Die Sommergäste - Tess Gerritsen - E-Book

Die Sommergäste E-Book

Tess Gerritsen

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Beschreibung

Ein heißer Sommer. Ein schrecklicher Leichenfund. Mehr als ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit, das dabei ans Licht kommt ...

Jahr für Jahr kommen die Sommergäste nach Purity und beziehen die imposanten Ferienhäuser am Maiden Pond – misstrauisch beäugt von den Anwohnern, die den reichen Großstädtern nicht über den Weg trauen. Als eines Tages ein Mädchen aus einer der Urlauberfamilien verschwindet und kurz darauf menschliche Überreste aus dem See geborgen werden, spitzen sich die Ereignisse in der Kleinstadt zu. Die Polizei ermittelt erfolglos – bis Maggie Bird und der »Martini-Club« ihre Expertise zur Verfügung stellen. Der Club mag zwar aus Spionen im Ruhestand bestehen – doch das Ermitteln verlernt man nie …


Für noch mehr Nervenkitzel lesen Sie auch die mitreißenden Thriller um Detective Jane Rizzoli & Gerichtsmedizinerin Maura Isles von Tess Gerritsen!

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Seitenzahl: 457

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Jahr für Jahr kommen die Sommergäste nach Purity und beziehen die imposanten Ferienhäuser am Maiden Pond – misstrauisch beäugt von den Anwohnern, die den reichen Großstädtern nicht über den Weg trauen. Als eines Tages ein Mädchen aus einer der Urlauberfamilien verschwindet und kurz darauf menschliche Überreste aus dem See geborgen werden, spitzen sich die Ereignisse in der Kleinstadt zu. Die Polizei ermittelt erfolglos – bis Maggie Bird und der »Martini-Club« ihre Expertise zur Verfügung stellen. Der Club mag zwar aus Spionen im Ruhestand bestehen – doch das Ermitteln verlernt man nie …

Autorin

Tess Gerritsen ist eine der erfolgreichsten Spannungsautorinnen der Welt. Nach ihrem Medizinstudium an der University of California arbeitete sie als Ärztin, bevor sie mit dem Schreiben von Romanen begann. Der große internationale Durchbruch gelang ihr mit den Thrillern um Detective Jane Rizzoli und Gerichtsmedizinerin Maura Isles, die als Inspiration und Vorlage für die bekannte TV-Serie »Rizzoli & Isles« dienten. Die Autorin lebt in einem ruhigen Städtchen in Maine, wo sie eines Tages eine verblüffende Entdeckung machte: Einige ihrer pensionierten Nachbarn waren früher als Spione tätig und führten ein aufregendes Leben, über das sie nicht sprechen dürfen. So entstand die Idee zu ihrer neuen Thrillerreihe um eine Gruppe von Spionen im Ruhestand, die noch lange nicht zum alten Eisen gehören.

Tess Gerritsen

DIE SOMMERGÄSTE

Thriller

Deutsch von Andreas Jäger

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »The Summer Guests« bei Thomas & Mercer, Seattle.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2025 by Tess Gerritsen

Published by Arrangement with TESSGERRITSENINC.

Dieses Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Limes, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Textredaktion: Gerhard Seidl

Covergestaltung: © www.buerosued.de

Covermotive: mauritius images (Jim Kidd / Alamy /Alamy Stock Photos); www.buerosued.de

SH · Herstellung: KH

Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31596-2V001

www.limes-verlag.de

Für Jacob

1

Purity, Maine, 1972

Am letzten Tag seines Lebens bestellte Police Officer Randy Pelletier im Marigold Café eine Tasse Kaffee und einen Blaubeer-Muffin.

Es war seine übliche Bestellung, wenn er die Nachtschicht hinter sich hatte – die Belohnung für die einsamen Stunden, die er in seinem Streifenwagen verbrachte, wenn es galt, die Straßen und Gassen seines Städtchens vor betrunkenen Autofahrern, leichtsinnigen Touristen und dem einen oder anderen tollwütigen Waschbären zu schützen. Er saß an seinem gewohnten Ecktisch am Fenster, wo er die Morgensonne genießen und zugleich das Geschehen auf der Main Street im Auge behalten konnte. Ein guter Polizist bleibt stets wachsam, auch wenn er nicht im Dienst ist. Und genauso wichtig war es, dass die Leute, die am Café vorbeikamen, ihn durchs Fenster sehen konnten. Sichtbarkeit bedeutete Sicherheit, und wenn es irgendwo Probleme gab, wussten alle in der Stadt, wo ihr Gesetzeshüter zu finden war: nämlich genau hier, am Fensterplatz im Marigold.

»Noch einen?«, fragte die Kellnerin und hielt die Kaffeekanne über seine Tasse.

»Aber klar doch, Carla.«

»Wie war die Nacht?«, fragte sie, während sie ihm ihr starkes schwarzes Gebräu einschenkte.

»Ziemlich ruhig.«

Sie lachte. »Und so haben wir es gern!«

»Allerdings.«

»Darf ich Ihnen noch einen Muffin bringen? Ich habe gerade einen frischen Schwung aus dem Ofen geholt.«

Für seine Figur war es sicher nicht gut, aber sein knurrender Magen war anderer Meinung, und so ließ er sich überreden. Wer konnte Carla schon etwas abschlagen, die den Ort so zuverlässig mit Klatsch und Backwerk versorgte? Während sie zur Küche zurückging, entfaltete er sein Exemplar der neuen Purity Weekly und überflog die Schlagzeilen auf der Titelseite: Sommer-Buchungen auf Rekordniveau … Schwarzbär in der Oak Street gesichtet … Verkehrsunfall mit zwei Verletzten. Er blätterte weiter zum örtlichen Polizeiprotokoll auf Seite drei. Dabei musste er es gar nicht lesen – er wusste auch so Bescheid über sämtliche Verkehrsdelikte und Notrufe der vergangenen Woche.

Cory, James, Boston, MA: Geschwindigkeitsüberschreitung

Simpson, Richard, Purity, ME: abgelaufene Zulassung

Allen, Jonathan, Augusta, ME: Trunkenheit in der Öffentlichkeit

Wiedemann, Scott, Albany, NY: Urinieren in der Öffentlichkeit

Alles in allem eine typische Juliwoche. Es war die Zeit, in der Purity zur Hälfte von auswärtigen Touristen bevölkert war, die hier ihren Urlaub verbrachten und sich hemmungslos dem Vergnügen hingaben, oft unter Alkoholeinfluss. Jeden Sommer fielen die Scharen hier ein, aus Massachusetts und New York und von noch weiter weg strömten sie nach Maine, um der Hitze und dem Gestank ihrer Städte zu entkommen. Es war Randys Job, sie daran zu hindern, sich oder anderen Schaden zuzufügen, ehe sie wieder abzogen – Letzteres hoffentlich mit etwas leichterem Geldbeutel.

Die Türglocke läutete. Randy blickte auf und sah zwei dieser Auswärtigen das Marigold betreten. Er wusste, dass die beiden Männer nicht von hier waren, denn sie trugen beide schwarze Lederjacken, obwohl es draußen an die zwanzig Grad warm war. Sie blieben an der Tür stehen und blickten sich im Café um, als ob sie die Lage auskundschaften wollten. Dann entdeckten sie Randy und erstarrten augenblicklich.

Ganz recht, meine Herren. Das Auge des Gesetzes wacht.

»Ein Tisch für zwei, Jungs?«, fragte Carla. Ein Gast konnte achtzig Jahre alt sein, und Carla würde ihn nicht nur immer noch »Junge« nennen, sie hätte auch kein Problem damit, ihm einen Klaps auf den Hintern zu geben, wenn er sich danebenbenahm.

»Äh, ja«, sagte einer der Männer schließlich.

Randy sah zu, wie Carla sie zu einem Tisch in der Nähe führte – nicht zu weit weg, sodass er sie im Auge behalten konnte. Sie griffen nach den laminierten Speisekarten und studierten das Frühstücksangebot einen Tick zu eifrig, als ob sie Randys Blick ausweichen wollten. Und noch ein Detail ließ ihn vermuten, dass es angebracht war, diese beiden genauer zu beobachten. Er war es eher gewohnt, sich mit rauflustigen Teenagern und betrunkenen Autofahrern herumzuschlagen, aber er wusste, dass auch größerer Ärger manchmal aus den Großstädten in die Provinz überschwappte, und er war sich sicher, dass er auch damit fertigwerden würde. Er konnte die Schlagzeile schon vor sich sehen, die auf der Titelseite der Purity Weekly prangen würde. Ach was, warum nicht gleich im Boston Globe?

Polizeibeamter aus Maine stellt im Alleingang per Haftbefehl gesuchtes Duo

Er wusste nicht, ob die Männer bewaffnet waren, aber es konnte nie schaden, vorbereitet zu sein, also ließ er die Hand sinken und klappte unauffällig sein Holster auf. Die beiden lasen die Speisekarte, die nur eine Seite lang war und nichts Exotischeres bot als French Toast und Spiegeleier. Es war noch ein weiterer Hinweis darauf, dass mit diesem Pärchen irgendetwas nicht stimmte.

Der Kleinere spähte unvermittelt über den Rand seiner Speisekarte zu Randy herüber. Es war nur ein Zucken seiner Augen, doch in diesem Moment trafen sich ihre Blicke. Randy fixierte den Mann, während er aus dem Augenwinkel sah, wie Carla mit der Kaffeekanne in der Hand auf den Tisch der beiden zuging. Gleichzeitig hörte er draußen auf der Main Street einen Motor aufheulen.

Er war so auf die beiden Männer konzentriert, dass er nicht mitbekam, wie der weiße Lieferwagen am Fenster vorbeiraste.

Er hörte das Quietschen von Reifen, das markerschütternde Krachen von Metall auf Metall und drehte sich zum Fenster um. Sah die Straße von Glasscherben übersät, und – du lieber Gott, lag da ein Mensch?

»Oh Gott!«, schrie Carla, die Kaffeekanne noch in der Hand, und starrte entsetzt aus dem Fenster.

Randy sprang auf und rannte hinaus auf die Straße. Das erste Opfer lag nur ein paar Meter vom Eingang entfernt in einer anschwellenden Blutlache. Es war ein Mann, sein Rückgrat so bizarr verdreht, dass es aussah, als wäre er auseinandergenommen und ganz verkehrt wieder zusammengesetzt worden, sodass die Füße nach hinten zeigten. Auf der anderen Straßenseite lag eine weitere Leiche – eine Frau, ihre rosa Bluse aufgerissen, eine volle Brust in obszöner Weise entblößt. Randy riss sich vom Anblick der Leichen los und schaute die Straße entlang, in die Richtung, aus der ein gellender Hupton kam. Eine dritte Leiche lag quer über der Fahrbahn – eine weitere Frau. Ihr Brustkorb war ganz eingedrückt, Orangen und Äpfel waren aus ihrer Einkaufstasche gerollt.

Am Ende des Häuserblocks stand ein weißer Lieferwagen, dessen Front sich in die Seite einer parkenden blauen Limousine gebohrt hatte.

Die Welt um ihn herum schien stillzustehen. Er ging an geschockten Passanten vorbei, die sich die Hand vor den Mund hielten, an den zwei Männern in Lederjacken, die ihm aus dem Café gefolgt waren und nun mit vor Entsetzen aufgerissenen Mündern dastanden. In der erstarrten Szenerie aus entstellten Leibern, Glasscherben und blutbespritztem Asphalt schien Randy das Einzige zu sein, was sich bewegte. Als er sich den verunglückten Fahrzeugen näherte, sah er die Aufschrift Möbelschreinerei Tarkin auf der Seite des weißen Lieferwagens. Er kannte diesen Wagen. Und er kannte den Fahrer. Schwarzer Rauch stieg aus dem Motorraum auf, ein erschreckender Vorbote weiteren Unheils.

Durch das Fahrerfenster erblickte er Sam Tarkin, der vornübergebeugt mit der Stirn auf dem Lenkrad lag. Randy riss die Tür auf. Er konnte kein Blut sehen, keine offensichtlichen Verletzungen, aber Sam stöhnte und zitterte.

Randy griff über Sams Schoß hinweg und löste den Sicherheitsgurt. »Du musst hier raus!«, rief Randy. »Sam? Sam!«

Plötzlich riss Sam den Kopf hoch, und Randy starrte einen Mann an, der wie Sam Tarkin aussah, mit Sams dunklen Haaren und Sams kantigen Gesichtszügen, aber die Augen … was stimmte da nicht mit den Augen? Die Pupillen waren zu schwarzen, bodenlosen Seen geweitet. Die Augen eines Aliens. Nein, diese schwitzende, zitternde Gestalt sah wie jemand anderes aus. Wie etwas anderes.

Randys Blick ging zu dem schwarzen Rauch, der unter der Motorhaube hervorquoll. Er musste Sam rausholen, auf der Stelle. Er packte seinen Arm und zog.

»Geh weg!«, kreischte Sam. »Lass mich los!« Er krallte nach Randys Gesicht, seine Fingernägel kratzten die Haut auf.

Ein stechender Schmerz durchzuckte Randy, und er spürte, wie ihm Blut über die Wange lief. Was soll der Scheiß, Mann? Von Wut gepackt, zerrte er Sam aus dem Lieferwagen, und sie fielen beide der Länge nach auf das Pflaster. Immer noch wehrte sich Sam mit Händen und Füßen. Im verzweifelten Versuch, den Mann zu bändigen, packte Randy Sams Hals mit beiden Händen und drückte zu. So fest, dass Sams Augen aus den Höhlen traten und sein Gesicht einen erschreckenden violetten Farbton annahm.

»Hör auf!«, schrie Randy. »Hör auf, dich zu wehren!«

Er spürte nicht, wie Sam nach seinem Holster griff – dem Holster, das er vorhin bereits aufgeklappt hatte. Plötzlich war da etwas vor seinem Gesicht – und er starrte in den Lauf seiner eigenen Waffe.

»Nicht«, sagte er. »Sam, tu’s nicht.«

Aber es war nicht Sam Tarkin, der ihm entgegenblickte.

Und es war nicht Sam Tarkin, der abdrückte.

2

Maggie

Heute

Es war der perfekte Sommerabend. Maggie und ihre Freunde saßen am Picknicktisch, schlürften Martini und beobachteten Vögel. Sie spähten durch ihre Ferngläser, während die Rauchschwalben über Maggies frisch gemähter Wiese tanzten und wirbelten wie dunkelblaue Konfettischnipsel. Alle waren entspannt und gut gelaunt und unbewaffnet.

Wobei sich Maggie nicht hundertprozentig sicher war, was den letzten Punkt betraf. Sie nahm lediglich an, dass niemand es heute Abend für nötig gehalten hatte, eine Schusswaffe einzustecken, und wozu auch? Sie wussten sich alle mit einer schlichten Glasscherbe effektiv zur Wehr zu setzen, und im Moment hielt jeder von ihnen ein Martiniglas in der Hand, das sich ohne Weiteres zerbrechen und zur Waffe umfunktionieren ließ. Doch ihr Gespräch drehte sich um weit harmlosere Dinge: Es ging um die Lektüre des Monats für ihren Buchclub: Die geheime Welt der Vögel. Maggie hatte das Buch ausgesucht, und deshalb war sie an der Reihe, das monatliche Treffen des Martini-Clubs (so hatten sie ihre feuchtfröhlichen Zusammenkünfte getauft) zu organisieren. Allzu viel Arbeit machte die Gastgeberrolle nicht, denn die Regel war, dass alle etwas zum Essen beitrugen. Maggies Hauptaufgabe – tatsächlich die wichtigste Aufgabe an diesen Abenden – bestand darin, eine ausreichende Auswahl an geistigen Getränken bereitzustellen. Und ausreichend bedeutete bei dieser Gruppe drei verschiedene Sorten Wodka, zwei Sorten Gin, trockenen Wermut, Rot- und Weißwein sowie als Digestif eine Auswahl von Single Malt Whiskys.

Es war ein herrlich warmer Tag, und so hatten sie Gin und Wodka, Wermut und Eiskübel nach draußen mitgenommen und sich an Maggies Picknicktisch gesetzt, wo sie den Blick über die wogenden Felder genießen konnten. Als Maggie vor drei Jahren nach Purity gezogen war, war es dieser Blick gewesen, der sie dazu bewogen hatte, Blackberry Farm zu kaufen und endlich sesshaft zu werden. Hier hatte sie so etwas wie Frieden gefunden. Im Sommer sammelte sie die Eier von ihrer Schar Legehennen ein und verkaufte sie auf dem örtlichen Bauernmarkt. Im Winter schaufelte sie Schnee, versorgte ihre frisch geschlüpften Küken und studierte die Saatgutkataloge für ihren Gemüsegarten.

Doch diese Abende mit ihren vier Freunden waren sommers wie winters ein festes Ritual. Sie kannte sie seit Jahrzehnten, lange bevor sie alle nach Purity, Maine, gezogen waren, wo sie jetzt ein unauffälliges Leben unter anderen Ruheständlern führten. Hier, wo die Leute nur wenige Fragen über ihren früheren Beruf stellten und nicht an ihren Geheimnissen rührten. Geheimnisse, die sie niemandem außerhalb ihres kleinen Zirkels anvertrauen würden.

Heute Abend hatte Ingrid Slocum die Rolle der Barkeeperin übernommen. Sie war schon dabei, die zweite Runde Martinis zu mixen, und schüttelte kraftvoll die Eiswürfel in dem Edelstahl-Cocktailshaker. Das muntere Rasseln versetzte Maggie zurück zu den Tagen in Camp Peary, auch bekannt als »die Farm«, wo vier von ihnen – Maggie, Declan, Ben und Ingrid – als angehende Geheimdienstoffiziere den Grundstein für ihre Freundschaft gelegt hatten. Wenn Maggie jetzt in ihre Gesichter blickte, konnte sie ihre Freunde immer noch so sehen, wie sie sie aus jüngeren Jahren in Erinnerung hatte: Ben Diamond, stiernackig und muskelbepackt, mit einem grimmigen Blick, der einen Angreifer vor Schreck erstarren lassen konnte. Die adleräugige Ingrid Slocum, die immer am schnellsten einen Ausweg aus jeder noch so ausweglosen Situation fand. Und Declan Rose, der elegante Diplomatensohn, der mit seinem charmanten Lächeln jeden – und jede – um den Finger wickeln konnte. Vier Jahrzehnte später waren ihre Haare grauer – oder in Bens Fall ganz abrasiert –, und mit der Zeit hatten sich die unvermeidlichen Falten und steifen Gelenke eingestellt, ebenso wie das eine oder andere Pfund zu viel. Doch die Veteranen der Farm waren immer noch die Vier Musketiere, unverzagt trotz der vorrückenden Jahre, stets bereit für neue Herausforderungen.

Und für einen perfekt gemixten Martini.

»Wirklich traurig, dass sie aussterben werden«, sagte Declan und blickte zu den Vögeln auf, die über ihre Köpfe hinwegschossen. »Noch eine Generation, dann wird es in Maine gar keine Rauchschwalben mehr geben.« Er reichte Ben sein Fernglas. »Hier, das ist besser als deins. Schau mal durch.«

Ben, dessen Begeisterung für Vögel sich offensichtlich in Grenzen hielt, spähte halbherzig zu den Schwalben hinauf. Mit seinem kahl geschorenen Kopf und dem stets leicht bedrohlich wirkenden Gesichtsausdruck sah er auch so gar nicht wie ein Vogelbeobachter aus. »Wo hast du das denn her? Dass die Rauchschwalben vom Aussterben bedroht sind?«

»Das stand letzten Monat in der Purity Weekly. In der Vogelbeobachtungs-Kolumne.«

»Du liest tatsächlich diese Kolumne?«

»Vogelbeobachtung ist eine hervorragende Tarnung für Beschattungsaktionen. Wenn du erwischt wirst und dich geschickt aus der Affäre ziehen musst, ist es hilfreich, wenn du ein bisschen was von dem Thema verstehst.«

»Noch jemand Lust auf eine zweite Runde?«, fragte Ingrid. »Lloyd bringt gleich seine Antipasti, und die sind alle ziemlich salzig. Also besser noch mal die Kehle befeuchten.«

Ben hob die Hand. »Hendrick’s, bitte, ohne Wermut. Von dem ganzen Gerede über Vögel hab ich so schon eine ganz trockene Kehle.«

»Hier kommen die Snacks!«, verkündete Ingrids Mann Lloyd fröhlich, als er mit einem Tablett voll der erlesenen Antipasti aus dem Haus trat, für die er so berühmt war: Fetaspieße und Artischockenherzen, eingelegte Pilze und papierdünne Salamischeiben. »Aber schlagt euch nicht die Bäuche voll damit«, warnte er. »Meine Braciole sind zum Aufwärmen im Ofen, und für die solltet ihr euch euren gesunden Appetit aufsparen.«

Ben sah Ingrid an, als sie ihm seinen frisch geschüttelten Martini reichte. »Wie schaffst du es, keine drei Zentner zu wiegen, wenn dieser Mann da immer für dich kocht?«

»Eiserne Disziplin«, antwortete Ingrid und ließ sich mit ihrem eigenen Drink in einen Gartensessel sinken.

»Also, jetzt lasst uns doch mal über unser Buch des Monats sprechen, wie wär’s?«, schlug Declan vor.

»Wenn’s denn sein muss«, brummte Ben.

»Ich fand das Buch nämlich absolut genial.« Declan schwenkte sein neues Zeiss-Fernglas. »Es hat mich dazu inspiriert, in dieses Prachtstück hier zu investieren.«

»Das Buch war viel besser als dieser alberne Spionagethriller, den wir letzten Monat gelesen haben«, bemerkte Lloyd, während er seine beträchtliche Leibesfülle in den Sessel neben Ingrid senkte. »Diese Romanschreiber stellen doch immer alles falsch dar.«

»Welches Kapitel hat euch am besten gefallen?«, fragte Declan.

»Das über die Spatzen«, sagte Maggie. »Ich finde es faszinierend, dass die meisten Leute sie ignorieren, weil sie so gewöhnlich und unscheinbar wirken. Und doch haben sie es dank ihrer Cleverness geschafft, fast den gesamten Erdball zu erobern.«

Ben schnaubte. »Redest du jetzt von Vögeln oder von uns?«

»Na ja, es gibt doch Parallelen, findet ihr nicht?«, meinte Ingrid. »Spatzen sind so etwas wie die Geheimagenten der Vogelwelt. Unauffällig. Leicht zu übersehen. Sie schleichen sich überall ein, aber ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Moment mal«, sagte Ben. »Ist das hier etwa eine Premiere? Haben wir wirklich alle das Buch gelesen?«

Sie wechselten Blicke.

»Na, wir sind doch angeblich ein Buchclub«, sagte Ingrid. »Auch wenn es uns in Wirklichkeit um den Martini geht.«

»Und um das Essen«, fügte Lloyd hinzu. »Das jetzt übrigens fertig sein dürfte.«

Aber niemand rührte sich. Sie saßen alle zu bequem in ihren Gartensesseln, nippten an ihren Drinks und bewunderten die Aussicht. In der Ferne bimmelten Glöckchen, als Maggies vierzehnjährige Nachbarin Callie, ein zierliches Mädchen in einer blauen Latzhose, ihre Ziegen und ihre Jersey-Kuh über die Weide zurück in den Stall führte. Callie winkte ihnen zu, und sie winkten alle zurück. Die Grillen zirpten, und die Schwalben vollführten weiter ihre akrobatischen Flugmanöver über ihren Köpfen, mit jähen Richtungswechseln und Sturzflügen.

Ingrid seufzte. »Besser wird’s nicht mehr, oder?«

Nein, dachte Maggie. Dies war einer der seltenen perfekten Momente, mit dem prickelnden Aroma des Wodkas in ihrem Mund und dem Duft des frisch gemähten Grases in der Nase. Und mit ihrem lieben Declan, der lächelnd an ihrer Seite saß. Mit achtundsechzig war sein einst schwarzes Haar schon halb ergraut, aber das Alter hatte seine Attraktivität und seinen irischen Charme nur noch deutlicher hervortreten lassen – Eigenschaften, die sie erst jetzt, im Herbst ihres Lebens, richtig zu schätzen gelernt hatte.

Sie hatte ihr ganzes Berufsleben im Krisenmodus verbracht; hatte nie wissen können, wann alles zusammenbrechen würde. Und daher war ihr nur zu deutlich bewusst, wie flüchtig Momente wie dieser sein konnten, wenn alle gesund und in Sicherheit waren und kein Unheil am Horizont drohte. Aber das Unglück konnte jeden von ihnen zu jeder Zeit treffen. Ein Autounfall, ein Herzinfarkt. Ein verdächtiger Schatten auf dem Röntgenbild. Selbst an diesem perfekten Abend, im Kreis ihrer Freunde, während die Dämmerung sich sanft über ihre Felder senkte, wusste sie, dass es wieder Ärger geben würde.

Sie wusste nur nicht, wann.

3

Susan

Sie fuhren nordwärts nach Maine, mit George Conover hinten im Kofferraum.

Susan fand es mehr als nur ein bisschen pietätlos, die Asche ihres verstorbenen Schwiegervaters zwischen ihr Gepäck zu stopfen, aber niemand in der Familie hatte protestiert, warum also sollte sie sich daran stören? Sie hatte den Mann kaum gekannt, war ihm erst vor drei Jahren das erste Mal begegnet, als Ethan Susan und ihre Tochter Zoe seinen Eltern vorgestellt hatte. George war zwar durchaus höflich gewesen, aber auch kühl und distanziert – ein distinguierter Bostonian in Blazer und Segelschuhen, der sich sein Urteil über diese zwei neuen Familienmitglieder vorbehielt, solange sie sich des Namens Conover noch nicht als würdig erwiesen hatten. Als er vor drei Monaten an einem Schlaganfall gestorben war, hatte Susan nicht sonderlich getrauert. Es hätte ebenso gut die Asche eines Fremden sein können, die dort in der Urne lag – so wenig hatte sie den Mann gekannt. Und dennoch kam es ihr unschicklich vor, ihn wie irgendein Gepäckstück zu behandeln.

Eine Empfindung, die Georges Witwe nicht zu teilen schien. Als sie in Brookline haltgemacht hatten, um Ethans Mutter abzuholen, war es Elizabeth selbst gewesen, die die Überreste ihres verstorbenen Ehemanns zusammen mit ihrem Koffer ins Auto gepackt und den Kofferraumdeckel zugeschlagen hatte. Wenn Elizabeth entschied, dass eine Sache geklärt war, war keine Diskussion mehr nötig.

Susan drehte sich zu Zoe und Elizabeth auf dem Rücksitz um. Obwohl sie Seite an Seite saßen, beschäftigten sie sich überhaupt nicht miteinander. Die fünfzehnjährige Zoe war in ihr Smartphone vertieft, eine typische Jugendliche, ganz in ihrer eigenen Blase gefangen, in der Unterhaltungen mit Klicken und Wischen geführt wurden. Und auch Elizabeth schien sich in ihre eigene Welt zurückgezogen zu haben. Sie starrte aus dem Fenster, während sie die Küste von Maine entlangfuhren, durch eine Reihe von Ortschaften mit merkwürdigen Namen: Wiscasset, Damariscotta, Waldoboro. Vielleicht dachte sie an frühere Sommer, in denen sie mit George genau diese Strecke gefahren war, auf dem Weg zu ihrer Sommerresidenz am Maiden Pond. Nach fünfundfünfzig Jahren Ehe würde dies ihre letzte gemeinsame Reise nach Maine sein, und doch verriet ihre Miene keinen Kummer. Sie saß kerzengerade da, eine alte Dame, die stoische Gelassenheit ausstrahlte. So war Elizabeth nun mal: praktisch und unsentimental.

»Hey, Ethan?«, sagte Zoe. »Du hast mir erzählt, dass das Haus am Maiden Pond ist. Wieso heißt der See so?« Ethan – so nannte sie ihn immer noch. Wie lange würde es dauern, bis er für sie endlich ihr Dad war? Susan sah ihren Mann an und fragte sich, ob es ihm etwas ausmachte. Doch Ethan wirkte ungerührt und blickte seelenruhig durch seine Brille auf den Verkehr vor ihnen.

»Er heißt Maiden Pond, weil da vor langer Zeit mal ein Mädchen ertrunken ist«, antwortete Ethan.

»Echt? Wie lange ist das her?«

»Hmm … Mom? Weißt du das?«

Elizabeth riss sich aus ihren Tagträumen los. »Es ist mindestens hundert Jahre her. Eine Gruppe von Schulmädchen ist auf den See hinausgerudert, und das Boot ist gekentert. Das hat man mir jedenfalls erzählt.«

»Und das Mädchen konnte nicht schwimmen?«

Susan sah sich zu ihrer Tochter um. »Nicht jede ist so eine Meerjungfrau wie du, Schätzchen.«

»Und die Mädchen hatten damals viel mehr Kleidungsstücke an«, erklärte Elizabeth. »Unterröcke, lange Kleider. Vielleicht Stiefel. Die haben sie vielleicht in die Tiefe gezogen.«

»Auf dieser Website steht, dass der Maiden Pond eine maximale Tiefe von dreizehn Metern hat«, sagte Zoe, während sie durch ihr Handy scrollte. »Kann das hinkommen?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Ethan.

»Aber fährt deine Familie nicht jeden Sommer rauf?«

»Mom und Colin, ja. Ich selbst bin schon lange nicht mehr dort gewesen.« Er hob den Blick zum Innenspiegel. »Mom, wie tief ist der See?«

Elizabeth seufzte. »Ist das wirklich so wichtig?«

»Hauptsache, er ist tief genug«, meinte Zoe. »Gibt es da irgendwas im Wasser, das beißt?«

»Oh ja«, antwortete Ethan. »Du könntest von Enten totgeknabbert werden.«

»Ethan!«

»Im Ernst, da ist nichts im See, was dich verletzen könnte, Zoe. In Maine gibt es nicht mal Giftschlangen.«

»Das ist gut, weil Schlangen das Einzige sind, wovor ich wirklich Schiss hab.«

»Aber ich warne dich: Das Wasser ist bestimmt sehr kalt. Die Seen hier im Norden werden erst im August einigermaßen warm.«

»Kaltes Wasser macht mir nichts aus. Ich will irgendwann mal beim Eisbaden mitmachen.«

»Da verzichte ich dankend.«

»Ich werde hier zehnmal am Tag schwimmen gehen. Ich kann’s gar nicht erwarten, endlich reinzuspringen!«

Ethan lachte. »Und ich kann’s nicht erwarten, dich kreischen zu hören, wenn du in das kalte Wasser eintauchst.«

Es tat gut, Ethan wieder lachen zu hören. In den letzten Monaten hatte Susan ihn nur sehr selten lachend erlebt, wenn er stundenlang vor seinem Computer saß und den Bildschirm anstarrte, während er auf eine Inspiration wartete. Wenn Inspiration doch nur etwas wäre, was man als Romanautor einfach herbeizaubern kann, hatte er ihr gesagt. Wenn es doch nur eine magische Pille oder eine Beschwörungsformel gäbe, um Worte auf der leeren Seite auftauchen zu lassen. Fünf Jahre nach dem Erscheinen seines ersten Romans stand der zweite immer noch aus, und mit jedem Monat, der verging, war seine Angst größer geworden, dass es nie einen zweiten Roman geben würde, dass die Worte nie wieder fließen würden. Dass er lediglich ein Hochstapler war; jemand, der die Kühnheit besaß, sich »Schriftsteller« zu nennen. Wie könnte er seinen Studenten im Schreibkurs am Boston College weismachen, dass er eine Autorität auf diesem Gebiet war, wenn er selbst nicht eine einzige zufriedenstellende Seite zustande brachte? Sie hatte gesehen, wie die Resignation seine Züge verändert hatte, hatte beobachtet, wie die Schatten unter seinen Augen dunkler und die Sorgenfalten in seiner Stirn tiefer wurden. In der Nacht merkte sie, wie er sich neben ihr hin und her wälzte, und sie wusste, dass es das Buch war, das ihn wachhielt. Das Buch, das sich weigerte, geschrieben zu werden. Sie hatte keine Ahnung, wie der Verstand eines Schriftstellers arbeitete, aber sie stellte sich vor, dass es war, als ob ein Dutzend verschiedene Stimmen in seinem Kopf durcheinanderschrien und verlangten, dass ihre Geschichte auf ihre Weise geschrieben wurde. Es schien wie eine Form von Wahnsinn.

Vielleicht tat es ihm gut, dass er gezwungen war, sich von seinem Computer loszureißen, von dem unablässigen Stimmengewirr der Figuren in seinem Kopf, um zur Trauerfeier für seinen Vater zu fahren. Schon jetzt, während Boston hinter ihnen weiter und weiter zurückfiel, konnte sie sehen, wie seine Nackenmuskeln sich entspannten und seine Mundwinkel sich nach oben bogen, während mit jeder Meile eine weitere Schicht der Anspannung von ihm abfiel. Er brauchte diese Reise nach Maine. Und sie selbst auch. Zwei Wochen Urlaub in einem Haus am Wasser sind genau das, was uns jetzt guttut.

Sie blickte sich zu ihrer Schwiegermutter um, die erneut aus dem Autofenster starrte. »Alles in Ordnung da hinten, Elizabeth?«

»Ich denke bloß daran, was ich alles tun muss, wenn wir dort sind.«

»Mom, es ist alles geregelt«, sagte Ethan. »Colin hat mir heute Morgen eine Nachricht geschrieben. Er und Brooke sagen, dass die Schlafzimmer fertig sind, du wirst also keinen Finger rühren müssen. Sie haben Kit im Dachzimmer untergebracht, sodass Zoe im Zimmer neben uns schlafen kann. Ach ja, und Arthur und Hannah kommen heute Abend auf einen Cocktail vorbei.« Er sah Susan an. »Du erinnerst dich doch an die Freunde meiner Eltern, Hannah Greene und Arthur Fox, nicht wahr? Von der Hochzeit. Sie haben auch Ferienhäuser am See.«

»Ja, natürlich«, antwortete Susan, obwohl ihre Erinnerung an die beiden zwischen all den Eindrücken von ihrem Hochzeitstag fast unterging: Ethans strahlendes Lächeln, als er mit ihr vor dem Altar stand. Zoe, platzend vor Aufregung in ihrem gelben Brautjungfernkleid. Und dann das plötzliche Gewitter, das die Gäste tropfnass und lachend ins Haus flüchten ließ. Sie erinnerte sich an Arthur, einen hochgewachsenen, aristokratisch wirkenden Mann in den Achtzigern, der an der Bar mit seinem alten Freund George Geschichten austauschte. Ähnlich verschwommen war ihre Erinnerung an Hannah Greene, eine füllige Frau in den Sechzigern, die munter von ihren Missgeschicken erzählte, als sie damals am See auf Ethan und seinen älteren Bruder Colin aufgepasst hatte.

»Bei der Trauerfeier werden auch ein paar Leute sein, die du nicht kennst«, sagte Ethan. »Der örtliche Pfarrer leitet den Gedenkgottesdienst, und ein paar von Dads Kumpeln aus dem Jachtclub haben auch gesagt, dass sie kommen wollen.« Er sah Elizabeth im Innenspiegel an. »Es wird sein wie in alten Zeiten, Mom!«

»Ethan, pass auf!«, rief Susan.

Ethan trat sofort auf die Bremse, das Auto kam mit quietschenden Reifen zum Stehen, und sie wurden alle nach vorne in ihre Sicherheitsgurte gedrückt. »Oh, Mann«, murmelte er, den Blick auf die Autoschlange geheftet, die vor ihnen abrupt zum Stillstand gekommen war. »Alles okay da hinten, Mom?«

»Wäre nett, wenn wir alle heil am See ankommen würden.«

»Ich habe nicht mit so viel Verkehr gerechnet.«

»Na ja, du warst ja auch schon einige Jahre nicht mehr hier. Da hat sich einiges verändert.« Elizabeth seufzte und fügte leise hinzu: »Alles hat sich verändert.«

Der Verkehr stand still. Eine lange Reihe von Autos erstreckte sich vor ihnen, bis sie hinter der nächsten Kurve verschwand.

»Da muss ein Unfall passiert sein«, sagte Susan.

Das Heulen einer Sirene gab ihr recht. Susan drehte sich um und sah flackernde Lichter auf sie zukommen, dann schoss auch schon der Rettungswagen an den stehenden Autos vorbei.

»Ich hoffe, es ist nichts Ernstes«, sagte Ethan.

Das Blaulicht verschwand hinter der Kuppe, und Susan musste an zertrümmerte Autos und zerschmetterte Körper denken. Sie war ausgebildete Krankenschwester, und obwohl sie nicht mehr in der Notaufnahme arbeitete, sondern als Schulkrankenschwester, hatte sie nicht die Panik vergessen, die alle erfasste, wenn es ein Menschenleben zu retten galt. Und auch nicht, was dabei alles schiefgehen konnte. Sie blickte sich zu ihrer Tochter um, die schon wieder auf ihr Handy starrte und alles um sich herum vergessen zu haben schien. Auch Elizabeth wirkte wie in Gedanken versunken. Das Drama, das sich vielleicht in diesem Moment auf der Straße vor ihnen abspielte, schien die beiden überhaupt nicht zu interessieren.

Die Autos setzten sich wieder in Bewegung. Als sie die Kuppe erreichten, kamen zwei zerknautschte Autos in ihr Blickfeld. Koffer waren von einem Dachgepäckträger herabgeschleudert worden, und Kleidungsstücke lagen auf der Fahrbahn verstreut, wie ein bunter Reigen aus Freizeitklamotten. Im Straßengraben lagen eine Kühlbox und ein lila Tennisschuh. Ihr seid nach Maine gekommen, um hier Urlaub zu machen, und ihr hättet euch nicht vorstellen können, dass euch so etwas erwartet, dachte Susan. Aber wer dachte schon an solche Dinge, während er Shorts und Sonnencreme einpackte? Diese Leute hatten sich auf gemütliche Tage am See und Hummerbrötchen am Strand gefreut. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass sie stattdessen in einem Krankenhausbett landen würden.

Oder dass sie vielleicht nie mehr nach Hause zurückkehren würden.

Das Erste, was sie vom Maiden Pond sah, waren ein paar goldene Lichtreflexe im Geäst der Bäume, die Spiegelung des Sonnenscheins auf der Wasserfläche, die durch den dichten Wall aus Fichten und Kiefern drang. Als sie die kurvige Shoreline Road entlangfuhren, erhaschte sie immer wieder einen Blick, aber nie das ganze Bild, immer nur verlockende Ausschnitte, hell leuchtend wie Lametta.

»Ist das der See da unten?«, fragte Zoe. Sie hatte endlich doch ihr Handy weggelegt und schaute neugierig aus dem Fenster.

»Ja, das ist der Maiden Pond«, sagte Ethan.

»Ich zieh gleich meinen Schwimmanzug an.«

»Willst du nicht lieber bis morgen früh warten?«, meinte Susan. »Wir müssen doch erst mal ein bisschen Zeit mit Colins Familie verbringen. Du hast Kit seit der Hochzeit nicht mehr gesehen.«

»Damals hat er aber nicht viel mit mir geredet.«

»Ach, so ist Kit nun mal«, erwiderte Ethan. »Dein Cousin ist schüchtern.«

So kann man es auch nennen, dachte Susan, als sie sich an den maulfaulen Teenager mit den hängenden Schultern erinnerte, der sich während der ganzen Hochzeitsfeier in der Nähe seiner Mutter Brooke herumgedrückt hatte. Dieses Jahr wurde er siebzehn – alt genug, um in ein paar Monaten sein Collegestudium aufzunehmen. Vielleicht hatte er ja seither ein wenig an seinen Umgangsformen gearbeitet.

Sie rumpelten einen Schotterweg entlang und hielten an einem Holzschild, das an einen Baum genagelt war:

Moonview

Betreten strengstens verboten

Die abschreckende Warnung war in groben Blockbuchstaben ins Holz geschnitzt, einfach und schmucklos, und das Schild gab keinen Hinweis darauf, was einen am Ende der Zufahrt erwartete.

»Du musst diese Bäume zurückschneiden lassen, Mom«, sagte Ethan, als sie den schmalen Weg hinunterfuhren und Äste an den Seiten des Autos entlangstreiften.

»Dein Vater hat es zu lange aufgeschoben. Wir hatten andere Sorgen.«

»Ich werde mal im Ort herumtelefonieren, ob jemand das für uns …«

»Dein Bruder wird sich bestimmt darum kümmern.«

Es war eine Weile still. »Natürlich«, murmelte Ethan. »Colin wird sich darum kümmern.«

Plötzlich lichtete sich der Wald, und der Maiden Pond breitete sich vor ihnen aus, die Wasserfläche vergoldet von der Nachmittagssonne. Und dort, hoch über dem Wasser, thronte Moonview, das Sommerhaus der Conovers. Elizabeth hatte es das Cottage genannt, weshalb Susan etwas Rustikales erwartet hatte, aber das hier war mehr als ein schlichtes Cottage. Es war ein geräumiges Haus mit mehreren Giebeln, vier Schornsteinen und einer breiten Terrasse, von der Treppenstufen zu einer weitläufigen Rasenfläche hinunterführten. Sie hielten hinter Colins BMW, und als Susan ausstieg, atmete sie erst einmal tief ein, sog den köstlichen Duft von Kiefern, Gras und feuchter Erde ein. Bis auf das Zwitschern eines Vogels auf einem Ast über ihnen war es vollkommen still, der See spiegelglatt, die Oberfläche nicht von der kleinsten Welle getrübt.

Eine Fliegengittertür schwang quietschend auf und fiel mit einem Knall zu. »Na, da seid ihr ja endlich!«, rief Ethans älterer Bruder Colin.

Als Susan sich umdrehte, sah sie Colin und seine Familie die Terrassenstufen herunterkommen, um sie zu begrüßen. Das goldene Paar, so hatte Ethan Colin und Brooke einmal genannt – nicht nur, weil sie blond und gut aussehend waren, sondern auch wegen der Leichtigkeit, mit der sie durchs Leben segelten. Selbst hier, in diesem ländlichen Winkel von Maine, sah Brooke genauso elegant aus wie immer, das blonde Haar zu einem schimmernden Pagenkopf frisiert, bekleidet mit einem rosa Twinset, das ihre schlanke Taille betonte. Hinter ihnen versteckte sich ihr Sohn Kit, sein Gesicht halb von einer struppigen blonden Mähne verdeckt, mit hängenden Schultern, als ob er am liebsten mit dem Hintergrund verschmelzen würde. Während alle sich mit Umarmungen und Hallos begrüßten, blieb Kit auf Distanz und schaffte es gerade mal, die Hand zu einem linkischen Gruß zu heben.

»Wir haben euch schon vor Stunden erwartet«, sagte Colin, als die beiden Brüder das Gepäck aus dem Kofferraum holten.

»Es war viel Verkehr«, erklärte Ethan. »Und dann kam auch noch ein Unfall dazu.«

Colin hielt inne und sah stirnrunzelnd in den Kofferraum. »Ist das – ähm … Dad, in dieser Kiste?«

»Lass nur, ich nehm ihn schon«, sagte Elizabeth und hob seelenruhig die Kiste mit der Keramikurne ihres Ehemanns aus dem Kofferraum. »Ich bin froh, wenn ich mir darüber keine Gedanken mehr machen muss.«

Colin und Ethan sahen zu, wie ihre Mutter die sterblichen Überreste ihres Vaters ins Haus trug. Die Fliegengittertür schlug hinter ihr zu.

»Tja«, bemerkte Colin trocken, »Mom scheint den Verlust ja gut wegzustecken.«

»Es ist ja auch schon drei Monate her«, sagte Ethan.

»Das ist nicht so lange.«

»Jeder geht auf seine Weise mit Trauer um, Colin«, warf Brooke ein. »Und eure Mom war noch nie der sentimentale Typ.«

»Hast wohl recht.« Er schlug den Kofferraumdeckel zu. »Solange sie ihn nicht auf den Klodeckel stellt.«

Sie folgten Elizabeth ins Haus, und zwei Schritte hinter der Schwelle blieb Susan stehen, um sich staunend in dem geräumigen Wohnzimmer umzusehen. Sonnenlicht strömte durch die bodentiefen Fenster und glänzte auf dem polierten Hartholzfußboden. Der Raum wurde von einem Sichtdachstuhl mit frei liegenden Deckenbalken abgeschlossen. Eine Galerie von Familienfotos nahm eine ganze Wand ein und dokumentierte die Geschichte der Familie Conover über die Jahrzehnte hinweg.

Brooke beugte sich zu Susan und flüsterte: »Und sie nennen das hier nur ein Cottage.«

»Es ist ganz und gar nicht das, was ich erwartet habe«, erwiderte Susan.

»Was hast du denn erwartet?«

»Ich weiß nicht – eine Hütte am See. Stockbetten.«

Brooke lachte. »Glaub mir, bei den Conovers gibt’s keine Stockbetten. Gott sei Dank – sonst würde ich nicht schon seit Jahren herkommen.«

Susan wandte ihre Aufmerksamkeit den Familienfotos an der Wand zu. Es war eine Geschichte der Conovers in Maine in Bildern, angefangen mit einem Porträt von Elizabeth und George als junges Paar, das mit einer Gruppe von Freunden am See stand.

»Sind die alle hier entstanden?«, fragte Susan.

»Alle unter ein und derselben Kiefer. Der Baum steht dort unten, bei den Kanus. Du kannst sehen, wie er im Lauf der Jahre gewachsen ist. Jeden Sommer lässt uns Elizabeth unter diesem Baum für ein Familienfoto Aufstellung nehmen. Hier, das war kurz nach Colins Geburt.« Brooke deutete auf den kleinen blonden Engel in Elizabeths Armen. Dann ging sie weiter zu einem Foto, auf dem Elizabeth ein anderes Baby hielt, eines mit dunklen Haaren. Colin, inzwischen ein kräftiger kleiner Junge, blickte misstrauisch zu seinem neuen Brüderchen hoch. »Und hier hat Ethan seinen ersten Auftritt.«

Schon als Babys waren die Brüder verschieden, dachte Susan. Und im Lauf der Jahre waren diese Unterschiede immer deutlicher hervorgetreten. Sie konnte in diesem schlaksigen Jungen mit der Brille und dem ernsten Gesicht bereits ihren künftigen Ehemann erkennen. Schon damals hatte er ein Buch in der Hand gehalten, während Colin, der größere und blondere Bruder, robustes Selbstbewusstsein ausstrahlte. Ein Selbstbewusstsein, das ihm an der Wall Street zweifellos sehr zustattenkam.

Beim Geräusch trappelnder Schritte auf der Treppe drehte Susan sich um und sah ihre Tochter, die bereits ihren lila Badeanzug trug, durchs Wohnzimmer flitzen. »Zoe?«

»Nur mal kurz reinspringen, Mom. Los, komm mit!«

»Wir müssen noch auspacken!«

Aber Zoe war schon zur Tür hinaus, sprang die Terrassenstufen hinunter und lief über den Rasen aufs Wasser zu. Kein Wunder – wenn irgendwo ein Gewässer in der Nähe war, konnte Zoe der Versuchung nicht widerstehen, hineinzuspringen.

Susan folgte ihrer Tochter nach draußen und hatte den Rasen erst zur Hälfte überquert, als Zoe schon im See planschte und vor Begeisterung kreischte.

»Das ist, als ob ich einen riesengroßen Swimmingpool nur für mich hätte!«, rief sie.

Susan trat auf den schwimmenden Anleger und sah lächelnd auf ihre Tochter hinunter, die sich mühelos über Wasser hielt. »Ist es nicht zu kalt?«

»Für mich nicht!«

Für eine Meerjungfrau ist das Wasser nie zu kalt, dachte Susan, als sie zusah, wie Zoe durch die rotgolden schimmernde Oberfläche davonglitt. Bis auf den klagenden Ruf eines Eistauchers und das leise Plätschern von Zoes Zügen im seidigen Wasser war der Nachmittag märchenhaft still. Nur ein anderer Mensch war weit und breit zu sehen – ein Mann, der in einem Kajak vorüberglitt.

Sie winkte ihm zu und rechnete damit, dass er zurückwinken würde. So machte man es doch hier in Maine, oder nicht? Man winkte einander zu.

Doch der Mann erwiderte den Gruß nicht. Er sah sie nur unverwandt an, sein Gesicht ein schwarzer Scherenschnitt vor dem Gleißen des sonnenbeschienenen Sees, dann paddelte er davon.

»Sie konnte es einfach nicht erwarten, wie?«, sagte Ethan lachend, während er den Hang herunterkam, um sich zu ihnen zu gesellen.

»Kannst du es ihr verdenken? Sie war den ganzen Tag im Auto eingesperrt.«

Er schlang einen Arm um Susans Taille, und eine Weile standen sie einfach nur da und beobachteten, wie sich Zoes Kopf im Wasser auf und ab bewegte, ihr dunkles Haar glatt und glänzend wie das Fell eines Seehunds.

»Es ist so schön hier«, sagte Susan seufzend und schmiegte sich an ihren Mann. »An deiner Stelle würde ich jeden Sommer hier verbringen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Es ist ein hübsches Fleckchen.«

»Klingt aber nicht gerade begeistert.«

»Es ist das Haus meiner Eltern. Nicht meins.«

»Aber ich dachte, die ganze Familie sei hier willkommen. Brooke und Colin kommen doch jeden Sommer, oder nicht?«

»Doch.«

Sie sah ihn an, aber er blickte aufs Wasser hinaus, als ob er in eine Vergangenheit schaute, die sie nicht sehen sollte. Eine Vergangenheit, die offenbar nicht glücklich gewesen war. »Du hast mir noch gar nicht viel von diesem Ort erzählt. Gibt es einen Grund, warum du nicht mehr hergekommen bist?«

Er seufzte und deutete den Hang hinauf zu einem Baum mit einem mächtigen Stamm und weit ausladenden Ästen. »Siehst du den Ahorn dort?«

»Was ist damit?«

»Als ich sieben war, habe ich fast einen ganzen Nachmittag in diesem Baum festgesessen und mich nicht getraut, runterzukommen, weil Colin unten gewartet und mit Steinen nach mir geworfen hat. Hannah Greene musste rauskommen und mich retten.«

»So ein kleines Arschloch!«

»Es ist eine blöde Geschichte. Man sollte meinen, dass ich längst drüber hinweg weg wäre, aber so ist meine Erinnerung an alle meine Sommer hier. Colin, der kleine Platzhirsch. Irgendwann bin ich dann einfach nicht mehr hergekommen. Es ist Jahre her, dass ich zuletzt hier war. Jetzt komme ich mir vor wie irgendein Sommergast.«

»Du bist kein Gast. Du gehörst zur Familie.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Wie wär’s, wenn wir dafür sorgen, dass dieser Sommer anders wird?«

Er sah sie lächelnd an. »Das ist er doch schon. Ich habe dich und Zoe.«

»Ich glaube, es wird uns guttun, für ein paar Wochen der Stadt den Rücken zu kehren. Das hier ist vielleicht so was wie ein Geschenk von deinem Vater – seinetwegen mussten wir alle nach Maine kommen, um seine Asche zu verstreuen. Du warst gezwungen, dich von deinem Schreibtisch loszureißen und mal tief durchzuatmen. Und vielleicht wird dich hier irgendetwas inspirieren. Du wirst etwas sehen oder hören, was du verwenden kannst. Ich werde nie vergessen, was du gesagt hast, als wir uns bei deiner Signierstunde kennengelernt haben: ›Keine Erfahrung, ob gut oder schlecht, ist für einen Schriftsteller je vergeudet.‹«

»Ah ja. Ich habe die besten Anmachsprüche.«

»Na, bei mir hat er jedenfalls funktioniert.«

Er zog sie an sich. »Es tut mir leid«, sagte er.

»Was tut dir leid?«

»Dass ich in letzter Zeit nicht besonders unterhaltsam war. Dass ich von diesem blöden Roman und diesen blöden Figuren so abgelenkt war. Ich hasse sie fast schon dafür, dass sie mich von euch wegreißen.«

»Solange du nur immer wieder zu uns zurückkommst.«

Er lächelte und küsste sie auf die Lippen. »Wir sollten auspacken gehen«, murmelte er.

»Das sollten wir.«

»Die Nachbarn werden jeden Moment zum Cocktailumtrunk kommen …«

»Und ich habe versprochen, beim Abendessen zu helfen«, fügte sie hinzu.

Aber sie rührten sich beide nicht von der Stelle. Es war einfach zu schön hier, mit dem See, der schimmerte wie flüssiges Feuer, und ihrer Tochter, die draußen durch das Wasser glitt.

Ein perfekter Sommerabend, dachte sie. Genießen wir ihn noch ein bisschen länger.

4

Reuben

Die Sommergäste waren wieder da.

Reuben Tarkin paddelte mit seinem Kajak über den Maiden Pond, um zu sehen, welche der Ferienhäuser inzwischen bewohnt waren und welche noch leer standen und auf die alljährliche Rückkehr ihrer Besitzer warteten. Er hatte sein ganzes Leben an diesem See verbracht, fünfundsechzig Jahre, in denen er Eisstürme und Schlammperioden erlebt hatte, aber auch schwüle Sommernächte, in denen er schwitzend und schlaflos neben seinem ratternden Ventilator gelegen hatte. Er kannte die Rhythmen und die Jahreszeiten des Sees so gut, dass er genau vorhersagen konnte, wann die ersten Wanderdrosseln im Frühling eintreffen würden, wann der alljährliche Chor der Laubfrösche, die sie hier »Spring Peepers« nannten, vom Quaken der Ochsenfrösche abgelöst würde, und wann die frisch geschlüpften Eistaucherküken sich erstmals zeigen würden, als kleine dunkle Flaumbällchen, die sich von ihren Müttern auf dem Rücken tragen ließen.

Und genauso vertraut war er mit dem alljährlichen Kommen und Gehen der menschlichen Anwohner des Maiden Pond.

Arthur Fox traf in der Regel als Erster ein, manchmal schon im Mai, wenn das Wetter noch unbeständig und das Wasser noch viel zu kalt zum Schwimmen war. Dieses Jahr war Arthur in der zweiten Juniwoche in seinem schicken blauen Mercedes mit New Yorker Kennzeichen bei seinem Sommerhaus vorgefahren. Er hatte sich unverzüglich darangemacht, seine Terrassenmöbel herauszuholen und sein Kanu aus dem Bootshaus ans Ufer zu schleppen. Arthur war zweiundachtzig, aber er war immer noch fit genug, um sein eigenes Boot zu Wasser zu lassen, eine Knochenarbeit, für die die meisten anderen Sommerfrischler kräftige Helfer aus dem Ort anheuerten. Er schien körperliche Anstrengungen als willkommene Herausforderung zu betrachten. Die Reichen liebten es, sich als einfache Leute auszugeben, und sie kamen nach Maine, um sich dieser Illusion hinzugeben. An diesem Nachmittag hatte Arthur sich seines Hemds entledigt, um die Rolle des rustikalen Gärtners zu spielen, während er energisch die tief hängenden Äste kappte, die ihm den Seeblick versperrten. Als Reuben in seinem Kajak vorbeitrieb, entdeckte Arthur ihn und hielt abrupt beim Ästeschneiden inne. Er sagte kein Wort zu Reuben, er lächelte nicht und winkte auch nicht. Niemand winkte Reuben Tarkin je zu. Stattdessen fixierte Arthur ihn nur mit einem Blick, der sagte: Ich habe dich im Auge.

Reuben paddelte weiter zum nächsten Cottage, dem von Hannah Greene.

Hannah sonnte sich in einem Liegestuhl auf ihrer hinteren Veranda. Mit ihren einundsechzig Jahren war sie ziemlich mollig geworden, und mit ihrer winterbleichen Haut sah sie aus wie ein Klumpen Brotteig, den man zum Aufgehen in die Sonne gelegt hatte. Sie hatte das Sommerhaus von ihren Eltern geerbt, den verstorbenen Dr. und Mrs. Greene aus Bethesda, und zusammen mit dem Haus hatte sie auch die Abneigung ihrer Eltern gegen Reuben geerbt. Vielleicht hatte sie seinen Blick gespürt, als er näher herangepaddelt war, oder vielleicht hatte sie das Plätschern seines Paddels im Wasser gehört, denn sie setzte sich plötzlich in ihrem Liegestuhl auf und sah ihn an. Ohne zu lächeln oder zu winken, genau wie Arthur Fox. Stattdessen stand sie auf, verschwand in ihrem Haus und schloss die Tür.

Reuben paddelte weiter.

Am nächsten Ferienhaus stellte er das Paddeln ein und ließ sein Kajak einfach treiben, vorbei an dem privaten Anleger, vorbei an dem breiten Rasenstreifen, wo zwei Kanus auf dem Gras lagen. Dies war das größte Haus am Maiden Pond – das Haus, das sie Moonview nannten, weil es nach Osten ausgerichtet war, zum Sonnen- wie zum Mondaufgang. Noch bevor die Conovers eingetroffen waren, hatte er gewusst, dass sie kommen würden, denn er hatte gesehen, wie die Haushälterinnen, die Gärtner und der Hausmeister das Haus für die Ankunft der Familie herrichteten. Reubens bescheidene kleine Hütte stand direkt gegenüber von Moonview am anderen Seeufer, und durch sein Wohnzimmerfenster hatte er im Lauf der Jahre das Kommen und Gehen der Conovers beobachtet. Er war neun Jahre alt gewesen, als Elizabeth und George Conover, damals gerade frisch verheiratet, das Haus am Maiden Pond gekauft hatten. Er hatte zugesehen, wie sie das Haus nach und nach erweitert und modernisiert hatten, um Platz für ihre wachsende Familie zu schaffen. Er war mehr als einmal mit ihrem älteren Sohn Colin aneinandergeraten, einem strammen Burschen mit goldblonden Haaren, der gerne mit verschränkten Armen dastand, immer auf Streit aus, ganz anders als der jüngere Sohn Ethan, der sich stets hinter einem Buch versteckte.

Im Lauf der Jahre war das Haus noch weiter ausgebaut worden, um zunächst Colin und seine eisblonde Prinzessin von einer Ehefrau unterbringen zu können, und dann auch ihren kleinen Sohn und das Kindermädchen. Von dem ganzen Conover-Clan war das Kindermädchen die Einzige, die Reuben je angesehen hatte, als ob er ein menschliches Wesen wäre. Als ob er ein Lächeln verdient hätte, ein Winken.

Bis die Familie auch das Kindermädchen gegen Reuben aufbrachte.

Er tauchte sein Paddel ein und hielt das Kajak im Wasser an. Eine Weile dümpelte er nur auf der Stelle und ließ seinen Blick über Moonview wandern. Ein Tisch und sechs Stühle standen auf der Terrasse, und im Obergeschoss waren alle Fenster geöffnet, um die abgestandene Winterluft herauszulassen. Er hatte gehört, dass George Conover vor ein paar Monaten verstorben war, aber Georges Witwe Elizabeth war wieder da, genau wie ihr älterer Sohn Colin und dessen Familie. Ihr jüngerer Sohn, Ethan, war seit Jahren nicht mehr gekommen, und Reuben vermutete, dass es einen Streit, ein Zerwürfnis in der Familie gegeben hatte.

Er war deshalb überrascht, als er Ethan aus dem Haus kommen und über den Rasen auf den Anleger von Moonview zugehen sah, wo eine Frau stand, die er noch nie gesehen hatte. Sie war schlank, mit braunen Haaren, und sie winkte Reuben zu, eine freundliche Geste, die ihn so verblüffte, dass er zu erstarrt war, um zurückzuwinken. Sie weiß es noch nicht, dachte er. Sie weiß nicht, dass sie Angst vor mir haben sollte.

Und da war auch ein junges Mädchen, ein elfenhaftes Wesen in einem lila Badeanzug, das durch den See glitt wie irgendein Wasserwesen, halb Nymphe, halb Fisch. Noch eine Besucherin, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er hatte gehört, dass Ethan Conover endlich doch geheiratet hatte, und als er sah, wie Ethan einen Arm um die Frau legte, wurde ihm klar, dass es sich um seine Angetraute und deren Tochter handeln musste. Die ganze Familie Conover war also wieder in Maine versammelt, vermutlich für George Conovers Trauerfeier.

Möge der alte Bastard in der Hölle schmoren.

Reuben wendete sein Kajak von Moonview ab und begann, auf das andere Ufer zuzupaddeln. Seine Schwester war inzwischen sicher aus ihrem Mittagsschlaf aufgewacht, und er musste ihr aus dem Bett in den Rollstuhl helfen. Sie musste gebadet werden, dann galt es, Abendessen zu machen, die Küche aufzuräumen und Abigail ihre Tabletten zu geben. Ein Abend voller Pflichten lag vor ihm, aber dieser Moment auf dem See gehörte ihm, und er genoss ihn, während das Kajak über das Wasser glitt, goldglänzend in der Abendsonne, und die Libellen über die Oberfläche huschten.

Dann blickte er sich zu Moonview um, das über dem Wasser aufragte, seine Schornsteine wie Krallen, die sich nach dem Himmel reckten, und er schauderte. Jetzt wird alles anders werden, dachte er. Die Conovers sind wieder in der Stadt.

5

Susan

Susan erwachte vom Gesang eines Hausgimpels, der sich draußen vor dem Fenster die Seele aus dem Leib schmetterte. Sie stand normalerweise als Erste auf und war deshalb überrascht, als sie sich umdrehte und Ethans Seite des Betts leer fand. In Boston war es für gewöhnlich kein Vogelgezwitscher, das sie weckte, sondern der frühmorgendliche Lärm von Bussen und Müllwagen vor ihrem Wohnblock. Was für ein Luxus, um halb zehn noch gemütlich im Bett zu liegen und keine anderen Pläne zu haben, als vielleicht eine Runde im See zu schwimmen oder auf einen Sprung nach Purity reinzufahren. So sollte jeder Urlaub sein – jeden Morgen ausschlafen und vom verlockenden Duft des Kaffees geweckt werden, den ausnahmsweise ein anderes Mitglied des Haushalts gekocht hatte.

Sie zog eine Jeans und ein Hemd an und folgte dem köstlichen Aroma nach unten in die Küche. Ethan saß am Küchentisch, vor sich einen Haufen Papier, in der Hand einen Stift, mit dem er wie besessen schrieb. Er blickte nicht einmal auf, als sie barfuß in die Küche tappte. Oh, sie kannte diesen Ausdruck intensiver Konzentration in seinem Gesicht nur zu gut. Sie wollte ihn nicht unterbrechen und ging gleich zur Kaffeemaschine, um sich rasch eine Tasse einzuschenken. Erst als sie die Sahne aus dem Kühlschrank nahm und die Tür wieder zuklappte, fuhr Ethan hoch, als ob er ihre Anwesenheit gerade erst bemerkt hätte.

»Hey«, sagte er und nahm seine Brille ab.

»Selber hey. Was ist das denn?« Sie deutete mit einem Nicken auf die Blätter, die mit seinen hastig hingekritzelten Worten übersät waren.

»Es kommt.« Er lachte und schüttelte ungläubig den Kopf. »Es kommt endlich!«

»Diese Geschichte, an der du gearbeitet hast?«

»Nein, das hier ist etwas ganz Neues. Ich habe keine Ahnung, was da passiert ist. Ich bin heute Morgen aufgewacht, und es hat einfach Klick gemacht. Als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte, und schon fingen die Worte an zu fließen. Vielleicht liegt es daran, dass ich nach all den Jahren wieder am See bin. Ich erinnere mich an all das, was hier passiert ist, an all die Geschichten, die ich als Kind gehört habe. Oder vielleicht musste ich auch nur ganz dringend raus aus Boston.«

Wo eine Wolke des Scheiterns über ihm gehangen hatte wie ein erstickender Dunst, der seine Worte abwürgte. Zum ersten Mal seit Monaten sah sie den Ethan vor sich sitzen, den sie geheiratet hatte – einen glücklichen Ethan.

»Jetzt wünschte ich, ich hätte meinen Laptop mitgenommen«, sagte er.

»Du scheinst auch ohne ihn ganz gut voranzukommen.« Sie nahm seine leere Kaffeetasse und schenkte ihm nach. »Wo sind denn die anderen?«

»Mom und Arthur treffen sich mit dem Pfarrer, der den Trauergottesdienst leiten soll. Colin und Brooke sind einkaufen gefahren, glaube ich. Kit ist noch im Bett.« Er zuckte mit den Schultern. »Teenager …«

»Und Zoe?«

»Na, wo wohl?«

Sie trat ans Küchenfenster und schaute auf den See hinaus. Ja, da war ihre Tochter – sie lachte und schwatzte mit einem anderen Mädchen, während sie beide auf der Stelle schwammen und ihre nassen Haare im Morgenlicht glänzten.

»Wer ist denn da bei ihr?«, fragte sie.

»Ein Mädchen von hier, glaube ich. Die hat sie gerade erst kennengelernt.«

»Das ist wunderbar. Ich bin froh, dass sie hier eine neue Freundin gefunden hat. Ich hatte schon Sorge, dass sie niemanden haben würde, mit dem sie reden kann.«

»Kit ist ja auch noch da.«

Sie blickte sich zu ihm um. »Ist das dein Ernst? Dieser Junge hat gestern Abend nicht ein einziges Mal das Wort an sie gerichtet. Er hat die ganze Zeit an Brooke geklebt.«

»Du weißt doch, wie schüchtern er ist. Ein Einzelkind.«

»Er ist fast siebzehn. Das sollte er doch allmählich überwunden haben.« Sie hielt inne. »Hat er vielleicht sonst noch irgendein Problem?«

Ethan griff nach dem nächsten leeren Blatt. »Er war als Baby sehr krank, musste immer wieder ins Krankenhaus. Kein Wunder, dass Brooke es ein bisschen übertrieben hat mit dem Wunsch, ihn zu beschützen. Wenn es ein Problem gibt, dann ist sie es, würde ich sagen.« Er blickte auf. »Ach, fast hätte ich’s vergessen: Hannah fährt zum Shoppen nach Bar Harbor. Sie wollte wissen, ob du mitkommen möchtest.«

»Was willst du denn den ganzen Tag machen?«

Er deutete auf den Papierstapel vor sich auf dem Tisch. »Es läuft gerade so gut, da möchte ich jetzt nicht unterbrechen.«

»Nein, schon klar. Bleib ruhig hier und schreib.« Sie drehte sich zum Fenster um und sah ihrer Tochter zu, wie sie fröhlich mit dem anderen Mädchen im See planschte. Zoe hatte eine neue Freundin, und Ethan schrieb wieder. Konnte sie sich einen besseren Start in den Tag wünschen?

»Ich würde mir gerne Bar Harbor anschauen«, sagte sie. »Ich ruf Hannah gleich an.«

Hannah Greene redete gerne. Sie redete während der ganzen Fahrt nach Bar Harbor, redete bei Crab Cakes und Salat zum Lunch und redete, während sie in den Souvenirläden auf der Main Street stöberten. Susan machte ihr unentwegtes Geplapper nichts aus. Hannah, die nie geheiratet hatte und allein lebte, schien hocherfreut über die Gelegenheit, ihren reichen Schatz an Anekdoten über die Conover-Brüder an die Frau zu bringen.

»Oh, die waren vielleicht ein Paar, diese beiden!«, sagte Hannah, als sie nach Purity zurückfuhren. »Colin war derjenige, der am meisten Ärger gemacht hat. Ständig ist er mit den Jungs aus dem Ort aneinandergeraten und nie hat er sich hinterher entschuldigt. Colin entschuldigt sich nie für irgendetwas, weil es nie seine Schuld ist. George musste mehr als nur ein paarmal zu den anderen Eltern gehen, um die Sache zu bereinigen. Aber Ihr Ethan, der hat nie Schwierigkeiten gemacht. War immer schon der ruhige Typ. Der Tagträumer.«

Susan lächelte. »Er ist immer noch der Tagträumer. Ich glaube, das ist der Grund, warum er Schriftsteller geworden ist.«