Die Sklavin im Zug - Lilo David - E-Book

Die Sklavin im Zug E-Book

Lilo David

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Beschreibung

Ohne Vorwarnung packte Victor mich, zog mich hoch und zerrte mich zum Esstisch herüber; und noch bevor ich überhaupt begriff, wie mir geschah, lag ich mit ausgestreckten Armen auf der Tischplatte. Ich sah zu, wie Victor meine Arme mit ledernen Handmanschetten und einer dicken Kette an den Tischbeinen befestigte. Dann trat er hinter mich, spreizte meine Beine und fixierte auch sie mit Ketten. Du hast dir die Suppe eingebrockt, also musst du sie auch auslöffeln, sagte ich mir die ganze Zeit. Dennoch schlug mein Herz wie wild, als Victor seinen Kopf runterbeugte und mir ohne jede Nachsicht ins Gesicht schleuderte: "Diese Schläge werden dich lehren, mich nie wieder anzulügen." Ich sah nur noch die schwarze Gerte in seiner Hand und wie sie bedrohlich nahekam. Wie viele Schläge es zum Schluss wirklich waren, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich weinte und versuchte, mich auf die Musik im Hintergrund zu konzentrieren. Ich hoffte, dann wäre es erträglicher. Doch weder Bach noch Grieg drangen bis zu meinem Verstand durch. Und dann war der Sturm vorbei. Wie durch ein Netz aus Tränen sah ich, dass Victor die Gerte zur Seite legte und mir sanft über die Pobacken strich. "Tu das nie wieder", raunte er leise, löste Ketten und Manschetten und ließ beides zu Boden fallen. "Susan, du darfst Lust empfinden, doch du sollst lernen, mich vorher darum zu bitten." Ein Herr erzieht seine Sklavin, fest, unnachsichtig, konsequent - doch warum erzählt die Sklavin das alles, bis ins kleinste Detail, einem völlig Fremden während einer langen Zugfahrt?: Sie fiel mir sofort auf, als sie den Waggon betrat. Wie sie in ihrem geblümten Sommerkleid dort im Gang stand und sich so unauffällig wie möglich umsah, fühlte ich mich augenblicklich zu ihr hingezogen. Langsam setzte sie sich in Bewegung und schritt grazil und zugleich abschätzend die Sitzreihen ab. Jedem Mitreisenden warf sie dabei einen subtilen Blick zu. Dieses scheue Verhalten, als würde sie nach einer bestimmten Person Ausschau halten, weckte meinen Beschützerinstinkt und zugleich meine berufliche Neugierde als Sozialpsychologe. Dass sie ausgerechnet bei mir stehenblieb, verwunderte mich leicht. Natürlich war es mir nicht unangenehm, einer jungen, attraktiven Dame gegenüberzusitzen. Doch die Tatsache, dass ihre Wahl auf mich fiel, und nicht auf einen der ansehnlicheren Männer, die es hier durchaus gab, ließ mich über diese fremde Frau nachdenken.

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Lilo David

Die Sklavin im Zug

Die Sklavin im Zug

am

Roman

von

Lilo David

MARTERPFAHL VERLAG

MMXV/MMXXI

Impressum der Ebook-Ausgabe:

© 2021 by Marterpfahl Verlag Rüdiger Happ,

Firstbergstr. 2, D-72147 Nehren

https://marterpfahlverlag.wixsite.com/erotikbuch

[email protected]

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

Cover: Rüdiger Happ unter Verwendung eines Bilds aus der Wikipedia:

Fotograf: Mark J. Sebastian; Model: Jackie Martinez; Datum: 24.6.2006

J. M. ist eine Sängerin aus Kalifornien – nicht berühmt genug, um als Sängerin einen Wikipedia-Eintrag zu haben, aber hübsch genug, um die Flamme des Fotografen M. J. S. zu werden, der die Wikipedia um eine ganze Galerie von J.-M.-Bildern bereichert hat …

E-Book ISBN 978-3-944145-84-6

© 2015 by Marterpfahl Verlag Rüdiger Happ,

Firstbergstr. 2, D-72147 Nehren

Einbandgestaltung: Sibil Joho, unter Verwendung

eines Foto svon123rf.com/hightower nrw

www.marterpfahlverlag.com

[email protected]

Gedruckt in der EU

ISBN 978-3-944145-42-6

Inhalt

Vorwort …

Am Anfang steht der Beginn …

Vorschusslorbeeren …

Stürmische Zeiten …

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt …

Den inneren Schweinehund besiegen …

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt …

Nach der Pflicht folgt die Kür …

Keine Rose ohne Dornen …

Im Zweifel für den Angeklagten …

Eine etwas andere Nacht …

Rosarot und Dunkelblau …

Es ist nicht alles Gold, was glänzt …

Im Licht dunkler Schatten …

Das Beste kommt zum Schluss …

Seelenqualen …

Mea culpa …

Katerstimmung …

Am Ende steht der Beginn …

Auf zu neuen Ufern …

EPILOG Juni 2010 …

Vorwort

Mein Name ist Robert Weinling. Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, die ebenso unglaubwürdig wie auch fantastisch ist. Dennoch geschah es genau so. Diese Geschichte, so seltsam sie Ihnen auch erscheinen mag, hat mich verändert. Sie glauben mir nicht? Nun, dann überzeugen Sie sich. Begleiten Sie mich ein Stück meines Weges. Wohin? Das müssen Sie schon selber feststellen. Aber Vorsicht. Ich übernehme keine Garantie, dass die Ereignisse nicht auch bei Ihnen Spuren hinterlassen.

Prolog

Wie jeder Mensch habe auch ich nicht darum gebeten, geboren zu werden. Es geschah einfach an einem nebeligen und grauen Novembertag im Jahre 1949. Natürlich habe ich keine Erinnerungen an diesen Tag, und das, obwohl ich maßgeblich daran beteiligt war. Das Leben ist eben doch von Anfang an ungerecht. Ungeachtet der Jahreszeiten oder der Ereignisse, die sich um einen herum abspielen, wird man aus seinem schützenden Kokon hinaus ins Leben befördert, und von da an muss man sehen, wie man sich zurechtfindet. Da ist es gut, dass man nicht alleine ist. Es gibt wohl keine anderen Säugetiere, jedenfalls keine, die mir bekannt sind, deren Nachkommen so lange in elterlicher Obhut leben wie wir Menschen. Aber es gibt auch keine, die so viel lernen müssen wie wir. Insofern ist es gut, dass die Evolution uns eine lange Phase der Entwicklung gewährt.

Glaubt man der Geschichte, die sich seit meiner Geburt im Wirtshaus erzählt wird, so lief mein Vater trotz Nebel und eisiger Kälte unter freudigem Gejohle ins Dorf. Immer wieder soll er lauthals gerufen haben: »Ein Junge, ein Junge! Er ist da – unser Sonnenschein!« Unter anerkennenden Blicken, freundschaftlichen Schlägen auf seine Schulter, aber auch erstaunten Gesichtern ob seiner sonst üblichen Zurückhaltung, gab er eine Wirtshausrunde nach der anderen aus. Dabei betonte er immer wieder, wie glücklich er doch sei. Irgendwann – kurz vor Mitternacht – ging er dann torkelnd nach Hause.

Im Dorf wunderte man sich wochenlang, dass ihm trotz der schlechten Witterung und eisigen Kälte nichts passiert war. Mancher, auch das erzählte man sich, war weit weniger angetrunken im Graben gelandet. Solange ich mich erinnern kann, habe ich ihn jedoch nie betrunken gesehen. Überhaupt war er ein sehr disziplinierter Mensch. Vielleicht ist es auch unerheblich, wie meine Eltern oder ich waren. Und doch trägt es zum Verständnis meiner Rolle in dieser abstrusen Geschichte bei, denn letztendlich kann sich niemand seiner Erziehung entziehen. Deshalb gehören die ersten Zeilen meiner Kinderstube und meiner Vergangenheit.

Am Anfang steht der Beginn

Um meine Eltern wirklich beschreiben zu können, müsste ich ein ganzes Buch verfassen. Damit meine ich nicht, dass sie so außergewöhnlich oder anders waren als andere Eltern ihrer Zeit. Dennoch kann man ihre Generation mit keiner vorherigen oder späteren Generation vergleichen. Ihnen gehörte weder die Welt noch ihr eigenes Leben. Menschen aus ihrer Zeit wurden zu früh Träume, Hoffnungen und Pläne durch die gesellschaftlichen Dogmen und politischen Geschehnisse zunichte gemacht. Meine Eltern wurden noch zu Kaisers Zeiten geboren. In einem Jahrhundert, indem es noch galt, sich an preußischen Tugenden und der Obrigkeit zu orientieren, hatten sie es nicht leicht.

Als Kinder und Heranwachsende litten sie unter ihrer strengen und moralischen Erziehung. Später, als es darum ging, ihr Recht auf Leben und Entfaltung einzufordern, mussten sie erneut ihr Glück fremden Zielen und Vorstellungen unterordnen. Es gab immer jemanden, der über ihr Leben bestimmte. Wirklich zu entscheiden, was für sie richtig oder falsch war, hatten sie nie gelernt. Als Kinder erlebten sie den 1. Weltkrieg, begriffen viel zu früh – und auf brutale Weise, was Leid und Kummer bedeutet, dass das Leben nicht hält, was es verspricht. Im 2. Weltkrieg lernten sie die Kunst des Überlebens und mit den Wölfen zu heulen. Mitläufer nannte man diese Generation später. Ich glaube, wenn es nur nach ihnen gegangen wäre, dann hätten sie gerne auf diese Erfahrung verzichtet. Sie wären den Träumen nach Glück, Freiheit und einer ewigen Liebe nachgerannt. Doch wie wir wissen, sollte alles anders kommen.

Als Kinder und Heranwachsende litten sie unter ihrer strengen und moralischen Erziehung. Später, als es darum ging, ihr Recht auf Leben und Entfaltung einzufordern, mussten sie erneut ihr Glück fremden Zielen und Vorstellungen unterordnen. Es gab immer jemanden, der über ihr Leben bestimmte. Wirklich zu entscheiden, was für sie richtig oder falsch war, hatten sie nie gelernt. Als Kinder erlebten sie den 1. Weltkrieg, begriffen viel zu früh – und auf brutale Weise, was Leid und Kummer bedeutet, dass das Leben nicht hält, was es verspricht. Im 2. Weltkrieg lernten sie die Kunst des Überlebens und mit den Wölfen zu heulen. Mitläufer nannte man diese Generation später. Ich glaube, wenn es nur nach ihnen gegangen wäre, dann hätten sie gerne auf diese Erfahrung verzichtet. Sie wären den Träumen nach Glück, Freiheit und einer ewigen Liebe nachgerannt. Doch wie wir wissen, sollte alles anders kommen.

Als Kinder und Heranwachsende litten sie unter ihrer strengen und moralischen Erziehung. Später, als es darum ging, ihr Recht auf Leben und Entfaltung einzufordern, mussten sie erneut ihr Glück fremden Zielen und Vorstellungen unterordnen. Es gab immer jemanden, der über ihr Leben bestimmte. Wirklich zu entscheiden, was für sie richtig oder falsch war, hatten sie nie gelernt. Als Kinder erlebten sie den 1. Weltkrieg, begriffen viel zu früh – und auf brutale Weise, was Leid und Kummer bedeutet, dass das Leben nicht hält, was es verspricht. Im 2. Weltkrieg lernten sie die Kunst des Überlebens und mit den Wölfen zu heulen. Mitläufer nannte man diese Generation später. Ich glaube, wenn es nur nach ihnen gegangen wäre, dann hätten sie gerne auf diese Erfahrung verzichtet. Sie wären den Träumen nach Glück, Freiheit und einer ewigen Liebe nachgerannt. Doch wie wir wissen, sollte alles anders kommen.

Mein Vater, Jahrgang 1912, und meine drei Jahre jüngere Mutter lernten sich auf einer Kundgebung im Frühling 1937 in Kiel kennen. Es war schon eigenartig, dass es erst einer solchen zufälligen Begegnung bedurfte, um sich kennenzulernen. Denn wie sich herausstellte, waren beide unweit voneinander in verschiedenen Orten aufgewachsen, mein Vater in einer verträumten Kleinstadt als Sohn eines wohlsituierten Kaufmannes und meine Mutter in einem winzigen Dorf nahe Neumünster. Als achtes Kind einer Großfamilie, die sich ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdiente, hatte sie keinen Kontakt zu der Schicht, der mein Vater angehörte. Ja, eigentlich trennten sie auch als Erwachsene noch unüberwindbare gesellschaftliche Hindernisse.

Verständlich, dass es dann doch über zwanzig Jahre dauerte, bis sich ihre Wege kreuzten. Als sie sich zum allerersten Mal begegneten, soll es Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Jedenfalls beteuerten es beide ihr Leben lang. Ob es der Wahrheit entsprach, kann ich nicht beschwören. Doch muss es wohl so gewesen sein, denn ihre Wege trennten sich, bis auf die der Kriegsjahre, weder vorher noch jemals wieder danach.

Ihre gemeinsame Zukunft stand unter keinem guten Stern. Zum einen war da der Standesdünkel, den es zu überwinden galt. Nur unter Protest und der Drohung, mit meiner Mutter durchzubrennen und der Familie den Rücken zu kehren, gelang es meinem Vater, dass man der Verbindung zustimmte. Zum anderen stand der 2. Weltkrieg unmittelbar vor Europas Türen – unruhige Zeiten, die nichts Gutes versprachen. Dennoch glaubten sie an eine gemeinsame Zukunft. In aller Eile absolvierte mein Vater sein Lehramtsstudium. Meine Mutter konnte – hier sei dem bevorstehenden Krieg doch ein leiser und wirklich nur stiller Dank gesagt – eine Ausbildung zur Krankenpflegerin beim Roten Kreuz machen. Geheiratet wurde, nachdem mein Vater zum Dienst an der Waffe, für Gott und Vaterland, einberufen worden war. Es soll eine schlichte und den Zeiten angemessene Feier gewesen sein. An eine Hochzeitsreise war damals nicht zu denken.

Die nächsten Jahre verbrachte er als Soldat an der Ostfront. Als er 1942 in russische Gefangenschaft geriet, galt er als verschollen. Niemand wusste genau, wo die Russen ihre Gefangenen hinbrachten. Meine Mutter hingegen war als Lazarettschwester auf ein Gut nach Ostpreußen verfrachtet worden. Beide sahen es als ihre Pflicht an, zu dienen und zu gehorchen. Sich dagegen zu entscheiden, das politische System in Frage zu stellen, war ihnen nicht in den Sinn gekommen.

Ob sie es Jahre später, nach erlittenem Leid, nach all den schrecklichen Entbehrungen und nach dem Wissen um die Verbrechen und Gräueltaten, getan hätten, kann ich nicht sagen. Wir sprachen selten über diese Jahre. Meine Mutter tat ihren Dienst, ohne sich große Fragen zu stellen. Dennoch saß ihr wohl ständig die Angst im Nacken, eines Tages unter den Verwundeten meinen Vater zu entdecken. Gottlob blieb ihr das erspart.

Mit dem Einmarsch der Russen und deren Rückeroberung ihrer Gebiete im Osten 1944 begriff sie, was es heißt, überleben zu wollen. Mit einem der letzten Wintertransporte kehrte sie über Pillau nach Schleswig Holstein zurück, um hier, wo mein Vater geboren und aufgewachsen war, im Hause seiner Eltern auf seine Rückkehr zu warten. Dass das noch Jahre dauern sollte, ahnte niemand – und dass er vielleicht den Krieg nicht überlebt haben könnte, war ein Gedanke, den sich meine Mutter von vornherein verbot. Für sie stand fest, dass er wiederkommen würde. Es ist gut, wenn man etwas hat, woran man glauben kann. Vielleicht wäre sie – und mit ihr Millionen anderer Frauen – sonst am Leben verzweifelt.

Mit den Heimgekehrten 1947 stand er ausgemergelt, vom Krieg gezeichnet, eines Tages vor der Tür. »Anders war er!«, sagte sie, wenn man danach fragte. Doch mehr erwähnte sie nie. Der Krieg hatte beide verändert und nachhaltig geprägt. Doch wirklich darüber gesprochen oder sich beklagt haben sie sich nie. Es war, als hätten sie dieses Kapitel aus ihrem Leben verbannt. Ich glaube nicht, dass sie so etwas Prägendes und Grausames wie einen Krieg vergessen konnten. Aber die Erinnerungen daran waren wohl zu schmerzlich, als dass man sich gerne an sie erinnern wollte; und ich fragte auch nie mehr als unbedingt nötig.

Ich nahm es hin, dass mein Vater ein wortkarger und nachdenklicher Mann war; und dass sich meine Mutter an manchen Tagen stiller als sonst verhielt und ihm gegenüber eine fürsorgliche Nachsicht entgegenbrachte, war ganz normal. Nie gab es zwischen ihnen böse Worte, und an Streitigkeiten kann ich mich nicht erinnern, eher daran, dass sie sich still, ohne viele Worte, verstanden. Die Liebe, die sie zueinander empfanden, fragte nie nach Opfern, verzieh alles und war so stark, dass sie gemeinsam alles ertrugen, was das Leben ihnen aufbürdete. Man tat füreinander das, was man tun musste. Warum meine Eltern dennoch als einziges Kind nur mich hatten, habe ich als Kind nie gefragt. Es war einfach so, und ich lebte ganz gut damit. Erst später verstand ich, dass es ihre Lebensumstände nicht anders ermöglichten.

Meine Eltern lebten ihr Leben lang in dem Dorf, in dem ich geboren wurde. Ein Ort, der ihre ganze Welt darstellte. Sie unternahmen keine Reisen, suchten selten fremde Städte auf und teilten in aller Beschaulichkeit ihr gemeinsames Leben, so gut es ging. Sie setzten sich nie für eine Sache ein, waren aber auch nie gegen eine. Was sie dachten, und wofür sie standen, blieb ihr Geheimnis. Vielleicht wurden sie mir daher mehr und mehr zu Fremden. Das Einzige, was ich wusste, und das, solange ich bei ihnen lebte, war ihre ungeteilte Liebe zu mir. Insofern war ich dann wohl doch ihr größtes Glück, ihr Sonnenstrahl nach langen und düsteren Jahren …

… auch als ihnen klarer wurde, dass ich mehr einem glimmenden Licht als einem hell leuchtenden Strahl ähnelte. An manchen Tagen war ich so still, dass man glaubte, es würde mich gar nicht geben. Aber wenn man, wie ich, ohne Geschwister, allein unter Erwachsenen aufwächst, fällt es schwer, die Welt mit kindlicher Leichtigkeit zu betrachten. Ich glaube nicht einmal, dass ich verlernt hatte, ein impulsives und fröhliches Kind zu sein. Ich war es einfach nicht!

Mein Vater hatte wegen seiner Herkunft das Privileg, über eine gute Ausbildung zu verfügen. Er erhielt, nachdem er als gebrochener Mann und mit steifem Arm aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, die Stelle des Dorflehrers. Er war froh, dass man ihn überhaupt noch brauchte. Was für ihn mit den Jahren dann zur Berufung wurde, war für mich eine Last, ein beschwerliches Hindernis auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Ich war der Sohn des Mannes, der in dem Ort, der für mich Heimat und Zufluchtsort war, Wissen, aber auch Regeln und Ordnung lehrte. Darum war ich ständig auf der Hut und musste auch besser sein als alle anderen Kinder. Die Gelegenheiten für dummes Zeug und Streiche habe ich ausgelassen. Ich hatte keine Angst vor Strafen, eher davor, was mein Vater über mich denken würde und ob seine Würde und sein Respekt, den er genoss, dadurch einen Makel erlitten hätte. Denn als Respektsperson habe ich ihn immer gesehen.

Als ich älter wurde, stellte ich mir die Frage, ob der Charakter und die Wesensart eines Menschen das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung ist – oder, so fragte ich mich, ob man selbst – oder andere – durch Erziehung und Vorleben darauf Einfluss nehmen könnte. Eine zufriedenstellende Antwort habe ich nie darauf gefunden. Zumindest trugen die Erziehung meiner Eltern und die meiner Großtante Elsa, die mit uns gemeinsam lebte, dazu bei, dass ich lernte, Anstandsregeln zu befolgen.

Ich benahm mich anderen gegenüber höflich und aß alles auf, was auf meinem Teller lag. Letzteres beherzigte ich schon wegen meiner Großtante. Sie hatte, ebenso wie alle anderen, Hunger und Leid in den Kriegsjahren erlitten. Und darum bestand sie darauf, dass ich mich zu jeder Zeit meines Lebens auch an die erinnerte, die weniger hatten. Meine Großtante Elsa, so alt sie mir auch damals erschien, war wohl die wichtigste Person in meinem Leben. Ihr habe ich all die Lebensweisheiten meiner Kindheit zu verdanken. Zeit ihres Lebens war sie der festen Überzeugung, dass der Weg eines jeden, vom Tag der Geburt an, vorherbestimmt ist. »Jeder hat sein Schicksal zu tragen und ist so, wie Gott es vorgesehen hat«, pflegte sie zu sagen.

In meinen Erinnerungen sehe ich sie noch heute am Küchenherd stehen. Sie trug meist eine Küchenschürze, deren Blumenmuster schon so vergilbt war, dass man Mühe hatte, das Muster zu erkennen. Beflissen lauschte ich ihren Geschichten und Weisheiten, während sie das Gemüse schnitt und eifrig im Kochtopf rührte. Manchmal hörte ich ihr kaum richtig zu, weil der Duft des frisch zubereiteten Essens in meiner Nase hochkroch und mich daran erinnerte, dass ich Hunger hatte. Wenn sie gute Laune hatte, und die hatte sie öfter, nahm sie die Keksdose vom Schrank. Lächelnd legte sie mir dann zwei dieser herrlich duftenden, selbstgebackenen Nusskekse auf den Küchentisch. Gierig vor Hunger stopfte ich sie mir dann immer gleich in den Mund. Im Winter kam es sogar vor, dass sie sich hinreißen ließ und mir noch vor dem Essen ein Zuckerbrötchen in den Ofen schob. An den Geschmack und Geruch erinnere ich mich noch heute.

Ich weiß, dass ich als Kind oft dachte, wozu sich anstrengen, wenn doch sowieso alles vorbestimmt ist. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich mich nie ganz auf das Leben eingelassen habe. Am glücklichsten war ich, wenn man mich in Ruhe ließ. Meine schönsten Stunden waren die, wenn ich andere beobachten konnte. Manchmal fand ich auch größte Zufriedenheit darin, wenn ich stundenlang auf dem Dachboden saß und meine Nase hinter einem Buch verstecken konnte. Und wenn ich über andere Länder, Kulturen und abenteuerliche Geschichten las, erfüllte es mich auf ganz besondere Weise. Es waren meine Schätze, und sie machten mein bescheidenes Leben schöner und reicher.

Meine Mutter beklagte oft, man müsse mir schon jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen, um überhaupt etwas von mir zu hören. Mein Vater war der Ansicht, dass die düstere Stimmung am Tag meiner Geburt auf mich abgefärbt hatte. Er kannte kein anderes Kind, das so gerne mit sich alleine war. Wobei – ein wirklicher Einzelgänger war ich nicht. Ich hatte meine Freunde, aber mehr als zwei oder drei waren es dann doch nie. Sie reichten aber, um mein Dasein perfekt sein zu lassen. Die Gesellschaft in der großen Masse suchte ich selten. Das änderte sich auch nicht, als ich erwachsen wurde. Für die Meisten blieb ich wohl immer so etwas wie ein merkwürdiger Kauz. Als ich mit 19 mein Abitur bestand, klopfte mein Vater mir mit stolzgeschwellter Brust auf die Schulter und sagte: »Junge, jetzt fängt dein Leben erst so richtig an. Mach was draus.« Was er darunter verstand, blieb er mir als Antwort schuldig.

Natürlich hatte ich mir Gedanken gemacht, wie meine Zukunft aussehen sollte. Doch bis auf die Tatsache, dass ich studieren wollte, stand eigentlich rein gar nichts fest. Dabei standen mir – mein Abitur war eines der besten meines Jahrganges – Tür und Tor offen. Vom Wehrdienst war ich freigestellt. Eine alte und noch immer nicht ausgeheilte Erkrankung aus Kindertagen hatte mich für den Dienst untauglich gemacht.

Anfänglich dachte ich daran, in die Forschung zu gehen. Doch dann, eines Abends, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Schon immer hatten mich Menschen fasziniert. Warum also nicht ein Studium in dieser Richtung? Und so schrieb ich im Frühling 1968 verschiedene Universitäten an und erhielt kurz darauf eine Zusage der Universität Freiburg. Von nun an war ich also Student der Geistes- und Sozialwissenschaft. Dass ich auch hier bald als Sonderling galt, störte mich wenig. Dennoch lud man mich hin und wieder zu einer dieser völlig verrückten Studentenpartys ein. Zwar hielt ich mich nach wie vor von allem zurück, was auch nur im Entferntesten mit späteren Unannehmlichkeiten hätte verbunden sein können. Auch vermied ich es, allzu viel über mich zu erzählen. Doch irgendwie genoss ich diese Zeit und fand Gefallen daran.

Auf einer dieser Feiern lernte ich dann meine spätere Frau kennen. »Mein Gott, wie schön sie ist!«, war alles, woran ich dachte, als sie mit ihren braunen langen Haaren, mit scheinbar nie enden wollenden Beinen, vor mir stand und mich ansprach. Ich, der Tagträumer und Sonderling, schien ihr Interesse geweckt zu haben. Kaum konnte ich es fassen. Ehe ich mich versah, war ich verliebt bis über beide Ohren. Wer den Film »Love Story« kennt, kann sich in etwa vorstellen, wie es zwischen ihr und mir war.

Doch unser Schicksal war ein anderes. Anfänglich schien die Sache mit uns beiden zu funktionieren. Kurz vor unserem Examen – ich in Sozialpsychologie und sie als Lehrerin für Deutsch und Geschichte – zogen wir in unsere erste gemeinsame Wohnung. Lange blieben wir jedoch nicht in Freiburg. Schon im darauffolgenden Sommer erhielt ich die Möglichkeit, an einer wissenschaftlichen Studie in Hamburg mitzuarbeiten. Für sie fand sich dort eine Stelle als Referendarin. Wir zogen also um, und ich lebe seit diesem Umzug in Hamburg. Das ist in gewisser Weise eine Kontinuität in meinem Leben. Wenig später heirateten meine Freundin und ich, wir fühlten uns vom Glück unendlich reich beschenkt.

Waren wir wirklich glücklich? Von meiner Seite aus gesehen sicherlich, denn ich hatte ja alles, was ich brauchte. Mein Verhältnis zu anderen Menschen, vor allen Dingen jedoch zu mir selber, hatte sich nicht grundlegend geändert. Doch mit den Jahren lernte ich, damit zu leben. Mit stoischer Gelassenheit ließ ich die Abende mit Freunden, die allesamt mehr Freunde von ihr als von mir waren, über mich ergehen. Ich sah sie mehr als Übungszwecke für meine Studien als eine Bereicherung für mein Leben. Über mich, worüber ich nachdachte, welche Sehnsüchte und Träume ich besaß, darüber sprach ich nie. Nicht einmal meiner Frau gegenüber konnte ich mich öffnen und blieb ihr gegenüber ein verschlossener Mensch

Wenn ich ehrlich bin, galt mein einziges Interesse meiner Arbeit. Kaum nahm ich wahr, wie sich meine Ehe und die Frau, die ich doch liebte, veränderten. Ich sah nicht, dass ich meiner Arbeit mehr Zeit und Beachtung schenkte als unseren Bedürfnissen. Böse Zungen würden behaupten, ich sei ein selbstgefälliger Egoist. Mag sein, dass ich das war oder noch heute bin. Doch es änderte nichts daran, dass ich weder ihr noch mir die Aufmerksamkeit schenkte, die wir gebraucht hätten, um wirklich glücklich zu sein. Eines Tages erhielt ich dafür die Quittung. Das Leben gewann das Spiel, und ich wurde mit einem Zug schachmatt gesetzt.

Nach vielen gemeinsamen – und dennoch für sie einsamen – Jahren verließ mich meine Frau von einem Tag auf den anderen. Doch anstatt mein Leben, nein: mich zu ändern, machte ich weiter wie bisher und füllte meine Tage mit dem Einzigen, was mir geblieben war. Meine Arbeit wurde zu meinem Lebensmittelpunkt und mit der Zeit zur einzigen Geliebten, die ich hatte.

Um zu wissen, wer man ist und zu wem man geworden ist, reicht es nicht aus, nur auf sein vergangenes Leben zurückzublicken. Man muss, um wirklich Änderungen herbeizuführen, sich selbst und die Dinge, die man getan oder unterlassen hat, in Frage stellen.

Das hatte ich nie getan. Heute weiß ich, dass meine Tante mit ihrem Glauben irrte. Es stimmt nicht, dass einem das Leben vorbestimmt ist. Es gibt keine Macht, die das steuert; und noch viel weniger können andere Menschen maßgeblich etwas an einem verändern, solange man nicht selber bereit ist, deren Hilfe anzunehmen. Der Einzige, der wirklich in der Lage ist, sein Leben zu ändern, ist man selbst.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, gab es viele Menschen in meinem Leben, die es gut mit mir meinten. Und doch habe ich jede Kritik und jeden noch so gut gemeinten Ratschlag ausgeschlagen, habe ebenso viele gute Gelegenheiten zur Änderung unnütz verstreichen lassen. Stur zog ich meine Bahnen wie ein einsamer Vogel. Ich glaubte, mit meiner Art, in der ich mich anderen gegenüber verhielt, im Recht zu sein. Ich machte es mir zum Prinzip, von anderen alles zu erfahren, behielt aber all das, was mich betraf, für mich. Ja, ich gab mir nicht einmal die Mühe, mich selber zu verstehen.

Ich bin in meinem Leben vielen Menschen begegnet. Manche, bei denen ich das Vergnügen hatte, sie zu treffen, haben mich schockiert, ja beinahe geängstigt, weil mir ihr Denken und Handeln zuwider war. Zu einigen Menschen fühlte ich mich gleich hingezogen. Bei anderen entwickelte sich meine Sympathie erst nach langem und vorsichtigem Abtasten. Manche Begegnungen ereigneten sich rein zufällig. Andere fanden erst nach reiflicher und sorgfältiger Überlegung statt. Die einen hinterließen nur einen schwachen Eindruck, andere brachten es nicht einmal fertig, mich überhaupt zu berühren, ja, sie streiften nicht einmal meinen Horizont und waren ebenso rasch wieder verschwunden, wie sie in mein Leben getreten waren. Doch so unterschiedlich sie auch alle waren, hatten sie dennoch am Ende eines gemeinsam. Keinem hatte ich Einlass in mein Seelenleben gewährt, weder denen, für die ich Liebe und Freundschaft empfand, noch denen, für die ich nur Verachtung und Abscheu übrig hatte. Ja, selbst mir blieb über Jahrzehnte die Tür zu meiner Seele verschlossen.

Erst der Begegnung mit einer ebenso schönen wie auch geheimnisvollen Frau habe ich es zu verdanken, dass ich zum ersten Mal anfing, über mich nachzudenken. Erst die Bekanntschaft dieser Frau gab meinem Leben eine andere Wendung. Susan streifte nicht nur meine Oberfläche. Sie kroch tief in mich hinein und hinterließ fühlbare Spuren. Diese Spuren spürte ich in mir, egal wo ich mich auch befand oder was ich auch tat, über viele Monate hinweg. Durch Susan durchlebte ich größte Qualen, aber letztendlich führte sie mich zu einem befriedigenden und wundervollen Glücksgefühl. Sie brachte es fertig, dass ich unter meine Schale sah und mein Inneres nach außen kehrte. Sie ist die Frau, die zu treffen mein größtes Glück und zugleich mein größtes Unglück war, und durch die seltsame Geschichte, von der ich hier erzählen möchte, fand ich den Mut, ein neues Leben zu beginnen.

Vorschusslorbeeren

Sie fiel mir sofort auf, als sie den Waggon betrat. Wie sie in ihrem geblümten Sommerkleid dort im Gang stand und sich so unauffällig wie möglich umsah, fühlte ich mich augenblicklich zu ihr hingezogen. Langsam setzte sie sich in Bewegung und schritt grazil und zugleich abschätzend die Sitzreihen ab. Jedem Mitreisenden warf sie dabei einen subtilen Blick zu. Dieses scheue Verhalten, als würde sie nach einer bestimmten Person Ausschau halten, weckte meinen Beschützerinstinkt und zugleich meine berufliche Neugierde als Sozialpsychologe. Dass ausgerechnet ich es war, bei dem sie stehenblieb, verwunderte mich leicht. Natürlich war es mir nicht unangenehm, einer jungen, attraktiven Dame gegenüberzusitzen. Doch die Tatsache, dass ihre Wahl auf mich fiel und nicht auf einen der ansehnlicheren Männer, die es hier durchaus gab, ließ mich über diese fremde Frau nachdenken.

Während sie ihre Reisetasche auf dem oberen Bord verstaute, konnte ich meine Augen nicht von ihr wenden. Sie war von schlanker, fast zerbrechlich wirkender Statur, dazu trug sie ein fließendes, hübsches Sommerkleid. Ihre gelockten braunen Haare fielen ihr bis auf die Schultern, und trotz ihrer hohen Absätze musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um an die Ablage zu gelangen.

Als sie sich umdrehte und ich ihr ins Gesicht sah, erkannte ich diesen feinen und doch tiefen Schimmer in ihren Augen. In wie vielen Gesichtern hatte ich bereits denselben Ausdruck gesehen? Und wie immer ging von solchen Augen für mich eine tiefe Faszination aus. Sagt man nicht auch, dass Blicke Bände sprechen und sogar ganze Geschichten erzählen können? Und so war es auch in ihrem Fall. Sie musste gar nichts sagen, denn ich spürte bereits, dass sie etwas erlebt hatte, das sie tief berührte.

Die meisten Menschen glauben, sich hinter einem vermeintlich normal aussehenden Gesichtsausdruck verstecken zu können. Und nur wir, die sich zwangsweise durch die Wahl ihres Berufes mit der Seele des Menschen befassen, haben gelernt, hinter diese Fassade zu sehen. Für uns sind die Augen das Spiegelbild der Seele.

Und so verhielt es sich auch bei dieser fremden Frau. Sie saß rein zufällig mit mir im selben Waggon des ICE, der mich von München über Stuttgart zurück nach Hamburg bringen sollte. Ich muss zugeben, dass alleine ihr Anblick mich schon berührte. Die Art, wie sie mit geschlossenen Augen an der Scheibe lehnte, sprach mich an. Während sich andere Mitreisende geschäftig zu ihren Plätzen begaben oder sich unruhig auf ihren Sitzen hin und her bewegten, beobachtete ich die Frau. Ein paar Mal drückte sie ihre Stirn fest an die Fensterscheibe. Für mich hatte es den Anschein, als wollte sie etwas aus ihrem Gedächtnis pressen, so, wie man eine Zitrone auspresst, bis nichts anderes mehr als trockene Schale übrig bleibt.

Doch als ich genauer hinsah, entdeckte ich ihr zartes und zufriedenes Lächeln. Natürlich war ich viel zu gut erzogen, als dass ich sie, nachdem sie sich gesetzt hatte, einfach angesprochen hätte. Doch insgeheim hoffte ich, dass unsere gemeinsame Bahnfahrt lang genug währte, um mit ihr ins Gespräch zu kommen – nicht weil ich von Natur aus ein redseliger Mensch war, denn im Grunde ziehe ich meine individuelle Einsamkeit dem bunten gesellschaftlichen Treiben vor; und auch Gespräche mit mir wildfremden Personen sind nicht das, was ich sonst bevorzuge.

Bei ihr war meine Neugierde jedoch deutlich größer als meine sonst so übliche Zurückhaltung. Warum dies so war, konnte ich nicht genau sagen. Manches lässt sich eben nicht so einfach erklären und bleibt für einen selbst auf immer und ewig ein Rätsel.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Im Anfahren hob sie ihre Hand und zeichnete mit einer ihrer Fingerspitzen ein Herz auf die von ihrem Atem feuchte Scheibe, und auch die Träne, die ihr die Wange herunterrann, war mir nicht entgangen.

Im gleichen Moment, als ich mich fragte, weshalb eine junge Frau mitten unter Fremden eine derartige Gefühlsregung zeigte, drehte sie ihr Gesicht in meine Richtung. Wir waren zwei Fremde, dessen Blicke sich zufällig trafen, doch sagten mir ihre Augen, dass es kein profaner Liebeskummer war, der sie zu Tränen rührte. Ich bildete mir sogar ein, dass ihr stummer Blick mich um Hilfe bat.

Instinktiv wollte ich meine Hand nach ihr ausstrecken und war über so viel Kühnheit selbst maßlos erschrocken. Wie bereits erwähnt, zog ich es sonst vor, mich niemandem gegenüber – und schon gar keiner Fremden – so offen zu zeigen. Aber irgendetwas hatte sie an sich, was mich zu menschlichen Reaktionen veranlasste, die ich normalerweise tunlichst vermied.

Dennoch zögerte ich, und noch bevor ich es bereuen konnte, es nicht getan zu haben, hörte ich sie sagen: »Denken Sie auch manchmal darüber nach, was die Person, die Ihnen gegenübersitzt, gerade denkt oder zuvor getan hat?«

Im ersten Augenblick war ich viel zu überrascht, sodass mir keine passende Antwort einfiel. Vielmehr brachte ihre Frage bei mir den Verdacht auf, dass meine Beobachtungen doch nicht so heimlich gewesen waren, wie ich es mir eingebildet hatte. Irgendwie fühlte ich mich wie auf frischer Tat ertappt und gab ihr deshalb die erstbeste Antwort, die mir in diesem Moment sinnvoll erschien.

»Es kommt darauf an, ob mein Gegenüber mein Interesse geweckt hat.«

»Und? Habe ich Ihr Interesse geweckt?«

Anstelle zu antworten entschied ich mich dafür, ihr eine Gegenfrage zu stellen, wohl auch um zu erfahren, inwiefern ich bei ihr diesen Eindruck hinterlassen hatte.

»Sind Sie denn der Meinung, dass ich Sie beobachtet habe?«

Draußen zog eine wundervolle Landschaft an uns vorbei. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, sie bliebe mir eine Antwort schuldig; starr blickte sie auf die vorbeiziehenden Bäume und Felder. Erst als wir an einem stillgelegten Bahnhof vorbeifuhren, dessen vergilbtes Schild daran erinnerte, dass hier einmal geschäftiges Treiben geherrscht hatte, antwortete sie kaum hörbar.

»Anfänglich nicht. Aber als ich anfing zu weinen, spürte ich Ihre Blicke.«

Ich überlegte kurz, ob ich mich entschuldigen sollte. Oder war es besser, mit einer gezielten Antwort dem Verlauf eines im höchsten Maße interessant zu werdenden Gespräches die richtige Wendung zu geben? Ich entschied mich für das Letztere.

»Nun, hat nicht jede Träne ihren Ursprung? Sie sind eine junge Frau und sollten eigentlich keinen Grund haben zu weinen. Da Sie es dennoch taten, hat dies natürlich einige Fragen in mir aufgeworfen.«

Sie lächelte und beugte sich zu mir hinüber.

»Machen Sie das oft? Ich meine, anderen Leuten bei ihren Gefühlsregungen zuzusehen und sich dann die Frage nach dem Warum zu stellen?«

Der Blick, den sie mir zuwarf, war entwaffnend. In diesem Moment war mir bewusst, dass ich ihr eine ehrliche Antwort schuldig war.

»Alte Berufskrankheit«, entschuldigte ich mich. »Ich bin Sozialpsychologe, und da liegt eine gewisse Neugierde für alles Menschliche wohl in meiner Natur. Ich wollte nicht aufdringlich wirken. Bitte verzeihen Sie mir.«

Schweigend sah sie mich an. Ihre Augen fixierten mich, und ich musste zugeben, dass es mir weit weniger angenehm war, beobachtet zu werden, als selbst jemanden zu beobachten. Dann seufzte sie plötzlich und fragte mit einer herrlich erfrischenden Offenheit: »Und zu welchen Erkenntnissen sind Sie in meinem Fall gekommen?«

Diesmal war es an mir, sie schweigend anzusehen, denn mit einer derartigen Frage hatte ich nicht gerechnet.

»Ich bin mir noch nicht schlüssig. Es scheint bei Ihnen einen tieferen Grund zu geben, auch wenn das gezeichnete Herz banalen Liebeskummer vermuten lässt.«

Mit einer kurzen Kopfbewegung deutete ich zur Scheibe hin.

»Glauben Sie an Zufälle?«, fragte sie und sah mit einem Seitenblick zum Fenster.

»Nein – auch wenn man vermutet, dass einem die Dinge, die einem widerfahren, zufällig geschehen.«

»Dann ist es Ihrer Meinung nach kein Zufall, dass wir uns hier begegnet sind, sondern eher so etwas wie Schicksal?«

»Wenn Sie es so sehen wollen, dann lautet meine Antwort: Ja«, antwortete ich und fügte nachdenklich hinzu: »Aber es kommt natürlich darauf an, was man aus den zufälligen Begegnungen macht. Wir könnten uns über das Wetter unterhalten, oder?« Hier machte ich eine Pause, bevor ich langsam weitersprach. »Wenn Sie möchten, auch über das, was Sie so traurig sein lässt.«

Noch im selben Moment, als ich mich dies sagen hörte, spürte ich ein leises Unbehagen. Ich fragte mich, ebenso erschrocken wie entsetzt, wie ich einer fremden Frau einen solchen Vorschlag machen konnte. Ihre Gefühle gingen mich doch nun wirklich nichts an.

Schuldbewusst schwieg ich einen Moment und hoffte, dass sie mir meiner Kühnheit wegen nicht böse war, es lag nicht in meiner Absicht, sie zu bedrängen. Es fiel mir schwer, sie anzusehen, und doch konnte ich nicht anders, als ihren Blick zu suchen. Doch was ich in ihren Augen las, war keineswegs Abwehr oder ihr innerer Rückzug. Nein, es war eher ein stilles und mit einer leisen Bitte versehenes Lächeln, das mein schlechtes Gewissen von einem Moment zum anderen verfliegen ließ.

Könnten Menschen sich doch nur selber sehen, wenn sie angestrengt nachdenken. So mancher wäre über seinen eigenartigen Gesichtsausdruck wahrscheinlich sehr amüsiert. So dachte ich, während ich sie jetzt weitaus weniger schuldbewusst beobachtete, um zu sehen, welche Wirkung meine Worte auf sie hatten. Es war nicht zu übersehen, dass sich hinter ihrem hübschen Gesicht zahlreiche dunkle Gedanken zusammenbrauten.

Wie bei den meisten Menschen zog sich auch über ihre Stirn eine sichtbare Falte, die sie augenblicklich etwas älter wirken ließ. Was mich jedoch am meisten amüsierte, waren ihre zusammengekniffenen Augen. Sie waren nur noch als Schlitze sichtbar und verliehen ihr beinahe das Aussehen einer asiatischen Schönheit.

Völlig in sich versunken, strich sie sich mehrmals eine feine Haarsträhne aus dem Gesicht; und dann, von einer Sekunde zur anderen, hob sie ihren Blick und sah mich an.

»Einmal angenommen, mich hätte ein Erlebnis, das abseits der Normalität liegt, so tief in meiner Seele berührt, dass ich nur aus diesem Grund zu Tränen gerührt war. Würden Sie es hören wollen?«

War diese Frage wirklich ernst gemeint? Selbstverständlich interessierte mich alles, was mit menschlichen Verhaltensweisen zusammenhing. Wie konnte ich da jetzt ablehnen? Natürlich, es ist richtig, dass ich mich in meinem Beruf weit weniger mit dem Individuum Mensch selbst als damit, wie sich sein Verhalten auf die gesamte Gesellschaft auswirkt, beschäftige. Dennoch kann das eine ohne das andere nicht existieren, und man muss schon hin und wieder den Einzelnen betrachten, um das Gesamte verstehen zu können – und egal, wie man die Sache auch drehen und wenden mag, bleibt die Sozialpsychologie doch immer ein Teilgebiet der allgemeinen Psychologie.

Menschen konstruieren ihre eigene Realität. Das gesamte Erleben und Verhalten wird von sozialen Beziehungen beeinflusst, und jetzt, wo man mir sozusagen eine solch erlebte und individuelle Realität auf dem Silbertablett servierte, konnte ich gar nicht anders, als sie darum zu bitten, mir ihr Erlebtes zu erzählen. Wer weiß, vielleicht erfuhr ich so etwas, was mir für meine Arbeit nützlich sein konnte – und wenn nicht, würde ich doch weitaus mehr über sie erfahren, als ich mir eben noch hätte vorstellen können. Zudem hatte ich auch nichts Besseres vor, warum sollte ich ihr nicht meine Aufmerksamkeit schenken? Und ihr Teilgeständnis war, ohne, dass sie es wusste, für mich ein Garant für eine Reise durch tiefe und dunkle Gefilde ihrer Seele. Kann man Langeweile – und die würde zweifelsohne auf einer so langen Fahrt aufkommen – besser entkommen?

Am liebsten hätte ich sofort zugesagt. Ich wusste, dass, während sie mir ihr Herz öffnete, meine akribischen Gehirnzellen jedes noch so winzige Detail ihrer Erlebnisse unwiderruflich speichern würden. Was auch immer sie erlebt hatte – um nichts in der Welt wollte ich diese Chance verpassen.

Dennoch war Vorsicht geboten. Ich durfte nicht zu offensichtlich meine Freude darüber zeigen. Immerhin war es möglich, dass sie einen Rückzieher machte oder ihre Frage nicht ernst gemeint war. Bei Menschen ist alles möglich. Es konnte ja sein, dass sie nur fragte, um herauszufinden, wozu ich fähig war, wenn man meine Neugierde weckte. Außerdem waren wir nicht alleine. Einsamkeit war immer schon ein sehr wichtiger Aspekt, wenn man Zeuge eines privaten Geständnisses werden wollte, wie ich fand. Es war also unabdingbar, sich zu vergewissern, dass uns keine fremden Ohren belauschten.

Wie ein Spion sah ich mich um. Der nächste Fahrgast saß außer Hörweite. Somit stand, jedenfalls was unerwünschte Zuhörer betraf, unserem verbalen Abenteuer nichts im Wege. Der nächste Bahnhof lag noch gut eine Stunde von uns entfernt, die gesamte Fahrzeit betrug fast einen ganzen Tag, Zeit hatten wir also auch genug.

Was mich jedoch noch davon abhielt, zustimmend zu antworten, war ein anderer Gedanke. Ich fand es gar nicht so abwegig, dass sie sich am Ende nur über meine Neugierde lustig machte. Aber um mehr über sie zu erfahren, musste ich dieses Risiko eingehen, und dies, obgleich ich wusste, dass es mich, wenn es denn so wäre, peinlich berührt hätte. Und trotz meiner Zweifel hörte ich mich schon wenige Sekunden später kühn sagen: »Ich bin ein guter Zuhörer. Es gibt nichts, was mich ernsthaft schockieren könnte.« Dass man meiner Tonlage meine Neugierde anmerkte, ärgerte mich ein wenig.

Wie von selbst fanden sich unsere Blicke. Diesmal hatte ich das untrügliche Gefühl, als leuchteten ihre Augen bei meinen Worten auf, als hätte sie sich diese Antwort erhofft.

»Danke, dass Sie meine Geschichte hören möchten.« Und leise fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, warum. Aber ich vertraue Ihnen.«

Mir fiel ein, dass wir uns einander noch nicht vorgestellt hatten. Mir erschien es aber wichtig, zumal sie im Begriff war, mir persönliche Dinge anzuvertrauen. Ich griff in meine Jackeninnentasche, in der ich immer einen kleinen Vorrat an Visitenkarten aufbewahrte. Gerade wollte ich ihr eine reichen, als sie ihre Hand ausstreckte und mich davon abhielt.

»Ich möchte nicht wissen, wer Sie sind, genauso wie Sie nicht erfahren werden, wer ich bin. Es ist besser, wenn wir einander nicht kennen«, sagte sie sehr bestimmend. Selten machte mich etwas sprachlos, aber diese Reaktion tat es. Ihrer Bitte folgend, steckte ich die Karte wieder ein und lehnte mich in meinem Sitz zurück. Ruhig wartete ich ab, dass sie zu erzählen begann. Doch als nach einer Weile immer noch nichts geschah und sie mir nach wie vor schweigsam gegenübersaß, musste ich einfach etwas sagen. »Angst?«, hakte ich leise nach.

»Nein«, antwortete sie und schüttelte leicht ihren Kopf. »Das ist es nicht. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll. Sie sind zwar ein Fremder, aber dennoch möchte ich, dass Sie mich verstehen.«