Die sieben Zypressen - Thomas Riedel - E-Book

Die sieben Zypressen E-Book

Thomas Riedel

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Beschreibung

Eigentlich sollen Inspektor Blake und Sergeant McGinnis lediglich den vermissten Bauingenieur Richard Cunningham finden. Doch plötzlich werden sie mit einem ungewöhnlichen Mord konfrontiert. Und nicht nur der bereitet ihnen Kopfschmerzen. Ein seltsamer Arzt, ein merkwürdiger Vogelforscher und eine adlige Familie tun ihr Übriges dazu. Die beiden Kriminalbeamten geraten in einen Sog aus Intrigen und Lügen. Schnell bemerken sie, dass ihnen die Zeit davonrennt, denn das Morden hat gerade erst begonnen ...

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Die sieben Zypressen

Die sieben Zypressen

Mystery-Thriller

von

Anna-Lena & Thomas Riedel

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar

2. Auflage (überarbeitet)

Covergestaltung:

© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2019 depositphoto.com

ImpressumCopyright: © 2019 Anna-Lena & Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Ich kenne euer Tun. Ich weiß, dass ihr weder warm noch kalt seid. Wenn ihr wenigstens eins von beiden wärt!«

Offenbarung 3 : 15

Kapitel 1

M

»Mir gefällt das nicht, Lewis! Ganz und gar nicht!« rief die gertenschlanke, äußerst attraktive Blondine ihrem Arbeitgeber nach, der eilig davonhastete.

Es war bereits später Herbst und die augenblickliche Wetterlage mörderisch. Eisig kalt blies der heftige Ostwind eine immer dichter werdende Nebelbank vom nahen Nordatlantik über das die Landschaft bedeckende weite und beeindruckende schottische Hochmoor der alten Grafschaft Sutherland.

»Sie werden sich draußen noch den Tod holen, junger Mann!« brummte Doktor Mac Clesfield ihm lautstark hinterher.

»Danke für Ihren Rat«, rief Gaskell mürrisch zurück. »Sie scheinen mir nicht mal das Leben zu kennen, Doktor! Wie sollten Sie da den Tod kennen?«

Clesfield lachte geringschätzig.

Lewis Gaskell mochte den seltsamen alten Landarzt nicht, der stets eine übel riechende Scotchfahne vor sich hertrug und laufend wie ein Irrer kicherte. Es sollten die letzten Worte sein, die der kräftige Bauingenieur in seinem Leben hörte. Gaskell konnte in diesem Augenblick nicht ahnen wie Recht der Mediziner mit seiner Behauptung haben würde.

Für seinen späten nächtlichen Spaziergang gab es einen jedoch guten Grund. Gaskell ging es um seinen Assistenten Richard Cunningham. Eine Woche war es nun her, dass dieser mit einer Mappe sehr wichtiger Projektunterlagen verschwunden war – völlig spurlos – gerade so, als habe er sich im Dunst des steten Herbstnebels aufgelöst. Cunningham hatte sprichwörtlich der Erdboden verschluckt.

Gaskell zog den Gürtel seines langen alten schwarzen Ledermantels fester und stellte den Kragen hoch. Der feuchte Nebel legte sich schwer auf seine Lungen, als er die massive Holztür des heruntergekommenen ›Wallace Inn‹ hinter sich ins Schloss fallen ließ. Es war das einzige Gasthaus mit angeschlossener Pension in Tongue, einer gottverlassenen Kleinstadt in den Highlands, in deren unmittelbaren Nachbarschaft er eine Fabrik für einen ihm unbekannten Zweck bauen sollte. Kleinstadt? Für Lewis Gaskell traf es das nicht wirklich. Tongue war für ihn kaum mehr als ein Dorf. Die nächste größere Stadt lag gut vierzig Meilen entfernt.

Seine linke Hand, tief in der Manteltasche vergraben, umklammerte ein schmieriges Stück Papier.

»Kommen Sie um Mitternacht

zur Monterey-Zypressengruppe!

Dort werden Sie erfahren,

was mit Cunningham geschehen ist.«

Im Zimmer seines Assistenten hatte er eine ähnlich lautende Botschaft gefunden:

»Um Mitternacht bei den sieben Zypressen!«

Plötzlich und unvermittelt tauchten, an der mehrfach gewundenen Straße, rechts vom ihm, die windzerzausten sieben Bäume auf. Sie standen einfach inmitten des weiten Moores. Nur diese sieben Bäume und sonst keine. Kaum hatte Gaskell die Monterey-Zypressen ausgemacht, da löste sich eine hochgewachsene, recht schmale Gestalt aus den dicken Stämmen heraus.

Der Bauingenieur ließ sie auf ein paar Meter herankommen. Als er einen altmodischen langen schwarzen Umhang erkannte, holte er sein silbernes Sturmfeuerzeug hervor und knipste die Flamme an.

So mühelos und gleichmäßig, wie sich die Gestalt ihm näherte, gewann Gaskell den Eindruck als würde sie über dem weichen Boden geradezu dahinschweben.

Für den Bruchteil einer Sekunde ließ das flackernde Licht unter der weiten Kapuze das Gesicht des Fremden erkennen.

Lewis Gaskell stockte der Atem. Ihm gefror das Blut in den Adern. Was er da sah konnte nicht sein. So etwas gab es nicht! Nicht im 21. Jahrhundert und schon gar nicht hier in Schottland.

Es war eine bleiche, kantige und vernarbte Fratze, die von einem Paar Zähne beherrscht wurde, das jedem Säbelzahntiger Ehre gemacht hätte.

Durch die Kehle des Bauingenieurs bahnte sich ein gurgelnder Schreckenslaut seinen Weg. Ungläubig und völlig starr vor Entsetzen sah er in die dunklen blutunterlaufenen toten und weit aufgerissenen Augen der unheimlichen Gestalt, die sich ihm weiterhin lautlos näherte. Hände mit langen, krallenähnlichen Fingern, die gefährlichen Klauen ähnelten, streckten sich ihm entgegen. Die langen spitz zulaufenden Fingernägel erinnerten ihn an aufgepflanzte Bajonette an Gewehrläufen.

Er hatte den gespenstischen Anblick noch nicht verarbeitet, da spürte der Bauingenieur auch schon den eisigen Atem des anderen an seiner Wange. Lewis Gaskell erschauderte bei der Berührung der kalten, feuchten Hände, von denen noch das Wasser tropfte. Auch der schwarze Umhang der Kreatur war klamm.

All das sah und nahm er wahr mit jener brillanten Schärfe und Klarheit, von der man sich erzählt, dass diese das Letzte sei, was einige Menschen kurz vor ihrem Tod erfahren würden.

Voller Entsetzen schrie er auf.

Lewis Gaskells greller Schrei war noch nicht ganz verhallt, da legte sich auch schon etwas Weiches, süßlich Duftendes über ihn, das ihn völlig seiner Sinne beraubte. Und vermutlich war es das Beste, das ihm in seiner Lage noch widerfahren konnte.

Kapitel 2

P

atrick MacDougall schimpfte wie es ein Rohrspatz nicht besser hätte machen können. Er verfluchte Gott und die ganze Welt, vor allem aber verteufelte er die gesamte Automobilindustrie. Erst machte ihm der immer dichter werdende Küstennebel zu schaffen, so dass er kaum noch einen Yard von der Stelle kam und dann zerbarst unter der Fahrgastzelle irgendetwas mit einem widerlichen Geräusch. Augenblicklich stand sein alter roter Mini Cooper wie einzementiert. Und als wenn all das nicht schon genug war, es passierte auch noch auf dieser gottverlassenen Landstraße, auf die er sich verfahren hatte. Doch er hatte ja nicht hören wollen, als sein bester Freund Ken, der auch gleichzeitig der Mechaniker seines Vertrauens war, ihm geraten hatte sich endlich von Mary-Ann, wie er seinen Mini liebevoll nannte, zu trennen. Aber MacDougall hing einfach an dem kleinen Wagen.

Der Handelsvertreter hatte nicht die geringste Lust, sich auf der Suche nach einer Ansiedlung obendrein auch noch im Moor zu verlaufen und bereitete sich auf das vermeintlich kleinere Übel vor. Verärgert über die Panne klappte er den Fahrersitz soweit es ging zurück und wickelte sich in seinen rostbraunen gefütterten Mantel. Bei Tagesanbruch würde er weitersehen, dann wäre auch der gespenstische Nebel verflogen.

Mit dem Einschlafen war das jedoch so eine Sache, es wollte ihm nicht recht gelingen. Die nächtlichen Geräusche hielten ihn wach. Von Zeit zu Zeit vernahm er ein leises Blubbern, und zwar immer dann, wenn eine der zahlreichen Gas-Blasen die Oberfläche erreichte und in den sumpfigen Lachen zerplatzte. Und dann waren da noch die unheimlichen Rufe einer Eule.

Doch plötzlich mischte sich in die Geräuschkulisse der panische Schrei eines Menschen, der um sein Leben zu fürchten schien. Es war ein Schrei größter Not und Qual. Er ging MacDougall durch Mark und Bein.

Erschrocken und schaudernd fuhr der dicke Handelsvertreter hoch und stieß dabei schmerzhaft mit seinem Kopf gegen den Himmel seines Wagens.

Hastig blickte er sich nach allen Seiten um. Zunächst konnte er nichts in der Dunkelheit entdecken. Dann aber meinte er in den Nebelschwaden einen Schatten zu erkennen. Er kniff ein wenig die Augen zu um besser sehen zu können. Dort drüben bei einer verschwommen sichtbaren Baumgruppe hockte jemand. Da war eine dunkle Gestalt zu entdecken, die vorher nicht dort gewesen war - zumindest hatte er sie vorher nicht wahrgenommen.

So schnell er konnte öffnete der korpulente Vertreter die Fahrertür, bugsierte seine vom langen sitzen steifen Glieder aus dem Wagen und lief auf den Kauernden zu.

»Hallo, können Sie mir...«

Er kam nicht dazu den Satz zu vollenden, denn kaum hatte er lauthals zu ihr herübergerufen, da schreckte die schwarze Gestalt auch schon hoch.

Für den Bruchteil einer Sekunde erfasste Patrick MacDougall ein schemenhaftes bleiches Gesicht. Ehe er sich versah, hatte der Schwarze ein Bündel aufgenommen und sich von ihm abgewandt. Nun schien er förmlich durch den Nebel dahinzugleiten.

Keine Schritte waren zu hören – nichts! Verwundert und auf gewissen Weise magisch angezogen, folgte der Handelsvertreter der mysteriösen Gestalt, die sich bereits in den dichten Nebelschleiern aufzulösen begann.

Wenn sich hier jemand herumtrieb, dann war ganz sicher auch ein Haus oder eine Stallung in der Nähe, dachte der Handelsvertreter. Irgendwoher musste diese Person ja schließlich hergekommen sein und jede Schlafstätte war besser, als der zum Schlafen unbequeme Fahrersitz in seinem Mini Cooper.

Patrick MacDougall lächelte. Noch! Denn ohne es zu ahnen schritt er zielstrebig auf den Schrecken seines Lebens zu.

Kapitel 3

E

rin Hornby, ein untersetzter Mann mittleren Alters, von kleiner Statur, mit Vollbart und ausgeprägter Stirnglatze, war der Wirt des ›Wallace Inn‹. Er hatte zu dieser weit vorgerückten Stunde keine Holzscheite mehr im Kamin des Gastraumes nachgelegt und so fielen die letzten Flammen jetzt langsam und knisternd in sich zusammen. Wie bösartige Augen leuchteten die roten Punkte des vergehenden Feuers.

Violet Keating fingerte eine letzte Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich zwischen die sinnlich geschwungenen roten Lippen, die jeden Mann hätten schwach werden lassen. Dann zerknüllte die attraktive Blondine, mit den geschmeidig langen Beinen, die leere Packung und warf sie in die noch leicht glimmende Glut. Es knackte und knisterte. Ihre hellblauen Augen blickten nachdenklich und sorgenvoll drein. Nie wieder hätte sie nach Tongue kommen dürfen. Doch das wurde ihr erst jetzt richtig bewusst. Jetzt, wo es definitiv zu spät war.

»Heute kommt Ihr Chef ganz sicher nicht mehr zurück, Miss«, meinte Doktor Clesfield väterlich. »Es macht keinen Sinn auf ihn zu warten.«

Der alte Landarzt sagte das in einem solchen Tonfall der Überzeugung, als wisse er alles. Er betrachtete die junge Frau und nippte an seinem Scotch. Clesfield stand wieder unter Alkohol, so wie auch die vielen scheußlichen medizinischen Präparate, die er auf den Fensterbänken und in den Regalen seiner Praxis angehäuft hatte.

»Wie können Sie sich da so sicher sein, Doc?«

Die Frage kam von Terry Prescott, einem drahtigen jungen Mann, der es sich in dem einzigen bequemen Sessel, der in einer Ecke der Gaststube stand, gemütlich gemacht hatte und seine ornithologischen Aufzeichnungen studierte. Seit einigen Tag hatte er sich hier einquartiert. Die ganze Zeit über war er hinter seltenen Vögeln her, die hier, im Umfeld des ›Loch Craisg‹ und den Mooren, leben sollten. Abend für Abend vergrub er sich bei zahlreichen Tassen schwarzen Tees in seinen Unterlagen. Und obgleich Prescott immer sehr beschäftigt wirkte, konnte man sicher sein, dass er jedes einzelne Wort aufschnappte, das in seinem Umfeld gesprochen wurde.

»Sie sollten einmal auf die Wanduhr dort drüben sehen, mein neugieriger Freund. In wenigen Minuten ist es Morgen. Wäre das nicht ein guter Grund?« Das hohle Kichern des Arztes drang durch die Räume des baufälligen Gasthauses. Leicht schwankend erhob sich der alte hagere Mann mit den schlohweißen Haaren. Während er auf den Ausgang der Gaststätte zusteuerte, drehte er sich noch einmal um und sah den jungen Mann an. »Und für mich wird es Zeit. Ich werde jetzt schnell über die Straße huschen und in meinem Bau verschwinden. Verlassen Sie sich darauf, meine Tür wird fest verschlossen sein. Dabei ist mein altes Blut vermutlich nicht mehr besonders schmackhaft.« Wieder hallte sein unheimliches Kichern nach. »Und Sie? Jagen Sie morgen wieder fleißig der ›Anatidae palus‹ hinterher?«

Der junge Ornithologe blickte auf und nickte ihm abwesend zu.

»Dann sagen Sie mir doch bitte, was dieser ›Anatidae palus‹ für ein seltener Vogel ist.« Das Kichern des Alten war noch zu hören, als der Nebel ihn bereits verschluckt hatte.

Terry Prescott beugte sich so tief über seine Papiere, dass man seinen verblüfften Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte. Dieser schmutzige Trick vom Doc hatte ihm gerade noch gefehlt. Warum sollte es keine verdammte Sumpfente geben? Eine der Gattung ›Anatidae palus‹?

Kapitel 4

P

atrick MacDougall setzte sich in Trab. Auf keinen Fall wollte er in dem dichten Nebel die Richtung verlieren. Die seltsame schwarze Gestalt war zwar bereits vor ihm im Nichts verschwunden, aber MacDougall war guter Hoffnung, sie bald einzuholen.

Kaum hatte er seinen Schritt beschleunigt, verfing sich sein linker Fuß in etwas Weichem, und er stürzte der Länge nach hin. Augenblicklich rappelte er sich wieder auf. Als er zu Boden sah bemerkte der Vertreter, worüber er gestolpert war. MacDougall erschrak.

Mit geweiteten Augen starrte er ungläubig auf den Körper des Mannes, der lang ausgestreckt vor ihm im Gras lag.

Instinktiv tastete MacDougall nach dem Kopf des Mannes. Aber da war kein spürbarer Atem, der über seine Finger strich. Als er den Hals des Mannes berührte spürte er eine klebrige Flüssigkeit, die deutlich wärmer war als die Wassertropfen auf den Grashalmen. Reflexartig steckte er sich den Zeigefinger der rechten Hand in den Mund.

Die klebrige Substanz schmeckte leicht süßlich mit einem metallischen Beigeschmack.

Es war Blut!

Um ganz sicher zu sein und um auszuschließen, dass er sich selbst möglicherweise an dem scharfen Gras geschnitten hatte, saugte er an seinem Finger.

Gleich darauf stellte sich Panik bei ihm ein.

Der Mann über den er gestolpert war, war tot.

Und die dunkle Gestalt, die er gesehen hatte, musste der Mörder sein.

MacDougall hetzte die Landstraße entlang, als würde er von der hundsköpfigen Göttin der Rache Tisiphone gejagt. Immer wieder geriet er dabei ins Stolpern, blieb in einem der zahlreichen Schlaglöchern hängen oder rutschte und schlidderte über den nassen Asphalt der Straße.

Viel zu spät bemerkte MacDougall, dass er in die falsche Richtung gelaufen war und sein Mini Cooper in der entgegengesetzten Richtung stand. Aber das war ihm jetzt vollkommen gleichgültig. So schnell es nur ging wollte er fort, fort von diesen unheimlichen Bäumen, möglichst weit weg von der Leiche und vor allem weg von dieser unheimlichen schwarzen Gestalt, die ihm hinter jedem Busch auflauern und sich auf ihn stürzen konnte. Wer ließ sich schon gern bei einem Mord beobachten, dachte er, und den Zeugen dann ungeschoren davonkommen.

Patrick MacDougall war mit seinen verbliebenen Kräften völlig am Ende, als er den Ortseingang von Tongue erreichte. Seine Oberschenkel schmerzten, sein Herz schlug wie wild und sein Puls raste. Er war völlig außer Atem. Mit Erleichterung bemerkte er ein mattes Licht hinter einem der Häuserfenster. Sein Blick fiel auf das Schild rechts neben dem Eingang: ›Wallace Inn‹.

In wildem Stakkato trommelte er wie verrückt gegen die solide, abgeschlossene Tür. Dann lehnte er seinen Kopf gegen die kühle Hauswand und übergab sich.

Kapitel 5

A

ls Detective Inspector Blake die ausgetretene Treppe herunterkam, hatte es MacDougall gerade geschafft wieder einigermaßen durchatmen zu können. Blake hatte mit seinem Sergeant die Strecke von London nach Tongue an einem einzigen langen Tag zurückgelegt. Augenblicklich hatte er das Gefühl jede einzelne der sechshundertvierundvierzig Meilen in den Knochen zu spüren. Automatisch warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war gerade einmal halb eins. Erin Hornby, der Wirt, hatte ihn unsanft wachgerüttelt.

»Ein Mord, Inspektor, ein Mord!« rief der Gasthofbetreiber völlig außer sich. »Kommen Sie schnell! So kommen Sie doch!«

Der Detective Inspector war noch viel zu müde, um dem Mann begreiflich zu machen, dass es überhaupt keinen Sinn machte, sich nach einem Mord beeilen. Da war das Opfer bereits tot, wenn es sich denn wirklich um einen Mord handelte, und jede Hilfe kam zu spät. Seine Aufgabe war es den Schuldigen zu fassen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass so etwas nie schnell ablief und immer einen großen Arbeitsaufwand erforderte. Mal ganz abgesehen davon, dass die unzähligen Befragungen möglicher Zeugen und die Überprüfung der Aussagen jedes Mal eine Menge Zeit benötigten. Letztlich hing daran auch noch der äußerst lästige Papierkram, den der Inspektor nun so gar nicht mochte.

Schnell hatte Blake sich angekleidet und währenddessen seinen Sergeant aus den Träumen gerissen. Schließlich musste der nicht schlafen, wenn es Arbeit für ihn gab.

Er steckte sich eine Benson & Hedges an und ließ seine kühlen grauen Augen in aller Seelenruhe über die aufgescheuchte Gästegruppe im Gastraum schweifen.

Von denen, die er am Abend kurz gesehen hatte, waren nur zwei Personen anwesend: Die junge schlanke, durchweg attraktive Frau, mit den langen blonden Haaren und der Typ, der im Sessel sitzend immerwährend in seine Papiere vertieft war und allem Anschein zum Trotz nicht darin gelesen hatte.

Der blonden Frau konnte Blake den Schrecken direkt ansehen. Aufgeregt lief sie im Schankraum auf und ab. Dabei machte sie einen Gesichtsausdruck, als sei der Weltuntergang nicht mehr fern und das Gottesgericht bereits einberufen. Immer wieder fuhr sie sich dabei mit ihren schlanken Fingern fahrig durch die Haare. Sie war verstört und wirkte völlig aufgelöst.

Der drahtige junge Mann hingegen wirkte eher teilnahmslos. Mit wachen Augen schien er die Szene um sich herum genau zu studieren.

Den alten Säufer mit dem runzeligen Gesicht konnte Blake nicht ausmachen. Und auch der kräftige Mann mit dem zerschlissenen schwarzen Ledermantel, der zu der verschreckten jungen Frau gehören musste, war nicht zu sehen.

Dafür entdeckte er ein übergewichtiges, nach Luft ringendes, mit Straßenschmutz bedecktes Häuflein Elend, dem das Grausen aus jeder Pore zu kriechen schien. Das Gesicht war kreidebleich. Man hätte den Eindruck gewinnen können, er sei dem Leibhaftigen, dem Höllenfürsten höchstpersönlich begegnet.

»Ich bin Detective Inspector Isaac Blake vom New Scotland Yard«, stellte sich der schlanke Mann mit den ungewöhnlich stark ausgeprägten Augenbrauen vor. Auch wenn er nicht übermäßig laut gesprochen hatte, so füllte seine tiefe sonore Stimme die verrauchte Gaststube des ›Wallace Inn‹.

Das verängstigte Häuflein Elend sah dankbar zu ihm auf, während der Kriminalbeamte die letzten Stufen der morschen Treppe hinunterstieg. Gleich darauf rückte er dem Mann einen Stuhl zurecht und setzte sich zu ihm.

»Nun berichten Sie mal«, forderte er ihn auf. »Und bitte, versuchen Sie sich wieder etwas zu beruhigen.«

Der übergewichtige Handelsvertreter wollte gerade ansetzen und etwas sagen, als im ersten Stock die dicken tragenden Eichenbalken zu bersten drohten. Es war Detective Sergeant Cyril McGinnis, der seine fast dreihundertzwanzig Pounds Körpermaße die ausgetretene hölzerne Treppe hinunter wuchtete. Dabei wischte er sich mit einem Taschentuch, aus dem man ohne Weiteres ein bis zwei Segel für eine Hochseeyacht hätte schneidern können, durch sein verschwitztes rosiges Gesicht.

»Das ist Detective Sergeant Cyril McGinnis«, klärte Blake die Anwesenden auf. »Keine Angst, er ist ein ganz verträglicher Bursche.« Lächelnd fügte er hinzu: »Er beißt garantiert nicht.«

Der gut sechseinhalb Fuß große Sergeant fischte ein speckiges Notizbuch aus der verbeulten Tasche seiner Jacke, ließ einen Bleistift in der behaarten rechten Pranke verschwinden und setzte sich in Positur. Cyril McGinnis hatte zwar keinen blassen Schimmer worum es bei der nächtlichen Veranstaltung ging, aber das spielte für ihn keine Rolle. Er war bereit und für sein Verständnis musste das genügen.

Patrick MacDougall begann stockend von dem zu berichten, was ihm bei den ›Sieben Zypressen‹ widerfahren war.

Detective Inspector Blake erkundigte sich nicht nach Einzelheiten, sondern schickte kurzentschlossen McGinnis hinaus. Der Sergeant sollte den Range Rover startklarmachen. Dann wandte er sich an den Wirt:

»Gibt es hier auch einen Arzt?«

Erin Hornby nickte eifrig.

»Der hat seine Praxis gleich gegenüber«, erklärte er dem Inspektor und deutete mit einer Hand in Richtung der anderen Straßenseite. »Sicher schläft der gerade seinen Rausch aus. Ich werde aber versuchen ihn aus dem Bett holen.«

Während der Wirt sich eilig eine Jacke überzog und sich auf den Weg machte, stand Blake auf und sah den noch immer zitternden Handelsvertreter an. Nur langsam kehrte wieder Farbe in sein blutleeres Gesicht zurück.

»Sie werden uns wohl oder übel begleiten müssen«, erklärte er MacDougall mit ruhiger Stimme. »Ohne Sie werden wir den Tatort wohl kaum finden können, falls das in diesem Nebel überhaupt möglich ist.«

Nur widerwillig ließ sich der korpulente Mann darauf ein. Wenige Minuten später fand er sich auf dem Beifahrersitz des Land Rovers wieder. Blake hatte kaum hinten Platz genommen, als Hornby mit dem alten Landarzt auftauchte.

»Oh, oh!« bemerkte der Sergeant missvergnügt, als der Mediziner im Fond des Wagens zum ersten Mal ausatmete. »So etwas haben wir doch schon mal gerochen.« Seinem Kommentar ließ er noch ein verächtliches Schniefen folgen.

»Sie waren erstaunlich schnell auf den Beinen, Doktor«, stellte Blake etwas verwundert fest.

»Es gibt Nächte, da glaubt so mancher, er würde einen Arzt brauchen. Warum sollte ich demjenigen nicht den Gefallen tun und bereit sein, auch wenn ich genau weiß, dass es keinen Zweck hat«

Sein hohles Kichern klang nicht nur in der Gaststube des ›Wallace Inn‹ unheimlich.

»Dann darf ich davon ausgehen, dass der Wirt Ihnen bereits erzählt hat, worum es geht?« konstatierte der Detective Inspector.

»Worum es geht?« Der alte Mac Clesfield sah ihn lächelnd an. »Worum soll es schon gehen? Worum es immer geht! Sie suchen eine Leiche, nicht wahr? Na, dann suchen Sie mal schön, Inspektor. Ich wünsche Ihnen recht viel Erfolg. In Nächten wie dieser haben sich schon viele vor Ihnen daran versucht!«

Der Detective Sergeant startete den Motor des Geländewagens und fuhr los. Die mächtigen Scheinwerfer des Land Rovers bohrten Löcher in den Nebel. Es dauerte eine Weile ehe die seltenen und riesigen Monterey-Zypressen auftauchten. Wie eine surreale Theaterkulisse standen die sieben Bäume im dichten Nebel plötzlich vor ihnen. Nichts war zu hören, außer dem schaurigen Rufen einer Eule.

MacDougall konnte seine innere Unruhe nicht verbergen. Er zitterte am ganzen Leib. Krampfhaft bemühte er sich seinen rechten Arm einigermaßen ruhig zu halten, als er auf den Platz zeigte, an dem er über den Toten gestolpert war. Es gelang ihm nicht.

»Dort ist es passiert«, bekräftigte der Handelsvertreter mit vibrierender Stimme. »Da liegt er.«

»Falsch! Es muss heißen: Da hat er gelegen! Indikativ Perfekt!«, korrigierte Mac Clesfield ihn und kicherte wieder los. »Oder können Sie ihn sehen, Mister MacDougall? Des Nachts sollte man sich eben nicht mehr im Moor herumtreiben. Aber das lernen einige ja nie! Und für diejenigen, die es gelernt haben, ist es dann zu spät!«

McGinnis stellte den schweren Rover so ab, dass die großen Halogenscheinwerfer die Baumgruppe ausreichend beleuchteten.

»Cyril!«

Dienstbeflissen umrundete der Sergeant den Wagen, öffnete die Hecktür und brachte seinem Vorgesetzten ein Paar hohe schwarze Gummistiefel und einen Regenschirm. In aller Ruhe schnürte sich der Inspektor die Schuhe auf und schlüpfte in die Stiefel der Marke Hunter. Den Schirm drückte er McGinnis in die linke Hand.

Der dicke Handelsvertreter war endgültig den Tränen nahe. Voller Verzweiflung deutete er immer wieder auf eine Stelle im hohen Gras.

»Hier hat er gelegen, hier, Herr Inspektor. Ich schwöre es Ihnen. Sie glauben mir doch? Ich schwöre Ihnen, ich habe es nicht geträumt!«

Der Sergeant leuchtete den Bereich mit einer starken Handlampe ab, die er vorausschauend mitgebracht hatte.

Blake sah sich die bezeichnete Stelle kurz an.

»Sie brauchen es nicht erst zu beschwören«, beruhigte er den aufgeregten Mann. Dann zeigte er auf einen Punkt am Boden. »Sehen Sie? Dort ist ein Blutfleck und das ganze Gras ist niedergedrückt. Hier muss also jemand gelegen haben. Stellt sich die Frage: Was ist mit der Leiche passiert? Die wird ja nicht plötzlich ins Leben zurückgekehrt und davonspaziert sein.«

»Sie wollen wissen wo die Leiche ist? Sie sind ja ein toller Kriminalist! Am Ende der Schleifspur natürlich. Wo soll sie denn sonst sein? Ich glaube aber, am Ende der Spur wird sich nur ein großer morastiger Tümpel finden.« Für das erneut aufkommende Kichern des Arztes hätte Sergeant McGinnis ihm am allerliebsten gewaltig in den Allerwertesten getreten.

Es war der warnende Blick seines Vorgesetzten, der seine nur allzu verständlichen Gelüste stoppte.

»Wie ein Blatt vom Baum fällt, so fällt ein Mensch aus seiner Welt und die Vögel singen weiter«, murmelte Clesfield. Er schmunzelte, als er den irritierten Blick des Sergeants bemerkte. »Matthias Claudius!«

McGinnis schüttelte genervt den Kopf.

Doch Mac Clesfield hatte recht. Die Schleifspur ließ sich ohne größere Mühe verfolgen und sie endete tatsächlich an einem tiefschwarzen Wasserloch. Daneben fanden sich recht große unförmige Fußabdrücke, die eine weitere eindeutige Spur bildeten, sich aber schon bald im morastigen Boden verloren.

»Er ist wieder fort«, sinnierte der alte Landarzt. »Er kann mit sich sehr zufrieden sein. Zwei in einer Woche hat es noch nie gegeben. Der Herr Graf wird satt sein, und uns wohl für eine geraume Weile in Ruhe lassen.«

Inspektor Blake sah ihn aufmerksam an.

»Was faseln Sie denn da, Doktor Clesfield?« er reagierte heftiger als gewollt auf die seltsame Andeutung des Mediziners. »Wenn man Sie so hört, muss man ja glauben, dass es in schöner Regelmäßigkeit vorkommt, dass hier jemand im Moor umgebracht wird?«

»Aktuell sind es nur diese beiden. Doch früher, da waren es viele, sehr viele! Von den Dorfbewohnern geht seitdem niemand mehr mit Einbruch der Dämmerung ins Moor. Die wissen Bescheid und sind nicht lebensmüde!«

»Was soll das heißen: Früher?«

»Na, eben früher«, erwiderte der Arzt nichtssagend und gönnte sich einen Schluck Scotch aus seinem Flachmann. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund, ehe er hinzufügte: »Genau kann das keiner sagen, aber es wird so bis 1442 gewesen sein. Ich sagte Ihnen doch, dass er jetzt satt ist. Der Graf hat eben Hunger gehabt. Man kann das ja auch gut nachvollziehen. Stellen Sie sich vor, Inspektor Blake, Nacht für Nacht muss er durch das Moor streifen, und immer wieder vergebens, weil die Menschen hier mittlerweile nur zu gut auf sich aufpassen!«

Detective Inspector Isaak Blake schluckte hörbar.

Wegen eines verschwundenen Mannes hatte man ihn und Sergeant McGinnis in den letzten Winkel der schottischen Highlands geschickt, dann kam eine verschwundene Leiche hinzu und obendrein wurde er noch mit einer durchgeknallten Schnapsdrossel konfrontiert.

»Cyril!«

Auf der Stelle drückte der hünenhafte Sergeant dem wie Espenlaub zitternden MacDougall den Regenschirm in die Hand und schob ihn derart zurecht, dass der Schirm seinen Vorgesetzten auch schützte.

»Schön so stehen bleiben!« brummte er. Dann stapfte in die Dunkelheit davon.

Es dauerte nur wenige Minuten und er tauchte hinter dem Wagen wieder auf. In seinen Händen hielt er ein langes Kunststoffseil und einen vierarmigen Wurfhaken. Seelenruhig schwenkte er den Haken, warf ihn aus und holte die Leine Hand über Hand wieder ein. Ohne ein Wort wiederholte er seinen Versuch, bis der Haken endlich etwas zu packen schien.

»Sagen Sie mal, haben Sie immer so einen Haken bei sich?« erkundigte sich der Mediziner mit einem hämischen Grinsen.

»Klar! Immer dann, wenn wir Leichen im Wasser suchen«, knurrte der Detective Inspector mit einem scharfen Unterton. Langsam aber sicher ging ihm der Arzt gewaltig auf die Nerven.

McGinnis musste sich mächtig ins Zeug legen. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Aber er schaffte es. Das schwarze Wasser brodelte auf. Mit einer letzten Anstrengung zog der Sergeant einen bulligen Körper auf den schwammigen Boden.

Blake kniete kurz neben der Leiche nieder. Er brauchte nur einmal hinzusehen, um zu wissen, wen er vor sich hatte. Er hatte ihn am Abend im ›Wallace Inn‹ in Gesellschaft der attraktiven Blondine gesehen. Es war der Mann mit dem langen schwarzen Ledermantel.

Nachdem er sich erhoben hatte wandte er sich an Clesfield.

»Können sie mir sagen, wie oder woran der Mann verstorben ist, Doktor?«

Wieder zeigte Clesfield sein hämisches Grinsen.

»Liegt doch klar auf der Hand. Ohne Blut kann ein Mensch nicht leben, oder?«

Dann ließ er sich aber doch herab und wies mit seinem knochigen Zeigefinger auf ein Mal am Hals des Toten.

»Ist immer die gleiche Stelle an der die Blutsauger zubeißen. Wird wohl am Einfachsten für sie sein. Vermutlich sprudelt es ihnen da, wie aus einer Siphonflasche, nur so in den Mund.«

Gleich darauf hallte das unvermeidliche hohle Glucksen des Mediziners über das flache weite Moor.

Der Inspektor beugte sich noch einmal über die Leiche. Intensiv besah Blake sich die Wunde an der Halsschlagader des Mannes. Es konnte zwei verhältnismäßig kleine Löcher ausmachen, die einem Schlangenbiss nicht unähnlich sahen.

Als Blake sich wieder aufrichtete wandte er sich erneut dem Doktor zu.

»Sie müssen schon entschuldigen, Doktor Clesfield«, sagte er, jetzt eine deutliche Spur freundlicher. »Ich hatte Ihnen kein Wort geglaubt. Aber jetzt, wo ich es mit eigenen Augen sehe.« Und an seinen Sergeant gerichtet. »Ich gehe nicht davon aus, dass Sie sich freiwillig melden möchten um den Fundort zu bewachen, oder?«

Cyril McGinnis langte sich unwillkürlich an den Hals. Ganz langsam schüttelte er den Kopf. Seine Augen hatten sich geweitet.

»So ein Vampir taugt nur für Filme und Romane. Und sollte es tatsächlich einen geben, dann muss ich dem nun wirklich nicht unbedingt begegnen.«

Blake konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Hier können wir erst einmal nichts weiter ausrichten«, stellte er auf dem Rückweg zum Land Rover fest. Er sah den Handelsvertreter an. »Sie werden vorerst hierbleiben müssen, Mister MacDougall. Ich muss noch ihre Zeugenaussage aufnehmen. Ganz abgesehen davon ist auch Ihr Wagen defekt. Ich gehe davon aus, dass sich für Sie noch ein Bett finden lässt.«

»Da muss nicht lange gesucht werden. Es ist gerade eines frei geworden«, kicherte der alte Clesfield vor sich hin. »Das Bett des Toten.«

McGinnis sah den Mediziner verständnislos an.

»Das ist eine durchaus ernste Lage, Mister!« ermahnte er. »Sparen Sie sich Ihre frivolen Scherze!«

»So zart besaitet, Sergeant?« Clesfield kicherte immer noch. »Nur keine Angst, der Graf ist vorläufig satt.«

»Von welchem Grafen zum Teufel sprechen Sie eigentlich laufend?« entfuhr es Detective Inspector Blake.

»Ich spreche natürlich vom Earl of Ross, vom Clan der Mackays. An wen dachten Sie denn, Inspektor Blake?«

Kapitel 6

L

ustlos und unausgeschlafen besah sich Inspektor Blake das üppige Frühstück. Er hatte es bereits zu Beginn der Dienstreise geahnt und wusste, dass sich am schweren schottischen Essen die Geister bekanntlich schieden. Dieses ›Full Scottish Breakfast‹ verlangte einen stählernen Magen, es sei denn man liebte bereits am frühen Morgen eine brutale Attacke auf die Gallenwege. Allein schon der aus Küche des ›Wallace Inn‹ strömende Duft, des fröhlich vor sich hin brutzelnden ›Black Pudding‹, ließ den Beamten des New Scotland Yard erbleichen. Welcher Spinner war nur auf die glorreiche Idee gekommen Grützwurst mit Haferflocken in einer Pfanne zu braten, fragte er sich kopfschüttelnd, während er mit einer Gabel in der warmen dunklen Masse herumstocherte.

Um einem aufkommenden Würgereiz entgegen zu wirken, schob er den Teller entschlossen von sich. Er entschied sich für die ›Scrambled Eggs‹ und klammerte sich an ein paar Scheiben geröstetes Brot und eine Tasse starken schwarzen Tee.

Ein vernünftiges internationales Frühstück wäre ihm lieber gewesen, aber mal ganz abgesehen vom ›Black Pudding‹ war ihm auch das Ereignis der letzten Nacht auf den Magen geschlagen. Von Grafen, die des Nachts im Moor Menschen bissen und ihnen das Blut aussaugten, davon las man nur in der fiktiven Literatur, aber niemals in der Zeitung!

Zwar betrachtete er die Angelegenheit mit dem angeblichen Vampir im Moor heute Morgen aus einem anderen Blickwinkel, aber einen sachlichen Hinweis, der ihm eine plausible Lösung ermöglichte, hatte er noch nicht gefunden. Er überlegte krampfhaft, was er dem Chief Superintendent sagen sollte. Sicher war nur, dass er dem auf keinen Fall mit der Story eines blutsaugenden Grafen kommen konnte. Er würde es ohnehin nicht glauben, völlig unabhängig davon ob es tatsächlich stimmen sollte.

Völlig ungerührt von den Problemen seines Inspektors häufte Sergeant Cyril McGinnis einen weiteren Vorrat ›Black Pudding‹ auf seinen Teller und garnierte den zudem mit einer Portion ›Bacon and Eggs‹. Dann begann er den Haufen in sich hineinzuschaufeln.

Blake spürte bei dem Anblick ein Krampfen seines Magens. Er bemerkte deshalb zunächst nicht, wie ein düster dreinblickender Mann schweigend die Gaststube betrat und mit seinen tiefliegenden dunklen schmalen Augen die anwesende Gesellschaft musterte.

Der Mann trug ein auffallend hochgeschlossenes einfarbig-schwarzes Livree, besetzt mit zahlreichen goldenen Bordüren. Seinen Kopf zierte eine weiße Perücke mit einem Zopf, der von einer kleinen schwarzen Schleife gehalten wurde.

Mit schleppenden Schritten näherte er sich dem Tisch der beiden New Scotland Yard-Mitarbeiter. Als er sie erreicht hatte, öffnete er eine schwarze Ledertasche, entnahm ihr einen versiegelten Umschlag und drapierte ihn neben die Teetasse des Inspektors.

»Seine Lordschaft erwartet keine Antwort.«

Ohne jedes weitere Wort, verließ er schleppend das ›Wallace Inn‹, so wie er gekommen war. Bevor er hinaus auf die Straße trat, warf er von der Tür aus noch einen finsteren Blick auf die frühstückenden Gäste. Dann schloss sich hinter ihm die Tür.

»Der sah ja wohl völlig abgefahren aus. Typen gibt es in diesem Kaff, da macht man sich gar kein Bild von. Hier ist wirklich einer schräger als der andere“, grinste Cyril McGinnis und schaufelte sich gleich darauf den nächsten Bissen ›Black Pudding‹ mit einem gehörigen Streifen Speck in den Mund.

»Wer war denn diese skurrile Gestalt?« wollte Inspektor Blake wissen und sah den Wirt fragend an.

»Das war Nigel, der Butler des Earl of Ross«, flüsterte der Wirt nach einigem Zögern.

Als der Sergeant das hörte fiel ihm die Gabel aus der Hand. Blake sah den Wirt erstaunt an.

»Es gibt also tatsächlich einen Earl of Ross? Und ich dachte, es sei das dumme Gefasel eines Alkoholikers.«