Die Sonne über Nirva - Sabine Dau - E-Book

Die Sonne über Nirva E-Book

Sabine Dau

0,0

Beschreibung

Nie zuvor war Nirva dem Untergang so nahe! Durch Risse zwischen den Dimensionen fallen die Armeen der Rakshasa mit Gewalt in Nirva ein. Sie überrennen förmlich das Land und starten einen rücksichtslosen Eroberungsfeldzug. Um der Bedrohung geschlossen entgegenzutreten, kommen die unterschiedlichsten Völker zu einem Kriegsrat zusammen. Doch die Spannungen, die zwischen den von allen Völkern gefürchteten Asura und den unsterblichen Devas bestehen, erschweren eine Einigung. Die Asura könnten im Kampf gegen den übermächtigen Feind ein entscheidender Trumpf sein, aber kann man diesen so unheimlichen Wesen vertrauen? Ein fesselnder Fantasy-Roman, der unsere Wirklichkeit widerspiegelt und europäische Traditionen mit der Mythenwelt Asiens verbindet. Sechster Band der Yama-Chroniken

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 601

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als die Schöpfung ihren Anfang nahm und die Zeit erwachte, erklang ein Brausen, das das gesamte All beseelte. Aus dem Echo dieses ersten Liedes entfaltete sich alles Leben.

Und über die Schöpfung erhob sich der Geist der Devas. Und als für die Devas die Zeit gekommen war, da sie sich selbst erkannten, bekam ihr Geist Flügel. Er befähigte sie dazu, sich über alle anderen Welten zu erheben. Die Devas nannten sich seither Götter und glaubten in ihrer Vermessenheit unsterblich zu sein.

Doch keiner von ihnen kannte die wahre Natur der Zeit, noch das Gewicht der nebelhaften Träume, die so manches enthüllte, was in der Zukunft hätte verborgen bleiben sollen. Bis zu jenem Tag, als Surya in der Mitte des siebten Äons den Allrufer aus seinem Gefängnis befreite.

Inhaltsverzeichnis

Orb Ria

Harkandas

Orb Ria

Matali

Orb Ria

Harkandas

Rakshasa

Harkandas

Rina

Harkandas

Vayu

Matali

Manassa

Harkandas

Rakshasa

Orb Ria

Matali

Orb Ria

Yama

Yama

Indra

Yama

Harkandas

Rakshasa

Harkandas

Matali

Harkandas

Rakshasa

Yama

Harkandas

Matali

Manassa

Harkandas

Rakshasa

Skanda

Yama

Indra

Yama

Indra

Orb Ria

Yama

Rakshasa

Indra

Harkandas

Epilog

Orb Ria

Eine unbestimmte Vorahnung hielt Orb in der Nacht vom Einschlafen ab. So lag sie bis zum Morgen in einem unbehaglichen Dämmerzustand in ihrem Bett, bis das Gezwitscher der Vögel einen neuen Tag ankündigte. Müde schlug sie das Bettlaken beiseite und stand auf. Auf ihrem Weg ins Badezimmer griff sie fast beiläufig nach der Tafel, die sie vor dem Zubettgehen auf dem Nachttisch abgelegt hatte, um wie üblich die in der Nacht eingegangenen Nachrichten zu überfliegen. Neben einigen Analysedaten der von ihr im Nagagebiet gesammelten Bodenproben war auch eine Nachricht von Matali dabei, was recht ungewöhnlich war. Orb runzelte die Stirn. Eine seltsame Unruhe erfasste sie, als sie die in einer nüchternen Wortwahl verfasste Nachricht öffnete und zu lesen begann. Dann wurde die Stille von ihrem schmerzerfüllten Aufschrei zerrissen - ein Schluchzen folgte, das abrupt abbrach. Während Orb sich kraftlos an die Wand lehnte und langsam zu Boden sank, wurde es wieder still im Haus. Tränen liefen ihr die Wangen hinab. Matalis Nachricht hatte sie vollkommen unvorbereitet getroffen. Yama und Surya, so schrieb er, waren verschollen, vielleicht sogar tot. Wie war das möglich? Was war geschehen?

Die Zeit zog sich schleppend dahin. Während sie auf dem kalten Fußboden saß und sich nicht zu rühren vermochte, versuchte sie sich mit ganzer Kraft zu sammeln. Schließlich stand sie mit zittrigen Knien auf und ging ins Bad, um ihre Morgentoilette zu beginnen. Dabei überlegte sie, was sie tun konnte. Sie wollte mehr über das erfahren, was Yama zugestoßen war und Matali wusste mehr, da war sich Orb sicher.

Als sie dann am Abend an Karana Sachis Tür klopfte, wirkte ihr Gesicht angespannt und von Trauer gezeichnet. Sie hatte von Matali tatsächlich einiges mehr in Erfahrung bringen können, unter anderem auch, dass ihre Freundin für einen kurzen Zwischenstopp wieder nach Meru zurückgekehrt war. Und Karana war vielleicht die einzige Freundin, der sie den Schmerz, der sie quälte, anvertrauen konnte. Das hoffte sie zumindest, denn eine Vertraute war jetzt das, was sie mehr als alles andere brauchte.

Die Haustür öffnete sich einen Spaltbreit und Karanas kurz geschnittenes Haar kam zum Vorschein, dessen zitronengelbe Farbe im unbeleuchteten Flur gut zu erkennen war. Als sie ihre Freundin erkannte, wurde die Tür von ihr ganz aufgestoßen und Karana tat heraus. »Du siehst ja grauenvoll aus, Orb. Was ist dir zugestoßen?«

Orb schluckte den schmerzhaften Kloß in ihrem Hals hinunter, bevor sie ihr antwortete: »Nicht hier. Darf ich hereinkommen?«, fragte sie heiser.

»Natürlich. Komm herein, ich mach uns einen Tee oder vielleicht doch etwas Stärkeres?«

»Tee reicht vollkommen.« Orb lächelte schwach, als Karana beiseitetrat, um sie einzulassen. Es war schon sehr lange her, seit Orb das Haus ihrer Freundin das letzte Mal betreten hatte. So lange, dass nichts in den Räumen noch so war wie sie es in ihrer Erinnerung hatte. Karana führte sie ins Wohnzimmer und ließ sie auf einem gradlinigen weißen Ledersofa Platz nehmen, dessen schlichte Eleganz gut zu dem rationalen Charakter ihrer Freundin passte. Doch die Einrichtung war jetzt für Orb nebensächlich. Der Schmerz, den sie in ihrem Herzen fühlte, ließ nicht zu, dass sie ihre Umgebung allzu deutlich wahrnahm. Ohne, dass sie es verhindern konnte, begann sie erneut zu weinen. Tränen liefen ihre Wangen hinab und tropften auf ihren Schoß. Karana setzte sich daraufhin neben sie und legte tröstend einen Arm um ihre Schultern. »Weinst du etwa wegen Skanda? Hat er dir wehgetan, als du mit ihm Schluss gemacht hast?«, vermutete sie.

Orb schüttelte den Kopf, dabei wischte sie die Tränen aus dem Gesicht und versuchte sich zu sammeln. »Das ist es nicht. Skanda hat sich von mir bereits vor Wochen getrennt. Gleich nachdem ich aus dem Nagagebiet wieder zurückgekommen bin, hat er mit mir Schluss gemacht.«

»Er hat, … mit dir …?«, fragte Karana aufs Äußerste verblüfft. »Wieso das? Wie kam es dazu, so plötzlich?«

Orb tat einen tiefen Atemzug, dabei fuhr sie sich mit zwei Fingern über die Nasenwurzel, um sich zu sammeln. »Suna Magur war bei ihm, um Skanda gleich von den Ereignissen auf der Insel Khavāṣpa zu berichten, alles aus ihrer eigenen verqueren Sicht, versteht sich. Und natürlich hat sie ihm auch von deiner Ankunft berichtet und dass ich daraufhin nicht wie geplant mit den anderen zurück nach Meru reisen, sondern bei dir bleiben wollte, solange bis du die Reparaturen am Dimensionsportal hast abschließen können.«

Ihre Freundin starrte Orb für einen Moment entgeistert an. »Moment. Willst du damit sagen, dass er dir das übel genommen hat?«

Orb nickte. »Genau das.« Ein bitteres Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Wie du weißt, war Skanda schon immer sehr eifersüchtig. Besonders du warst für ihn ein rotes Tuch. Dass ich bei dir geblieben bin, obwohl er doch allein und schwerverletzt auf der Krankenstation lag, war für ihn der Beweis, dass ich ihn nicht mehr liebe.« Resigniert zuckte sie mit den Schultern. »Und damit hat er nicht unrecht. Im Grunde hat mir Skanda den Abschied viel leichter gemacht.« Orb hob den Kopf und sah Karana direkt in die Augen. »Ich habe dich schon immer gemocht. Nachdem ich mich von dir getrennt habe, um mit Skanda zusammen zu sein, habe ich noch oft an dich denken müssen. Und manchmal habe ich es bedauert, dass unsere Freundschaft und alles, was wir zusammen hatten, durch ihn in die Brüche gegangen ist.«

Karanas blaue Haut färbte sich leicht violett, als sie errötete. Sie fasste Orbs Hand und drückte sie sanft. »Es ist noch nicht zu spät, unsere Freundschaft zu erneuern. Wir könnten noch einmal ganz neu anfangen.«

»Ja, das wäre schön«, erwiderte Orb. Ein kaum sichtbares Lächeln zeigte sich für einen kurzen Moment und verschwand so schnell wie es erschienen war.

»Magst du mir jetzt erzählen, was dich bedrückt?«, fragte Karana.

»Deshalb bin ich zu dir gekommen«, entgegnete Orb. »Du bist die einzige Freundin der ich so sehr vertraue, dass ich Dir meinen Kummer anvertrauen kann. Aber …« Sie schluckte. »Du darfst mit keinem sonst über das sprechen, was ich dir jetzt sagen werde. Wenn du dies versprichst, werde ich dir alles erzählen.«

Karana wirkte überrascht. »Egal, was du zu sagen hast, ich verspreche dir, dass ich es nicht weitertragen werde. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.«

»Danke.« Trotz der Bekundung ihrer Freundin zeigten sich tiefe Sorgenfalten auf Orbs Stirn. Die grünen Sommersprossen auf ihren Wangen wurden eine Spur dunkler, als Orb zu erzählen begann: »Du wurdest sicher auch bereits darüber informiert, dass Surya bei dem Versuch, den Sonnengott aus seinem Gefängnis zu befreien, verschwunden ist?«

»Natürlich habe ich davon gehört. Jeder in Meru spricht darüber. Es hieß, der Sonnengott befindet sich wieder im Zentrum des Sonnensystems. Suryas Versuch, die Sonnenscheibe zu öffnen, um Brahmanda Avhē zu befreien, muss demnach erfolgreich gewesen sein. Surya ist danach spurlos verschwunden. Indra glaubt, seine Tochter wäre dabei ums Leben gekommen. Sie hat sich selbst geopfert, um den Zorn, den Skanda durch die Nutzung der Sonnenscheibe auf uns gezogen hat, zu besänftigen. Das jedenfalls ist die offizielle Erklärung für ihr Verschwinden.«

Orb nickte. Sie senkte den Kopf und sah auf ihre Hand, die noch immer in der ihrer Freundin lag. »Die Tochter des Königs war nicht die einzige, die an diesem Tag spurlos verschwand.«

»Auch davon habe ich gehört. Man erzählt, dass noch ein weiterer Deva Indra und seine Tochter auf dieser Mission begleitet hat. Niemand scheint ihn zu kennen, was äußerst seltsam ist, wo doch jeder von uns jeden zumindest vom Sehen her kennt. Zumal er recht auffällig ausgesehen haben soll; braune Haut, weiße Haare und Augen so blau, dass sie irgendwie unnatürlich wirkten. Jedenfalls wurde er so von denen beschrieben, die den Mann gesehen haben und Indra weigert sich bislang, darüber nähere Angaben zu machen. Er hätte sein Ehrenwort gegeben über die Identität seiner Begleitung zu schweigen. Weißt du etwa mehr darüber?«

»Ja.« Orb hob den Kopf und sah Karana ernst an. »Der Mann, der zusammen mit Indra zu den von dir berechneten Koordinaten des Sternensystems aufbrach, war kein Deva, es war Yama.«

»Yama? Aber der ist doch ein Asura. Das kann unmöglich stimmen«, rief Karana skeptisch und aufs Äußerste überrascht.

»Ich weiß, dass das schwer zu glauben ist, aber bevor du mich, genau wie Skanda, für verrückt erklärst, möchte ich, dass du mir zuhörst.«

Karana stand mit einem ermutigenden Nicken auf und wandte sich dann ihrer Freundin zu. »Für verrückt halte ich dich bestimmt nicht, aber warte einen Moment, bevor du mir deine Behauptung näher ausführst. Zuerst mach ich uns einen Tee, das dauert nicht lange.« Sie ging aus dem Zimmer und ließ Orb allein zurück. Beunruhigt überlegte Orb, ob sie ihrer Freundin folgen sollte, doch sie verwarf diesen Impuls sofort wieder und beschloss, ihr zu vertrauen. Während sie auf ihre Rückkehr wartete, überdachte sie zum wiederholten Male, was sie ihr sagen wollte, dabei sah sie sich nebenbei im Wohnzimmer um. Die weiß getünchten Wände wirkten steril. Ein Regal, bis zur Decke mit Büchern bestückt, füllte die Wand zur Linken. Klare Linien beherrschten den Raum. An der gegenüberliegenden Wand hing ein hoher Spiegel, daneben einige Bilder, dessen Motive ihr fremd und unverständlich waren, bis auf eins. Orb stand auf, um dieses eine näher betrachten zu können. Es zeigte eine unbeschwert lachende Karana, daneben sie selbst, den Kopf an die Schulter ihrer Freundin gelehnt. Im Hintergrund war ein grandioser Wasserfall zu erkennen.

»Erinnerst du dich noch an diesen Tag?«, fragte Karana, die unbemerkt ins Zimmer getreten war. Sie hielt ein Tablett in Händen, das sie jetzt auf dem Tisch abstellte.

»Ich erinnere mich noch sehr genau daran.«

»An diesem Tag waren wir glücklich.«

»Ja«, bestätigte Orb. Sie wandte sich ihrer Freundin zu und, während Karana für sie Tee einschenkte, setzte sie sich wieder auf das Sofa, nahm die Tasse dankbar entgegen und nippte daran.

»Jetzt erzähl, warum bist du dir so sicher, dass dieser Mann Yama war? Und weshalb bist du deshalb so betroffen?«

Orb schwieg für einen Moment und versuchte sich zu sammeln. Sie war fest entschlossen, Karana alles von Anfang an zu erzählen: Sie erzählte, wie sie Yama zum ersten Mal im Palastgarten begegnet war und von ihrer bedeutenden Entdeckung der Symbiose zwischen den Somapflanzen und den jungen Asura, dem Versuchsfeld, dem Angriff der Naga und ihrer Gefangennahme. »Als ich erwachte, fand ich mich in einem Höhlenverlies der Naga wieder. Es war vollkommen dunkel und zu meinem Entsetzen hatten mich die Naga zusammen mit diesem grauenvollen Asura eingesperrt. Ich hatte schreckliche Angst. Ich fürchtete mich damals so sehr, dass ich beinahe durchgedreht wäre.«

»Ich kann nur erahnen, was du durchgemacht hast, Liebes«, sagte Karana und legte ihr tröstend einen Arm um ihre Schulter.

Nach kurzem Schweigen fuhr Orb mit ihrer Erzählung fort. »Yama gelang es jedoch sehr schnell, mir die Furcht vor ihm zu nehmen. Dabei war er erstaunlich einfühlsam, was kein Deva einem Asura je zutrauen würde. Schon da hätte ich erkennen können, dass er nicht das ist, was er zu sein scheint.«

»Dass er sich von den übrigen Asura unterscheidet, steht außer Frage, das habe ich auch bemerkt, als ich auf Khavāṣpa gewesen bin«, bestätigte Karana. »Und wie hast du nun herausgefunden, dass er kein reiner Asura ist?«, fragte sie und sah Orb erwartungsvoll an.

Die Devi tat einen tiefen Atemzug, bevor sie weitersprach: »Ich habe dir ja bereits von unserer Flucht vor den Naga erzählt. Jedoch nicht davon, dass wir längere Strecken durch ein unterirdisches Flusssystem tauchen mussten. Durch den Luftmangel verlor ich für einige Zeit das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, rief ich in der Dunkelheit nach Yama, erhielt aber keine Antwort von ihm. Daher tastete ich blind umher, bis meine Hände auf etwas stießen. Zu meiner Überraschung lag dort ein nackter Mann. Der Asura war verschwunden. Kurz darauf begann der Mann zu würgen und nach Luft zu schnappen, genau wie ich zuvor.«

»Moment. Der Asura war verschwunden?«

»Er war nicht fort, er hatte sich nur in den Menschenkörper zurückgezogen. So hat es mir Jeng erklärt.«

»Jeng?«

»Das ist der Name des Menschen. So hieß er, bevor er gemeinsam mit dem Asura zu Yama vereinigt wurde. Sowohl Jeng als auch der Asura erinnern sich noch gut an ihr früheres Leben, bevor sie vereinigt wurden. Ursprünglich hieß der Asura Varun. Auch er hat mir später dieser Ereignisse aus seiner Sicht berichtet.«

»Jetzt bin ich verwirrt«, warf Karana ein. »Soll das heißen, diese beiden Persönlichkeiten leben getrennt voneinander fort im selben Körper und kooperieren miteinander?«

»Nein. Du solltest es etwa so sehen: Beide fühlen wie ein Wesen, das sich noch gut an vergangene Leben erinnern kann.«

Die Devi zog skeptisch ihre Stirn in Falten. »Die Geschichte kommt mir sehr unglaubwürdig vor. Warum sollte dieser Mensch mit einer solchen Vereinigung einverstanden gewesen sein? Mir hätte das wahnsinnig Angst gemacht.«

»Jeng war nicht damit einverstanden gewesen. Sein Körper wurde damals gewaltsam von Varun in Besitz genommen.«

Die Empörung stand Karana deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie rückte ein Stück von Orb ab. »Was du da erzählst, ist entsetzlich. Ein Verbrechen, grausamer noch als Mord, das lässt sich mit nichts entschuldigen.«

»Ja,«, bestätigte Orb. »Es war ein traumatisches Ereignis für Jeng, zumal er dabei zusehen musste, wie Varun fast sein gesamtes Dorf ausgelöscht hat. Vor seinen Augen ermordete der Asura all seine Lieben. Ohne die geringste Kontrolle über den eigenen Körper zu haben, musste er hilflos dabei zusehen, wie der Asura wütete.«

Jetzt konnte Karana nicht mehr ruhig neben Orb sitzen bleiben. Sie sprang auf und wandte sich zu ihrer Freundin um. Ihr Gesicht war zu einer Maske erstarrt. »Das ist die grausamste Geschichte, die ich je gehört habe. Und das alles hast du von Yama selbst erfahren?«

Orb nickte. »Das und noch einiges mehr.«

»Na gut.« Die Devi setzte sich ihrer Freundin gegenüber in einen Sessel. Mit einer Geste ermutigte sie Orb, fortzufahren.

Um sich zu sammeln, nippte Orb an dem Tee, bevor sie nach kurzem Zögern weitersprach. »So schrecklich diese Ereignisse auch waren, mit der Zeit stellte sich zwischen Mensch und Asura ein Gleichgewicht ein. Beide Geister durchdrangen einander. Sie verschmolzen zu einem einzigen Wesen, zu Yama, dem Gott des Totenreichs und Richter über die verstorbenen Seelen.«

»Bei dieser Erzählung wäre ich skeptisch. Woher soll ein Außenstehender denn wissen, ob das auch wahr ist? Wäre ich dieser Mensch gewesen, könnte ich die Grausamkeiten des Asura niemals verzeihen. Möglicherweise wurde der Mensch dadurch so traumatisiert, dass er nun bereit ist, alles zu tun, was der Asura von ihm verlangt.«

»Indra hat das am Anfang auch vermutet, aber nachdem er ihn besser kennengelernt hat, glaubt er das jetzt nicht mehr. Zwischen Indra und Yama hat sich sogar ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Man könnte sogar sagen, es besteht so etwas wie eine Freundschaft zwischen den beiden. Aber davon wollte ich dir gar nicht berichten. Ich komme besser wieder zu unserer Flucht vor den Naga zurück.«

Und dann redete sich Orb alles von der Seele. Sie hatte es lange nicht gewagt, sich einem anderen Deva anzuvertrauen und Angst gehabt, darüber ganz offen zu sprechen. Doch jetzt sprudelten die Worte einfach aus ihr heraus. Sie erzählte von ihrer Flucht und wie sie in der lichtlosen Finsternis ihres Höhlenverlieses das erste Mal mit Yama geschlafen hatte und wie tröstend es gewesen war, von ihm berührt zu werden. Nachdem sie dann den Naga entkommen waren, wollte Orb die Ereignisse zunächst verdrängen. »Doch als Skanda herausfand, dass zusammen mit den Somapflanzen auch eine neue Generation von Asura heranwachsen würde, überschlugen sich plötzlich die Ereignisse auf dem Versuchsfeld. Skanda wollte eine neue Generation von Asura auf keinen Fall hinnehmen. Ohne dass ich es verhindern konnte, hat er alle Jungen direkt vor meinen Augen getötet. Einzig Snippy konnte mit meiner Hilfe entkommen, weil ich das Tor für ihn geöffnet hatte. Skanda hat mir das sehr übel genommen. Außer sich vor Wut, hat er mir so brutal ins Gesicht geschlagen, dass ich bewusstlos zusammengesackt bin.«

»Er hat was?«, rief Karana entsetzt. »Ich hätte nie gedacht, dass er so weit gehen würde. Das hätte ich ihm nicht zugetraut.«

»Ich auch nicht. In all den langen Jahren, in denen wir ein Paar gewesen sind, ist derartiges nie vorgekommen. Der Hass auf die Asura, die ihm den Vater genommen haben, war einfach zu groß, vermute ich. Dass ich die Jungen auf dem Feld verteidigt habe, konnte Skanda nicht begreifen. Später hat ihm sein Wutausbruch aber leid getan, das weiß ich genau.«

»Mag sein, trotzdem ist das keine Entschuldigung.«

Orb nickte, in ihre Augen traten Tränen. »Genau das dachte ich auch. Skanda ließ mich einfach zurück und ging fort. Ich stand unter Schock. Sein Schlag hatte vermutlich eine Gehirnerschütterung zur Folge. Als meine Schmerzen halbwegs erträglich wurden, galt mein erster Gedanke Yama. Ich rief ihn über meine Tafel zu mir und er kam sofort. Er nahm mich mit in sein Haus und legte mich in sein Bett. Dort schlief ich fast sofort ein, und als ich aufwachte, haben wir geredet. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lieb er war.« Bei dieser Erinnerung blinzelte Orb die Tränen fort und begann plötzlich zu strahlen.

»Stimmt, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen«, kommentierte Karana, dabei grinste sie schief. »Aber deine Verliebtheit kann ich kaum übersehen.«

Orb fühlte, wie sich ihre Wangen röteten. Sie blickte auf und sah ihre Freundin offen an. Sie hoffte auf ihr Verständnis und fürchtete zugleich, nichts als Ablehnung in ihrem Gesicht zu erkennen. Doch in Karanas Gesicht war weder das eine noch das andere zu sehen. Nervös knetete sie ihre Hände in ihrem Schoß, während sie weitersprach: »Ich glaube, genau das war der Moment, in dem ich mich Hals über Kopf in Yama verliebt habe. Natürlich wusste ich, dass diese Beziehung von keinem Deva akzeptiert werden würde, deshalb hielt ich sie bis jetzt geheim. Ich schämte mich sogar dafür.« Orbs Redefluss kam ins Stocken. Schmerz und Traurigkeit übermannten sie von Neuem. Sie versuchte den schmerzhaften Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Es gelang ihr nicht. Sie konnte nicht weitersprechen.

Karana stand auf, setzte sich wieder auf das Sofa zurück und schloss Orb tröstend in ihre Arme. »Jetzt verstehe ich dich«, sagte sie leise. »Ich kann zwar nicht nachvollziehen, wieso du ihn liebst, denn ich habe nicht das erlebt, was du erlebt hast. Aber genau darum kann ich mir auch kein Urteil über deine Gefühle zu ihm anmaßen. Genauso wenig kann ich dich dafür verurteilen. Aber du hast mein volles Mitgefühl für deinen Verlust.«

»Danke«, presste Orb heiser hervor. Sie fühlte sich unendlich erleichtert.

Harkandas

Der Angriff kam vollkommen unerwartet. In einem kurzen Augenblick der Unachtsamkeit sprang Nikara auf mich zu und brachte mich mit Leichtigkeit zu Fall. Überrascht von dieser heimtückischen Attacke versuchte ich meinen Gegner instinktiv abzuwehren, während er mich bereits mit ganzer Kraft zu Boden drückte. Aber seine Substanz war so tief in meine eigene eingedrungen, dass ich mich kaum zur Wehr setzen konnte. Während ich mich vergeblich zu befreien versuchte, ließ mich mein Herausforderer keinen Moment aus den Augen. »Gib auf, Harkandas«, forderte er voller Selbstvertrauen. »Deine Gegenwehr ist jämmerlich. Ich habe dich besiegt, gib es zu. Ich lasse dich erst wieder los, wenn du deine Niederlage vor allen eingestehst.« Bei diesen Worten blieb sein spitz zulaufendes Maul weit geöffnet. Seine rasiermesserscharfen Substanzzähne machten sich erneut bereit, auf mich herabzustoßen.

Ich versuchte nach dem Maul zu schlagen, doch seine Pranken drückten mich so kraftvoll zu Boden, dass ich nicht genug Schwung erzeugen konnte, um seinen gnadenlosen Biss abzuwehren. Schmerzerfüllt heulte ich auf, als er mir ein großes Stück Substanzenergie entriss, um sie seiner eigenen einzuverleiben. Zugleich verlieh mir der Schmerz genügend Kraft, dass es mir gelang, eine Hand freizubekommen. Sofort schlug ich meine eigenen Krallen in den Nacken meines Angreifers. Während er sich wieder bereit machte, erneut zuzuschlagen, sammelte ich all meine Kräfte, bäumte mich auf und riss meinen Herausforderer mit einer kraftvollen Bewegung von mir fort. Sofort sprang ich auf die Füße und machte mich kampfbereit. Mein Kontrahent stieß ein wütendes Fauchen aus. Er wirbelte zu mir herum. Inzwischen hatte sich ein Ring aus schaulustigen Asura eingefunden, die den Kampf aus sicherem Abstand mitverfolgen wollten. Weder ich noch Nikara schenkten ihnen große Beachtung. All unsere Aufmerksamkeit war einzig auf den Gegner gerichtet.

»Dein Vorteil ist vertan«, schrie ich Nikara entgegen, so laut, dass es die Umstehenden hören mussten. »Sogar, wenn du mich jetzt noch besiegen könntest, wäre für dich nichts gewonnen. Wer sich mir entgegenstellt, widersetzt sich auch unserem Herrn.«

»Yama ist tot«, erwiderte Nikara. »Das weiß ich von Kadun. Er hat mir das verraten, nachdem er hörte, wie sich die Apsaras über seinen Tod unterhielten.«

»Du glaubst dem, was Kadun selbst nur vom Hörensagen zu wissen glaubt? Ich sage dir: Yama kann nicht sterben. Und wenn er zu uns zurückkehrt, wirst du dich vor ihm verantworten müssen.«

»Du lügst. Du sagst das nur, um dich noch ein wenig länger an der Macht halten zu können. Yama ist tot, du willst das nur nicht zugeben und du bist zu schwach, um seinen Platz einnehmen zu können.«

»Ich sage die Wahrheit«, entgegnete ich mit Nachdruck, während ich mich bereit machte, Nikaras unvermeidlich bevorstehenden Angriff abzuwehren. Sollte er nur kommen, jetzt war ich darauf vorbereitet.

»Lügner!«, zischte Nikara noch einmal. Sein Angriff, obwohl erwartet, erfolgte danach so schnell, dass es mir nur mit Glück gelang, ihm auszuweichen. Ich wirbelte um meine eigene Achse. Gleichzeitig breitete ich meine Flügel aus und erhob mich mit einigen kräftigen Schwüngen in die Luft, um gleich wieder auf meinen Gegner herabzustoßen. Meine Klauen drangen tief in seine Substanz ein. Diesmal war es Nikara der schmerzerfüllt aufschrie und in Panik um sich schlug. Ich spürte tiefe Befriedigung, während ich weiter in ihn eindrang und seine Substanz in Fetzen riss. Obwohl ich wusste, dass mein Sieg bereits feststand, ließ ich nicht von ihm ab. Wieder und wieder schlug ich meine Krallen in seine Substanz und holte mir Stück für Stück das zurück, was er mir zuvor entrissen hatte. Das und noch einiges mehr.

Als der Staub sich legte, kniete mein Herausforderer in demütiger Haltung vor mir und ich sah triumphierend auf ihn herab. Erst als ich mir ganz sicher sein konnte, dass sein Kampfeswille gebrochen war, wandte ich mich von ihm ab und den schaulustigen Asura zu, die unseren Kampf mitverfolgt hatten. »Gibt es sonst noch jemanden, der meinen Machtanspruch anzuzweifeln wagt?«, fragte ich. Nicht ein einziger von ihnen trat vor. Niemand wagte es offen, mich vor allen anderen herauszufordern. Das wunderte mich natürlich nicht. Nach einem so offensichtlichen Triumph wie diesem schien mein Machtanspruch fürs Erste gesichert, auch wenn ich wusste, dass dies nicht von Dauer sein würde. Wortlos begann sich der schwarze Wall aus Leibern nach und nach aufzulösen. Die Asura gingen fort, so wie sie gekommen waren; vollkommen lautlos. Ich und Nikara blieben allein zurück. »Geh mir aus den Augen«, zischte ich ihm, mit Verachtung in der Stimme, zu und sah ihm mit Genugtuung nach, als er sich trollte. Erst als er ganz aus meinem Blick verschwunden war, breitete ich meine Flügel aus und schwang mich in die Luft. Unter meinen lederartigen Substanzschwingen pfiff der Wind, während ich mich immer höherschraubte. Ich genoss dieses Gefühl jedes Mal von Neuem.

Der Turm, der sich im Zentrum des Totenreiches befand und dessen Licht die Unterwelt normalerweise erhellte, wirkte jetzt verlassen, düster und tot. Einzig meinem Herrn Yama war die Macht gegeben, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Jetzt, da mein Herr fort war, irrten die Seelen der Toten ziellos umher. Ohne das leitende Licht des Turms konnten die Verstorbenen das Zentrum der unteren Welt nicht finden und somit auch nicht zum Tempel des Aufstiegs gelangen, der ihnen die Rückkehr in die Welt der Lebenden durch eine erneuernde Wiedergeburt ermöglicht hätte.

Ich umrundete den Turm und hielt dabei auf Yamas Palast zu, der sich hoch oben auf dem Turm befand. Der private Bereich meines Herrn wurde durch ein starkes Kraftfeld geschützt. Probehalber ließ ich meine Krallen darüber gleiten und spürte sofort die Spannung, die sich prickelnd in meiner Substanz ausbreitete. Funken, Glühwürmchen gleich stoben dabei nach allen Seiten davon.

Dass der Turm noch immer das Haus meines Herrn schützte, war für mich nur ein weiteres Indiz, das mich in meinem Glauben bestärkte, dass Yama noch am Leben sein musste.

Drei Monate waren inzwischen vergangen, seit Yama von Khavāṣpa fortgegangen und nicht mehr zurückgekehrt war. Außer einer knappen Nachricht von Deva Matali, die er mir zugesandt hatte, um mich über sein Verschwinden und das der kleinen Devi zu informieren, hatten mich keine weiteren Nachrichten mehr aus Meru erreicht. Die Devas schienen mich vergessen zu haben. Vielleicht zogen sie es aber auch nur vor, den unausweichlich bevorstehenden Konflikt mit den Rakshasa ganz alleine auszutragen. Jetzt, da Yama fort war, hatten sie keinen Ansprechpartner mehr unter den Asura. Die Devas hatten Yama vertraut. Mir vertrauten sie nicht, und dies, musste ich zugeben, beruhte auf Gegenseitigkeit.

Ich wandte mich von dem Haus meines Herrn ab, sank tiefer und landete vor den Toren der Gerichtshalle. Die beiden Torflügel des zweigeteilten Durchgangs waren geschlossen und ich kam nicht umhin, die beiden Motive darauf zu betrachten. Die eine Seite des Flügels zeigte einen Asura mit hoch erhobenem Flammenschwert und die andere einen Menschen, der in spiegelverkehrter Pose sein Schwert auf gleiche Weise erhoben hatte. Jeder Asura wusste, dass diese beiden Motive einen Teilaspekt von Yamas Wesen darstellten. Nach außen hin zeigte Yama der Welt für gewöhnlich das Gesicht eines mächtigen Asura, doch unter der Substanz, gut geschützt, verbarg sich ein Mensch. Wie diese Verbindung einst zustande gekommen war, wusste niemand, auch ich nicht, zu sagen. Doch diese Verbindung hatte Yama eine Macht verliehen, die ihn befähigte, sich weit über alle anderen seiner Art zu erheben. Einige meiner Artgenossen hatten versucht, es ihm gleichzutun, und wie er einen Menschen in Besitz zu nehmen, doch all ihre Bemühungen waren vergebens gewesen. Letztlich war jeder von ihnen gescheitert. Vielleicht auch deshalb, weil Yama unter dem Schutz der Hochgötter stand, deren Segen ihn zu einem unsterblichen Gott werden ließ. Es war dieser Segen, der allen anderen Asura fehlte, die sich die Macht durch Gewalt aneignen wollten. Nur darum waren sie gescheitert, davon war ich überzeugt. Woher ich das wusste? Ich konnte es nicht genau sagen. Und genau aus diesem Grund würde ich meinem Herrn weiter dienen. Als sein Stellvertreter würde ich mein Möglichstes tun, um in seiner Abwesenheit in seinem Sinne das Totenreich zu verwalten. Bis zum Tag seiner Wiederkehr.

Ich stieß die Torflügel auf und betrat das Totengericht. Zielstrebig ging ich an den hohen Säulen vorbei auf die gegenüber liegende Wand zu, wo sich Yamas Richtstuhl befand - ein mit goldenen Hörnern verzierter, liegender Stier, in dessen Körpermitte ein Sitzplatz eingepasst worden war. Obwohl ich Yama früher als Gerichtsdiener gedient hatte, war ich seinem Richterstuhl noch nie so nahegekommen wie gerade jetzt. Ich stieg die drei Stufen hinauf, legte ehrfürchtig meine Hand auf die Hörner des Stiers und strich dann sehr langsam, ja beinahe begehrlich, mit meiner Hand den Rücken hinab bis zur Stuhllehne. Dort verharrte sie für einen Moment, dann wandte ich mich kurz entschlossen um und setzte mich auf Yamas Thron. Meine Substanz begann dabei vor Erregung zu prickeln. So also fühlte es sich an, an seiner Stelle hier zu sitzen - erhaben und mächtig. Ich genoss dieses Gefühl bis einer der Gerichtsdiener eintrat und mich störte. Der Asura erstarrte, als er mich dort sitzen sah. Für einen Moment wirkte er überrascht, mich dort zu sehen, dann kam er mit bedächtigen Schritten und demütig gesenktem Haupt auf mich zu.

»Was willst du?«, schnauzte ich ihn an, woraufhin der Gerichtsdiener seinen Kopf noch tiefer zu Boden neigte.

»Herr, darf ich Euch eine Frage stellen?«

»Fasse dich kurz!«, grollte ich, woraufhin die Substanz des Gerichtsdieners nervös zu vibrieren begann.

Es entstand eine unangenehme Pause, bis mir der Asura sein Anliegen zu Gehör brachte: »Der Warteraum ist mit Seelen überfüllt. Sie warten auf Yamas Richtspruch. Was sollen wir mit diesen Verstorbenen tun? Gedenkt Ihr ab jetzt über sie zu richten, Herr?«

Seine Frage traf mich vollkommen unvorbereitet. Nie zuvor hatte ich darüber nachgedacht, was mit den Seelen in Yamas Abwesenheit geschehen sollte. Mit einem Mal fühlte ich mich unbehaglich. Ich sprang vom Richtstuhl auf und eilte die Stufen hinab, so schnell, dass der Gerichtsdiener eilig zur Seite ausweichen musste und mich mit einer Geste der Unterwerfung zu besänftigen versuchte. Ich ignorierte das, während ich über seine durchaus berechtigte Frage nachdachte.

»Bringt sie in die Randgebiete. Sobald Yama wiederkehrt, könnt ihr sie dann nach der Reihenfolge ihrer Ankunft in die Gerichtshalle zurückführen.« Der Gerichtsdiener war mit dieser Antwort offensichtlich zufrieden, denn er lief nach einer weiteren angedeuteten Verbeugung eilig davon.

Auch ich verließ das Totengericht kurz darauf. Ich trat ins Freie und fühlte mich eigenartig erleichtert, so als wäre eine Last von mir genommen worden, von der ich zuvor nichts geahnt hatte. Fürs Erste waren meine Verpflichtungen in der Unterwelt erledigt. Jetzt konnte ich mich endlich angenehmeren Dingen widmen. Das Dimensionsportal, das die Unterwelt mit Nirva verband, war nicht weit entfernt. Es zog mich förmlich dorthin, so als würde ich gerufen. Und so zögerte ich nicht lange. Ich trat durch das Portal auf die sonnendurchflutete Ebene hinaus. Obwohl bereits der Abend angebrochen war, blendete mich das Licht der untergehenden Sonne und tat meinen Augen weh. Seit mein Herr fort war, hatte ich viel zu viel Zeit in der Unterwelt verbracht. Für einen Moment stand ich geblendet da, wie erstarrt, bis sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse angepasst hatten, dann breitete ich meine Flügel aus und hob mich mit einigen kraftvollen Schlägen in die Luft.

Unter mir lagen die Felder, auf denen Tausende junge Somabäume heranwuchsen und mit ihnen auch eine neue Generation von Asura. Zu meiner Orientierung drehte ich rasch eine Runde über dem Feld, hielt dann gleich auf den Hafen zu, um auf der Terrasse des Gasthauses zu landen. Nicht ein Schiff lag im Hafen vor Anker. In der Somablüte waren also keine Gäste zu erwarten. Ich freute mich bereits auf ein wenig Ruhe und ein gutes Buch, als ich die Klinke des Gasthauses hinunter drückte und die Somablüte betrat. Im Inneren empfing mich das einladend warme Licht von Kerzen. Bunte Lampions hingen an der Decke und der Hausaltar war mit frischen Blumen und Früchten geschmückt worden. In der Mitte des Raumes fand ich die Wirtin vor. Sie saß zusammen mit ihrer Familie und den übrigen Bewohnern des Gasthauses um einen reich gedeckten Tisch. Ausgelassen scherzend und lachend schienen sie mich zunächst nicht zu bemerken. Jeder von ihnen, selbst Snippy, der junge Asura der sich mit Valin, dem Sohn der Wirtin angefreundet hatte, trug eine bunte Blumengirlande um den Hals, doch nur der Junge hatte dazu noch einen albernen Hut auf dem Kopf. Die unerwartete Szenerie wirkte befremdlich auf mich. Eine Mischung aus Unbehagen und Wut stieg in mir auf, ich wollte mich bereits abwenden, als man mich doch noch bemerkte und die unbeschwerten Tischgespräche schlagartig verstummten. Beinahe panisch sprang Snippy von der Bank und versteckte sich darunter. Frau Kapi erhob sich und sagte: »Sei gegrüßt, Chef. Hast dich ja schon lange nich mehr blicken lassen. Was können wir für dich tun?«

Kurz überlegte ich, ob mir die Frage der Manusya Nara Frau eine Antwort wert war und entschloss mich dann zu einer Gegenfrage: »Was soll das hier? Wozu die Lichter, dieser Blumenschmuck und all der andere Schnickschnack?«

Die Gastwirtin legte daraufhin ihrem Sohn beide Hände auf die Schultern, während sie mich nicht aus den Augen ließ. »Wir feiern heute den Ehrentag unseres Sohnes. Valin wird heute zehn Jahre alt, aber das ist noch nicht alles, wir …« Frau Kapis Redefluss kam ins Stocken, dabei sah sie hilfesuchend die Apsaras an. Kiana stand daraufhin auf und kam auf mich zu. »All der Schmuck und das gute Essen, das Frau Kapi für uns zubereitet hat, ist nicht allein nur wegen Valin. Wir feiern heute auch ein Fest zu Ehren der Göttin Durga, die den Asura Mahisha besiegte und uns nach einem langen Krieg Frieden schenkte. Wir ehren sie am heutigen Tag als die Zerstörerin des Bösen und Beschützerin des Guten.« Kiana sah zu mir auf und ich konnte ihre Angst deutlich spüren. Wieso nur, fragte ich mich, glaubte die Apsara, dass sie etwas von mir zu befürchten hatte? Wusste sie denn nicht, dass auch ich über das Ende des langen Krieges froh gewesen war?

»Auch für uns Asura war es ein langer, schrecklicher Krieg. Und auch ich bin froh, dass Mahisha durch Durga sein Ende fand«, versicherte ich und merkte, wie sich Erleichterung unter allen Anwesenden im Raum ausbreitete und ihre Angst in den Hintergrund trat.

Die Apsara lächelte mich offen an. »Wenn dies so ist, mein Herr, dann feiert doch mit uns. Natürlich nur wenn ihr wollt.« Mit einer einladenden Armbewegung wies sie dabei auf einen freien Platz am Tisch. Ich jedoch rührte mich nicht von der Stelle. Ich musterte die Anwesenden, die mich jetzt alle anstarrten und fühlte mich dabei recht unbehaglich. Ich wollte mich bereits von ihnen abwenden, da sprang eines der Kinder am Tisch auf.

»Schau mal Harkandas! Diese Blumenkränze habe ich selbst gemacht!«, rief die kleine Nadi und hob stolz einen der Kränze hoch. »Der is doch schön, möchtest du den haben? Damit siehst du gleich viel freundlicher aus«, meinte sie und hielt mir das bunte Ding hin. Als ich keine Anstalten machte, es ihr abzunehmen, ließ sie enttäuscht ihre Arme sinken.

Statt meiner nahm Kiana ihr die Kette aus den Händen. »Das ist sehr lieb von dir, Nadi«, sagte sie zu ihr. »Aber du musst verstehen, dass es für den ehrenwerten Harkandas wahrscheinlich das erste Mal ist, dass er zu einer so schönen Feier eingeladen wird. Deshalb darfst du ihm nicht böse sein, wenn er unsere Einladung nicht annehmen möchte.« Die Apsara zwinkerte dem Manusya Nara Mädchen zu, dann richtete sie sich auf und wandte sich an mich. »Ist es nicht so, mein Herr?«, fragte sie und legte den Kopf schief, dabei schenkte sie mir ein anmutiges Lächeln. »Wir haben das Abendessen bereits beendet«, fuhr sie fort. »Prem wollte uns gerade eine Geschichte erzählen. Danach werden meine Schwestern und ich alle mit Musik und Tanz unterhalten. Es soll ein lustiger Abend werden und es wäre uns eine Ehre, wenn ihr ihn in unserer Gemeinschaft verbringen würdet.« Sie hielt mir einladend die Blumenkette hin. Es war eine Geste, die mich eigenartigerweise sehr berührte. Ich zögerte nur kurz, dann neigte ich zum Einverständnis mein Haupt zu ihr herab, tief genug, damit Kiana mir den Blumenkranz überstreifen konnte. Die bunten Farben der Blüten leuchteten auf dem Schwarz meiner Substanz wie ein Feuerwerk am Nachthimmel. Und plötzlich fühlte ich mich nicht mehr wie ein gefürchteter Eindringling, sondern geehrt wie ein lang erwarteter Gast. Ich setzte mich auf den Stuhl, den man mir angeboten hatte und blickte erwartungsvoll in die Runde. »Mama wollte uns gerade eine Geschichte erzählen«, rief Nadi, dabei klatschte sie in die Hände und sah auffordernd ihre Mutter an.

Prem jedoch blickte beschämt zu Boden. Nach kurzem Zögern schüttelte sie den Kopf, ohne aufzusehen. Mit verhaltener Stimme sagte sie: »Ich wollte den Kindern ein Märchen erzählen, doch jetzt, da Harkandas mit uns an einem Tisch sitzt, halte ich das für falsch. Ich möchte den Herrn nicht mit einer Kindergeschichte langweilen.«

Nadi gab daraufhin einen enttäuschen Laut von sich. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, sagte aber kein Wort. Auch alle Übrigen schwiegen, bis Kiana erneut das Wort ergriff: »Was ist mit Euch, mein Herr Harkandas?«, fragte sie. »In Eurem langen Leben müsst Ihr doch einiges erlebt haben, was es wert wäre, uns zu erzählen.«

So aufgefordert fühlte ich sofort eine unangenehme Spannung in mir aufsteigen. Asura teilten weder Geschichten noch ihre eigenen Erfahrungen miteinander. Wir waren nicht gesellig. Und doch hielt mich irgendetwas davon ab, die Bitte der Apsara sofort auszuschlagen. Während ich noch über eine Antwort nachdachte, musste ich an die vielen Bücher denken, die ich gelesen hatte, und an die vielen schönen Stunden, die sie mir bereitet hatten. Jeder Einzelne dieser Texte, die mir die Wirtin stets freundlichst zum Lesen überlassen hatte, stammte aus der Feder eines Manusya Nara. Die Autoren dieses Affenvolkes waren es, die unwissentlich mit mir ihre Erfahrungen, Geschichten und Fantasien geteilt hatten, ohne je davon zu erfahren. War es da wirklich zu viel verlangt, ihnen diese kleine Bitte zu erfüllen?

Sicher nicht.

Mein Blick wanderte langsam über ihre behaarten Gesichter hinweg, die mich so erwartungsvoll ansahen und plötzlich konnte und wollte ich die Kapis nicht enttäuschen. Schließlich stimmte ich zögernd zu und sagte: »Es gibt wirklich eine Geschichte, die mir im Gedächtnis geblieben ist, die ich euch erzählen könnte.«

»Oh, bitte, erzählt sie uns, Herr«, erwiderte Prem, während alle anderen ihr Beipflichteten. Kiana nickte mir ermutigend zu und der junge Asura Snippy lugte jetzt neugierig unter der Bank hervor. Valin beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm einige Worte zu. Wohl um ihm Mut zu machen. Er klopfte dabei auf die Stelle neben sich, woraufhin Snippy auf den freien Platz an seiner Seite zurücksprang. Erst als wieder Ruhe einkehrte und mir alle Anwesenden ihre volle Aufmerksamkeit schenkten, begann ich zu erzählen:

»Noch bevor Yama mich zu seinem Stellvertreter ernannt hat, habe ich ihm als Gerichtsdiener im Totengericht gedient. Mit den Jahren habe ich viele Verstorbene vor seinen Richtstuhl geführt und dabei viel über das Leben der Menschen erfahren. Ein Ereignis ist mir dabei ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Davon möchte ich euch berichten.

Einmal brachte man eine Frau zu mir, die noch vor ihrer Zeit in das Totenreich gelangt war, da ihr Körper so schwer erkrankt war, dass ihre Seele aus Not daraus floh. Da ich nicht wusste, was mit ihr zu geschehen hatte, brachte ich die verängstigte Frau zu Yama, in das Totengericht. Mein Herr musterte sie streng von seinem Thron herab und fragte danach, wer sie sei.

‚Ich bin Anjuli, die Frau des Dorfvorstands‘, gab sie zur Antwort und blickte dabei zu Boden, ohne ihn anzusehen.

Er aber ignorierte das und sagte: ‚Ich habe dich nicht nach deinem Namen gefragt oder wessen Ehefrau du bist, ich habe gefragt, wer du bist.‘

‚Ich bin die Mutter von vier Kindern, zwei Jungen und zwei Mädchen.‘

Auch diese Antwort schien Yama nicht zufriedenzustellen. ‚Ich habe nicht danach gefragt, wessen Mutter du bist, ich frage dich, wer du bist.‘

Ihre Stimme begann vor Angst zu beben. Dabei schien sie zunehmend verzweifelter nach einer Antwort zu suchen, die meinen Herrn zufriedenstellen würde: ‚Ich unterrichte die Kinder meines Dorfes im Lesen und Schreiben‘, antwortete sie schließlich und wagte es, kurz zu ihm aufzusehen.

Mein Herr aber erwiderte ungerührt: ‚Ich habe dich nicht nach deinen Tätigkeiten gefragt, allein wer du bist, möchte ich wissen.‘

Eine Zeit lang sagte die Frau nichts darauf. Offenbar war sie ratlos, was sie noch antworten könnte. Sie schien angestrengt darüber nachzudenken. Schließlich sagte sie: ‚Ich habe stets alle Riten befolgt und nach den Sitten meines Landes ein ehrbares Leben geführt. Ich glaube, dass ich ein guter Mensch bin.‘

Daraufhin wiederholte Yama seine Frage erneut: ‚Weder habe ich nach den Sitten deines Landes gefragt, noch nach deiner Religion oder nach deinem Glauben. Einzig wer du bist, möchte ich wissen.‘

Und so ging es immer weiter. Alles, was die Frau vorbrachte, schien für meinen Herrn keine befriedigende Antwort dazustellen. Schließlich resignierte die Frau und sagte: ‚Ich weiß nicht, wer ich bin, Herr. Ich habe keine Antwort auf Eure Frage. Ich kann Euch nicht die Antwort geben, die Ihr von mir hören wollt. Sollte es aber eine Antwort darauf geben, dann nennt sie mir bitte.‘ Dabei legte sie die Handflächen aneinander und verbeugte sich ehrerbietig vor ihm. Diese schlichte Geste schien meinen Herrn zutiefst zu berühren. Er stieg von seinem Thron herab und blickte durch ihre Augen in ihre Seele hinein.

Nach einer Weile sagte er: ‚Da deine Zeit in meinem Reich noch nicht gekommen ist, und du schon bald wieder in die Welt der Lebenden zurückkehren wirst, werde ich deiner Bitte entsprechen und dir eine Antwort auf diese Frage geben: Es sind deine Ängste, die dir den Blick auf das, was du bist, verwehren. Angst ist der Grund, warum du auf eine so einfache Frage wie diese nicht die richtige Antwort finden kannst. Deine tiefgreifende Befürchtung ist nicht die, dass du unzureichend bist, deine größte Angst ist, über das Messbare hinaus kraftvoll zu sein. Du fürchtest dich davor, zu dir selbst zu stehen. Es ist dein eigenes Licht, nicht deine Dunkelheit, die dir am meisten Angst macht. Du sagtest mir, dass du nur glaubst, ein guter Mensch zu sein, anstatt hier vor mir zu stehen und zu sagen: Ich bin es. Da du dazu nicht den Mut aufbringen kannst und es nicht wagst, dich selbst gut, talentiert oder begabt zu nennen, weißt du nicht, wer du bist.

Doch wer bist du, dich NICHT so zu nennen?

Wer außer dir könnte dich besser kennen, als du selbst?

Du bist ein Teil dieser Welt. Dich selbst klein zu halten, nützt ihr nichts. Es ist nichts Erleuchtetes daran, sich selbst kleinzumachen, nur damit andere um dich herum sich besser fühlen. Du bist dazu bestimmt, für andere zu leuchten. Aus deiner Befangenheit herauszutreten und zu SEIN, was dir vorherbestimmt ist.

Wir alle leben, um das Licht, das in uns wohnt, zu manifestieren. Dieses göttliche Licht, das nicht nur in einigen wenigen von uns existiert, sondern in jedem Einzelnen von uns schlummert. Wenn es dir gelingt, dieses Licht erstrahlen zu lassen, gibst du unbewusst auch anderen Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun. Wenn du dich von deinen Ängsten befreien kannst, wird allein deine Gegenwart auf andere Menschen wirken. Und dann wirst du auf meine Frage aus dir selbst heraus eine Antwort wissen.‘ *

(*Frei nach einer Rede von Marianne Williamson)

Nachdem mein Herr ihr dies offenbart hatte, verschwand die Frau aus dem Totengericht, so plötzlich wie sie erschienen war. Offenbar hatte sie die schwere Krankheit schließlich überwinden können, sodass ihre Seele wieder in ihren Körper zurückkehren konnte.

Nach diesem Ereignis habe ich mich oft gefragt, wie es der Frau danach wohl ergangen ist? War sie nach diesem Erlebnis wie verwandelt? Haben die Worte meines Herrn etwas in ihrem Leben bewirkt? Ich kann es nicht sagen, aber ich möchte es glauben, denn auch wenn mein Herr nicht zu mir gesprochen hat, haben seine Worte etwas in mir berührt.«

Als meine Erzählung endete, war es im Gastraum totenstill. Jeder starrte mich an, ohne etwas zu sagen, und erneut fühlte ich mich unbehaglich in ihrer Mitte. Doch schließlich durchbrach Kiana die unangenehme Stille. »Diese Geschichte, sie ist einfach unglaublich, sie ist wie ein Geschenk«, sagte sie. »Sie macht mich sprachlos und demütig zugleich. Und wie mir scheint, geht es nicht nur mir allein so.« Kiana sah die anderen an, die nach wie vor schwiegen. Daraufhin ergriff Prem das Wort.

»Ich bin so froh, dass Harkandas uns diese Anekdote erzählt hat. Die Geschichte war ganz wundervoll und kein Vergleich zu dem einfachen Kindermärchen, das ich euch erzählen wollte.« Als Dankesgeste legte Prem ihre Hände aneinander und neigte den Kopf. Die übrigen Erwachsenen am Tisch taten es ihr gleich, nur Valin brauchte erst von Uma einen kleinen Stups, bis er dem Beispiel der Erwachsenen folgte. Ich fühlte mich geschmeichelt und wusste zugleich, dass es gut war, diese Erfahrung mit den Kapis und den drei Apsaras am Tisch geteilt zu haben.

Die Apsara neben mir sah mich jetzt auf eine Weise an, die ich nicht zu deuten wusste. Ihre Augen hatten eine schwer zu beschreibende Farbe angenommen. Diese eine, halbgöttliche Frau schien plötzlich um einiges wirklicher zu sein als alle anderen, die rings um mich herum saßen. Diese sonderbare Wirkung hatte die Dame Kiana jedes Mal auf mich, wenn sie sich in meiner Nähe aufhielt. Als sie sich von mir abwandte und vom Tisch aufstand, klatschte sie in die Hände, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. »Wie versprochen, werden meine Schwestern und ich euch jetzt mit Musik und Tanz unterhalten, zu eurer Freude und zu Ehren der Göttin Durga. Dazu möchte ich euch alle bitten, mir hinaus auf die Terrasse zu folgen.«

Die kleine Nadi sprang als erste vom Stuhl. »Dürfen wir dazu auch tanzen?«, fragte sie und hüpfte aufgeregt neben der Apsara her.

»Natürlich darfst du das. Komm mit, mein Schatz.« Sie nahm das Mädchen an die Hand und führte sie hinaus ins Freie. Alle anderen folgten ihr nach, nur Prem blieb mit ihrer jüngsten Tochter zurück, die schlafend in ihren Armen lag. »Ich komme nach«, rief sie, »ich muss nur schnell Lali in ihr Bett bringen.«

Auch wenn die Lebensart der Manusya Nara mir noch immer fremd war, wusste ich dieses Volk inzwischen zu schätzen. Sie besaßen eine natürliche Freundlichkeit, die meinem eigenen Volk fehlte. Man hätte diese Eigenschaft auch einfältig oder naiv nennen können, doch dieser Eindruck täuschte. Manusya Nara waren keineswegs dumm. Es war eher der Mangel an schlechten Erfahrungen, der ihren Charakter geformt hatte und der sie so liebenswert machte. Ich mochte sie. Inzwischen war das Gasthaus der Kapis ein wichtiger Rückzugsort für mich geworden, an dem ich mich stets wohlfühlte. Während die Apsaras ihre Instrumente stimmten, setzte ich mich etwas abseits von den Kapis an einen Tisch und freute mich bereits auf einen Abend voller Musik, da ertönte vom Hafen her ein Alarmruf. Ich sprang auf.

»Was is das, Chef?«, fragte mich die Wirtin.

»Etwas kommt auf den Hafen zu.«

»Is vielleicht eines unserer Schiffe«, meinte Alok und sah wenig besorgt aufs offene Meer hinaus. »Ich kann da gar nichts erkennen.«

Ein Segelschiff der Manusya Nara hätte keinen Warnruf zur Folge gehabt und damit alle Asura in Hörweite alarmiert. Das wusste ich, aber das wollte ich den Kapis nicht sagen. Ich legte den Blumenkranz ab und reichte ihn Uma. »Geht ins Haus und verschließt die Türen. Ich werde nachsehen, was da auf uns zukommt und mich gegebenenfalls um diese Eindringlinge kümmern.«

Ich flog auf und ließ das Gasthaus mit ihren Bewohnern hinter mir, um kurz darauf am Hafen zwischen Hagun und Kardun, den beiden Hafenmeistern zu landen. Keiner von beiden sagte ein Wort, doch Kardun wies in eine Richtung. Ich brauchte nur Sekunden, bis ich am Horizont das Himmelsschiff entdeckte, das auf den Hafen zusteuerte.

Ein Schiff der Devas war es also, das den Alarm ausgelöst hatte. Was keineswegs eine Entwarnung war. Dies war etwas, dass ich nach dem überraschenden Angriff von Skanda gelernt hatte. Inzwischen hatte sich hinter mir ein Wall aus schwarzen Leibern versammelt. Ohne dass es dazu einen direkten Befehl gebraucht hätte, bereitete sich jeder einzelne meiner Brüder, genau wie ich, auf einen Angriff vor. Ich vertraute darauf, dass sie die Insel genauso entschlossen verteidigen würden wie ich selbst. Wenn es dazu kommen sollte, waren wir bereit. Khavāṣpa gehörte uns und niemand würde uns von hier wieder vertreiben können, koste es was es wolle.

Während immer mehr Asura sich kampfbereit zu den anderen gesellten, sah ich zu, wie das Himmelsschiff näherkam. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, konnte ich deutlich das goldene Wappen des Devakönigs erkennen. Aber konnte ich wirklich sicher sein, dass Indra sich auch an Bord befand? Falls ja, warum hatte er mich dann nicht über sein Kommen vorab informiert? Beunruhigt beschloss ich abzuwarten und die Ereignisse auf mich zukommen zu lassen. Während ich dem Himmelsschiff entgegensah, das mattweiß und golden im Mondlicht schimmerte, ließ meine Anspannung langsam nach. Auch wenn das Schiff unangekündigt auf die Insel zusteuerte, war es doch eher unwahrscheinlich, dass dies in feindlicher Absicht geschah. Und während mir dies durch den Kopf ging, spürte ich plötzlich Yamas Präsenz, so als würde er direkt neben mir stehen. Und ganz deutlich vernahm ich seine Stimme: ‚Nichts von dem, was du befürchtest, wird heute Nacht geschehen. Hab Vertrauen, Harkandas.‘

Als dann das Schiff beidrehte und sich langsam zu Boden senkte, war meine Aufregung beinahe ganz verschwunden und ich sah in aller Ruhe zu, wie die Luke geöffnet und eine Rampe ausgefahren wurde. Im beleuchteten Bauch des Schiffes begann sich etwas zu regen. Ich hörte einzelne Stimmen, ohne die Worte selbst verstehen zu können. Dann endlich trat ein einzelner Deva aus dem Schiff heraus. Nicht Indra, so wie ich es erwartet hatte, sondern der Deva Matali war es, der vorsichtig über die Rampe auf mich zukam. Dabei reckte er beide Arme in die Höhe, wohl um mir zu verdeutlichen, dass er nicht bewaffnet war, und rief: »Ich komme in Frieden mit einigen Neuigkeiten zu Euch.«

»Ihr hättet mich im Vorfeld über Euer Kommen informieren sollen«, grollte ich. »Ich habe Euch nicht hergebeten.«

Der Deva senkte die Arme, dabei fuhr eine Hand durch sein orangerotes Haar und verharrte in Höhe seines Nackens. »Tut mir sehr leid, dass ich hier so unangekündigt hereingeplatzt bin. Aber ich habe Gründe, mein Kommen nicht formell angekündigt zu haben. Wenn Ihr erlaubt, werde ich sie Euch gerne näher erläutern. Es ist … kompliziert. Können wir das eventuell unter vier Augen besprechen?«

Natürlich war ich begierig darauf, zu hören, was der Deva mir zu sagen hatte. Es wäre mehr als nur töricht gewesen, ihn jetzt zurückzuweisen. »Ihr könnt mir ins Gasthaus folgen«, knurrte ich. »Für alle anderen auf Eurem Schiff gilt diese Einladung jedoch nicht.«

Ich wandte mich von Matali ab und gab den noch immer kampfbereiten Asura am Hafen den Befehl, sich zurückzuziehen. Der Deva jedoch machte trotz meiner Einladung kehrt und verschwand wieder im Bauch des Schiffes, anstatt mir, wie erwartet zu folgen. Ich wartete geduldig, obwohl die Verzögerung mich ärgerte. Im Bauch des Schiffes hörte ich den Deva mit anderen sprechen, ohne seine Worte zu verstehen. Es dauerte einige Minuten, bis Matali erneut aus der Luke trat und auf mich zueilte.

»Entschuldigt bitte, dass ich Euch habe warten lassen. Einigen Besatzungsmitgliedern gefällt es gar nicht, dass ich ohne jeglichen Begleitschutz allein mit euch sprechen will.«

»Benötigt Ihr dafür etwa die Erlaubnis der anderen?«

»Nicht unbedingt. Die Wachen sind aber für meinen Schutz mitgekommen und diese Aufgabe können sie so natürlich nicht erfüllen.«

»Hm«, machte ich, dann wandte ich mich von ihm ab und ging auf die Somablüte zu. Der Deva schloss zu mir auf. »Ich komme von Rajadhanu, der Hauptstadt des Manusya Nara Reiches. Von dort aus habe ich mich auf direktem Wege zu Euch begeben, um Euch über die neusten Ereignisse in Sachen Rakshasa zu informieren.«

»Hm«, brummte ich erneut, woraufhin der Deva schwieg, bis wir das Gasthaus erreichten. Die Eingangstür zum Gasthaus war verschlossen.

»Wer da?«, tönte eine Stimme aus dem Inneren, als ich an der Tür rüttelte.

»Was soll die dumme Frage? Macht auf! Ich bin es, Harkandas, mit einem Gast.« Ich hörte, wie ein Schlüssel sich im Schloss drehte und kurz darauf die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde. Alok spähte vorsichtig hinaus, bevor er sie ganz aufstieß und beiseitetrat.

»Es ist der Chef in Begleitung von Deva Matali«, rief er nach hinten. »Hab doch gleich gesagt, dass ihr euch nicht zu fürchten braucht, ihr Schisshasen.« Ein breites Grinsen flog über sein Gesicht, wobei sich seine spitzen Eckzähne zeigten. Er sah zu mir auf. »Wir ham nur getan, was du uns gesagt hast, Chef. Wir ham uns verrammelt und uns sogar bewaffnet. Für den Fall, dass uns diese fiesen Rakshasa überfallen wollen, wären wir vorbereitet gewesen.« Zum Beweis hob er eine Spitzhacke hoch. »Ich bin aber froh, dass wir die jetzt wieder in den Schuppen räumen können.« Er stellte das Werkzeug an der Wand ab. »Es ist schön, dich wiederzusehen, Matali und das an einem so glückverheißenden Abend wie diesem. Willkommen!«

»Danke«, erwiderte der Deva. »Ich habe die Zeitverschiebung, die zwischen hier und Rajadhanu liegt, gar nicht bedacht. Die Feierlichkeiten in der Hauptstadt gingen dort gerade zu Ende, als ich die Hauptstadt der Manusya Nara verließ. Es tut mir leid, dass ich eure Feierlichkeiten zu Ehren der Durga stören muss, indem ich unangemeldet hier hineinplatze.«

»Ach was, halb so wild«, meine Uma, die sich jetzt in den Vordergrund drängte. »Was darf ich Euch bringen? Es is von allem noch reichlich da.«

Mein Unmut über so viel unsinniges Geschwätz brach sich plötzlich Bahn. »Deva Matali ist nicht hergekommen, um mit euch das Fest der Durga zu feiern oder sich den Bauch bei euch vollzuschlagen.«

»Ihr habt vollkommen recht«, sagte Matali zu mir. »Ich habe wichtige Dinge mit Harkandas zu besprechen. Danach bleibt aber bestimmt noch genügend Zeit, um den Abend angemessen ausklingen zu lassen. Fürs Erste, bitte ich, uns zu entschuldigen.« Der Deva wandte sich an mich. »Wir sollten hoch in ein Zimmer gehen«, schlug er vor.

»Folgt mir!« Ich wandte mich ab und hielt auf die Treppe zu, ohne mich noch einmal zu dem Deva umzudrehen. Wozu auch? Er würde mir folgen. Ich stieg die Stufen hinauf bis zum Dach, dann ging ich den Flur entlang bis zum letzten Zimmer unter der Dachschräge und öffnete die Tür. Erst dann sah ich mich wieder nach Matali um. Der Deva eilte über den Flur auf mich zu. »Ihr seid langsam«, sagte ich.

»Ich war ein wenig überrascht über Euren plötzlichen Aufbruch«, erklärte der Deva und grinste. »Ein Zimmer unter dem Dach? Das ist gut, hier wird uns bestimmt niemand stören.«

»Es ist mein Zimmer«, sagte ich und trat ein.

Der Deva folgte. »Es ist klein«, meinte er, während er sich im Raum neugierig umsah. Natürlich war mir klar, dass der Raum für jemanden in meiner Position nicht angemessen war. Die Einrichtung war schlicht, nur das Nötigste war vorhanden - ein Sessel, ein kleiner Tisch, ein Schrank, eine Truhe und ein Bett. Das Zimmer genügte mir, um mich vor Regen und vor allzu laut feiernden Leuten zurückziehen zu können. Mehr brauchte ich nicht. »Es reicht aus«, entgegnete ich. Der Deva ging zu dem einzigen Sessel im Raum, dabei streifte sein Blick flüchtig die Pfauenfedern, die in einer Vase standen. »Darf ich mich setzen?«, fragte er.

»Hm!«

»Danke.« Lässig ließ er sich hineinfallen, lehnte sich entspannt zurück und schlug die Beine übereinander.

Ich setzte mich ihm gegenüber auf das Bett, wobei ich ihn nicht einen Moment aus den Augen ließ. Meine Ungeduld brach sich Bahn. »Sprecht!«, knurrte ich.

Der Deva lachte. »Das mag ich so an Euch, Harkandas. Ihr haltet Euch nicht mit belanglosen Höflichkeiten auf, sondern kommt gleich zur Sache.« Er gab seine lässige Haltung auf, beugte sich vor, sprang auf und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. »Es ist so«, begann er. »In einigen Tagen findet in Rajadhanu ein Kriegsrat statt. Wo wir mit Vertretern der Manusya Nara und der Naga über unser gemeinsames Vorgehen gegen die feindlichen Invasoren im bevorstehenden Krieg sprechen werden.«

Eine Mischung aus Wut und Aufregung ließ meine Substanz vibrieren. »Was ist mit uns? Indra hat Yama um Unterstützung gebeten, als er hier auf Khavāṣpa gewesen ist. Will er jetzt etwa darauf verzichten, nur weil ich an seine Stelle getreten bin?«

Beschwichtigend hob Matali die Arme. »Keinesfalls. Doch, wie Ihr sicher wisst, gibt es unter den Devas generell starke Vorbehalte gegen die Asura. Viele von uns können es sich nicht vorstellen, Seite an Seite mit Eurem Volk in den Krieg zu ziehen. Sie vertrauen Euch nicht. Versteht Ihr? Und genau aus diesem Grund habe ich Euch im Vorfeld nicht kontaktieren können.«

»Nein, das verstehe ich nicht.«

Der Deva seufzte, er setzte sich in den Sessel zurück und sagte: »Die Sache ist viel komplizierter als Ihr glaubt. Indra möchte, dass ich Euch trotz der internen Widerstände nach Rajadhanu bringe, damit Ihr als Vertreter Eurer Art am Kriegsrat teilnehmen könnt. Davon sollen unsere Gegner jedoch nichts wissen. Wir möchten sie sozusagen vor vollendete Tatsachen stellen. Dazu habe ich aber zunächst das Einverständnis von König Hanuman gebraucht. Als ich das hatte, bin ich auf direktem Wege nach Khavāṣpa geflogen. Ich habe davon abgesehen, Euch über mein Kommen zu informieren, weil die üblichen Kommunikationswege von anderen Devas abgehört werden könnten.«

»Hm«, brummte ich. »Wenn ich das richtig verstanden habe, soll ich also morgen früh mit Euch in die Hauptstadt der Manusya Nara reisen?«

»Richtig.«

»Warum so früh? Der Kriegsrat findet doch erst in einigen Tagen statt?«

»Das war Hanumans Bedingung. Ihr müsst wissen, dass auch er Vorbehalte gegen Euer Volk hat. Er möchte Euch im Vorfeld kennenlernen, Euch beobachten, wenn Ihr so wollt.«

»Er will also wissen, ob ich mich in seiner Stadt benehmen kann?«, schloss ich.

Der Deva nickte. »Exakt, so kann man das sehen.«

»Verstehe.«

»Ich fände es gut, wenn Kiana Euch bei dieser Unternehmung begleiten würde, aber das ist nur ein Vorschlag meinerseits.«

»Wieso das? Und wieso gerade sie?«

»Kiana hat mir bei meinem letzten Besuch auf Khavāṣpa erzählt, dass sie in Rajadhanu aufgewachsen ist. Sie kennt sich also sehr gut in der Stadt aus. Sie könnte Euch dort eine wertvolle Stütze sein. Im Übrigen hatte ich den Eindruck, dass Ihr mit ihr gut zurechtkommt.«

Über das Gesagte dachte ich einen Moment lang nach. Sein Vorschlag erschien mir keineswegs dumm. »Es ist wahr, die Apsara hat sich schon oft als nützlich erwiesen«, gab ich zu. »Ich werde es ihr erlauben, mich zu begleiten.«

»Wunderbar.« Matali sprang auf und ging zur Tür. »Ich denke, das Wichtigste haben wir besprochen. Morgen, auf dem Flug nach Rajadhanu, werden wir sicher noch genügend Zeit für weitere Gespräche haben. Wenn Ihr erlaubt, möchte ich jetzt gerne den schönen Abend genießen. Vielleicht bei einer Flasche Wein und einem guten Abendessen.« Er verließ das Zimmer, ohne dass ich ihn entlassen hatte, was ich als äußerst respektlos empfand. Doch mein Groll legte sich, als ich die Stufen hinabstieg und von der Terrasse die Musik der Apsaras hörte. Vielleicht wird dieser Abend ja tatsächlich noch schön, dachte ich bei mir und trat ins Freie hinaus.

Orb Ria

Der Morgen kam früh. Sonnenlicht stahl sich durch die Lücken der Vorhänge, streichelte sanft über Orbs Wangen und malten helle Streifen auf den Fußboden. In ihren Augenwinkeln trockneten die Tränen. Die Devi lag in einem erschöpften Schlummer da und träumte:

Yamas Küsse spürte sie überall auf ihrer Haut. Zärtlich wie der Sommerwind strichen seine Hände über ihren Leib. ‚Wenn ich fort bin‘, hörte sie ihn flüstern, ‚erinnere dich an mich. Schließ deine Augen, spüre meine Lippen auf deiner Haut und höre, wie meine Stimme deinen Namen ruft. Wenn du diesen Augenblick am Leben erhältst, werden wir uns wiedersehen.‘

Als sie erwachte, setzte sich Orb ruckartig auf. Die Erinnerung an ihr letztes Zusammensein mit Yama war so deutlich präsent, als hätte er gerade erst das Zimmer verlassen. Sie fuhr mit einem Finger über ihre Lippen, dabei schloss sie die Augen, um den Traum noch ein wenig länger festhalten zu können. Auf seltsame Art fühlte sie sich dadurch getröstet. Yama war noch nah bei ihr und dieses Gefühl gab ihr neue Zuversicht. Sie schlug die Bettdecke beiseite, stand auf und verließ das Zimmer. Sie fand Karana in der Küche vor, wo ihre Freundin gerade das Frühstück vorbereitete. Als Karana sie bemerkte, hellte sich ihr Gesicht auf und sie schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

»Guten Morgen. Fühlst du dich schon besser?«