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Nach dem Tod ihres aufrührerischen Anführers Jewgeni Prigoschin wurde die berüchtigte Wagner-Gruppe den russischen Geheimdiensten unterstellt und umgebaut. Doch die Söldner des Kremls operieren weiterhin verdeckt auf den Schlachtfeldern dieser Welt und begehen Menschenrechtsverbrechen in großem Stil: in der Ukraine, in Afrika und im Mittleren Osten. In einem atemberaubenden Buch verfolgen Lou Osborn und Dimitri Zufferey ihre Spuren und kommen zu dem Schluss: Russlands Schattenkrieger sind aktiver denn je. Seit vielen Jahren operieren russische Paramilitärs weltweit im Auftrag des Kremls. Sie sind moderne Söldner, denen in Wladimir Putins Strategie der Destabilisierung des Westens eine zentrale Rolle zukommt. Die Mitglieder des internationalen Recherchekollektivs „All Eyes On Wagner“ haben sich seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 auf die Jagd nach Prigoschin und seinen Männern in der ganzen Welt gemacht und deren globale Missionen nach dem Aufstand und Tod des Wagner-Chefs weiter analysiert: Welche Rolle spielen heute die Geheimdienste FSB und GRU bei der Steuerung des russischen Söldnerheers? Um zu verstehen, warum Russlands Schattenkrieger für Putin und seine Getreuen weiter so wichtig sind, gehen die Autoren auch bis zu den Ursprüngen der Wagner-Gruppe zurück, um deren Ideologie, Methoden und unübersichtliche Strukturen aufzudecken. Lou Osborns und Dimitri Zuffereys investigative Recherche bietet daher einen einzigartigen Blick auf eine der größten Bedrohungen für die globale Stabilität und die Interessen des Westens.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Lou Osborn/Dimitri Zufferey
Die Söldner des Kremls
Wagner und Russlands neue Geheimarmeen
Aus dem Französischen von Ulla Held und Elsbeth Ranke
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Motto
Vorwort – Was heißt eigentlich Wagner?
Prolog
Requiem für Wagner
Einführung
Offene Quellen als Recherchematerial
Die Zivilgesellschaft schlägt zurück
Putins Schattenarmeen ins Rampenlicht
Teil 1: Die Marke Wagner oder die Lancierung eines russischen Geschäftsmodells
1: Russische Söldner und die Möglichkeit, alles abzustreiten
(Beinahe) private russische Militärunternehmen
Phase 1: Grundstock der Unternehmensfamilie «Antiterror»
Phase 2: Optimierung und Ausdehnung, die Arbeit der Moran Security Group
Phase 3: Letzte Mission für das Slawische Korps
Phase 4: Eebens Idee
Imperialistische Ideologie und ihre Kombattanten
2: Vom Koch zum Condottiere: Prigoschins seltsames Schicksal
Der Aufstieg des Kochs
3: Die Wagner-Triade
Die Begründung des Mythos
Mythische Gestalten und heilige Regeln
Die Gesichter des Terrors
Die Wagner-Ästhetik
4: Rückgrat eines konturlosen Gebildes
Tür an Tür mit der
GRU
Ministeragenda und persönlicher Schutz
Wirtschaftsprüfung in Russland: Der Teufel steckt in den Details
Eine Fülle technischer Indizien
5: Generalprobe für die Truppen im Donbass
Russitsch, Spezialkräfte
Die Stoßtruppen
6: Prigoschins Magier
Die Propagandaorgane
In den Klauen des Kremls
Manipulationsversuche in den
USA
Africa Politology:
Mad men
auf Eroberungsfeldzug
Der Fall Libyen
Radio Prigo
Seba und Panafrikaner in Sotschi
Feldzug für die Interessen Wagners und Russlands
Chaos stiften
Das
Wagnerverse
oder die Erfindung einer Marke
Nichts geht verloren, alles verändert sich
Teil 2: Auf Welteroberung
1: Verkaufsmodell: Die Deir ez-Zor-Offensive
Der Tag danach
Der Kampf ums Öl
Die Wunden lecken
Die Eroberung der Welt
2: Das Tor nach Afrika: Der Marsch auf Tripolis
Die ersten Einsätze
Bedarf an syrischer Verstärkung
3: Das Gold aus Khartum
4: Das zentralafrikanische Labor
Zentralafrika: eine russische Kolonie
5: Maputo: Chronik eines Scheiterns
6: Ein Hinterhof in Mali
Raub, Selbstbedienung, Gewalt
7: Sahelzone: Raumgewinn durch Waffen und Desinformation
Die burkinische Dämmerung
Gerüchte als wirksame Waffe
Tschad: Den strategischen Riegel aufbrechen
Teil 3: Frankenstein oder der russische Prometheus
1: Die Hydra füllt sich die Taschen
Der Lohn: Schätze aus Afrika und dem Nahen Osten
Abräumen in der Zentralafrikanischen Republik
Die Plünderung der Wälder
Die zentralafrikanische Wirtschaft unter russischer Kontrolle
2: In der Ukraine kämpfen Bär und Hydra
Die «Spezialoperation» mit Wagner als Speerspitze
Strafgefangene als Kanonenfutter
3: Die russische Privatarmee als Exportmodell
Die Ukraine als ideales Testgelände
Russische Söldner in Lateinamerika
4: Die Übergriffe häufen sich
Der Mord an der Presse
Die Bluttat von al-Shair
Das Blut der Zentralafrikanischen Republik
Massenmorde in Mali
5: Dem Westen werden die Augen geöffnet
6: Wagner ist tot – es lebe Wagner
«Don Prigoschin»: Schlussakt einer russischen Tragödie?
Ungewissheit, Desillusionierung und zweite Flitterwochen
Der Kreml übernimmt die Geschäfte
Putins Geheimarmee zwischen Hydra und Phönix
Dank
Anmerkungen
Vorwort
Prolog
Einführung
Teil 1 Die Marke Wagner oder die Lancierung eines russischen Geschäftsmodells
1. Russische Söldner und die Möglichkeit, alles abzustreiten
2. Vom Koch zum Condottiere: Prigoschins seltsames Schicksal
3. Die Wagner-Triade
4. Rückgrat eines konturlosen Gebildes
5. Generalprobe für die Truppen im Donbass
6. Prigoschins Magier
Teil 2 Auf Welteroberung
1. Verkaufsmodell: Die Deir ez-Zor-Offensive
2. Das Tor nach Afrika: Der Marsch auf Tripolis
3. Das Gold aus Khartum
4. Das zentralafrikanische Labor
5. Maputo: Chronik eines Scheiterns
6. Ein Hinterhof in Mali
7. Sahelzone: Raumgewinn durch Waffen und Desinformation
Teil 3 Frankenstein oder der russische Prometheus
1. Die Hydra füllt sich die Taschen
2. In der Ukraine kämpfen Bär und Hydra
3. Die russische Privatarmee als Exportmodell
4. Die Übergriffe häufen sich
5. Dem Westen werden die Augen geöffnet
6. Wagner ist tot – es lebe Wagner
Personenregister
Zum Buch
Vita
Impressum
Ihr könnt uns Wagner, Mozart, Schubert, Chopin oder Strawinsky nennen. Das ändert nichts an der Bedeutung, wir sind und bleiben russische Ausbilder mit dem Ziel, bedürftigen Ländern zu helfen.
Witali Perfilew[1]
Die Transkription russischer und arabischer Namen folgt im Französischen, Englischen und Deutschen aussprachebedingt jeweils unterschiedlichen Regeln. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir im Fließtext der vorliegenden Übersetzung die im Deutschen übliche Transkription für alle russischen und arabischen Namen und Begriffe.
In den Fußnoten dagegen (sowie in der Bibliografie, die über die untenstehende Website abrufbar ist) finden für dieselben Namen die englischen Konventionen Anwendung, denn praktisch sämtliche Quellen unserer Recherche waren englischsprachig oder ins Englische übersetzt.
Die vollständige Bibliografie zu diesem Buch finden Sie unter: https://editionsdufaubourg.fr/notes-de-bas-de-page-de-wagner-enquete-au-coeur-du-systeme-prigojine
Was heißt eigentlich Wagner?
Lange wurde jedes Mal, wenn von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin die Rede war, ein Foto aus seiner Sankt Petersburger Zeit hervorgeholt, das ihm den Beinamen «Putins Koch» eingebracht hatte: Darauf serviert der künftige Kriegsherr beinahe unterwürfig seinem Ehrengast Wladimir Putin eine Mahlzeit. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 dagegen war immer öfter ein anderer Prigoschin zu sehen, in schusssicherer Weste, mit Kalaschnikow-Magazinen vor der Brust, Helm auf dem Kopf. Und der servierte etwas ganz anderes.
In etwas mehr als einem Jahrzehnt eroberten die Gruppe Wagner und ihr Anführer nach und nach die Nachrichten; anfangs wurden sie unterschätzt («der Koch»), später vielleicht überschätzt («der Putschist»). Seinen Aufstieg verdankte Prigoschin zunächst seinen der Desinformation verschriebenen «Trollfabriken»; dann traten im Nahen Osten und in Afrika seine Söldner und an ihrer Seite Bergbauunternehmer auf, und zuletzt erlebte man ihn an den Fronten des Ukraine-Kriegs, vor allem an der brutalsten davon in Bachmut. Gleichzeitig sah man, wie Wladimir Putin am Vorabend seiner fatalen Entscheidung, in der Ukraine einzumarschieren, Emmanuel Macron im Kreml empfing und vor seinem Gast und der internationalen Presse beteuerte, er habe mit Wagner nichts zu tun … Das Ende war der Flugzeugabsturz im August 2023 als Folge von Prigoschins Marsch auf Moskau im Juni.
Was genau heißt eigentlich Wagner? Wie lässt sich diese Flut von Informationen zu einem Bild zusammenfassen, zumal ein guter Teil der Informationen in diesem Kontext gefälscht, entstellt, arrangiert oder unterschlagen wurde? Es geht um sehr viel: Der Angriffskrieg in der Ukraine und die Kriege um Einfluss in der Sahelzone wie in Zentralafrika zeigen, dass Wagner ein wichtiger Akteur in einem globalen Spiel ist. Aber haben wir dieses Spiel wirklich begriffen? Nach welchen Regeln funktioniert es? Und vor allem, wie setzt man sich dagegen zur Wehr?
Dass es schwierig ist, über ein konturloses Gebilde wie die Wagner-Gruppe zu recherchieren, die in Russland lange nicht einmal eine offizielle Adresse hatte und deren Existenz die russischen Behörden schlicht leugneten, liegt auf der Hand. Drei russische Journalisten bezahlten 2020 in der Zentralafrikanischen Republik mit ihrem Leben dafür, dass sie allzu genau hinsehen wollten. Doch nach und nach fingen auch andere Journalisten an, aufzuhorchen, nachzuforschen, Deserteuren zuzuhören, hinter die Fassade zu blicken. Dank einer neuen Recherchetechnik konnten die Autoren dieses Buchs noch einen Schritt weiter gehen: Sie nutzten die Open Source Intelligence (OSINT), die Nachrichtengewinnung aus «offenen Quellen». Möglich (und immer beliebter) wurde diese Methode mit der technischen Entwicklung und dem Zugriff auf zuvor «geschlossene» Daten. OSINT hat Journalisten und Forschern ganz neue Betätigungsfelder eröffnet.
So konnten die Journalisten der New York Times anhand von Satellitenfotos aus offenen Quellen nachweisen, dass sich in Butscha nahe Kiew bereits vor dem Abzug der russischen Truppen Leichen befanden, und widerlegten damit zweifelsfrei die Behauptungen des Kremls. Ich erinnere mich, wie wir Anfang der 1980er-Jahre, als ich bei Libération arbeitete, nach Informationen über die Manöver von Gaddafis Armee gegen das französische Militär im Tschad suchten. Herausgeber Serge July rief in der Redaktionssitzung: «Irgendwann haben wir unseren eigenen Satelliten!» … und erntete damit großes Gelächter. 2022 lacht niemand mehr, wenn die New York Times mit diesen neuen Quellen einen entscheidenden Beitrag zur Berichterstattung aus dem Ukraine-Krieg leistet.
Dank OSINT konnten die Autoren dieses Buchs Informationen zusammenführen, einzelne Fäden zurückverfolgen und Aspekte offenlegen, die bis dahin unbekannt oder unsichtbar waren, und alles nutzen, was die digitalisierte Welt freiwillig oder unfreiwillig denen bietet, die wissen, wo sie suchen müssen. Bei einem undurchsichtigen Gebilde wie der Gruppe Wagner gibt es kaum ein angemesseneres Vorgehen. Und das Ergebnis entspricht den eingesetzten Mitteln.
Es liefert den Ansatz einer Antwort auf die Frage vom Anfang: Was heißt eigentlich Wagner? Wenn ich vor dem Überfall auf die Ukraine im Zusammenhang mit Afrika den Namen Wagner erwähnte, verwies man mich auf den Präzedenzfall Blackwater, Eingeweihte nannten den Namen Bob Denard. In der Tat ist Bob Denard eine bezeichnende Erinnerung: Der französische Söldner weckt in Afrika verheerende Erinnerungen und ist alles andere als unbeteiligt daran, dass Jahrzehnte nach seinem Tod bei der Jugend der frankophonen Länder so starke antifranzösische Ressentiments herrschen. Bob Denard und seine Truppe stand mit dem sogenannten Service d’action des französischen Auslandsgeheimdiensts SDECE in Verbindung; sie waren der inoffizielle bewaffnete Arm von Jacques Foccart, dem gefürchteten «Monsieur Afrique» des Generals de Gaulle. Foccart ließ Denards «Kriegshunde» in Guinea gegen das Regime von Ahmed Sékou Touré auflaufen, das 1958 de Gaulle hatte abblitzen lassen; Denard war von Katanga bis Biafra an allen Coups der «Françafrique» in den 1960er-Jahren beteiligt und griff auf den Komoren sogar nach der Macht! Bob Denard und seine Auftraggeber sind nicht zu verteidigen: Die Geschichte hat sie abgeurteilt, und obwohl die Vergangenheit, die sie verkörperten, nur zäh verblasst, sind diese «Affreux», die ‹Schrecklichen›, wie man sie nannte, heute doch nur noch Legende. Sie gehören weder in die Gegenwart noch in die Zukunft des geschundenen Kontinents.
1989 endete der Kalte Krieg, aber Feindschaften und Methoden, sie auszutragen, entwickelten sich weiter. Die UNO erließ eine internationale Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern. «Die neue Gesetzgebung von 1989 stellt weltweit die erste Form der Kriminalisierung von Söldneraktivitäten im internationalen Recht dar», kommentiert der Autor eines Buchs über Bob Denard.[1] Das Söldnerwesen ist Vergangenheit, künftig ist die Rede von privaten Sicherheits- und Militärunternehmen (PMC für englisch Private Military Company), die weltweit aus dem Boden schießen, manche zum Zweck eines realen «Outsourcings» von Sicherheitsaufgaben, andere, um Söldner mit einem respektableren, akzeptableren Gesicht zu versehen.
Zu dieser neuen Welle gehört Blackwater. Blackwater: der Aufstieg der mächtigsten Privatarmee der Welt, hat der amerikanische Journalist Jeremy Scahill sein 2008 erschienenes Buch betitelt.[2] Die Rede ist von 23.000 Männern, einem eigenen Geheimdienst, einer Flotte von Transportflugzeugen und von über 1 Milliarde Dollar schweren Verträgen der amerikanischen Regierung, aufgrund derer Blackwater an der Seite der US Army in Afghanistan und im Irak aufmarschierte. Blackwater-Gründer Erik Prince steht George W. Bush und Donald Rumsfeld nahe, den Amerikanern, die 2003 den Irakkrieg auslösten. Im Irak trübt sich schließlich auch der Ruf von Blackwater, zunächst bei einem blutigen Hinterhalt in Falludscha, dann beim Massaker durch seine Leute auf dem Nissur-Platz in Bagdad mit 17 Toten und 20 Verletzten. Blackwater wird von der Regierung gedeckt, gerät aber erheblich in Misskredit.
Dieser historische Rückblick zeigt mögliche Ähnlichkeiten zwischen der Gruppe Wagner und einzelnen Operationen des Westens auf, gleichzeitig aber auch die Besonderheit des russischen Phänomens unter Jewgeni Prigoschin. Der Rückgriff auf Söldner oder sogenannte Privatarmeen erlaubt, was auf Englisch als plausible deniability bezeichnet wird, also die Möglichkeit, etwas glaubhaft oder auch nur geschickt abstreiten zu können – niemand lässt sich täuschen, aber der Schein bleibt gewahrt. Das gab es gestern wie heute. Als Wladimir Putin bei seiner berühmten Pressekonferenz an der Seite von Emmanuel Macron jede Verbindung zu Wagner bestreitet, lässt sich niemand täuschen, und doch besteht plausible deniability.
Anders und innovativ, wenn man es so ausdrücken kann, ist Wagner zunächst in der Reichweite seiner Operationen: Es ist das Söldnerwesen 2.0, mit einer nie dagewesenen Aktionsbreite von digitaler Desinformation bis zur Ausbeutung einer Goldmine im Sudan, von einem Gemeinschaftsunternehmen in Madagaskar bis in die Gräben von Bachmut oder in die zentralafrikanische Savanne. Ein Staat im Staat, der außerhalb jedes gesetzlichen Rahmens, aber unter dem Schutz der russischen Obrigkeit agiert. Wagner treibt den Begriff PMC weiter als je zuvor; allerdings weiß man seit Putins Einlassung anlässlich der Krise im Juni 2023, dass das mit massiver finanzieller Unterstützung aus dem Kreml geschah. Wir sprechen von Milliarden Dollar. Und damit fällt der Deckmantel der angeblichen «privaten» Autonomie der Gruppe Wagner.
Der zweite große Unterschied ist natürlich das politische Umfeld. In einem Land wie Putins Russland ist in den letzten Jahren der Raum der Informationsfreiheit und Opposition unaufhörlich geschrumpft, um mit der «Spezialoperation» am 24. Februar 2022 ganz zu verschwinden. Damit wird es unmöglich, die Aktivitäten dieser undurchsichtigen und zu großen Teilen kriminellen Gruppierung, die auf mehreren Kontinenten aktiv ist, zu recherchieren. Das ist kein geringer Unterschied.
Und genau das macht dieses Buch so notwendig. Der Überfall auf die Ukraine war ein Versuch Wladimir Putins, die etablierte Weltordnung umzustürzen und sich den Anteil zurückzuholen, der ihm in seinen Augen «zusteht», einen kolonialen Rest an den Rändern des Reichs. Dieser Krieg stellt das Prinzip der Souveränität infrage, wie es von der UNO-Charta verkörpert wird, setzt wieder auf das «Gesetz des Stärkeren», was wiederum anderen autoritären oder totalitären Mächten die Hemmungen nehmen könnte, und verstärkt die Spannungen in den internationalen Beziehungen mit dem Aufstreben eines «globalen Südens», der sich weigert, in das «westliche Narrativ» einzustimmen, und eine neue Blockfreiheit fordert. Aus all den Gründen ist es so wichtig, diesen Krieg zu begreifen und die Macht Moskaus in all ihren Komponenten zu analysieren; und das gilt gerade auch für deren langen Arm, die Gruppe Wagner. Genau diesem Aspekt widmet sich dieses Buch – und wird dadurch zu einem gemeinnützigen Unterfangen.
Pierre Haski, Journalist und Präsident von Reporter ohne Grenzen
Die Geschichte der Gruppe Wagner und der russischen Privatarmeen vollzog sich lange im Dunkeln. Laut gesprochen wurde in der Zeitgeschichte vor allem von amerikanischen oder auch französischen Söldnern. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts aber nehmen die russischen Besonderheiten, die in engen Insiderkreisen kaum debattiert wurden, schleichend immer mehr Raum ein. Kaum ein Vierteljahrhundert später hat die Geschichte sich plötzlich beschleunigt. Im Ukraine-Krieg fördern die Medien eine Gestalt ans Licht: Jewgeni Prigoschin, Anführer der Gruppe Wagner. Bekanntheit und Einfluss verschaffte der sich vor allem unter der Regierung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der ihn zu einem seiner treuesten Gefolgsleute machte.
Doch zwei Tage im Jahr 2023 mischen die Karten neu. Mit seinem Marsch auf Moskau am 23. Juni demütigt der Oligarch den Zaren auf eine Art und Weise, die dessen Einfluss auf Russland dauerhaft hätte gefährden können. Zwei Monate später wird er das mit dem Leben bezahlen: Der 23. August setzt der Gruppe Wagner, wie sie bisher existierte, ein Ende. Der Mann mit dem Beinamen «Putins Koch» schaffte aber wider Willen etwas, was seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine keine westliche Regierung geschafft hat: Er bedrohte direkt den Kreml-Herrscher, der beschloss, ihn zu eliminieren, um seine Macht zu retten.
Der Anführer der Söldnergruppe, der sich schon lange regelmäßig auf seinen eigenen Social Media-Kanälen zu Wort meldet, überschreitet eine Linie, als er am Freitag, dem 23. Juni, mit neuer Vehemenz die russische Militärintervention in der Ukraine in Frage stellt. In seiner halbstündigen Rede erklärt er, der Krieg müsste längst zu Ende sein, da Kiew zum Abschluss egal welcher Vereinbarung bereit sei. Lediglich die Silowiki[1] drängten noch zur Fortsetzung eines Konflikts, der längst viel zu kostspielig sei. Der ehemalige Hotdog-Verkäufer erklärt die militärischen Erfolge Russlands an der Ukraine-Front für inexistent, obwohl er selbst noch einen Monat zuvor die symbolische Einnahme Bachmuts für sich beansprucht hatte. Diese Rede klingt heute wie das Vorspiel zu einem Trauermarsch.
Ein Jahrzehnt lang und bis zu diesem Zeitpunkt waren die Operationen der Gruppe Wagner zur Durchsetzung der Moskauer Interessen in der Welt gewollt diskret geblieben. Die Organisation hatte das Gesicht des Söldnertums in Russland verändert und alle Konkurrenten ausgeschaltet. Finanziell profitierte sie vom Ukraine-Krieg, doch der veränderte die Situation von Grund auf: Wegen der veralteten Ausrüstung und ineffizienten Kommandostruktur fielen die Männer Wagners, meist ehemalige Strafgefangene, wie die Fliegen. Seit der Schlacht um Bachmut im Frühjahr 2023 verschärften sich die Spannungen zwischen dem Wagner-Chef und dem damaligen russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Die beiden Männer hassten einander seit Jahren. Die Ausfälligkeiten gegen den russischen Generalstab und dieser letzte Gewaltstreich könnten sogar von dem Wunsch getrieben gewesen sein, den starken Mann zu vertreiben und sich selbst an seine Stelle zu setzen. Im Visier steht am Ende Putin, als würde sich das Geschöpf des Kremls gegen seinen Schöpfer erheben.
Am Abend des 23. Juni steigt die Spannung noch weiter; Prigoschin beschuldigt nunmehr die russische Armee, mit Luftschlägen auf die Wagner-Basislager hinter der ukrainischen Front Söldner getötet zu haben. Diese Information wird von der russischen Militärführung umgehend dementiert. Während Prigoschins Anhänger auf ihrem Telegram-Kanal dazu aufrufen, zu rebellieren, dem Oberkommando Einhalt zu gebieten und die Verräter zu stoppen, kündigt ihr Anführer einen «Marsch für die Gerechtigkeit» an. Der Oligarch erklärt, er verfüge über 25.000 Mann, und ruft die russische Bevölkerung und insbesondere die regulären russischen Truppen dazu auf, sich Wagner anzuschließen. Da fällt das große Wort: Es handle sich um einen «Aufruf zur bewaffneten Meuterei», so der Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation (FSB), der Ermittlungen aufnimmt.
Prigoschins Truppen marschieren offenbar in Richtung Moskau, Putin ist unmittelbar bedroht. Auf Telegram erklärt Prigoschin: «Jeder Soldat, der sich der Säuberungsaktion nicht anschließt, wird als Verräter betrachtet und entsprechend behandelt.» Piraten senden auf russischen Fernsehkanälen Botschaften gegen Putin und verherrlichen die Gruppe Wagner. Noch vor Mitternacht lässt die Regierung Kriegsgerät ins Gebäude der Moskauer Staatsduma liefern und ganze Viertel der Hauptstadt abriegeln. Laut einer Quelle bei der russischen Nachrichtenagentur TASS wird der öffentliche Verkehr überwacht, Nationalgarde (Rosgwardija) sowie Einheiten der Bereitschaftspolizei und der SOBR (eine Sondereinheit der Nationalgarde) werden in Alarmzustand versetzt. Putin verschwindet von der Bildfläche und lässt Raum für alle möglichen Spekulationen.
Erst am Samstag, dem 24. Juni, zeigt sich der Kreml-Chef wieder: ganz in Schwarz, mit ernster Miene und in scharfem Ton. In einer feierlichen Fernsehansprache an die Nation erklärt er, ohne seinen Herausforderer beim Namen zu nennen: «Es ist ein Stich in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes […]. Wir haben es hier mit nichts anderem zu tun als mit Hochverrat. Ein Hochverrat auf der Grundlage maßlosen Ehrgeizes und persönlicher Interessen.» Gleichzeitig erwähnt der russische Präsident die Ereignisse von 1917, die internen Streitereien und Intrigen, die das Zarenreich schwächten und den Beginn der Oktoberrevolution markierten. Putin schwört, er werde nicht zulassen, dass eine solche Situation sich wiederhole; gleichzeitig wird gemeldet, dass die Wagner-Truppen vor den Toren der Hauptstadt stehen. Es gibt Hinweise auf Zusammenstöße zwischen regulären Truppen und Söldnern und auf Zerstörungen. In den Ministerien kommt Panik auf, der Vormarsch der Meuterer führt die Probleme Russlands der ganzen Welt vor Augen. Die Wagner-Kolonne dringt auch deshalb so leicht vor, weil auf russischem Boden nur sehr wenige Soldaten stehen; die meisten sind in der Ukraine mobilisiert, ganz wie die schweren Waffen, die den Vormarsch hätten stoppen können. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi konstatiert zufrieden: «Putin ist nicht mehr in Moskau». In diesem Stadium ergeben Recherchen mit offenen Quellen erste Hinweise darauf, was vor sich geht; auf Online-Flugtrackern ist ein merkwürdiges Ballett von Flugzeugen zu beobachten, ein reger Flugverkehr zwischen der Hauptstadt und Sankt Petersburg: Die Oligarchen ergreifen die Flucht.
Für den unerwarteten Ausgang dieses Beinahe-Putschversuchs sorgt ein hilfreicher Deus Ex Machina: der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko. Dieser erklärt auf einem inoffiziellen Telegram-Kanal, er habe den Stopp der Wagner-Truppenbewegungen und eine Deeskalation ausgehandelt. Lukaschenko, der zum Präsidenten aufgestiegene ehemalige Kolchosenchef, gefällt sich in seiner erfundenen Verhandlungsrolle für Russland und den Westen zugleich und sonnt sich in einer kurzen Glanzzeit. Gleichzeitig erkauft er sich damit eine Lebensversicherung bei Putin und die Dienste eines Geschäftevermittlers in Afrika für seine Komplizen Viktor Schejman und Alexander Singman.[2] Per Satellit beobachten wir die Entstehung einer neuen, 24.000 Quadratmeter großen Militärbasis nahe Minsk. Kurz nach Lukaschenkos Wortmeldung erklärt Jewgeni Prigoschin, seine Männer würden in ihre Lager zurückkehren, um ein Blutvergießen zu verhindern. Vom 1100 Kilometer südlich von Moskau gelegenen Rostow aus haben sie mithilfe von Satellitenbildern, die das Firmenimperium ihres Anführers kürzlich an sich gebracht hatte, ungehindert und sogar unter Zuspruch der Zivilisten 780 Kilometer zurückgelegt. In den folgenden Tagen bemühen sich die russischen Behörden darum, den Namen Prigoschin aus der Öffentlichkeit zu tilgen. Absolute Funkstille auf den Sendern des Pressedienstes seiner Konkord-Holding. Seine Medien werden zensiert. Er existiert nicht mehr, wie verschluckt von der Geschichte.
Jewgeni Prigoschin hat sein eigenes Totenglöckchen geläutet. Wie erklärt sich diese doppelte Wendung: der Verbündete, der zum Verräter mutiert, der Meuterer, der in die Kaserne zurückkehrt? Und wie zerschlägt man jenseits der Ukraine das Netz einer Miliz, das sich über die ganze Welt gelegt hat? Der russische Außenminister Sergej Lawrow bemüht sich über das ganze Wochenende, die afrikanischen Verbündeten zu beruhigen, die sich fragen, wie ihr Regime sich ohne die Dienste Wagners halten sollen. Wer will schon einen instabilen, geschwächten Partner? Obendrein befindet Swetlana Tichanowskaja, die belarussische Oppositionsführerin im Exil, die Unterbringung Prigoschins nahe Minsk bedeute «ein weiteres Element der Instabilität» in ihrem Land, das nicht «noch mehr Kriminelle und Schlägertypen» brauche.
Zwar hatte diesen Paukenschlag niemand kommen sehen, doch angeblich wussten westliche Geheimdienste bereits seit einigen Wochen, dass etwas im Busch war. Wladimir Putin dagegen erfuhr von Prigoschins Absichten offenbar erst 24 Stunden im Voraus.
Eine erste mögliche Erklärung für dieses Pokerspiel: Sergej Schoigu hatte bekanntgegeben, ab dem 1. Juli 2023 müsse das gesamte bei paramilitärischen Organisationen unter Vertrag stehende Personal einen Vertrag mit der regulären Armee unterzeichnen. Bei den meisten Organisationen fand das breite Zustimmung, doch für die Wagner-Truppen hätte das nach zehn Jahren eines höchst einträglichen Business wahrscheinlich das Ende der Unabhängigkeit bedeutet. Vor dieses Ultimatum gestellt, hätte Jewgeni Prigoschin versucht, die Autonomie und den Status seiner Gruppe zu retten. Doch die Karten in seiner Hand waren nur eine Kombination von Ass und Acht, die Dead Man’s Hand. Man könnte meinen, Prigoschin wollte in die Praxis umsetzen, was er schon in Tolstois Krieg und Frieden hätte lesen können: «Der Mensch hat Macht über nichts, solange er den Tod fürchtet. Und wer ihn nicht fürchtet, dem gehört alles.»
Eine zweite Erklärung: ein weiterer Tobsuchtsanfall des Wagner-Chefs, der wegen seiner extremen Wortwahl schließlich sich selbst zum Opfer fällt. Prigoschin ist weder Ideologe noch Politiker, ja nicht einmal Militär. Als einflussreicher Unternehmer baute er sein Vermögen über den Krieg auf, und es ist ein Leichtes für ihn, die Arroganz, die Inkompetenz, die Dummheit der getroffenen Entscheidungen sowie die Korruption im Umfeld der führenden Offiziere in den regulären Streitkräften anzuprangern. Ein Artikel beschreibt das so: «Er überwacht alles, er ist unzufrieden, selbst wenn die Ergebnisse gut sind. Einer seiner wiederkehrenden Witze besteht darin, mit der Pistole in der Hand ins Büro seiner Angestellten zu kommen und zu rufen: ‹Los, komm, wir müssen reden, ich leg dich um.› Dass man in einem Autounfall oder durch einen Dolchstoß in den Rücken auf der Straße sterben kann, hat jeder, der bei ihm arbeitet, ständig im Kopf …».[3]
Obwohl er zur Durchsetzung seiner militärischen Ziele kaltblütig zahlreiche Menschenleben opfert, hat er sich den Ruf verschafft, seine Soldaten zu verteidigen, vor allem, indem er in den Schützengräben an ihrer Seite steht. Ein Beispiel dafür war die Einnahme von Bachmut nach einer grausamen Schlacht. Ostentativ inszeniert er seinen Respekt vor dem Gegner, indem er die Rückgabe Dutzender in die blau-gelbe Flagge gehüllter Särge mit im Kampf getöteten ukrainischen Soldaten organisiert. Beim Begräbnis seiner Söldner in den russischen Provinzen kritisiert er vehement die Beamten, die sich weigern, an militärischen Ehrungen teilzunehmen. Es erstaunt nicht, dass er seinen Aufstand gegen die Moskauer Hierarchie einen «Marsch für die Gerechtigkeit» nennt: Mit seinem häufig vulgären Gefängnisjargon verkörpert er den Frust großer Teile der Streitkräfte und spricht offen aus, was viele im Stillen denken.
Diese symbolische Rolle des Sprechers an der Front veranlasste Wladimir Putin lange dazu, sich zurückhaltend und vorsichtig zu zeigen und mit den Übertreibungen und öffentlichen Verunglimpfungen der offiziellen Militärhierarchie ungewöhnlich tolerant umzugehen. Doch obwohl Jewgeni Prigoschin seit über 20 Jahren in den Innersten Kremlkreisen ein- und ausgeht, ist er nicht auf Lebenszeit in Sicherheit. Andere Oligarchen mussten erleben, wie die Allmacht aus Moskau ihre Imperien schon für weniger als das zerschlugen.
Mit dem Verlassen der Kasernen haben der Milliardär und seine Männer eine rote Linie überschritten, jetzt geht es nicht mehr zurück. Die Begriffe «Aufstand», «Hochverrat» und «Stich in den Rücken» klingen im Mund des Kreml-Herrschers wie Todesurteile. Wer sich unter Putin der Veruntreuung schuldig macht, kann ungestraft davonkommen, verschont oder einfach verstoßen werden. Doch wer als Verräter wahrgenommen wird, kann in keinem Fall mit Begnadigung rechnen.
Kaltblütig plant der Kreml seine Rache und bereitet sie in den Wochen nach dem Gewaltstreich sorgfältig vor. Die ukrainischen Schützengräben haben sich nicht geleert, auch wenn Schoigus Aufruf wenig Erfolg hatte. In Afrika arbeitet der Kreml an möglichen Szenarien für die Nachfolge Wagners, und Moskau holt sich die Kontrolle über die Operationen zurück. Prigoschin glaubte sich unverzichtbar zu machen, indem er seine Privatinteressen persönlich vertrat und mit den russischen Ambitionen verwob: In den zwei Monaten nach seiner Meuterei bleibt er sichtbar – bis die russische Obrigkeit einen Plan B aufgestellt hat. Alle Vorwürfe gegen ihn werden fallen gelassen, Wladimir Putin empfängt ihn sogar persönlich. Auch das Bargeld, das in seinen Sankt Petersburger Büros beschlagnahmt wurde, wird zurückerstattet. Putins Leute erklären in Telefonaten und eiligen Auslandsreisen mit großer Vehemenz, dass Wagner seine Aktivitäten außerhalb Russlands und der Ukraine fortsetzen werde. Ob Wagner, Mozart, Schubert, Chopin oder Strawinsky, die Botschaft ist klar: Der Kreml ist fest entschlossen, auf der internationalen Bühne weiterhin als Schwergewicht mitzuspielen und dabei den Geist Wagners fortzuführen. Doch obwohl die Meuterei gescheitert ist, bleibt das Unbehagen. Es hat sich eine Flanke geöffnet, und die Zukunft des Ukraine-Kriegs und die Stabilität der Regierungen, die auf Wagner gesetzt haben, ist ungewisser denn je. Eines jedenfalls ist sicher: Der russische Präsident befindet sich in der bislang schwierigsten Phase seiner Herrschaft.
An den Grenzen kursieren Gerüchte. Jacek Siewiera, Chef des polnischen Nationalen Sicherheitsbüros, befürchtet, «das Risiko für Polen [liege] in der Zahl von Wagner-Söldnern, die in Minsk verbleiben». Warschau und die baltischen Staaten haben bereits eine Verstärkung ihrer Grenztruppen angekündigt. Es handelt sich freilich um eine Panikreaktion, die keine dauerhafte Stationierung zur Folge hat. Auf Seiten der Wagner-Angehörigen scheint der Befehl, sich in die regulären Streitkräfte einzugliedern, wenige Tage nach dem Stichtag vom 1. Juli nur wenig Wirkung gezeigt zu haben. Präzise Zahlen sickern nirgends durch. Und der Wagner-Chef selbst bleibt erstaunlich verschwiegen, bis er Ende Juli in Jeans und weißem Polohemd auf dem Russland-Afrika-Gipfel auftaucht und sich an der Seite der afrikanischen Delegationen ablichten lässt. Am Verhandlungstisch mit den verschiedenen afrikanischen Gipfelteilnehmern sitzt er zwar nicht, doch die Kommunikation wird wieder voll hochgefahren. Und zwar mit einer Parole: Afrika.
Ein weiterer Paukenschlag folgt am 23. August, auf den Tag genau zwei Monate nach der gescheiterten Meuterei: Zwischen Moskau und Sankt Petersburg stürzt ein Privatjet mit dem Kennzeichen RA-02795 ab. Es gehört Jewgeni Prigoschin und transportiert den Chef und eine Handvoll Führungspersönlichkeiten der Gruppe Wagner. Der Mann, den Wladimir Putin am Tag nach seinem Marsch als Verräter bezeichnet hatte, war nicht sofort eliminiert worden, aber alle wussten, dass seine Tage gezählt waren.
Die Meldung überrascht also niemanden, aber die Geschwindigkeit, mit der sie sich ausbreitet, fällt auf. Der Kreml will die Nachricht von Prigoschins Tod schnellstmöglich verbreiten. Die russischen Behörden, die im Umgang mit solchen Belangen sonst eher als träge gelten, verlieren diesmal keine Minute. Die russischen Luftaufsichtsbehörden berichten schnell über den Zwischenfall. Die Passagierliste der Maschine wird nur Stunden später online gestellt. Schnell werden die Namen der beiden Wagner-Schlüsselfiguren, Jewgeni Prigoschin und Dmitri Utkin, genannt und im russischen Fernsehen endlos wiederholt. Andere Namen fallen, etwa der von Waleri Tschekalow, Leiter von Wagners Logistik und Aktionär von Evro Polis, dem Unternehmen, das die Bezahlung der Söldner, des syrischen Erdöls und der Waffeneinkäufe abwickelt. Die übrigen Passagiere sind Teilnehmer an vergangenen Militäroperationen der Gruppe im Ausland sowie Besatzungsmitglieder.
Der Schlange wurde der Kopf abgeschlagen. Behördlichen Angaben zufolge wurden alle Leichen geborgen und DNA-Analysen veranlasst. Das Leben geht weiter, hier gibt es nichts mehr zu sehen. Putin verschanzt sich im Kreml (gegen ihn läuft ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen) und nimmt per Videokonferenz am Gipfel der BRICS-Staaten in Südafrika teil, ohne dabei ein Wort über die jüngsten Ereignisse zu verlieren. Auch sein Sprecher Dmitri Peskow lässt nichts heraus. Der Unfallhergang bleibt weitgehend im Unklaren. Auf den Online-Flugtrackern ist nichts Ungewöhnliches zu sehen, der Flug verlief ohne Zwischenfälle. Der Plan ist perfekt. Es gibt Spekulationen über den Abschuss einer Flugabwehrrakete von einem Standort nahe Twer, wo die Maschine abstürzte. Die Rede ist auch von einer Kiste teuren Weins, die in letzter Minute an Bord gebracht wurde und möglicherweise eine versteckte Bombe enthielt, oder von einem wenig plausiblen Angriff durch ukrainische Drohnen. Am 21. Januar 2024 veröffentlicht die Financial Times ein Porträt des Leiters des ukrainischen Militärnachrichtendienstes Kyrylo Budanow, der den Tod von Putins Koch implizit infrage stellt. «Was Prigoschin angeht, würde ich keine so vorschnellen Schlüsse ziehen. Ich sage nicht, er ist nicht tot oder er ist tot. Ich sage, dass es keinerlei Beweis für seinen Tod gibt.»[4] Selbst post mortem sorgt Prigoschin also noch für Spekulationen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Sache nie vollständig geklärt werden. Nur eines ist sicher: Wladimir Putin hat wieder alles unter Kontrolle.
Wenige Tage vor dem Absturz seines Flugzeugs hat Prigoschin von Mali aus wieder die Rekrutierung seiner Tuppe angekurbelt; dieses letzte Video bleibt ein ultimatives Ehrengefecht zur Rettung der Lage. Es heißt, er wurde überstürzt nach Afrika entsendet, um bei seinen afrikanischen Klienten die bekannten Positionen zu bestätigen – die Initiative lag diesmal direkt bei den russischen Sicherheitsdiensten; bei Putin ist das die einzige Überlebensgarantie. Russland verfolgt unterdessen seine Ambitionen in Afrika, ein nützlicher Schachzug für seinen Ukraine-Krieg und die Ausstrahlung seiner Macht. Die Nachfolge scheint bereits weitgehend geregelt, nämlich unter der Führung des stellvertretenden russischen Verteidigungsministers Junus-bek Jewkurow. Dieser wird in Libyen vom Oberbefehlshaber der lybischen Streitkräfte, Khalifa Haftar, empfangen, insbesondere um auszuhandeln, wie Wagner aus dem Land vertrieben werden kann. Nach einem Jahrzehnt der Experimente mit der Gruppe will der Kreml offenbar zwei neue private Militärunternehmen gründen: Redut und Convoy. Wie Wagner werden sie von regierungsnahen Geschäftsleuten finanziert. Allerdings unterstehen diese neuen PMC-Versionen wohl direkter der Steuerung durch den russischen Militärnachrichtendienst (GRU). Um nicht den Machthunger einer neuen Diva zu schüren, werden die bestehenden Missionen auf verschiedene Einheiten und Dienste des russischen Sicherheitsapparats verteilt: Teile und herrsche. Ein Mann tritt beim Russland-Afrika-Gipfel aus dem Schatten und begleitet Jewkurow auf seiner Afrika-Reise: Generalmajor Andrej Awerjanow, Leiter der Geheimoperationen der GRU und zuständig insbesondere für die Vergiftung nach Europa geflüchteter russischer Spione. In den neuen privaten Militärunternehmen finden sich Ehemalige der Gruppe Wagner, während Pawel Prigoschin, Sohn und Erbe des «Kochs», die Übertragung von Wagners militärischen Aktivitäten an die Nationalgarde verhandelt. Die zuständigen Offiziere der SWR (russischer Auslandsgeheimdienst) nehmen in Anzug und Krawatte einzelne Sparten von Prigoschins Afrika-Geschäften in Beschlag. Dabei ist nicht geplant, die Beute zu zerlegen, sondern eher, sie sich als Ganzes anzueignen. Ende 2023 werden auf dem Flughafen von Ouagadougou (Burkina Faso) 50 Mann in Kampfanzug ohne Abzeichen gesichtet. Wagner nimmt den Namen Africa Corps an – die Anlehnung an Rommels Afrika-Truppen ist nicht zu überhören. Im Frühjahr 2023 formiert sich auf der Krim eine Brigade freiwilliger Kämpfer, die Medvedi (russisch für Bär), um an der russischen Offensive teilzunehmen. Im Sommer unterschreibt die Brigade einen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium und wird in die GRU (Einheit 35555) integriert. Nach einem Treffen mit Junus-bek Jewkurow beziehen 100 Männer der Medvedi ab Dezember 2023 an der Seite des Afrika Corps ihr afrikanisches Quartier.[5]
Während die Umstände des Absturzes vom 23. August im Unklaren bleiben, sind die Sympathisanten der Gruppe sprachlos und versuchen die Realität des Ereignisses zunächst zu leugnen. Manche rufen zum Marsch gegen die auf, die ihren Anführer getötet haben, sollte er doch nicht wieder auftauchen – ist Prigoschin schließlich nicht ein Meister in der Kunst der Intrige? Bereits bei einem Flugzeugabsturz im Kongo 2019 war er für tot erklärt worden, um danach umso lebendiger wieder aufzutauchen. Diesmal sind die Umstände anders, und auch seine Unterstützer glauben am Ende an seinen Tod: Im Netz teilen sie Zeugenberichte und Unterstützungsbotschaften an die gefallenen Führer und rufen dazu auf, keine Fehlinformationen zu verbreiten. Das Sankt Petersburger Wagner-Gebäude wird mit einem Kreuz beleuchtet, Blumen werden niedergelegt: ein Zeichen für die Beliebtheit der Söldnerführer. Am 29. August werden Prigoschin, Tschkalow und Utkin in aller Diskretion beerdigt. Die Korrespondenten westlicher Medien, die sich noch in Sankt Petersburg aufhalten, halten vergeblich Ausschau nach den Leichenwagen, um womöglich Bilder zu ergattern. Und Prigoschins Ehefrau Ljubow Prigoschina erklärt dem unabhängigen, von einem Putin-Gegner finanzierten Investigativbüro Dossier Center, sie werde ihren seit langem geplanten Familienurlaub in Indien fortsetzen.
Im Mai 2023 hatte Prigoschin eine Frage der britischen Zeitung The Guardian nach den Übergriffen der Gruppe Wagner in Mali mit einem russischen Sprichwort beantwortet: «Versuch nicht gegen den Wind zu pissen, sonst riskierst du, in den Spritzern zu ertrinken.» Es klingt nach einem Orakel für den, der es wagte, Wladimir Putin herauszufordern.
Mai 2023
«Ich glaube an Gott, Mozart und Beethoven.»
Richard Wagner
Zwei Jahre nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs erleben wir die Bestätigung eines Satzes aus Benjamin Constants verfassungstheoretischen Schriften: «Manche Regierungen können, wenn sie ihre Legionen von einem Pol an den anderen verlegen, immer noch von der Verteidigung ihrer Heimat reden; es ist, als würden sie all die Gebiete ihre Heimat nennen, in denen sie Feuer gelegt haben.»[1] Obwohl Constant Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb, resümiert dieser Satz frappierend exakt die Geopolitik unserer Tage. Erstmals seit dem Zerfall der UdSSR wird Russland wieder zum Feind. In seinen Reihen beansprucht die Gruppe Wagner eine Führungsrolle. Die Truppe, die in den Medien lange als «Putins Schattenarmee» firmierte, verunsichert in den zwei ersten Kriegsjahren die ganze Welt. Was sind ihre Geheimnisse, und wie funktioniert sie? Was folgt daraus? Um diese Welt zu verstehen, zwingt sich eine Recherche über offene Quellen geradezu auf. Und zwar ganz einfach deshalb, weil die Mythen und Legenden, die sich um das von einem Sankt Petersburger Oligarchen gesteuerte Universum ranken, im Internet allgegenwärtig sind. Mit den Mitteln der Online-Recherche und dem, was im Geheimdienst-Jargon Open Source Intelligence (OSINT) heißt, können wir die Umstände entwirren, die den Aufstieg Wagners und anderer privater Militärunternehmen (PMC) ermöglichten, aber auch nachvollziehen, was seit Prigoschins Tod in den Gebieten der Ukraine, Afrikas und des Nahen Ostens vor sich geht. Die Informationen, die als offene Quellen frei verfügbar sind, beleuchten auch den Kampf zwischen Prigoschin und Putin.
Die russische Regierung nutzt private Militärunternehmen als Werkzeuge, von denen sie sich immer distanzieren kann, für militärische, politische, strategische und ökonomische Zwecke. Die PMCs sind vor Ort und ermöglichen es Russland, seinen Einfluss auszuweiten, Kriege zu führen und Gebiete einzunehmen, in denen das Land offiziell gar nicht präsent ist. Auch bieten sie der Regierung die Möglichkeit, nicht ihre Toten zählen und sich um die trauernden Angehörigen kümmern zu müssen. Die bedeutendste PMC,Wagner, wächst weiter und entwickelt wie die lernäische Hydra ungezählte Köpfe. Um alle Schauplätze ihrer Operationen zu überblicken, ihre finanziellen Interessen in Bergbau und Forstwirtschaft zu durchdringen oder einfach nur die Einflussoperationen zu identifizieren, die von ihren Kommunikationsberatern, ihrer Nachrichtenagentur RIA FAN und ihren Trollfabriken lanciert werden, ist Teamarbeit unverzichtbar. Seit März 2022 verfolgt unser Kollektiv All Eyes on Wagner die Aktivitäten der russischen Söldner und geht Hinweisen auf Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftlichen Missbrauch nach. Hinter All Eyes on Wagner stehen passionierte Experten aus mehreren Disziplinen: Journalisten, Analysten und Historiker, die gemeinsam den Aktivitäten dieser Soldaten ohne Flagge nachgehen und die dahinter stehenden Strukturen begreifen wollen.
Die Arbeit des Kollektivs beruht auf der Sammlung und Auswertung von Informationen aus offenen, frei verfügbaren Quellen, aber auch auf der Sichtung von Datenlecks und von Berichten von Zeugen, ehemaligen Söldnern oder Kontaktleuten. Die Gruppe Wagner ist alles andere als ein streng geheimes Schattenuniversum, füttert sie doch die sozialen Netze mit ihrer eigenen Propaganda, hinterlässt Spuren über das digitale Leben ihrer Mitglieder und entgeht weder der Digitalisierung ihrer Daten noch der russischen Verwaltung, die sich nur zu gerne mit Formularen jeglicher Art beschäftigt. Dabei ist diese Verwaltung so korrumpiert, dass spezialisierte Unternehmen ihr persönliche Daten oder Informationen abkaufen, um sie anderweitig weiterzuverkaufen. Seit 2014 liefert die gezielte Vermarktung aller Aktivitäten der Gruppe in den Medien Bilder, öffentliche Erklärungen und offizielle Mitteilungen sowohl in Russland als auch in den Zeitungen der umworbenen Länder. Dank des Aufstiegs der kommerziellen Satellitenbildgebung können wir beobachten, wie in Zentralafrika Militärlager entstehen, in Libyen eines ihrer Flugzeuge brennt oder in Mali Dörfer nach dem Durchzug einer russischen Einheit in Schutt und Asche liegen. Die Geolokalisierung und die Abgleichung von Firmenadressen, die Zusammenstellung von Telefonnummern oder die Analyse der IP-Adressen von Websites geben uns zahlreiche Hinweise, aus denen wir am Bildschirm die Puzzlestücke zusammensetzen können. Informationen aus offenen Quellen nutzbar zu machen, erfordert allerdings Kreativität. Die Informationen können gefakt oder fehlerhaft sein. Um die Anwesenheit von Söldnern aufzudecken, haben wir auch Telegram untersucht, um in Echtzeit zu verfolgen, wie Russen in der Nähe malischer Militärbasen Fußballergebnisse nachsehen. Im Februar 2022 waren die Vorzeichen des Einmarsches an den Staus Richtung Ukraine auf Google Maps sichtbar; beinahe kein Hinweis dagegen drang beim Marsch von Juni 2023 durch, ausgenommen Prigoschins Audio-Nachrichten auf seinen Kommunikationskanälen. Der Söldnerboss hatte das Startsignal gegeben, noch bevor die Bühne frei war.
Nach dem Sturz Prigoschins sieht es ganz anders aus. Der Telegram-Kanal, der fast täglich den Vormarsch der Wagner-Gruppe kommentierte, ist verstummt. Die Söldner geben sich diskreter, ihre Anführer wechseln, doch auch sie hinterlassen Spuren. Schon der Vater der polizeilichen Kriminaltechnik Edmond Locard (1877–1966) sagte: «Tatsächlich kann niemand mit der Intensität tätig sein, die für kriminelle Handlungen nötig ist, ohne dabei vielfältige Spuren zu hinterlassen.» Spuren also gibt es – nur muss man sie auch lesen können. Herauszufinden, wer aus dem Trümmerhaufen des Wagner-Imperiums als neuer Anführer hervorgehen wird, erfordert fast hellseherisches Talent. Die Nachrichten in den sozialen Medien sind diffus, bei der Untersuchung der Fotos aus afrikanischen Präsidialbüros lassen sich mehrere Russen identifizieren, die von Moskau abhängen. Wahrscheinlich, aber immer noch als RUMINT[2] zu bezeichnen ist, dass der russische Geheimdienst wieder die Kontrolle übernehmen und die Söldnermissionen verschiedenen Einheiten anvertrauen wird. So fallen im Herbst 2023 zunehmend neue Namen: Redut, Convoy, Fakel oderAfrica Corps. Das Ganze wird undurchsichtiger und die Analyse komplexer. Als etwa Denis Pawlow vom Kreml in die russische Botschaft von Bangui in Zentralafrika entsandt wurde, um die von Prigoschin und seinen Leuten hinterlassenen Geschäfte zu regeln, konnten wir seinen Spuren folgen und seine Zugehörigkeit zum russischen Auslandsgeheimdienst SWR nachverfolgen.[3] Die Ankunft von aus Moskau besoldeten Spionen verändert auch die Datenflüsse. Trotz allem ist Recherche immer noch möglich.
Abgesehen davon bleibt es eine Herausforderung, anhand offener Quellen über diskrete Menschen zu recherchieren, vor allem im Zeitraum von 1990 bis 2010. Das Internet boomt erst ab der Jahrtausendwende, und auch da gibt es zunächst noch keine Web-Archivierung für Rückblicke in die Vergangenheit. Für diese Zeit sind unsere Quellen daher Pressearchive und Gesetzessammlungen, die den Kontext des Söldnerwesens im postsowjetischen Raum beleuchten. Um Zugriff auf diese Dokumente zu erhalten, braucht man keine Finten und Tricksereien und erst recht keine Hacker: Die Arbeit erledigen Suchmaschinen wie Google oder sein russisches Äquivalent Yandex. DeepL hilft uns, fremdsprachige Texte zu verstehen. Konflikte wie die in Libyen, Syrien oder später in der Ukraine produzieren nie dagewesene Mengen von Fotos, Videos und Dateien, in die wir uns vertiefen.
Heute wird es immer schwieriger, Spuren im digitalen Raum vollständig unter Kontrolle zu halten, und noch schwieriger für die PMCs, bei ihren Rekruten die strikte Einhaltung von Sicherheitsregeln durchzusetzen. Wir haben sensibles und umstrittenes Material bearbeitet: Datenleaks aus Hacking-Operationen, zur Verfügung gestellt von Organisationen, die auf das Sammeln solcher Materialien oder Medien spezialisiert sind. Nehmen wir zum Beispiel das Kollektiv DDoSecrets, eine Aktivistengruppe, die die Daten einer Anwaltskanzlei des Wagner-Chefs oder auch Dokumente der russischen Zensurbehörde veröffentlicht hat.[4] Diese geheimen Dokumente der Wagner-Struktur sind Produkte eines ständigen Cyberkriegs und stammen vollständig aus Leaks; das Kollektiv evaluiert, kontextualisiert und verifiziert sie, um Erkenntnisse zu gewinnen, die für ein Verständnis der Aktionen und der Organisationsstruktur der Gruppe essenziell sind. In bestimmten Fällen erreicht uns eine Information, ein Bericht oder ein Auszug aus dem Handelsregister über verschiedene Akteure vor Ort, und das hilft uns, Analysen und Hypothesen abzugleichen. Übrigens werden bei OSINT die Spuren dieser Recherchen grundsätzlich gespeichert. Die digitalen Inhalte werden daher auf Websites wie Internet Archive[5] archiviert und auf Computern gesichert. Der Workflow aus Sammeln und sicherer Speicherung des Projekts garantiert, dass der Originalinhalt nicht durch Löschung verloren geht. Analysiert und kontextualisiert lassen sich aus diesen Informationen nach und nach Antworten auf Fragen nach «wer, was, wann, wo, wie viel und warum?» gewinnen, um zu verstehen, was das Wagner-Imperium eigentlich ist und wie seine Nachfolge organisiert wird.
In Bereichen wie dem Kampf gegen Straffreiheit, dem Einsatz für die Menschenrechte und in Fragen der Verantwortung gewinnt die Open-source-Recherche immer mehr Raum. Medien, Justiz und Polizei nutzen diese Recherchemethoden bei der Umsetzung ihrer Ermittlungen heute ergänzend zur Arbeit vor Ort. In den Gerichtssälen finden sie immer mehr Anerkennung, und sie werden für die juristische Anwendung untersucht und getestet. Die Universität Berkeley publizierte 2020 ein OSINT-Rechercheprotokoll, das Berkeley Protocol on Digital Open Sources Investigations, mit Ratschlägen zur Nutzung öffentlich zugänglicher digitaler Inhalte bei der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen. Wir vervollständigen und prüfen das durch den Abgleich von Gesprächen mit ehemaligen Mitgliedern dieser Welt und vor allem mit Aktivisten und Journalisten vor Ort, die die Wagner-Aktivitäten hautnah miterleben.
Mit diesem Vorgehen versucht All Eyes on Wagner, die Gruppe Wagner in Zukunft für ihre Übergriffe haftbar zu machen. Wegen ihrer Beteiligung an den Kämpfen in der Ukraine wurde die Söldnergruppe als transnationale kriminelle Organisation eingestuft. In Washington begründete man diese Entscheidung mit den von Wagner in der Ukraine verübten Menschenrechtsverletzungen, dem Einsatz von Waffen nordkoreanischer Herkunft (laut ukrainischem Geheimdienst ist Pjöngjang im Januar 2024 weiterhin wichtigster Waffenlieferant für den Kreml[6]) und mit der Rekrutierung von Strafgefangenen im Gegenzug für ihre Freilassung. Zu einem ähnlichen Urteil kam am 9. Mai 2023 das französische Parlament, als es Paris und Brüssel dazu aufrief, die Gruppe Wagner auf die Liste terroristischer Organisationen zu setzen. In Berlin verwies der Bundestag nach der Debatte vom 25. Mai 2023 den Antrag «Russische Wagner-Gruppe jetzt auf die Terrorliste» zur weiteren Beratung in den Auswärtigen Ausschuss.[7] Wenn auch Tonfall und Begründung nicht überall dieselben sind, so stärken diese Beschlüsse doch die internationalen Rufe nach entschiedenem Handeln und vor allem nach einer Verurteilung der kriminellen Machenschaften der Gruppe.
Bevor die Wagner-Söldner weltweit Bekanntheit erlangten, waren sie bereits das bevorzugte Rechercheobjekt der OSINT-Community, also von Nerds, die am Computerbildschirm digitalen Spuren nachgehen. Ab 2015 posteten die Söldner regelmäßig Selfies aus dem Donbass und aus Palmyra. Informationen waren in erheblichem Umfang online verfügbar; ein groß organisiertes Ermittlungs- und Rechercheprojekt existierte aber nicht. Dieser Gedanke keimte erstmals bei OpenFacto, dem frankophonen Rechercheverbund für offene Quellen. Die 2019 gegründete Vereinigung hat sich zum Ziel gesetzt, bei Journalisten, Studierenden, Ermittlern und Nerds für die von der NGO Bellingcat popularisierten digitalen Recherchetechniken zu werben. Zeitgleich mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs wird All Eyes on Wagner lanciert. Was ursprünglich als Projekt für verregnete Sonntage gedacht war, nimmt plötzlich ganz andere Ausmaße an und erhält besondere Bedeutung. Unsere als Kollektiv organisierten Mitglieder gruppieren sich frei um einen kleinen, dauerhafteren Kern. Über das Netzwerk der OSINT-Communitys beginnen wir, mit anderen Organisationen und mehreren Medien zusammenzuarbeiten.
Je länger der Krieg dauert, desto stärker eint der Gedanke, Putins nicht wirklich geheime Armee ans Licht zu ziehen. Die Jagd ist eröffnet, wir tauschen in Arbeitsgruppen Informationen und Dokumente aus, die auf das aktuelle Geschehen reagieren oder die einzelne Mitglieder von ihren Reisen mitbringen. Ab September 2022 stehen wir im Kontakt mit dem Dossier Center. Über Monate hinweg kommt es zum Austausch mit der Analystin Lena[8] über die Aktivitäten der Gruppe Wagner und besonders über Dmitri Syty. Später erhalten wir über eine Quelle namens Lorax Zugriff auf Datenleaks aus einer Cyber-Operation zum Projekt DDoSecrets, aus denen wir erfahren, welche Schlüsselrolle Prigoschins Gruppe bei der innerrussischen Propaganda für den Staatsapparat spielt, in denen wir aber auch die E-Mails seines englischen Anwalts durchstöbern können. Wir begegnen Alexandra Jousset und Ksenia Bolchakova, den Empfängerinnen der berühmten Wagner Leaks, ein Bündel von Datenleaks, die wir nutzen werden, um unsere Untersuchung über die Finanzierung des panafrikanischen Aktivisten Kemi Seba durch die Gruppe Wagner zu vervollständigen. Mitte Juni 2023 begegnen wir in einer Pariser Bar schließlich der amerikanischen Analystin Candace Rondeaux persönlich und können unseren monatelangen Austausch über die Aktivitäten der Gruppe Wagner fortsetzen. Aus all diesen Kontakten entsteht eine Zusammenarbeit, und allmählich bildet sich eine zivile Gemeinschaft, die bereitsteht, um Prigoschin und das russische Söldnerwesen genau unter die Lupe zu nehmen. Der Medienrummel um Wagner, den verschiedene westliche Staaten erheblich fördern, ermöglicht uns schließlich, unsere Kräfte zu bündeln, um all die Aktivitäten Wagners offenzulegen.
Im Frühsommer 2023 scheint die Situation in Afrika stabil. Doch der Putsch in Niger am 26. Juli verändert die Lage und ebnet den Weg für eine russische Partnerschaft dort. Für Teile der öffentlichen Meinung bleibt Moskau die einzige Zuflucht angesichts der Arroganz und der Bevormundung durch den Westen. Die Russlandfreundlichkeit wird auch über die Tweets und Likes der pro-Putinschen Influencer vor Ort gefördert. Der franko-beninische Aktivist Kemi Seba, lautstarker Verfechter des Panafrikanismus, und die Schweizerin Nathalie Yamb äußern offen ihre Unterstützung des russischen Ukraine-Kriegs. Für Überraschung sorgt diese «Putinophilie» eigentlich nur im Westen. Afrika hofft, mit russischer Hilfe seine Unabhängigkeit zu vollenden. Der Kreml bietet sich als pragmatischer Handelspartner an (zunächst auf dem Rüstungsmarkt), aber auch als so effizienter wie gefürchteter Sicherheitsgarant im Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen und als Schutzwall gegen Destabilisierungsversuche – Arabischer Frühling, Rosen- und Orangene Revolution oder Regimestürze –, die vom Westen aus gefördert werden. Wladimir Putin beziffert die russischen Waffenverkäufe nach Afrika zu diesem Zeitpunkt auf 15,25 Milliarden Euro.[9] In den Folgemonaten werden bilaterale Abkommen initiiert (etwa mit Kamerun im April 2022), und zwar nach dem einfachen Prinzip Waffen gegen Rohstoffe. Russland ist inzwischen der größte Waffenlieferant Afrikas und hat viele Länder von sich abhängig gemacht. Der russische Präsident aber beweist in seiner geopolitischen Vision weiterhin seine Hybris. Die Wirklichkeit holt die Fiktion ein: Bereits in dem Film Ein neuer Russe von 2002 heißt es: «Sehen Sie, Sie haben zwei Hände, die linke und die rechte, nicht wahr? Der Kreml aber hat Dutzende Hände, wie die Hindu-Gottheit Shiva. Und all diese Hände essen gern … ja, gern und sehr gut. Manchmal ist die linke sogar darauf aus, der rechten ihr Steak wegzunehmen.»[10]
Putins Geheimarmee wird weltweit die Truppe, die man nicht beim Namen nennen kann. Dieses Buch erzählt ihre Geschichte. Die Geschichte einer Miliz, die Putin erfand, um seinen imperialistischen Ambitionen zu dienen, und die am Ende seine eigene Macht herausfordert und damit womöglich als Vorbote dafür steht, dass sein Reich erste Risse bekommt. Dieses Buch erzählt auch von der Entstehung der Gruppe im Schatten des Kremls und davon, wie sie die Mittel für eine kraftvolle Politik der Einflussnahme entwickeln und testen konnte: Wagner oder die Erfindung einer Marke, die nur noch auf Ableger wartet.
Wenn wir all dieses Material aus frei verfügbaren Quellen sammeln, überprüfen und sichtbar machen, dann auch und vor allem, um der pro-russischen Propaganda etwas entgegenzusetzen. Sich mit den Finanzgeschäften von Wagner zu beschäftigen, zahlt sich manchmal konkret aus. Im Dezember 2022 stießen wir im Journalisten-Konsortium European Investigative Collaborations auf ein unbekanntes Unternehmen aus dem Wagner-Universum: Diamville. Dieses mysteriöse Gefüge dient zum Weiterverkauf von Diamanten aus Zentralafrika. Drei Monate nach unserer Untersuchung setzte die Europäische Union Diamville auf die Liste der sanktionierten Unternehmen (Einfrieren der Vermögenswerte, Finanzierungsverbot); die USA folgten Ende Juni 2023.
Seit 2014 – oder sogar noch früher – haben wir alles vor Augen; heute stehen die Ukraine, Mali und die Zentralafrikanische Republik im Fokus. Doch vergessen wir nicht: Zu den umfassendsten Militäraktionen kam es in Syrien, wo mehrere paramilitärische Gruppen kamen und gingen, und auch in Libyen stehen die russischen Söldner. In Europa hat Wagner seinen Zenit erreicht, und selbst wenn die «Spezialoperation» in der Ukraine enden sollte, bleiben das Unternehmen und seine Ableger doch in Afrika präsent, wo sie vom schwindenden Einfluss Frankreichs auf seine ehemaligen Kolonien profitieren. Neben dem Schauplatz Ukraine stehen politische Manöver und wirtschaftliche und strategische Machenschaften in Ländern wie Sudan, Zentralafrika, Niger oder Gabun – sowie im Inneren Russlands.