlief weiter, selbst wenn er ihn auf den Kopf schlug. Manchmal öffnete er ein Auge, danach herrschte weiter Stille, in der Engs Müdigkeit zunahm, aber keine Befriedigung im Schlaf fand. Also lag er so lange wach, bis Chang endlich aufwachte. Dann hatte Eng morgens nicht selten die Vision, Chang liege tot neben ihm. Er wachte auf, starrte, noch schlaftrunken, an die Decke oder an die Wand, beobachtete die von der Morgenröte aufgestörten Insekten, und war, ohne hinsehen zu müssen, überzeugt, sein Zwillingsbruder Chang sei nachts gestorben, vom Tod im Schlaf überrascht; er würde verfaulen, was würde man tun? Man würde sie der Verwesung wegen ins Freie an einen trockenen, luftigen und sonnengeschützten Ort legen. Zuschauer würden um sie herumstehen und klagen, die Köpfe schütteln und leiser als gewöhnlich sprechen. So vieles war bedacht worden; immer wieder würde sich erweisen, dass man die eine oder andere Überlegung anzustellen unterlassen hatte. Feuchtigkeit beschleunigte die Zersetzung, Feuchtigkeit drang durch Ritzen und Löcher. Tiere, vor allem Vögel und Ratten, ließen nicht auf sich warten, um sich Changs Fleisch zu holen, in der Abenddämmerung und nachts, wenn niemand außer Eng anwesend wäre, um sie zu vertreiben. Eng hörte ihre Flügelschläge dicht am Ohr, kein schönes, starkes Rauschen, sondern ein ächzendes Knattern. Er hörte das Hacken, Ausreißen und Verschlingen und brauchte den Kopf nicht zu wenden, um deutlich erkennen zu können, was neben ihm geschah. Eine seltsame Leichenbestattung. Man konnte, solange er lebte, Chang nicht unter die Erde legen oder verbrennen. So wartete man.

Eng fürchtete sich nicht vor dieser wiederkehrenden Vision, sie befreite ihn. Nicht selten malte er sich aus, er selbst habe Changs Tod verschuldet, er habe ihn gewürgt, seine Kehle mit beiden Händen umklammert, aus denen alles Blut gewichen war, die Hände wie Eisenstäbe, knöcherne graue Stangen, die um seinen Hals lagen, bis Changs, seines Bruders Augen aus ihren Höhlen traten und die Zunge groß und dick aus dem Mund quoll.

Man würde Chang den Kopf abschneiden müssen, um Eng den grausigen Anblick und den Verwesungsgeruch zu ersparen; was blieb ihnen anderes übrig? Sie würden über den Rest des Körpers Decken, darauf stark duftende Kräuter legen, die zweimal, dreimal täglich und mit fortschreitender Fäulnis immer öfter gewechselt werden müssten, sie würden vor dem Wechseln der Tücher den Körper mit Wasser benetzen und mit immer stärkeren Essenzen besprenkeln. Eng hatte auch die Vision des Skeletts, durch das an stürmischen Tagen der Wind pfiff, an feuchten Tagen der Regen tropfte, er hörte es klappern und sah, wie sich einzelne Knochen hin und her bewegten, als schwebten sie frei oder von unsichtbaren Fäden gehalten; ein Bild, das ihn wider Willen zum Lachen reizte. Er wusste wohl, dass das Skelett seines Bruders ihn belasten würde, ihm, ohne eigenen Antrieb, ausgeliefert wäre, ihm, Eng, der es tragen müsste, ein Fischbeinkorsett ohne Inhalt. Sie würden ihn, hätte er Chang umgebracht, nicht bestrafen können, da jede Strafe auch eine Schändung des Leichnams des Opfers bedeutete. Doch konnte er Changs Ende überleben? Um wie viele Tage, Wochen, Monate, würde er nicht mitgerissen, verlangte nicht die rachsüchtige Gerechtigkeit, dass sie ihn zusammen mit seinem Bruder lebendig begruben oder verbrannten? Die Chinesen hätten darauf eine Antwort, dachte er zuweilen.

Er wusste nicht genau, wer die Hauptrolle spielte, ob er oder Chang im Mittelpunkt stand. Er hatte zahllose andere Erscheinungen, noch nicht da gewesene und sich wiederholende. Wäre Chang vor ihm oder zur gleichen Zeit wie er aufgewacht, und hätte er also aufstehen können, wann es ihm passte, wären sie vielleicht nicht aufgetreten, sie hätten wohl keine Zeit gehabt, so breiten Raum in Engs Kopf einzunehmen. Oft beflügelten sie ihn schon nachmittags, wenn sie sich auf Geheiß ihrer Mutter trotz ihres Alters hinlegen und ausruhen mussten, wie auch an diesem Nachmittag, immer zwischen drei und fünf Uhr. Sie waren nun sechzehn Jahre alt.

Es gelang Eng kaum einmal, längere Zeit nicht an seinen Bruder zu denken, so sehr er sich auch dagegen wehrte, in ihm etwas anderes als einen atmenden, sich bewegenden Spiegel zu sehen, aus welchem ihm unentwegt sein eigenes Bild entgegensprang, das sprach wie er, aussah wie er, tat, was er auch tat, wie auch er alles tat, was das Spiegelbild tat. Darüber hinaus teilten sie sich, wie man ihnen erzählt hatte, mit einiger Wahrscheinlichkeit mehrere lebensnotwendige innere Organe. Da man diese inneren Teile nicht sah, war es überflüssig, ja vielleicht gefährlich, sich diese Gleichheit und Gleichzeitigkeit in den Höhlen des Körpers vorzustellen. Doch gelang es Eng nicht ganz, das Bild gemeinsamer Eingeweide zu bannen. Niemals würde er das Innere dessen sehen, was sie tatsächlich verband, zusammenschloss.

Noch immer spielte Eng gern mit den kleinen, durch den langjährigen Gebrauch glatt polierten Holzkugeln, die ihm ein Unbekannter geschenkt hatte, als er ein kleines Kind war, die er auch jetzt in der geschlossenen Hand gegeneinanderpresste und bewegte. Chang war es verboten, sie auch nur zu berühren, und er hatte sich bisher an das Verbot gehalten. Er selbst besaß keine solchen Kugeln.

Es roch nach stark gewürztem Schweinefleisch und Zitronengras, das in der Nachbarschaft zubereitet wurde. Eng verspürte jäh und heftig Hunger nach diesem Gericht, nach diesem Fleisch und nach der Person, die es zubereitete, deren Hände vor ihm auftauchten und sich den glatt polierten Holzkugeln näherten, die er festhielt. Eng sah den Fremden vor sich, der ihm die Kugeln überlassen hatte, einen Engländer in schwarzen Stiefeln, mit feinen, fast blauen Händen und dicht zusammenstehenden grauen Augen, die das Kind lange betrachtet hatten, nur Eng, nicht Chang, den dieser Blick nicht zu erfassen schien; der Fremde hatte kein Interesse an seinem Zwillingsbruder bekundet. Es handle sich um einen Mann aus dem Meer, hatte er verstanden, und als ein Mann aus dem weiten, unvorstellbar tiefen, von riesigen, schillernden Fischen bevölkerten Wasser war er ihm in Erinnerung geblieben; wenn er heute auch wusste, dass es sich lediglich um einen englischen Seefahrer, wenn auch gewiss um keinen einfachen Matrosen, sondern einen Offizier gehandelt hatte, so war doch kein Stück seines Geheimnisses verloren; von Gold auf dem Grund des Ozeans, von zeitlosen Reisen unter schwarzen, sternenverhangenen Nachthimmeln, von wirbelnden, mahlenden Strömen, in welche sein Schiff getaumelt und aus denen es, obwohl stark beschädigt, doch wieder aufgetaucht war.

Der Engländer hatte, den Rahmen ganz ausfüllend, in der Tür gestanden, einen Mantel oder Umhang um die Schultern geschlagen, den grauen Blick auf Eng geheftet, unbeweglich, die Beine in den schwarzen Stiefeln leicht gespreizt. Eng erinnerte sich nicht, wo in diesem Augenblick seine Mutter und wo sein Vater gewesen war. Seinen Bruder hatte er angesichts dieses Mannes vergessen, aus dessen Mund ein eisiger Atem entwich, der Hauch jenes Todes, der die Seeleute in die Wellen, auf den Meeresgrund zieht.

Eng erinnerte sich, dass der fremde Engländer sehr höflich gewesen war, auch wenn er nicht gelächelt hatte. Seine Bewegungen hatten sich auf kaum wahrnehmbare Winke und Zeichen beschränkt, er hatte einen Finger bewegt, ein wenig mit dem Kopf genickt; sein Gesicht hatte die blasse Farbe der Weißen gehabt.

Hätte Eng jetzt die Augen geöffnet, wäre sein Blick unweigerlich auf Chang gefallen, auf dessen Gesicht, auf die ungewaschenen glänzenden Haare, die aufgerissene Oberlippe, das hässliche Ergebnis seiner Fressgier; das verhasste bekannte Gesicht des Bruders. Engs Fratze, Changs Fratze, schwarzes Haar, durch das er früher manchmal zärtlich mit einer Hand gefahren war, glücklich darüber, zu spüren, wie es durch seine Finger glitt, das Herz weitete sich, etwas Fremdes zu fassen, Lebloses, das zu einem Lebenden gehörte, der sich von ihm unterschied, in einem anderen Körper wohnte, der ein Losgelöster hätte sein müssen, um ihn lieben zu können, wie man einen Bruder oder einen Freund liebt. Chang hatte damals, wie Eng, unendlich süß gerochen, wie alle Kinder riechen, milchig und wie eine Pflanze, als verströme der Stängel einer Blume das Aroma des darin verschlossenen Saftes. Jeder war mit weicher Haut bekleidet gewesen. Eng hatte sich nachts, wenn Chang schlief, über diese Haut gebeugt, um den Geruch tief einzuatmen, ihn so lange wie nur möglich, bis in seine Träume hinein, zu bewahren. Der Duft hatte sein Inneres überflutet.

Obwohl sie das Innere ihres Körpers nicht kannten und nie mit eignen Augen würden sehen können – erst Ärzte kämen in den Genuss dieses Privilegs –, mussten sie sich unbekannte Einzelheiten darin, verborgen in Kammern und Gängen, doch immer wieder vorstellen, die Herzen, die Lebern, Nieren, Stücke, die sie von geschlachteten Tieren kannten, das Innere, wie sie es bei ausgenommenen Enten und Schweinen gesehen hatten. Wenn der Magen rumorte, wussten sie nicht mit Sicherheit, um welchen Magen es sich handelte.

Doch wussten sie, trotz der Kenntnisse, die sie über essbare, auf die Zubereitung durch eine Köchin wartende Tiere besaßen, weder über die Form noch die Größe des menschlichen, des kindlichen Herzens Bescheid, ob das Herz größer war als die Lunge oder die Lunge größer als das Herz und die Leber kleiner als die Milz. Dass ohne diese Teile die Körper nichts weiter als sterbliche oder schon tote Hüllen über verderblichem Fleisch gewesen wären, war gewiss von nicht geringer Bedeutung, aber Chang und Eng waren noch Kinder, trotz ihrer sechzehn Jahre, welche Schlüsse hätten sie angesichts dessen ziehen sollen, was sie sich ausmalten und doch nicht sahen; Chang wusste es so wenig wie Eng. Welche Bedeutung die einzelnen inneren Teile für diesen Schatten, den sie nach außen gemeinsam bildeten, auch haben mochten, sie sahen sie doch stets säuberlich voneinander getrennt, losgelöst, auseinandergehalten, ungleichzeitig arbeitend, wenn auch in nächster Nähe beieinander.

Im Traum sah Chang manchmal, den Kopf fest auf die Brust gedrückt und Eng dennoch nicht berührend, wie es nur im Traum möglich ist, hinein. Er betrachtete von außen das Innere seines Körpers, den Inhalt der nach außen gewölbten Schale, und dann rutschte er aus, ohne jedoch hinzufallen, an irgendetwas hielt er sich fest, das sich ihm auch wieder entzog, glitt hinein, wurde durch Kanäle gezogen, schwamm in durchsichtig hellem, klarem, glitzerndem Wasser, gereinigt vom Blut, so drang er in die bereits bekannten, aber nie zuvor betretenen Höhlen und Kammern vor, in die kaltes Licht fiel, verbarg sich dort vor Eng, dessen Stimme er aus weiter Ferne als ein dumpfes, unverständliches Murmeln vernahm, obwohl er wirklich, mit lauter Stimme rief. Er spürte, wie Eng von außen gegen seinen Körper schlug, in welchem er sich aufhielt. Er reagierte jedoch weder auf Engs Rufen noch auf sein Pochen. Chang nistete sich ein wie ein Vogel. Er fühlte sich wohl, glaubte sich dick aufplustern zu können, umgab sich mit einer natürlichen, schützenden und wärmenden Decke, stand auf und hockte sich wieder hin, streckte die Füße aus und zog sie an, ließ die Fingerknöchel knacken und warf den Kopf zurück.

Er verschwand in den Falten dieser Decke, vom Wasser sanft auf der Oberfläche getragen, in dem er mit angewinkelten Beinen, um die er beide Arme geschlungen hatte, saß, staunend, in eine neue Welt geworfen, auf sich selbst gestellt, die ihn freudig erwartete, deren Tore sich widerstandslos geöffnet hatten, ohne sich hinter ihm zu schließen. Das wusste er. Es war vollkommen. Er kam aus dem Staunen gar nicht heraus. Er sang. Seine Stimme trug weit, vielleicht durch die Hülle sogar nach draußen, sprengte womöglich den Rahmen, in dem er sich bewegte. Was er nun nicht alles sah und schmeckte, fühlte und roch, Neuartiges, Fremdes, an ihn verschwendet; er war glücklich und hatte keinen Hunger. Er war ein einsam dahintreibender Wasservogel, aus weichem Flaum und starren weißen Federn geschaffen, deren Kiele, obwohl spürbar, ihn nicht stachen, wiewohl sie von fremder Hand tief in seine Haut gebohrt worden waren, schwach erinnerte er sich an den Augenblick, als man angesetzt und zugestochen hatte. Doch erinnerte er sich dabei nicht an Schmerzen.

Es war, als könnte Eng nun aufatmen, endlich, die Schritte von Chang fort auf das große, fremde Schiff lenken, schließlich, ohne lange überlegt zu haben, dessen Planken betreten, die jubelnde, grölende Menge hinter sich lassend, ein Lärmen, über das sich die Klagen weinender, den Abschied ihrer Söhne bedauernder Frauen erhob. Dazu die Gerüche nach gebratenem und ausgebackenem Fisch und scharfem Curry, nach Fleisch, das zischend und winzige Blasen werfend im Öl unterging, sich darin um sich selbst drehte und wieder hochstieg, als habe es noch Leben in sich. Düfte von Gemüse, das den Geruch des Fleischs oder Fischs annahm, auf welches es gelegt wurde. Hoch über Eng der grünblaue Himmel, den die flatternden Segel hin und wieder freigaben. Er sah hinauf.

Zur Begleitung dieser Aussicht gab es die Geräusche des sich im Wind leise bewegenden Segeltuchs, das sich anfühlte, als sei es mit Holz durchwirkt, ebenso die Geräusche des stetig knarrenden, frisch lackierten Takelwerks. Hinzu kamen menschliche Stimmen aus dem Schiffsbauch, in den Eng erst später, wenn das Schiff in Fahrt gekommen wäre, hinuntersteigen wollte, dorthin, wo die Rahmen der Fenster, die Beschläge der Möbel, die Messgeräte und Lampen, alle möglichen Apparaturen, deren Funktion er vielleicht nie verstehen würde, gelb metallen glänzten – immer von Neuem auf Hochglanz gebrachtes Messing. Von dort unten drangen Rufe herauf, folgte Befehl auf Befehl in einer etwas dumpfen Sprache, die er nicht verstand, von Männern ausgesprochen, die das Tageslicht nur selten erblickten, oft wohl erst nach Einbruch der Dunkelheit oder frühmorgens, wenn undurchdringlicher Nebel Gespenster übers Wasser jagte, heraustraten, um frische Luft zu schöpfen, die meiste Zeit ihres Lebens auf dem Schiff unten zu bleiben gehalten waren. Jedoch hatte Eng in diesen Minuten keine Zeit, zu deren außerordentlichem Leben abzuschweifen und gar darüber nachzudenken, was es dort zu tun gab. Die Schiffsleute schienen von ihren vielfältigen Pflichten beflügelt zu sein. Eng bemerkte, wie jedem Befehl, jedem Ruf Bewegungen folgten.

Vor ihm tauchte im selben Augenblick, da er die ersten Schritte an Bord des Schiffs zu machen glaubte – alle diese Bilder und Geräusche entsprangen selbstverständlich seiner Fantasie –, eine elegante Dame auf, die in einem grün-weiß gestreiften Liegestuhl saß, an deren Äußerem eine einzige Farbe ins Auge stach, das fast schwarze Rot eines Taschentuchs, das sich, zu welchem Zweck auch immer, in ihrer halb geöffneten Hand befand, festgehalten von Daumen, Zeige- und Mittelfinger, während die andere Hand auf der schmalen Armlehne des Liegestuhls ruhte. Es war das schwarze Rot geronnenen Bluts. Ihr Kleid, auch ihre Haut war weiß. Sie schlug ein Bein übers andere und entblößte dabei sekundenlang ein Stück des in Bewegung gesetzten Beins. Sie blickte geradeaus über Bord ins offene Meer, vorbei an den verankerten Schiffen, über die Hafenmauer hinaus, die stechende Sonne auf dem Halbprofil. Was um sie herum geschah, schien sie nicht zu berühren und nicht einmal zu interessieren. Sie blinzelte nicht, wodurch der Eindruck entstand, sie habe keine Lider, doch war ihr Blick kein Starren. Mit der linken Hand zupfte sie mehrmals zerstreut an ihrem Kleid, sodass der Saum um einige Zentimeter hochrutschte und einen Teil der Fessel des übergeschlagenen Beins und schließlich den ganzen Fuß freigab, der, zierlich und in weißen Strümpfen verborgen, in ebenfalls weißen Schuhen steckte. Eng hätte sie jetzt gerne aufstehen, auf und ab gehen und abrupt stehen bleiben sehen, doch war sie offensichtlich in Gedanken verloren, die sie daran hinderten, ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie rührte sich nicht. Sie blieb sitzen, was ihren Reiz erhöhte. Sie war nicht mehr ganz jung, sie hätte dem Alter nach seine Mutter sein können. Um auf sich aufmerksam zu machen, hätte er sie erschrecken müssen, doch wenn sie erschrocken wäre, hätte sich womöglich ihr Aussehen mit einem Schlag verändert, sie hätte ihm das Gesicht zugewandt und damit die Stellung aufgegeben, in der die Sonne sie nicht direkt traf; andererseits aber hätte die jähe Bewegung möglicherweise etwas von dem Duft gelöst, der zweifellos in ihren Kleidern hing, an ihrem Körper haftete, von ihrem Hals und ihren Schultern ausging, das Parfum wäre zu dem verzauberten Eng geströmt, er hätte es sehr tief eingeatmet und so lange wie nur möglich in seinen Lungen aufzubewahren gesucht. Eingefangenes, verwahrtes Geißblatt, englischer Duft, daran bestand kein Zweifel, der Geruch einer Dame, die es in ein fremdes Land verschlagen hatte, die sich kleine, auf den ersten Blick unwesentliche Teile ihres früheren, angenehmeren Lebens aufsparte, wie etwa dieses Parfum, von dem sie täglich immer kleinere Mengen, wenige Tröpfchen auf ihre Hand tupfte, auf Hals und Schultern verteilte, ohne ein Lächeln, versunken in diese Tätigkeit, in Erinnerungen an einen Spiegel, Leuchter, Parkett. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen; vom Liegestuhl abgesehen, auf dem sie saß, auch keine Möbel; hin und wieder kreiste über ihren Köpfen ein Vogel, wurde größer, schoss herunter, kreischte und verschwand ohne Beute aus Engs Gesichtskreis in einem anderen Abschnitt des klaren Himmels. Er studierte gern Landkarten und Atlanten.

Inzwischen hatte sie das hochgerutschte Kleid nach unten gezogen, es bedeckte die Fessel und den Schuh wieder. Sie wandte den Blick nicht, wirkte nun aber angespannt und begann mit den Fingerspitzen der freien Hand, bald schneller und heftiger werdend, auf die Armlehne zu trommeln, als habe sie sich plötzlich, ohne äußere Regung, in Erinnerung gerufen, dass sie nicht ohne eine bestimmte Absicht hier saß, sondern auf jemanden wartete, der in ihrer Vorstellung größer, breiter und verletzlicher war als in Wirklichkeit, ein Mann mit glatt rasiertem Gesicht, fast rosiger Haut, dunklem, nassem Haar, der in seinen zu engen Kleidern, aus denen er herausgewachsen schien, den Eindruck eines Gefangenen machte, der sich freiwillig dem Zwang dieser zu kurzen Hosen, zu kurzen Manschetten, zu engen Kragen unterwarf, nicht ohne Behagen, weshalb er sich seines textilen Gefängnisses weder schämte noch versuchte, es zu verlassen, solange er unter Menschen war; unvorstellbar, dass er in Kleidern aufgetreten wäre, die seiner Größe und seinem kräftigen Körperbau entsprochen hätten. So machte er auf sie den Eindruck eines hoch aufgeschossenen, betörenden Kindes, das gleichzeitig Schrecken und Zuversicht verbreitete. Aber trotz seiner Größe und Massigkeit waren seine Bewegungen keineswegs linkisch oder gar unbeholfen, im Gegenteil war sein Auftreten von einer beinahe furchteinflößenden und andere Männer erdrückenden Selbstsicherheit, die viele Frauen bis in ihre Träume verfolgte, in welchen er sich manchmal langsam näherte, manchmal von vorne, manchmal von hinten, manchmal wie im Sprung, raubtiergleich gewissermaßen; Träume, in denen er sich stets lächelnd über sie beugte, nie mit ernstem oder besorgtem Gesicht, viel größer als sie, sie um zwei Köpfe überragend, und doch kein missgestalteter Riese; sehr klein hingegen seine Ohren; er nahm ihre Hände in seine Hand, öffnete, über sie gebeugt, den Mund, wobei die Lippen voller wurden, wässrig glänzten, küsste ihren Mund, während er mit der anderen Hand das Kleid im Rücken löste, auf dem sie seine kühlen Fingerspitzen, dann den warmen Handballen spürte, sein Hemd schon halb offen, ihre Körper nur noch durch dünne Seide und eine Spitzenborte voneinander getrennt, doch dann ging der Traum zu Ende, etwas Unvorhergesehenes musste geschehen sein, sie wachte auf, atmete schnell und sah sich, in der Hoffnung etwas aus dem Traum wiederzufinden, im Zimmer um, wieder und wieder, irrend, nichts da, ein Zimmer, worin die bekannten Gegenstände aus dem täglichen Leben herumstanden. Das waren – oft – ein Sessel, ein gepolsterter Stuhl, eine Frisierkommode mit einem zwei- oder dreiteiligen Klappspiegel, eine Kommode voll Unterwäsche, Blusen und Strümpfen, ein Wandschrank mit Bettwäsche und Kleidern, ein Spiegel, davor ein Hocker, ein zweiwandiger Paravent, der Nachttisch, und all dies samt den halldämpfenden Teppichen und Läufern in Dunkel oder Halbdunkel oder in die aufkommende Morgendämmerung getaucht, deren Licht Unbehagen hervorrief, hineingestellt in einen größeren oder kleineren Raum mit einem oder mit mehreren größeren oder kleineren Fenstern. Leichtes Rascheln der sich blähenden Vorhänge, die jedoch meistens reglos schlaff herunterhingen, aus Organdy oder Musselin. Eng wurde schwindlig von der Sonne, die ihm in dieser Stellung ins Genick stach, von der Anstrengung, auf die Engländerin zu starren, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Er wollte sie nicht durch ein Geräusch aus ihrer Haltung reißen. Von keinem anderen Ort aus wäre sie besser zu beobachten gewesen als von hier.

Eng sah mit geschlossenen Augen den großen Mann zu diesem Zeitpunkt vollständig nackt seitlich vor einem rechteckigen Spiegel auf dem Boden seiner Schiffskabine liegen und warten. Die eingelassenen Schränke standen offen, noch leer, ebenso der Reisekoffer des Mannes, in dem mehrere Anzüge hingen, wie Eng sie in Büchern abgebildet gesehen hatte, dazu zwei Spazierstöcke, einer mit Silberknauf, der andere ganz aus Elfenbein; vier Paar Schuhe in verschiedenen Farben, zwei Hüte; was sich in den zahlreichen Schubfächern befand, entzog sich seinem Blick. Es musste sich um die am besten ausgestattete Kabine des ganzen Schiffs handeln. Das Bett war frisch mit weißer, faltenloser Wäsche bezogen, er hatte es nicht angerührt, er hatte sich neben das Bett gelegt; alles in der Kabine schien glatt gestrichen, selbst seine Haut. Außer dem einen, rechten Lid, das etwas zitterte, bewegte sich nichts, die Umgebung bewegte sich nicht, nicht das Schiff, die Luft, die Gardinen, das Wasser, nicht die Schranktüren. Er lag auf der linken Seite, auf den Ellbogen gestützt, der Kopf von der geballten Linken gehalten, die rechte Hand flach auf dem Knie des aufgestellten rechten Beins, in dessen Oberschenkelinnenseite sich eine Mulde gebildet hatte, die wie der übrige sich spiegelnde Körper hellgoldgelb glänzte, dank des Sonnenlichts, das durch das runde Fenster einfiel, die rötlich braune Holztäfelung überflutete und von dieser auf seine Haut zurückstrahlte. Die Nacktheit hatte alles Kindliche ausgelöscht. Er bewegte auch die freie Hand nicht. Das andere Bein war ausgestreckt, die Kniescheibe trat gewölbt hervor, während die andere unter der Hand verborgen blieb. Die schwarzen Haare standen in krassem Gegensatz zur Farbe seines Körpers. Eng bewunderte seine Reglosigkeit, seine Ruhe. Es schien ihm, er habe nie einen so stillen, so großen, so außerordentlichen und schönen Menschen gesehen. Der Mann, bestimmt kein Engländer, ein Abenteurer, der seine engen, zu kleinen, unförmigen Kleider abgelegt hatte, war ganz dem Spiegel zugewandt. Sich wohl betrachtend, lächelte er. Das war alles. Unter seinen schweren Schritten, dachte Eng, wäre das Schiff gewiss ins Wanken geraten.

Das rote Taschentuch floss wie ein erstarrtes Blutrinnsal aus ihrer Hand. Diese erweckte, vermutlich des Gegensatzes der Farben wegen, den Anschein, sie sei künstlich, aus weißem Porzellan. Was, wenn das Taschentuch, das sich in der Mitte dessen befand, was Eng in diesem Augenblick von der Welt zu sehen bekam, lediglich dem Zweck gedient hätte, die Prothese zu kaschieren, einen Fehler zu vertuschen, der dem Rest der Schönheit der Engländerin den Todesstoß versetzt hätte? Doch natürlich hätte sie im Fall einer solchen Missbildung Handschuhe getragen, und trotz einer gewissen Unbeweglichkeit der Hand wäre niemandem aufgefallen, dass die Glieder, die sich unter dem Stoff oder Leder verbargen, künstlich und zu keiner Reaktion fähig waren. Die Finger begannen, sich zu bewegen.

Das Trommeln ihrer Finger brach nicht ab, es war so gleichmäßig wie zuvor, war jedoch langsamer geworden und, wie ihm schien, auch weniger heftig. Eng hatte sich daran gewöhnt, wie sie sich daran gewöhnt zu haben schien; nur eine Bewegung, wie ein unerklärliches Zeichen, ein ständig sich wiederholendes Geräusch, das sich in den unzähligen anderen Geräuschen verlor, sich mit ihnen vermischte: mit dem Wasser, das gegen das Schiff schlug, den aus dem Schiffsbauch heraufdringenden Befehlen, dem Jammern der Mütter, das an Deck kaum mehr zu vernehmen war, zu ahnen, den Rufen der Händler, die auf dem Quai ihre Waren anboten; alldem, was man hören muss, wenn man auf einem Schiff steht, mitten im Sommer, zwei Stunden vor dem Auslaufen, im Hafen umgeben von anderen mächtigen Schiffen, deren Balken, Stangen und Segeltücher die Luft mit hölzernem, steifem Lärm erfüllen, der jede Konversation unmöglich macht. Aber hier bestand kein Anlass zu einem Gespräch. Wäre Eng auf die Dame in Weiß zugegangen, woran er gar nicht dachte, hätte er sie weder anzusprechen gewagt noch überhaupt mit ihr zu sprechen vermocht, da er ja ihrer seltsamen, in seinen Ohren wohlklingenden Sprache nicht mächtig war. Sie sprach Englisch, eine Sprache, die ihm fast völlig fremd war; verständlich waren ihm einige wenige Brocken, die er von Seeleuten und Kunden im Hafen aufgeschnappt hatte, wenn sie Fische anboten, von Geschäftsleuten, die hier ihre Niederlassungen hatten, aber es waren Wörter, mit denen sich kaum etwas anfangen ließ. Vielleicht hätte sie sogleich zu lachen angefangen, und ihr helles, hohes Lachen hätte ihn zum Weinen gebracht, ihn allein.

Die Zeit war unendlich lange Zeit stehen geblieben, dünn wie die Luft, ebenso ungreifbar und unantastbar, widerstandslos und gegenstandslos, unsichtbar waren die Sterne, unsichtbar war der Mond, verschwunden waren die Lasten, das Ziehen und Drücken. Die Sonne brannte. Es war unwichtig, wo er sich befand, aber angenehm, dass da, wo er war, eine englische Dame in einem Korbsessel saß, fast ein Geist, fast durchscheinend, in Erwartung eines Dritten, der sich zur selben Zeit in seiner geräumigen Kabine am Fußboden von der Seite auf den Rücken drehte, vollgesogen vom eigenen Anblick, und mit der flachen rechten Hand über seinen rechten Oberschenkel und über sein bis zum Bauchnabel hin angewachsenes Glied fuhr, auf dem sie schließlich, wieder reglos geworden, liegen blieb, während sich die dünne Haut über den Hoden zusammenzog und er einmal so laut und tief aufstöhnte, dass jemand, der in dieser Sekunde an der Kabine vorbeigegangen wäre, hätte zusammenzucken müssen. Das Gesicht des Mannes war verzerrt. Das war alles, bevor er aufstand und sich mit schnellen, kurzen Bewegungen wusch, sich nun nicht mehr betrachtend.

Wichtig erschien Eng allein die Tatsache, dass er verschiedene Vorgänge gleichzeitig zu sehen imstande war, und dass er die Engländerin betrachten konnte, ohne von ihr gesehen zu werden. Vielleicht wäre sie bei ihrem Anblick geflohen. Vielleicht hatte sie, wie die meisten, so etwas noch nie gesehen, von so etwas noch nie gehört. Langsam kroch die Angst ihm zurück in den Hals und auf die Brust, sie könnte den schönen, unsichtbaren Schleier durchdringen, hinter dem er sich verbarg als ein entflohener Schatten, einsam und doch nicht allein, getrennt und sie frei betrachtend wie etwa ein Maler sein Modell. Noch war er, andere Gedanken wieder verscheuchend, allein mit ihr an der Oberfläche dieses gefährlichen, verlockenden Gefährts, das sie in wenigen Stunden übers Wasser forttragen würde, das jetzt nur plätscherte, harmlos ruhiges Gewässer. Er wartete, von Glückswellen überströmt, die über seinen Körper rollten und durch seinen Kopf liefen, ihn forttrugen und zurückschlugen, ohne dass ihm Schmerzen zugefügt worden wären, als wäre er ein Teil des Wassers.

Chang und Eng waren gute Schwimmer, wie jeder, der sie kannte, bestätigen konnte. Mühelos fingen sie mit bloßen Händen Fische, die sie später auf dem Markt oder vom Boot aus verkauften, das sie gemeinsam ruderten, doppelt so schnell wie ein Erwachsener, behaupteten die Nachbarn. Aber an Chang dachte er jetzt nicht; als hätte es diesen mit den Wellen fortgespült, weggetrieben, als wäre er im Meer ertrunken, weit vom Ufer, weit von der Sicherheit festen Grundes entfernt. Aus der Ferne tönte eine Glocke, hoch und schrill, aus dem Schiffsbauch bemerkte er aufgeregtes Laufen, die Seeleute selbst aber waren verstummt. Als hätte der Gott des Lichts die Sonne ausgeblasen und der Gott der Dunkelheit seine Finger um die letzten Funken geschlossen. Als Silhouette, die allmählich verblasste, saß die Engländerin da, ohne sich von den schnellen Veränderungen beirren zu lassen, noch immer bewegungslos. Chang hätte wahrscheinlich geschrien. Das Schaukeln des Floßhauses hatte ihn eingeschläfert, die Stimme seiner Mutter Chou-Chou sich verloren, ebenso die Stimme des Fremden, mit dem sie im Zimmer nebenan verhandelte.

 

Der weiträumige Salon ist abgesehen von der weißen Decke und dem oberen Drittel der Wände rot ausgeschlagen, auch die Türen, ein purpurnes Rot. Es ist nicht zu übersehen, dass das Material kostbar ist. Die Teppiche sind rot und weich und dämpfen die Schritte, die Wände mit roten, glänzenden Seidentapeten bespannt, die Stühle dagegen weiß, hoch, hart gepolstert, ebenso weiß die dünnen Marmorplatten der Tischchen und der verbleibende Rest der Wände oberhalb der dünnen schwarzen Linie, die die Tapete deutlich abgrenzt. Kein einziges Bild war zu sehen. Der Salon hatte keine Fenster. Alles, selbst Tische und Stühle, sogar die leise hin und her schwankenden Leuchter waren oder wirkten zierlich, zerbrechlich; die Tassen, die Untertassen, die Teller, die Milchkännchen und Kaffee- und Teekannen, die Zuckerdosen und silbernen Gebäckschalen, auf denen nur noch Krümel lagen, die von befeuchteten Fingern aufgetupft wurden, auch das feine Silber schien dem geringsten Druck noch so feiner Finger nachgeben zu müssen, hätte beim Aufschlagen auf die Tischplatte einen hohen Ton hervorgerufen, doch man ging mit äußerster Vorsicht damit um. Man flüsterte. Es herrschte eine heitere, gelöste Stimmung, die Luft war erfüllt vom Gemurmel der Leute, vom Klang von Silber, das gegen Porzellan schlug.

Die Hände, die dies alles hielten oder nur – abwesend oder zerstreut – befühlten, darüberstrichen, weglegten oder wegschoben, es entfernend, um es sicher zu wissen, waren nicht weniger zart, nicht weniger schlank. Die Gäste des Salons machten, zumindest auf den ersten Blick, alle den Eindruck, so zerbrechlich zu sein wie das Porzellangeschirr; ihre Bewegungen waren langsam, bleiern und überlegt; was sie sprachen, verstand man schon am Nebentisch nicht mehr, es verklang, auf den Köpfen der Frauen schwankten Hüte, über diesen die Leuchter mit den geschwungenen Glasarmen; die Passagiere beugten sich vor, lehnten sich zurück, ohne sichtbare Eile, legten einen Ellbogen andeutungsweise auf die Rückenlehne, falteten die Hände über dem Bauch, über der Brust, unter dem Kinn, warfen den Kopf in den Nacken, entzündeten Streichhölzer, rauchten Zigarren und Zigaretten, schlugen die Beine übereinander, stellten die Füße nebeneinander, zupften an ihren Westen und Hosenbeinen; hätte es jetzt im Salon zu schneien begonnen, wäre wohl niemand auf den Gedanken gekommen, aufzustehen, gar die Stimme zu erheben, um zum sofortigem Aufbruch zu rufen, sie wären zugeschneit.

Dem Salon fehlte nebst den Fenstern jede Art von Bildern oder Rahmen, es gab darin auch keine Spiegel, dagegen war in jede der vier Wände eine Tür eingelassen, durch welche vier kaum voneinander zu unterscheidende weiß gekleidete chinesische Stewards mittleren Alters mit Tabletts eintraten, servierten, verschwanden und wiederkamen. Die Bewegung der Schwenktüren stieß immer wieder frische Luft in den roten Salon, dazu die Geräusche menschlicher Stimmen aus der Küche, und auch, aus weiter Ferne, ein seltsames Heulen, es konnte ein Hund sein, der Wind oder ein Mensch, eine Frau, ein Mann, ein Kind. Da man es aber schon so lange hörte, gestern und vorgestern schon gehört hatte, störte es nicht mehr, dachte niemand darüber nach, woher es kam und wovon es ausging. Am wahrscheinlichsten schien die Möglichkeit, dass dieses Heulen aus dem Schiffsbauch herauf drang, den man ja doch nie betreten würde. Es wirklich zu wissen, war Sache des Personals, des Kapitäns, all jener, die für das Außergewöhnliche verantwortlich waren, solange man sich an Bord des Schiffs befand. Während Chang sich langsam darauf zubewegte.

Es herrschte eine entspannte, durch die dicken Teppiche gedämpfte Atmosphäre. Wen immer man auch gefragt hätte, er wäre der gleichen Meinung gewesen, wenn auch nicht jeder diese Art nachmittäglicher Ruhe und Entspanntheit genoss. Eine gewisse Starre lag nicht nur auf den Gesichtern der Leute. Vielleicht waren sie erschöpft von der vergangenen Nacht, von den Nächten davor und davon, dass sie hier kaum Bewegung hatten, sich seit Tagen lediglich von ihren Kabinen zu Tischen und Stühlen und zurück bewegten und sich gleich wieder setzten, weil es kühl war, deshalb selten oder nie an Deck gingen, des hässlichen Anblicks von grauen Wellen und weißem Himmel, dieser feuchten Einheit überdrüssig; daher die Lähmung. Im Übrigen war der Lärm der geblähten Segel und der ächzenden Maste, die dem Wind standzuhalten hatten, nicht lange zu ertragen. Viele klagten über Kopfschmerzen und Gefühle der Ohnmacht.

Dennoch hätte niemand widersprochen. Kaum etwas war so wohltuend leer wie die Stunden am Nachmittag im roten Salon. Man hätte genickt und sich wieder seinem Tischnachbarn oder seiner Lektüre, seiner Tischnachbarin zugewandt, das Ohr nur etwas, kaum merklich, in ihre Richtung drehend, damit einem auch nichts von dem entging, was sie erzählte. Die Kinder waren bereits hinausbegleitet worden, möglicherweise schliefen sie schon, wahrscheinlicher war, dass die Mädchen oder Gouvernanten ihnen vorlasen, wozu sie gehalten waren. Es war unzweifelhaft die Zeit der Abenddämmerung, aber es dämmerte nicht. Die Nacht würde das helle Grau jäh überrumpeln. Es war kaum jemandem möglich, sich daran zu gewöhnen.

Es konnte noch eine Weile dauern, bis die ersten Gäste aufstanden, erst die Männer, danach die Frauen, den Salon verließen und in den weiträumigeren, aber gleich hohen, hell tapezierten Esssaal wechselten, am Tisch den ersten Porto oder Sherry oder die erste Flasche Wein bestellten und, schon etwas lauter, auf das Wohl irgendeines Anwesenden oder eines Abwesenden an Land anstießen, dass die Gläser klirrten, Toasts so laut und vernehmlich ausgaben, dass sich die Gäste in der näheren Umgebung mit gespielter Entrüstung umdrehten, vereinzelt ebenfalls ihre Gläser in die Luft hielten, bis alle ihre Stimmen gleichmäßig etwas erhoben hatten und sich gegenseitig nicht mehr störten. Die Nacht war hereingebrochen. Sie warteten essend, trinkend und sich unterhaltend auf den Umstand, der sie an diesem Abend in bessere Stimmung versetzen würde. Irgendetwas, auch dem hätte niemand widersprochen, geschah immer, es konnte sich um eine arrangierte Kleinigkeit handeln. Die Unterhaltung stockte. Sie hätten einen fremden Betrachter vielleicht an eine Schar Lebloser auf einem ungesteuerten Schiff erinnert, das bis zum letzten Passagier vom schnellen Tod heimgesucht worden war: ein Geisterschiff, vor dem die Menschen in den Häfen, an den Stränden mit Entsetzen flohen.

Während Chang sich auf das seltsame Heulen zubewegte, glaubte er den älteren Herrn mit dem grauen Schnurrbart, der in der Mitte des Esssaales saß, seinen Namen aussprechen zu hören. Nein, er rief ihn. Aber war das möglich! Chang, er spürte es, wurde vom Blut, das ihm ins Gesicht schoss, heiß übergossen, während er sich Engs Wut ausmalte, woran sollte er sich halten, auf welches Bild sollte er sich konzentrieren, war es auszudenken, dass der ältere Herr ihn, Chang, ohne Eng rief. Er riss sich los, wild und frei, nach ihm, nach niemand anderem, hatte der ältere Herr gerufen. Chang!, der ältere Herr schlug ein Bein übers andere, und der Fuß des übergeschlagenen rechten Beins wippte vor ihm in der Luft, als hätte er darüber keinerlei Gewalt. Chang hatte sich losgerissen, er hatte sich davongemacht. Im selben Augenblick ging eine angespannte Bewegung, wie ein Erschauern, durch den Saal.

Der genossene Wein hatte die allgemeine angenehme Stimmung nach beendeter Mahlzeit noch eine Weile halten können; abschließend die Schnäpse. Keine Frage aber, dass sich inzwischen der größere Teil dieser Gesellschaft, deren einzelne Mitglieder einander zumeist nur vom Sehen, nicht unbedingt mit Namen kannten, auf jenen besonderen Zwischenfall konzentrierte, ihn insgeheim beschwörend, von dem sie hofften, er würde so bald wie möglich eintreten, noch bevor man so müde war, dass einem nichts als der Weg zurück in die Kabine übrig blieb, um sich nach einem ereignislosen, langweiligen Tag unzufrieden ins Bett zu legen, wo man sich müde, aber schlaflos, betrunken und übersättigt, hin und her wälzen würde. Noch war es möglich, vermittels der Fantasie abzuschweifen, doch hatten schon viele heimlich zu gähnen begonnen. Sie hielten die Hände vor die Gesichter, auf die Münder.

Ganz im Gegensatz dazu der ältere Herr, der sich bis dahin durch freundliche Unscheinbarkeit ausgezeichnet hatte und sich nun schon seit einiger Zeit Gedanken darüber machte, welche Worte es zu wählen gälte, wenn Chang den Saal beispielsweise durch jene Tür betreten hätte, auf der seine Blicke schon lange ruhten. Wie sollte er seine Rede beginnen, wenn Chang vor ihm stand, die Blicke aller Anwesenden auf sie gerichtet, auf ihn und Chang, den abgetrennten Teil einer Rarität, die eines Tages weltberühmt sein würde.

Chang trat ein. Changs weißes Hemd und seine schwarzen Hosen waren blutüberströmt; er trug Lackschuhe, einen zylindrisch geformten Hut, und er war allein, ohne Eng, von dem er sich losgerissen hatte; alle Blicke auf sich gerichtet, so stand er mitten im Speisesaal, nachdem er gestolpert und beinahe hingefallen war. Er hatte sich gerade noch aufrichten können, er war nicht hingefallen, aber die Leute konnten nicht übersehen haben, wie unsicher er auf seinen zwei Beinen stand. Die Wunde in der Brust hatte die Neugier der Wartenden, deren Trägheit einer aufgeregten Geschäftigkeit gewichen war, sofort auf sich gezogen; einige hatten sich von ihren Stühlen erhoben und reckten die Köpfe, andere standen auf ihren Stühlen, weitere, vor allem Frauen, denen keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde, sprangen, um besser sehen zu können, immer wieder hüpfend in die Höhe.

Wie ein Horn stand das knorplige Knochenstück aus Changs blutbeflecktem Hemd vor; das Band, das ihn bisher mit Eng verbunden hatte. Chang hatte, wie der ältere Herr in diesem Augenblick fand, den Gesichtsausdruck eines soeben geschlachteten Schweins. Dieser Ausdruck rührte gewiss nicht von den Schmerzen. Chang hatte sich, zu seiner Freude, zur eigenen Überraschung, von Eng gelöst, indem er sich weggerissen hatte, wie er es sich eindringlich seit vielen Jahren schon gewünscht hatte. Die körperlichen Schmerzen, die diese Trennung hervorrief, waren weit geringer als die Angst vor der Menge, die mit Spannung auf ihn gewartet zu haben schien, der er nun aber nicht das zu bieten vermochte, was sie, wie er ganz genau wusste, von ihm erwartete: ihn und Eng, beide Teile des abscheulichen, abstoßenden, unheiligen Wunders; Chang mit Eng. Er versuchte, sich über die Erwartungen der Zuschauer hinwegzusetzen, indem er auf den älteren, ihm unbekannten Herrn starrte, als sei dieser für sein Unglück im vollkommenen Glück verantwortlich; er würde ihm aus der Not helfen, hatte nicht er ihn dazu verführt, hier auf dem Schiff aufzutreten? Er wüsste das Publikum auf seine Seite zu ziehen, das von Changs Befreiung von einer unbeschreiblichen, in ihrer Tragweite kaum erklärbaren Last nichts wissen wollte, und vielleicht nichts wissen konnte, ein Publikum, das jetzt nur ihn und die Überreste der Verbindung zwischen ihm und seinem Bruder Eng sah, das Horn, aus dessen Ende, inzwischen etwas spärlicher, dickes Blut aufs Parkett tropfte, das Knorpelstück, das aus dem sauber vernähten runden Loch ragte, welches ihre Mutter Chou-Chou aus seiner Bluse geschnitten hatte, wie sie auch eines aus Engs Bluse geschnitten hatte. Bisher war das verbindende Glied, das einer Brücke gleichkam, den meisten Menschen verborgen geblieben. Die wenigsten hätten es jemals sehen wollen, aus kaum verhohlenem Ekel.

Er hörte das Heulen nicht mehr. Das nicht wahrgenommene Schaukeln des Floßhauses, auf welchem sie, seit sie denken konnten, lebten, war einem mächtigen, übermächtigen Aufwogen und Abwogen gewichen, das ihm mit jedem von vorn oder hinten nahenden und ihn treffenden Schwung einen Stoß in den Magen versetzte, der ihm das Gefühl gab, ein großes, hin und her schwingendes, willenloses Pendel zu sein. Er versuchte, erfolglos, die Augen zu schließen. Sie blieben offen. Sein ganzer Körper wurde nach vorne geworfen und nach hinten gerissen. Das Gesicht neigte sich dem Boden zu, der Hinterkopf neigte sich dem Boden zu. Das Schiff, auf dem er sich befand, hatte sich offenbar ganz der Macht des Meeres ausgeliefert, jede eigene Kraft verloren. Obwohl sich Chang vor nichts und schon gar nicht vor dem Wasser fürchtete, zitterte er.

Der ältere Herr kannte die Leute, er würde sie, die unruhiger wurden, bändigen, zähmen, mit einem einzigen Blick, einer Handbewegung, einem Atemzug zum Schweigen bringen. Chang zitterte am ganzen Körper und wunderte sich über das Ausbleiben der Vibration; es fehlte die Resonanz aus Eng. Er vermisste sie nicht länger als einen Augenblick, dann beruhigte er sich und vergaß für eine Weile, wo er sich befand, in welchem Zustand. Er vergaß alles. Er wurde jetzt wie sie, und sah ins Publikum, versuchte, sich einzelne Gesichter einzuprägen.

Der ältere Herr bat Chang freundlich und so, dass ihn jeder im Saal deutlich verstehen konnte, näher zu kommen, noch etwas näher, nachdem er selbst einige Schritte auf ihn zugegangen war, eher zögernd. Es war Chang nicht gelungen, sich auch nur ein einziges Gesicht zu merken. Er öffnete den Mund und entblößte seine Zähne. Er lächelte. Er fühlte sich weniger elend und schüttelte unwillkürlich den Kopf, als sei er etwas gefragt worden und verneine die Frage. Eine ältere Dame sank ohnmächtig in ihren Stuhl zurück, ohne dass irgendjemand von ihrem Schwächeanfall Notiz genommen hätte; ihr Zusammenbruch blieb unbeachtet. Das Kinn sank ihr auf die Brust, die Arme fielen zu beiden Seiten ihres schmächtigen Körpers herunter. Die Umstehenden waren erregt und neugierig, ihnen stockte das Blut in den Adern, einigen wurde schwarz vor Augen, mit jeder Bewegung Changs wuchs ihre Nervosität angesichts des abgetrennten Teils des Doppelmonsters, auf den sich ihre Blicke konzentrierten, der Teil, der nun sehr nah an den älteren Herrn herangetreten war und versuchte, eine Verbeugung zu machen. Es blieb bei einer lächerlichen Andeutung. Leise sagte jemand, das Ganze sei ihnen versprochen worden, nicht nur ein Stück. In das Zischen aus den Reihen der Zuschauer mischten sich einige Lacher, Chang zuckte zusammen. Er wünschte sich zurück. Er fürchtete den freundlichen Blick des älteren Herrn. Hinter dieser Freundlichkeit, die vermutlich bloß ein Wink, ein Zeichen ins Publikum war, verbarg sich die Gewalttätigkeit, die sich durch die Bewegung nicht verbergen ließ, mit der er seine kleine weiße Faust öffnete, um mit allen Fingern seiner Hand, die er gleich darauf einladend mit der Innenseite nach oben drehte, auf Chang zu deuten, der augenblicklich stehen blieb. Sofort hörte er auf zu zittern. Er ist nicht Gott, dachte er, aber diese Hand war zweifellos imstande, blitzschnell, wie die Zunge einer Schlange, vorzuschnellen und zuzuschlagen, wenn das Gegenüber, auf das sie zeigte, nicht gehorchen wollte. Aber was sollte Chang tun, welche Kunststücke vollführen, ohne Eng.

Die Strenge, die Fähigkeit zum Zorn, die in dieser Hand lag, bemerkte außer Chang niemand. Wer sie bemerkt hätte, wäre damit zufrieden gewesen, da niemand genau wissen konnte, zu welchen wilden, widernatürlichen Ausbrüchen und Handlungen dieser einsame, verloren wirkende eine Teil des siamesischen Zwillingspaars mit dem herausragenden Horn fähig war. Es war gut zu wissen, dass der ältere Herr ihn beherrschte und notfalls zurückhalten konnte.

Wo ist der andere! rief ein junger Mann, wir haben alle von dem zweiten gehört, der zu diesem gehört, wo ist Eng, Chang allein genügt uns nicht, wie verhält es sich mit Ihrem Versprechen, wie gedenken Sie es unter den gegeben Umständen einzulösen, etwa mit diesem Haufen siamesischen Elends; das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Sie müssen auf der Stelle eine Erklärung abgeben, wer soll Sie sonst noch ernst nehmen, Mann! Es folgten, worauf der junge Mann es abgezielt hatte, Beifall und lautstarke Zustimmung von allen Seiten. Jedem, außer Chang, fiel auf, dass der ältere Herr leichenblass geworden war. Er hob, um Zeit zu gewinnen, langsam und würdevoll die Hände, weshalb Chang sich bückte, als müsste er Schläge abwehren. Doch der ältere Herr wollte sich nur verteidigen, er würde den Zuschauern erklären, weshalb sich Chang von seinem Zwillingsbruder Eng getrennt hatte, und dass die Trennung in Wahrheit, wie unschwer zu erkennen sei, bei Weitem das großartigere und bestaunenswertere Wunder als die verhängnisvolle und für beide tragische Verstrickung sei. Sie würden ihm, wenn womöglich auch bloß zögernd, applaudieren. Es bliebe ihnen nichts anderes übrig, als sich den Tatsachen zu fügen.

Chang und Eng wachten im gleichen Moment auf. Ihre Mutter Chou-Chou betrat den Raum, in dem sie schliefen, gefolgt von Robert Hunter, dem Mann, welchem sie soeben ihre beiden Söhne für eine beträchtliche Summe englischer Pfunde überlassen hatte. Mit jedem Schritt der Erwachsenen bewegte sich das Floßhaus. Keinem der Anwesenden fiel das Schwanken auf, das Geräusch von Ratten im Wasser, Stimmen aus der Umgebung.

Die beiden Erwachsenen waren vor den Matten stehen geblieben, auf denen die Brüder lagen. Das Schaukeln des Hauses glich sich wieder aus. Draußen war es vollständig dunkel geworden, Licht fiel aus dem Nebenraum, in dem Chou-Chou und Robert Hunter um Chang und Eng gehandelt hatten, wobei sie nur einmal die Stimmen etwas erhoben, ansonsten jedoch den Ton höflicher Konversation gewahrt hatten, wie er auf diesem fest verankerten Boot selten gebräuchlich war; so hatten sie verhindert, dass eines der anderen Kinder oder gar der Gegenstand der Verhandlung ihren Worten folgen konnte. Chou-Chou war darum besorgt gewesen, im Kopf die vorgeschlagenen Summen so schnell wie möglich von einer Währung in die andere umzurechnen.

Nach einer Weile richteten sich die Zwillinge auf, erst Eng, der seinen Bruder kaum merklich um zwei Zentimeter überragte, fast im gleichen Augenblick Chang, der ein Gähnen unterdrückte. Eng war hellwach und äußerst aufmerksam.

Robert Hunter hatte, von seiner eleganten Kleidung abgesehen, keine Ähnlichkeit mit dem älteren Herrn, von dem Chang, wie er sich erinnerte, geträumt hatte. Chou-Chou, die eine Zigarette rauchte, hatte sie auf den Besuch eines englischen Kapitäns vorbereitet, der ihnen, wie sie wussten, seit einiger Zeit beim Fischen und bei sonstigen Geschicklichkeiten, für die sie weitherum bekannt waren, zugesehen hatte, ohne sich ihnen jedoch namentlich vorzustellen. Sie hatten ihn, der sich vor ihnen zu verbergen schien, bei Gelegenheit aus den Augenwinkeln beobachten können. Sie waren noch Kinder, gewiss, aber sie erweckten den Anschein von Jünglingen, wie Robert Hunter sich eingeredet hatte, bevor er Chou-Chou aufsuchte, um sie nach ihrer Meinung, einen Handel betreffend, zu fragen.

Gut, sagte Eng leise zu Chang, Warte, sagte dieser ebenso leise, ihrer Mutter Chou-Chou, nicht aber dem Fremden verständlich, der die Frau fragend ansah, die ihm ausdruckslos freundlich zulächelte und mit den Achseln zuckte, als habe auch sie kein Wort dessen verstanden, was nun plötzlich geheimnisvoll im Raum stand, zwischen Hunter und den Zwillingen. Undurchsichtig, daher gefährlich, dachte Hunter und beugte sich zu dem Doppelwesen herunter, das vier Beine, vier Arme, vier Augen, vier Ohren, zwei Köpfe, zwei Herzen, vermutlich zwei Geschlechtsteile und womöglich, wenn überhaupt, zwei Seelen besaß. Oder aber nur eine einzige Seele. Er legte seine Hände auf ihre Köpfe, und beide, Chang und Eng gleichermaßen, erschauerten und zwinkerten einander gleichzeitig zu. Hunter hätte erwarten können, dass Chou-Chou, die ihm vor wenigen Minuten mit einem Kopfnicken, sich dem Handschlag entziehend, ihre Kinder überantwortet hatte, weinen würde, doch hatte er sich nicht getäuscht, sie weinte nicht. Bewegungslos wie eine gehauene Figur, klein und breit, lächelnd, stand sie in der Mitte des Raums, hinter sich das Licht aus dem Nebenraum, vor sich den Mann, der ihren Kindern die Zukunft weisen würde. Sie streckte den Arm aus und berührte ihn am Ärmel, um anzudeuten, er solle sie und die Zwillinge allein lassen. Sie weinte weder jetzt, noch würde sie beim Abschied von ihren Kindern weinen.

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Auftritt der Zwillinge Chang und Eng, einer Attraktion ohnegleichen, unvergesslich, unvergleichlich, Sonnenschein und Mondfinsternis, die Siamesischen Zwillinge nach ihrer Heimat genannt. Es riecht nach gesalzenem Fisch, gepökeltem Fleisch und eingelegtem Gemüse. Noch nach über einer Woche richtete sich ein wesentlicher Teil der Aufmerksamkeit der Passagiere, überwiegend Männer, die Handelsgeschäfte in den Fernen Osten führten, auf die zusammengewachsenen Zwillinge Chang und Eng, deren Haut zur Berührung reizte, weil sie so kindlich rein schien, matt bronzefarben, glatt und schimmernd; dünne, kurze Zöpfe, die Chou-Chou in ihre Haare geflochten hatte, schauten nur wenige Zentimeter unter ihren steifen, zylindrischen Hüten hervor.