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»Was hast du vor?«, fragte der Dämon außer sich vor Zorn. »Was du tust, ist völlig sinnlos. Du gehörst mir. Hör auf uns zu schwächen!« Auf einer idyllischen Insel lebt Jeng ein sorgloses und friedliches Leben, fernab von Gewalt und Zwängen. Bis seine Welt plötzlich von einem grausamen Dämon erschüttert wird, der Besitz von seinem Körper ergreift und jeden tötet, den Jeng liebt. Der Dämon Varun entführt Jeng in eine völlig fremde und entsetzliche Welt. Zunächst glaubt Varun mit dem Menschen leichtes Spiel zu haben. Doch schon bald muss der Dämon erkennen, dass dies nicht so einfach ist, wie er glaubt, denn Jeng wehrt sich mit Waffen, die er niemals für möglich gehalten hätte. »Der verhüllte Gott« ist ein Science-Fiction-Fantasy-Roman, der von den Mythen und Märchen Asiens inspiriert wurde. Er erzählt von der Entstehungsgeschichte des Totengottes Yama und von seinem inneren Kampf zwischen dem dämonischen und menschlichen Teil seines Wesens. Erster Teil der Yama-Chroniken, abgeschlossener Roman.
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Seitenzahl: 647
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Prolog
Teil 2: Die ganze Welt auf einem Blick
20 Jahre später: Varun
Jeng
Varun
Der letzte Tag im Paradies
Varun
Jeng
Varun
Weltuntergang
Selbsterfahrung
Krieg
Verbrannte Erde
In der Leere
Die Große Mutter
Erwachen
Varun
Vertreibung
Nie Allein
Dialog
Aufbruch
Wanderschaft
Der Schatten liebt den, der ihm Grenzen setzt
Mahisha
Kundschafter
Tempel
Herrschaft
Heimat
Yama
Unterwelt
Richter der Toten
Rache
Götter
Nirva: Zwei Jahre später
Eine Woche später
Ein Jahr später
Zehn Jahre später: Abschied
Zwei Jahre später
YAMANTAKA
Öffne dein inneres Auge,
dem lichtlosen Raum.
Hab keine Angst!
Du wirst
in der Dunkelheit
sehen.
Über dem Schlachtfeld schwebten bedrohlich die gewaltigen Himmelsschiffe des Feindes. Ein lautes, fast schmerzhaftes Sirren lag in der Luft, das gelegentlich von ohrenbetäubenden Donnerschlägen übertönt wurde. Selbst aus großer Entfernung spürte Varun noch die Erschütterungen der Detonationen tief in seiner Substanz, während er von einer Anhöhe aus die Kämpfe verfolgte und angespannt auf den Angriffsbefehl seines Herrn wartete.
»Dieser Krieg dauert bereits viel zu lange«, dachte er bei sich. »Zu viele meiner Krieger sind bereits gefallen. Wenn ich Mahisha weiter folge, werde auch ich früher oder später sterben!«
Varun war ein Asura - ein Dämon der Urzeit; genau wie alle, die unter seinem Befehl standen. Einst hatte seine Art zahlreich die Welt bevölkert, bis die Devas[1]* nach Nirva kamen und die Asura aus ihrer Heimat vertrieben und sie in die Unterwelt verbannten. Seitdem waren die Devas, die sich selbst für Götter hielten, ihre Todfeinde. Der Zorn auf sie war das einzige, was die Asura miteinander teilten, denn die Natur der Dämonen war zutiefst egoistisch.
»Devas unterstützen und schützen sich gegenseitig. Wir tun das nicht«, erkannte Varun. Diese Einsicht war bitter. Das Fehlen von Zusammenhalt schwächte die Kampfkraft der Asura und machte sie anfällig für die gezielten Angriffe des Feindes.
Von Weitem beobachtete Varun, wie der Feind die Attacken auf einzelne Asura konzentrierten. Gemeinsam schlugen sie mit ihren mächtigen Waffen zu, bis der Angegriffene sie nicht mehr abwehren konnte und starb. Keiner seiner Brüder eilte dem in Bedrängnis Geratenen zu Hilfe. Jeder von ihnen war sich selbst der Nächste. Nur die schwarzen Rauchwolken, die der Wind über das Schlachtfeld trieb, zeugten von ihrem Tod.
Varun hörte das Kreischen seiner sterbenden Kammeraden und spürte wie die Spannung in seiner Substanz dabei anstieg. »Die Devas sind unsterblich, wir sind es nicht! Sie bringen ihre Verwundeten fort und pflegen sie gesund. Sie kommen wieder und kämpfen weiter. Ihre Natur ist anders als unsere. Sie werden sich uns niemals unterwerfen!«
Diese Gedanken hatten Varun schon oft gequält, doch gerade jetzt drängten sie sich mit beängstigender Intensität in sein Bewusstsein.
In unzähligen Schlachten hatte er die ihm unterstellten Asura in den Kampf geführt, doch die Zahl seiner Krieger hatte sich in diesen erbitterten Kämpfen von Mal zu Mal erheblich verringert. Weniger als achttausend standen ihm nun noch zur Verfügung. Varun schauderte bei dieser Erkenntnis. Er war ihr General, ihr Anführer, doch konnte er sich auf sie verlassen? Würden sie ihm zu Hilfe eilen, wenn er vom Feind bedrängt wurde?
Wohl kaum!
Unter seinesgleichen herrschte die Hierarchie des Stärkeren, nur diesem Prinzip gehorchten sie. Darum folgten sie Mahisha in den Krieg. Er war ihr unangefochtener Herr, unvorstellbar mächtig und von einem Zauber geschützt, der ihn vor jeglichem Schaden bewahrte. Dieser Schutz machte ihn fast unangreifbar, sodass niemand ihn zu bezwingen vermochte.
»Wir können diesen Krieg nicht gewinnen«, erkannte Varun verzweifelt. »Doch Mahisha will das nicht einsehen.«
Während er auf die Weisungen seines Herrn wartete, wuchs in ihm der Widerstand weiter, bis er einen ungeheuerlichen Entschluss fasste.
Als der Befehl zum Angriff erfolgte, stemmte er sich mit aller Macht gegen den inneren Zwang seinem Herrn zu gehorchen. Trotz des beinahe schmerzhaften Gefühls, das infolge seiner Weigerung in ihm entstand, blieb er, wo er war.
Mit großer Mühe wandte er sich vom Schlachtfeld ab und bewegte sich langsam vom Kampfgeschehen fort. Verwirrt und führerlos blieben die ihm unterstellten Asura zurück.
Sich gegen Mahishas Willen zu stemmen, kostete ihn große Kraft. Die Luft erschien ihm zäh wie flüssiges Blei. Dennoch bescherte ihm sein Widerstand eine tiefe Befriedigung, und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich von dem Zwang zu gehorchen befreit.
Als er fühlte, dass sein Herr sich näherte, war er ganz ruhig. Er wusste, Mahisha kam, um ihn zu bestrafen, denn Ungehorsam konnte er nicht dulden. Doch Varun fürchtete nicht um sein Leben, denn Asura konnten einander nicht töten, keinem seiner Artgenossen war dies je gelungen. Was er fürchtete, war vielmehr der Verlust seiner Macht, die er in endlosen Kämpfen angehäuft hatte. Jeder Sieg hatte dabei seine Substanz und sein Selbstbewusstsein gestärkt.
Instinktiv nahm er die Haltung der Unterwerfung an, als sein Herr ihm entgegen trat. Durch die Nähe konnte Varun das Knistern der Magie förmlich spüren, die Mahisha umgab.
Zornig entfaltete Mahisha seine Substanz zu vollen Größe und gab seinem Kopf die Form eines Büffelschädels. »Du verweigerst mir den Gehorsam, Varun? Glaubst du etwa, du kannst mich besiegen?«
Bedrohlich scharfe Klingenhände entwuchsen Mahishas Substanz. Varun spürte, wie sich die Spannung in der Luft verdichtete. Die Stille, die nach dieser Frage folgte, wurde unerträglich, bis er den Blick seines Herrn aufsässig erwiderte und Varun den Mut fand ihm mit fester Stimme zu antworten: »Nein, das glaube ich nicht, Herr. Dennoch weigere ich mich, für Euch weiterzukämpfen.«
Mahishas Substanz begann, zornig zu sirren. »Was sagst du da? Ich bin dein rechtmäßiger Herr. Du musst mir gehorchen!«
Trotzig wagte Varun, zu widersprechen. »Der Krieg ist nicht zu gewinnen. Die Devas werden uns vernichten. Wenn ich Euch weiter folge, werde ich und jeder andere Asura sterben.«
»Du Feigling verrätst mich? Meine Krieger sind in der Überzahl. Ich werde die Götter aus Nirva vertreiben und sie in die Unterwelt verbannen. Genauso wie sie es einst mit uns getan haben. Ich werde sie zwingen, den Unsterblichkeitstrank mit mir zu teilen. Hast du vergessen, was sie uns angetan haben, Varun?«
»Nichts davon habe ich vergessen. Ich hasse die Götter genauso wie Ihr. Doch ich sage, wir können nicht siegen. Seht Ihr denn nicht, dass sie uns töten? Noch sind wir in der Überzahl, doch das ist nur eine Frage der Zeit. Die Götter werden nicht kapitulieren. Und den Trank der Unsterblichkeit werdet Ihr von ihnen nicht erhalten.«
»Du erkennst also meine Überlegenheit an, weigerst dich aber, meinem Befehlen zu folgen?«
»JA!«, spie Varun ihm aufgebracht entgegen. Im Angesicht der Verblendung seines Herrn, flammte siedend heißer Zorn in ihm auf.
Ohne Vorwarnung schlug Mahisha zu. Seine Klingenhände prallten gegen Varuns Substanz und entrissen ihm Energie. Varun wehrte sich mit ganzer Kraft, doch all seine Kampferfahrung und Stärke waren gegen seinen Herrn nutzlos. Der Zauber, der auf Mahisha lag, warf jeden seiner Angriffe auf ihn selbst zurück.
Varun signalisierte seine Niederlage. Davon unbeeindruckt schlug Mahisha weiter auf ihn ein. Hilflos spürte Varun, wie ihn seine in Jahrtausenden angesammelte Kraft verließ. Mahisha beendete seine Attacke erst, als kaum noch etwas davon übrig war.
»Jetzt hast du die Substanz, die einem Feigling und Verräter wie dir gebührt. Kehre in die Unterwelt zurück. Von heute an bist du dorthin verbannt. Du wirst sie nie mehr verlassen und nicht teilhaben können an meinem unausweichlich bevorstehenden Sieg.«
Ohne ein weiteres Wort gehorchte Varun und verließ den Schauplatz seiner Niederlage.
Dabei erfüllte ihn eine unbegreifliche Zufriedenheit. Hatte er nicht gerade alles verloren, was Wichtigkeit für ihn besaß?
Seit Anbeginn der Zeit war er immer auf der Hut gewesen vor den Angriffen seiner Artgenossen. Nie hatte es Ruhe vor diesen Kämpfen gegeben, nie Muße, einen Sieg zu genießen. Doch jetzt, auf dem Rückweg in die Unterwelt war er frei von all diesen Zwängen.
Da Mahisha ihm nicht befohlen hatte schnellstmöglich in die Unterwelt zurückzukehren, ließ Varun sich Zeit. Er beobachtete die großen Tierherden, die über das Land zogen, bestaunte die vielfältige und üppig bunte Flora, und in der Nacht betrachtete er müßig die Sterne, deren Anblick er für so lange Zeit entbehrt hatte.
Erst, als er sich dem Zugang zur Unterwelt näherte, ergriff ihn eine nie gekannte Schwermut. »Vielleicht werde ich die Schönheit von Nirva niemals mehr wiedersehen«, dachte er wehmütig und verharrte lange Zeit vor dem Eingang. Doch er war zu schwach, um sich erneut dem Willen seines Herrn zu widersetzen, also wandte er sich schließlich von Nirva ab und trat in die lichtlose Ödnis ein.
* * *
Lange durchstreifte Varun allein die düsteren Lande der Unterwelt, bis nach einer gefühlten Ewigkeit seine Brüder zurückkehrten. Brennende Neugier trieb ihn an, als er sich einem Artgenossen näherte, um endlich etwas Neues von ihm zu erfahren. »Was ist geschehen?«, fragte er. »Hat Mahisha kapituliert?«
Der angesprochene Asura gab nur knapp und höchst widerwillig antwort: »Mahisha wurde von der Göttin Durga besiegt. Der Krieg ist vorüber.« Mit diesen Worten wandte sich sein Artgenosse von ihm ab und ging weiter. Mehr erfuhr Varun nicht.
Der Krieg war vorüber, doch Frieden war nicht in Sicht. Sofort begannen die Dämonen um die Nachfolge Mahishas zu kämpfen. Jahre vergingen, in denen die Asura unerbittlich stritten. Doch keiner von ihnen war stark genug, um seinen Herrschaftsanspruch lange genug zu halten und zu festigen. Kaum erungen wurde ihnen die Macht sofort wieder entrissen. Seit Mahishas Sturz herrschte Chaos im Totenreich. Bis zu dem Tag, als unerwartet ein helles Licht mitten unter ihnen erschien und abrupt alle Kampfhandlungen endeten.
Wie Motten fühlten sich die Asura von der Lichterscheinung angezogen. Das Licht rief und lockte sie zu sich. Erwartungsvoll umringten sie die Erscheinung. In seiner Nähe spürte jeder von ihnen eine nie zuvor gekannte Glücksseligkeit. Sie verharrten und warteten geduldig, bis eine Stimme erklang: »Schlaft!«, befahl sie. Nachdem die Erscheinung dieses eine Wort gesprochen hatte, begann es heller zu strahlen. Panik breitete sich unter den Asura aus, als das Licht ihnen langsam das entzog, was für jeden Einzelnen von ihnen von größter Bedeutung war. Es nahm ihnen ihre Substanz, ihre Macht, ihr Selbst und ganz zum Schluss ihre Erinnerung.
In der Hitze des Spätnachmittages zogen sie durch den Wald. Die Kinder, braun und nackt, huschten lachend mit wehenden Haaren über den gelben Blätterteppich. Sonne und Schatten färbten ihre Haut mal wie Honig und mal wie dunkle Korkeiche. Tren, der voranging und die kleine Gruppe anführte, blieb stehen und wandte sich den Kindern zu. »Wir sind da. Hier werden wir heute übernachten und dann morgen in aller Frühe zum Berg der Ahnen aufbrechen.« Er deutete auf die kraftvoll sprudelnden Quelle zu seinen Füßen. »Dies ist der Ursprung des großen Mutterflusses. Sein Wasser ist uns heilig. Ihr dürft aus dieser Quelle trinken, so viel ihr wollt. Der morgige Aufstieg wird sehr anstrengend sein, also ruht euch jetzt gut aus.«
»Hier gibt es auch Beeren«, verkündete Ansa und stopfte sich gierig welche in den Mund. Die übrigen Kinder sahen den Jungen entgeistert an.
»Ansa«, tadelte Tren. »Wir sind auf einer Pilgerreise. Wir fasten bis morgen Abend. Auch du hast dem zugestimmt. Hast du das vergessen?«
»Aber ich habe solchen Hunger«, beklagte sich der Junge und verzog dabei trotzig das Gesicht.
»Gut, wenn du jetzt etwas essen möchtest, steigen wir morgen ohne dich auf den Berg.« Tren sah ihn mit strengem Blick an. »Du kannst hier auf uns warten oder nach Hause zurückkehren.«
Sofort ließ Ansa die Beeren in seiner Hand fallen. »Nein, ich will ja mitkommen«, bekräftigte er.
Trens kleine Gruppe bestand aus fünf Jugendlichen: Tara und Siva, zwei Mädchen, beide vierzehn Jahre alt, und drei Jungen: Feren der Älteste war sechzehn, Ansa fünfzehn und Jeng war mit seinen zehn Jahren der Jüngste.
Tren hatte eigentlich nicht vorgehabt, den Jungen mitzunehmen, da es in ihrer Gemeinschaft üblich war, dass man erst zu Beginn der Pubertät seine erste Pilgerreise unternahm. Doch Jeng hatte so hartnäckig darum gebettelt, sie begleiten zu dürfen, dass Tren schließlich seinem Drängen nachgegeben hatte. Seine Befürchtung, dass das Fasten und die anstrengende Wanderung zu viel für ihn sein würden, erwies sich als unbegründet. Im Gegenteil, Jeng hielt gut mit und wirkte dabei erstaunlich ernst für einen zehnjährigen Jungen. Nachdem sie ihr Nachtlager mit Farnen und Gräsern gut ausgepolstert hatten, setzte sich Tren zu ihm. »Na, wie geht es dir? Bist du müde?« »Mir geht es gut und ja, ich bin sehr müde.« Jeng sah ihn offen an und schenkte ihm ein müdes Lächeln. Tren konnte ihm dabei direkt in die ungewöhnlich blauen Augen sehen.
»Du warst den ganzen Weg so still und ernst.« Während Tren das sagte, wanderte sein Blick auf die schneeweißen Haare des Jungen, die genauso faszinierend und außergewöhnlich waren wie das Blau seiner Augen.
Jeng zuckte mit den Achseln. »Doran hat gesagt, dass die Pilgerreise eine Reise der stillen Andacht sein soll. Eine Reise, bei der man mehr über sich selbst erfahren, und mit den Ahnen und Göttern in Kontakt treten kann.«
Tren lachte gutmütig. »Doran ist ein alter Mann. Die Alten machen solche Pilgerreisen, um mit den Ahnen und Göttern zu sprechen, denn sie werden schon bald bei ihnen sein. Wir jedoch sind hier, damit ihr den Pfad zum Berg der Ahnen kennenlernt. Du bist noch jung, niemand erwartet von dir die Ernsthaftigkeit der Alten. Obwohl ...« Er strubbelte ihm liebevoll durch das Haar, »die weißen Haare eines Alten hast du ja schon.« Er zwinkerte Jeng freundlich zu, dann stand er auf, sah von einem zum anderen und sagte: »So, jetzt wird geschlafen. Der morgige Tag wird sehr anstrengend werden.«
So aufgefordert legten sie sich dicht an dicht nebeneinander, wie sie es auch in der großen Hütte ihres Dorfes getahn hätten, in der sie gemeinsam schliefen. Nicht lange darauf waren sie auch schon eingeschlafen.
Als die ersten Sonnenstrahlen sie am nächsten Morgen weckten, ermahnte Tren seine kleine Pilgergruppe, vor dem anstrengenden Aufstieg ausreichend zu trinken. Dann wandte er sich an die Gruppe und fragte: »Seid ihr bereit?« Alle nickten. »Dann lasst uns gehen! Folgt mir!«
Tren war achtundzwanzig Jahre alt, kräftig gebaut, mit schwarzen, leicht gelockten Haaren und dunkler Haut. Seit einigen Jahren hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, jedes Jahr eine kleine Gruppe Jugendlicher auf den heiligen Berg zu führen. Es war ein Ritual, das den Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter markierte. Doch die Pilgerreise war für die Heranwachsenden keine Pflicht, denn in ihrer Gemeinschaft gab es keine Zwänge.
Sie folgten dem Pfad, der steil bergauf führte. Anfangs waren noch Farne, Bäume und Sträucher entlang des Weges zu sehen, doch nach und nach lichtete sich die Vegetation und machte einem Kiefern- und Pinienwald Platz. Die Bäume verströmten in der Morgensonne einen intensiven Duft. Es war ein schöner Morgen und bereits jetzt sehr warm.
Nach drei Stunden Aufstieg wichen die Bäume langsam zurück und machten niedrig wachsenden, blühenden Sträuchern Platz. Die Luft war erfüllt von dem Summen und Brummen unzähliger Wildbienen, die emsig Nektar sammelten.
»Hier müssen viele Bienenstöcke sein. Können wir auf dem Rückweg nicht ein wenig Honig sammeln?«, fragte Feren hoffnungsvoll.
»Nein«, antwortete Tren, »auf dem Rückweg werden wir so erschöpft sein, dass wir keine Energie mehr dafür haben werden. Das kannst du mir ruhig glauben.« Der Pfad wurde steiler, sodass siev an einigen Stellen klettern mussten. Der Schweiß lief ihnen in Strömen über ihre nackten Körper.
Als sie schließlich den Gipfel des Berges erreichten, war die Mittagsstunde bereits vorbei. Vor ihnen erstreckte sich ein atemberaubendes Panorama: Die Welt lag ihnen zu Füßen. Tren atmete erleichtert auf: »Wir sind da! Ihr habt es geschafft. Ich bin stolz auf euch.« Alle außer Jeng ließen sich erschöpft auf die Felsen sinken. Nur der Junge schaute sich um. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und fragte Tren dann: »Ist das die ganze Welt?« Tren trat zu ihm.
»Ja«, bestätigte er. »Von hier aus kannst du alles sehen, was die Götter für uns geschaffen haben. Siehst du, dort drüben ist der See und rechts davon kannst du unser Dorf erkennen. Die braunen Ovale zwischen den Bäumen sind unsere Schlafhütten.«
Das Dorf, auf das sie hinabschauten, war der einzige von Menschen besiedelte Ort, den Tren kannte. Ihre Welt war rundherum vom Meer umgeben.
»Ja, sehe ich sie, aber …« Jeng drehte sich noch einmal um sich selbst. »Das alles sieht von hier alles so klein aus. Gibt es vielleicht noch mehr?«
»Wie groß sollte die Welt deiner Meinung nach sein?«, lachte Tren.
»Nun, vielleicht gibt es ja weitere Welten im großen Meer, nur können wir sie von hieraus nicht sehen. Ja!« Der Junge nickte, plötzlich von seiner Idee überzeugt. »Viele andere Welten, so wie unsere, oder auch viel größere und dort leben auch Menschen. So wie wir. Oder vielleicht auch ganz andere Wesen. Anders als wir und riesige Tiere«, sagte er und machte dabei eine ausladende Geste.
Tren lachte laut und die anderen mit ihm. »Du hast wirklich eine blühende Fantasie. Ich sage dir, dies ist die einzige Welt, die es gibt. Sie wurde von den Göttern für uns geschaffen, so ist es überliefert. Aber denk von mir aus, was du willst. Auch an riesige Tiere und andere Menschen.«
Jeng setzte sich zu den Anderen, schaute aber weiter nachdenklich in die Ferne.
Sie ruhten sich aus, bis Tren aufstand und fragte: »Möchte jemand den Ahnen ein Geschenk machen, um sie zu ehren, bevor wir den Rückweg antreten?«
»Ja«, sagte Siva und erhob sich. »Ich möchte für unsere Ahnen ein Lied singen.«
Tren erwiderte erfreut. »Oh, sehr schön. Das können wir alle gemeinsam tun.«
Siva begann und die anderen stimmten mit ein:
»Kreise mein Kind, um das Feuer.
Singe mein Kind, dein Lied.
Tanz mit uns, den Spiraltanz.
Tanz mit uns, vergnügt.
Ein Klang sind unsere Herzen,
wo Liebe Leben erschafft,
folge mein Kind, diesen Pfaden,
folge der heiligen Kraft.«
Nachdem das Lied endete, fragte Tren noch einmal: »Hat sonst noch jemand den Ahnen etwas mitgebracht?«
Jeng trat vor und zeigte ihm den in allen Farben schillernden Stein, den er in der Hand hielt.
»Einen Opal? Deinen Namensstein? Hast du ihn den ganzen Weg über in der Hand gehalten?«
Der Junge nickte stolz.
»Gut, darüber werden sich die Ahnen sicher erfreut sein. Leg ihn dort drüben auf den Opferstein.« Tren wies in eine bestimmte Richtung.
Der Opferstein war rob mit einigen Mustern behauen - Spiralen und Wellen waren darauf zu erkennen. Es standen bereits allerlei Gaben darauf, die das Volk den Ahnen und Göttern im Laufe der Zeit dargebracht hatte. Darunter befanden sich Nahrungsmittel in Graskörben, Schnitzereien aus Holz und einige Klingen und Werkzeuge aus Feuerstein. Jeng legte seinen Opal andächtig dazu und kehrte dann zu den anderen zurück, um mit ihnen gemeinsam den Rückweg anzutreten. Nach Hause in die Geborgenheit ihres Dorfes, das nahe an einem stillen See lag. Dorthin wo der Rest ihres Stammes ihre Rückkehr bereits erwartete.
Ich trieb in der Dunkelheit. Ziellos suchend, scheinbar endlos wartend.
Warten? Worauf?
Ich wusste es nicht zu sagen.
Es gab andere, die so waren wie ich. Ich nahm sie wahr, durch Augen, welche die Dunkelheit durchdringen konnten, doch die Anderen interessierten mich nicht.
Manchmal, auf meinen langen Wanderungen, berührte ich einen von ihnen versehentlich. Ich verabscheute das und zog mich rasch zurück.
Die Anderen beunruhigten mich.
Warum?
Auch das wusste ich nicht zu sagen.
Dann irgendwann, nach langer Zeit, entdeckte ich plötzlich ein Licht, ganz schwach, weit in der Ferne. Das Licht rief nach mir, es zog mich an und lockte mich zu sich. Als ich es erblickte flammte jäh neue Hoffnung in mir auf.
Während ich mich eilig auf die Lichterscheinung zubewegte, trieb mich eine unbestimmte Sehnsucht voran. Was würde mich wohl erwarten? Würde ich endlich eine Antwort erhalten auf meine vielen Fragen? Als ich das Licht endlich erreichte, wusste ich:
Das Warten hat ein Ende.
Die Rinde des morschen Baumstammes brach berstend und laut knackend auf. Jeng entfernte sie und begann im weichen Holz mit einem Grabstock nach Käferlarven zu suchen. Es dauerte nicht lange, bis er welche fand, das leicht moderig riechende Holz war voll davon. Die Kinder, die bei ihm waren, schauten ihm aufmerksam zu, nur Miri sah verträumt einen vorbeifliegenden Schmetterling nach. Wie immer, dachte Jeng bei sich und musste unwillkürlich schmunzeln.
Er zog eine fette Käferlarve aus dem Baumstamm heraus und hielt sie für alle sichtbar hoch. Sie war so groß wie sein kleiner Finger. Er biss ihr den Kopf ab, sodass die Kinder ihm dabei zusehen konnten, spuckte ihn aus und aß den Rest. Dannach grub er nach Weiteren und reichte sie an die Kinder weiter.
Sie folgten seinem Beispiel und bissen den Larven den Kopf ab, bevor sie sie aßen, nur Miri stopfte sie sich im ganzen in den Mund. Kurz darauf spuckte sie sie angewidert wieder aus. »Bäh, die schmeckt ekelig!«
Jeng grinste sie breit an. »Du darfst den Kopf nicht mitessen, der ist sehr bitter.«
»Das hast du aber nicht gesagt«, entgegnete das Mädchen vorwurfsvoll.
»Wie man sie isst, habe ich euch gerade eben gezeigt. Du hast nur nicht aufgepasst.« Er reichte Miri eine weitere. Miri nahm sie entgegen und aß diesmal nur den Körper.
»Und?«
»Lecker«, sagte sie und lachte ihn an. »Bekomme ich noch eine?«
Er reichte jedem der Kinder eine weitere und legte die Übrigen in einen Graskorb. »Diese Käferlarven findet man nur in sehr morschem Holz. Sie schmecken sehr gut. Es lohnt sich deshalb die Rinde toter Bäume aufzubrechen, um nach ihnen zu suchen«, erklärte er.
Anan, der Jüngste in der Gruppe unterbrach ihn. »Gehen wir jetzt ins Dorf zurück? Ich bin müde«, quengelte er. Er war noch keine sechs Jahre alt.
»Sobald ich alle Larven eingesammelt habe«, erwiderte Jeng und grub weiter im Stamm.
»Ich bin aber jetzt müde«, schmollte der Junge. Sein Mund war rot verschmiert von den Beeren, die sie zuvor gesammelt hatten. Es wuchsen reichlich Beeren in den Wäldern der Umgebung, und obwohl die Kinder viele davon selbst gegessen hatten, waren noch genug für die anderen im Dorf übrig.
Jeng seufzte, bedauernd sah er in den Korb, der erst bis zur Hälfte mit Larven gefüllt war und sagte: »Also gut, kehren wir Heim.« Er hob Anan hoch und trug ihn seitlich auf seiner Hüfte sitzend. Der Junge legte den Kopf auf seine Brust und schloss müde die Augen. Mit der anderen Hand griff er nach dem Korb und sagte: »Miri, nimm du das Werkzeug.«
Auf dem Rückweg zum Dorf folgten sie dem kleinen Pfad am See vorbei. Die Lichtkleckse, die auf seiner Oberfläche tanzten, blendeten in den Augen, und das Schilf am Ufer, das durch den Wind sacht bewegt wurde, raschelte. Unzählige Frösche quarten laut darin. Sie sangen vom Frühling und von der Liebe.
Das Dorf war das Zentrum ihrer Gemeinschaft. Es bestand aus sechs großen ovalen Hütten, die um einen Dorfplatz herum errichtet worden waren.
Jeng stellte seinen Korb neben die anderen Nahrungsmittel, die an diesem Tag erjagt oder gesammelt worden waren. Die Kinder, die ihn begleitet hatten, taten es ihm gleich und stellten die beiden Beerenkörbe dazu. Anschließend gingen sie ihrer Wege, nur Anan schlief noch immer an seiner Schulter.
Jeng schaute sich im Dorf nach der Mutter des Jungen um und fand Ira am Feuer sitzend vor, wie sie gerade ihre einjährige Tochter stillte und sich dabei angeregt mit ihren Freundinnen unterhielt.
Er ging zu ihr und legte Anan vorsichtig neben ihr ab. Der Junge murmelte etwas, wachte aber nicht auf. Er rollte sich zur Seite und schlief weiter. Ira schaute lächelnd zu Jeng auf. »Ich danke dir. Er wird immer noch schnell müde, wenn er lange Strecken laufen muss.«
»Das hab ich auch gemerkt«, erwiderte Jeng freundlich.
»Hat er Probleme gemacht?«
»Nein, außer dass ich ihn den ganzen Rückweg habe tragen müssen, war er sehr lieb.«
Ira strich ihrem Sohn liebevoll durch die Haare. »Lieb ist er eigentlich immer«, erwiderte sie und sah ihren Sohn dabei zärtlich an und beachtete Jeng nicht weiter. Auf der gegenüberliegenden Seite des Feuerplatzes ertönten bereits die Trommeln und einige Dorfbewohner stimmten ein Tanzlied an.
Gesang und Tanz waren für ihre Gemeinschaft von großer Bedeutung. Geschichten und Mythen wurden durch die Lieder weitergegeben. Die Trommel, die dabei geschlagen wurde, stand für den Herzschlag der großen Urmutter, die einst die Welt gebar. Tanz und Gesang waren Gebet und Danksagung zugleich, und es war gut, den Göttern auf diese Weise zu danken.
Jeng wandte sich von Ira ab und ging zu den anderen, die sich bereits zum Rhythmus der Trommel im Kreis bewegten, und stimmte in ihren Gesag mit ein:
»Die Trommel schlägt
im Rhythmus des Herzens
die Füße folgen im Tanz der Welt
Trommelschlag klingt
wie Herzschlag,
lausche!
Trommelschlag,
Klang,
von Haut auf Haut,
über hohlem Holz gespannt,
wird er mit dem
Herzschlag eins.
Leben beginnt mit dem
Schlag des Herzens,
Trommelklang bringt
das Leben ins Herz.«
Während er gemeinsam mit den anderen tanzte und sich rythmisch im Kreis bewegte, sah er Miri am Feuer sitzen. Zusammen mit ihren Freundinnen schauten sie immer wieder zu ihm hinüber, sie steckten ihre Köpfe zusammen und kicherten.
Die drei Mädchen waren gleich alt. Wie bei allen anderen im Dorf waren ihre Haare schwarz, die Haut dunkelbraun und ihre Augen braun. Nur Jeng, mit seinen auffällig weißen Haaren und den blauen Augen, unterschied sich deutlich von allen anderen.
Obwohl dies für ihn nie von Nachteil gewesen war, war er sich dieser Andersartigkeit sehr wohl bewusst.
Schon als Kind hatte er aus diesem Grund mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommen, als die übrigen Kinder. Ja, manchmal hatte man sich sogar darum gestritten, wer auf ihn aufpassen durfte.
Trotzdem wünschte Jeng sich oft, genauso auszusehen wie alle anderen im Dorf. Denn jeder schien offenbar von ihm zu erwarten, dass er auch etwas besonders tat.
Tren und Geron kehrten von der Jagd zurück und präsentierten stolz ihre Beute. Als gute Jäger und enge Freunde teilten sie fast alles miteinander. An diesem Tag hatten sie fünf wilde Hühner und zwei Kaninchen erlegt, genug, um einige hungrige Mägen zu füllen. Sie ließen sich am wärmenden Feuer nieder und machten sich sofort daran, die Tiere für das Abendessen zubereiteten. Während Tren sich mit Geron unterhielt, warf er immer wieder einen Blick zu den ausgelassen tanzenden Menschen hinüber. Dabei konnte er seinen Blick nicht von einem bestimmten Tänzer abwenden, der wie ein strahlendes Leuchtfeuer aus der Menge hervorstach. Jeng war es gewohnt, von anderen beobachtet zu werden, aber Tren vervolgte ihn schon seit längerem mit aufdringlichen Blicken. Deshalb verließ Jeng nach kurzer Zeit den Tanzplatz, und setzte sich etwas abseits ans Feuer. Doch es dauerte nicht lange, bis Tren aufstand und zu ihm kam. »Hallo Jeng«, grüßte er, wobei seine Augen begehrlich über Jengs Körper glitten. »Möchtest du dich heute Nacht vielleicht zu mir legen?«, fragte Tren gerade heraus. Dabei berührte er Jeng am Nacken und ließ seine Finger langsam durch seine langen weißen Haare gleiten.
Prickelnde Hitze stieg Jeng den Rücken hoch und er fühlte, wie er errötete. Unsicher erwiderte er: »Wohl eher nicht.«
»Schade. Du weißt gar nicht, was du verpassen wirst«, flüsterte Tren ihm ins Ohr. »Du siehst so schön aus, besonders, wenn du rot wirst.« Freundschaftlich klopfte Tren ihm auf die Schulter und kehrte zu seinem Freund zurück. Offensichtlich erzählte er Geron sofort von ihrem Gespräch, denn beide blickten zu Jeng und lachten.
Verärgert stand Jeng auf, um die Feuerstelle zu verlassen.
»Jeng, komm her, setz dich zu mir«, hörte er die Stimme seiner Mutter sagen, noch bevor er sich nach ihr umsah. Sie saß etwas abseits und flocht neue Körbe. Jeng setzte sich zu ihr. Offenbar hatte sie Trens Annäherungsversuch beobachtet.
»Du solltest dich nicht über Tren ärgern. Man kann es ihm nicht verübeln, wenn er dir schöne Augen macht«, sagte sie.
»Er versucht es zu oft und er ist mir zu alt. Achtundvierzig, oder? Wenn ich mit einem Mann das Lager teilen will, dann sicher nicht, weil der mich dazu drängt.«
»Natürlich musst du nichts tun, was du nicht tun möchtest. Er versucht es eben, weil er so sehr für dich schwärmt.« Seine Mutter lächelte leicht. »Ich weiß noch, wie lange du Tifa hinterher gelaufen bist. Wie alt warst du da?«, fragte sie.
»Fünfzehn und sie war dreißig«, antwortete Jeng und grinste.
»Fünfzehn, genau. Du hast ihr fast ein Jahr nachgestellt und sie angehimmelt. Und was hat sie dir jedesmal gesagt, wenn sie dich abgewiesen hat?«
»Dass ich ihr zu jung bin.«
»Ganz genau, zu jung warst du ihr. Aber zuletzt hast du mit deiner Hartnäckigkeit doch Erfolg gehabt.«
»Das war was anderes. Ich war in Tifa verliebt. Tren ist einfach nur geil.«
»Glaubst du? Wenn du hören könntest, wie er mit anderen über dich spricht, würdest du vielleicht anders darüber denken. Meiner Meinung nach ist er genauso verliebt in dich, wie du es damals bei Tifa warst.«
Sie unterbrachen ihre Unterhaltung, als Miri mit einer flachen Holzschale herankam kam.
»Ich soll dir das hier von Tren geben. Du sollst sein Hühnchen probieren und nicht böse auf ihn sein. Habt ihr euch gestritten?«
»Nein, eigentlich nicht.« Er schaute auf die Schale, worauf ein gebratenes Wildhuhn, Waldbeeren und einige bereits geschälte Nüsse lagen und zögerte eine Spur zu lange.
»Soll ich Tren sagen, dass du das hier nicht magst?«
»Natürlich nicht« , antwortete er, nahm ihr die Schale aus den Händen und blickte in Trens Richtung. Ihre Blicke trafen sich und er nickte ihm dankend zu.
Während er zu essen begann, stand Miri noch immer neben ihm. »Du Jeng?«, setzte sie zögernd an. »Ich esse Forellen sehr gerne. Aber ich weiß nicht, wie man sie jagt. Zeigst du mir, wie man mit dem Speer umgehen muss, um Fische zu fangen?«
Jeng antwortete mit vollem Mund: »Nur wenn du mir versprichst, besser auf das zu achten was ich sage, als heute.«
»Das werde ich, fest versprochen.« Miri strahlte über das ganze Gesicht, dann drehte sie sich um und kehrte mit wiegenden Schritten zu ihren Freundinnen zurück.
»Jeng«, seine Mutter berührte ihn sanft an der Schulter, »was würdest du Miri sagen, wenn sie bei dir liegen wollte?«
Die Frage verwirrte ihn. »Was? Wieso? Sie ist doch viel zu ...« Er brach den Satz ab und lachte laut auf. »Ich hoffe, sie kommt nicht auf die Idee, mich danach zu fragen«, sagte er und wurde nachdenklich. »Weißt du, was Tren betrifft. Es ist nicht so, dass ich ihn nicht mag.«
»Aber?« Seine Mutter erwartete offensichtlich eine Erklärung.
Jeng zuckte mit den Achseln, da er nicht genau wusste, was er antworten sollte. Schließlich gab er zu: »Neugierig bin ich schon.«
»Ich glaube, es würde ihn sehr glücklich machen, wenn du ihn einmal nicht abweisen würdest.«
Ich folgte der Spur, die ich von dem Wesen im Licht erhalten hatte. Sie war sehr schwach, kaum sichtbar am Tage, nur in der Nacht gut zu erkennen. Sie bestand aus kaum mehr als kleinen Funken, die im Dunkeln hell aufblinkten, um gleich darauf wieder zu verlöschen. Tagsüber konnte ich nur ein leichtes Flimmern sehn, sodass ich mich anstrengen musste, um die Spur nicht zu verlieren. Doch ich verfolgte sie mit großer Freude, denn endlich hatte ich ein Ziel.
Der flimmernde Pfad führte mich hinaus aus der Ödnis und der mir vertrauten Dunkelheit, in eine völlig neue und fremdartige Welt. Diese Welt war bunt, hell und voller Leben, bewohnt von unzähligen Wesen, die ich mir zuvor nicht einmal hätte vorstellen können.
Voller Staunen sah ich jeden Tag neue Wunder.
Doch meine Neugier und der Drang, alles darin zu erkunden, brachten mich oft von meinem Ziel ab. Zu meinem Bedauern flohen die meisten Wesen vor mir, obwohl ich in dieser Welt nichts bewirken konnte. Ich war wie Wind, wie schwarzer Rauch. Nicht einmal ein Blatt konnte ich bewegen. Aber ich wusste: Sobald ich mein Ziel, meine Beute erreicht hatte, würde sich das alles ändern, denn so hatte es mir das Wesen versprochen.
Mein Weg führte nun schon seit einiger Zeit über Wasser. Die Spur war mittlerweile viel deutlicher zu erkennen. Ich war aufgeregt, denn ich wusste, dass ich fast am Ziel war. In der Ferne kam eine Insel in Sicht, auf die die Spur direkt zuführte. Bald, dachte ich voller Vorfreude, bald bin ich da.
Als Jeng in dieser Nacht die Schlafhütte betrat, legte er sich neben Tifa, die bereits fest und tief schlief. Sanft an ihren Körper geschmiegt schlief auch er bald ein und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Als im Morgengrauen ein kühlender Wind durch die Ritzen der Hütte strich und ihn weckte waren viele Dorfbewohner bereits auf den Beinen. Tifa neben ihm setzte sich auf, gähnte und fragte leise flüstend: »Jeng, bist du wach?«
»Ja«, antwortete er verschlafen.
»Heute werde ich mit Siva, Tino und einigen Kindern zur Küste gehen, um Austern und Krebse zu sammeln. Möchtest du mitkommen?«
Träge erwiderte Jeng: »Ich bin mir noch nicht sicher. Im Moment möchte ich einfach noch ein wenig länger hier liegen bleiben. Vielleicht stoße ich später zu euch.«
»Gut, dann sehen wir uns später«, sagte sie.
In diesem Moment hätte er Tifa gerne in seine Arme gezogen, doch diese Chance hatte er vertan. Tifa erhob sich und verließ die Hütte. Erste Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen der aus Schilf gewobenen Wände und tauchten den Raum in ein sanftes, goldenes Licht.
Jeng drehte sich noch einmal auf die Seite und lauschte auf die Geräusche des erwachenden Dorfes. Ein Baby schrie, doch verstummte schnell, als seine Mutter es liebevoll an die Brust legte, um es zu stillen. Er hörte den leise flüsternden Unterhaltungen zu und dem Klang der sich leise liebenden Paaren, der nur ab und zu vom Schnarchen, der noch Schlafenden übertönt wurde.
Aus irgendeinem Grund mochte Jeng an diesem Tag nicht aufstehen. So lag er noch da, als alle anderen bereits die Hütte verlassen hatten und von draußen der Lärm eines neuen Tages hereinbrach.
Risa betrat die Hütte. In ihren Armen trug sie frisch getrocknete Farne und Gräser, um die Lager neu auszupolstern. Ein erstauntet »Oh«, entfuhr ihr, als sie ihn bemerkte. »Was ist denn mit dir? Bist du krank?«
»Nein, ich bin heute nur faul«, antwortete er und streckte sich ausgiebig, dann setzte Jeng sich grinsend auf.
»Jetzt aber raus mit dir«, schimpfte Risa lachend. »Es gibt genug zu tun. Du darfst mir gerne helfen. Ansonsten verschwinde, hier störst du nur.«
Die Morgensonne blendete ihn, als er die Hütte verließ. Er schlug den Weg Richtung Küste ein. Noch immer verträumt und nicht ganz wach lief er den Pfad zum Strand hinunter. Ich werde erst mal schwimmen gehen, dachte er.
Am Strand angekommen, hörte er als Erstes das Jauchzen und Lachen der Kinder, die ausgelassen am Wasser spielten. Weiter hinten, an den Felsen, entdeckte er Tifa und Tino, die wie angekündigt nach Austern suchten.
Er lief, durch den von der Sonne erwärmten Sand zum Meer. Leichte Wellen umspülten sanft seine Füße. Das Meer war ruhig und friedlich an diesem Tag. Er watete in hinein, bis das Wasser ihm bis zur Brust reichte, und schwamm dann aufs Meer hinaus. Auf dem Rücken liegend schaute er zum Himmel. Nur wenige Wolken zogen vorbei, und er ließ sich sacht von den Wellen wiegen.
Dabei überkam Jeng ein seltsames Gefühl, er konnte es nicht benennen, doch es beunruhigte ihn. Es hatte bereits am Morgen begonnen, als er Tifa noch festhalten wollte. Ein Gefühl, als müsse er den Tag in sich hineinsaugen, ihn genießen, so als würde es danach keinen neuen Morgen mehr geben.
Er versuchte diese beunruhigenden Gedanken zu vertreiben, drehte sich um und schwamm an den spielenden Kindern vorbei zu den Klippen. Ein Paar Austern wären auch ein gutes Frühstück, dachte er bei sich und schaute zur Sonne hoch. Oder vielleicht auch ein Mittagessen.
Kurz vor den Klippen schwamm er zum Ufer, wo Siva gerade den ersten Korb voll mit Austern abstellte. Sie begrüßte Jeng freundlich.
»Darf ich mir welche nehmen?«, fragte er. »Ich hatte kein Frühstück.«
»Natürlich, nimm ruhig. Wir waren schon lange nicht mehr zum Sammeln hier. Es gibt reichlich und die See ist heute sehr ruhig.« Sie hielt ihm den Korb hin.
»Hast du ein Messer?«, fragte er.
Siva reichte ihm ihr Feuersteinmesser. Geschickt öffnete er damit die Schale und schlürfte deren Inhalt geräuschvoll heraus. Nachdem er etwa zwölf Stück verspeist hatte, gab er Siva das Messer zurück.
»Danke, ich habe vergessen Werkzeug mitzunehmen«, sagte er entschuldigend.
»Wo hast du denn heute deinen Kopf?« Siva lachte und schüttelte den Kopf. »Dort liegen zwei Fischspeere«, sie deutete auf die Stelle. »Ich habe gehört, du kannst sehr gut damit umgehen«, sagte sie scherzhaft, zwinkerte ihm zu und lachte kokett.
Jeng schmunzelte und sah sie auf gleiche Weise an, beugte sich vor und schaute in ihre dunkelbraunen Augen. »Soll ich es dir zeigen?«
»Gern, aber nicht jetzt« erwiderte sie und reichte Jeng einen der Speere. »Jetzt musst du mir erst mal beweisen, dass du mit diesem hier umgehen kannst. Wenn du mehr fängst als ich, darfst du vielleicht mit deinem Speer in meinem Teich fischen gehen«, sagte sie ausgelassen und kicherte.
»Und wenn nicht?«, fragte Jeng ebenfalls lachend.
Siva überlegte einen Moment, dabei strich sie sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht und sah ihn mit funkelnden Augen an. »Dann, mein Lieber, musst du meine Auster schlürfen«, sagte sie neckisch.
Jeng und grinste über das ganze Gesicht. »Abgemacht.«
Tino und Tifa gesellten sich zu ihnen und stellten einen weiteren mit Austern gefüllten Korb neben den anderen.
Tino sah Jeng und Siva fragend an. »Was grinst ihr beiden denn so?«
»Oh, es ist eigentlich nichts«, antwortete Jeng. »Siva und ich haben nur darum gewettet, wer heute die meisten Fische fängt.«
»Und um was habt ihr gewettet?«, fragte Tino neugierig.
»Um Austern«, kicherte Siva. »Komm, lass uns anfangen«, forderte sie Jeng auf und ging Richtung Meer. Jeng folgte ihr. »Bis später«, verabschiedete er sich von den anderen.
Bis zum Nachmittag gelang es Jeng elf Fische zu fangen. Er sah zu Siva hinüber. Sie senkte ihren Speer und kam zu ihm.
»Möchtest du aufhören? Ich habe elf. Wie viele hast du?«, fragte er sie.
»Sechzehn«, antwortete sie, »aber deswegen bin ich nicht zu dir gekommen. Da ist etwas Seltsames auf dem Wasser. Siehst du? Dort drüben.« Sie deutete mit dem Speer auf die besagte Stelle.
»Wo?« Suchend schaute Jeng in die gewiesene Richtung.
»Na dort. Es sieht aus wie schwarzer Rauch, so als würde das Meer an dieser Stelle brennen. Siehst du das nicht? Mir ist das unheimlich. Lass uns zu den anderen gehen und ins Dorf zurückkehren, ja?«
Jeng schaute weiter zu der Stelle, auf die Siva gezeigt hatte, bis er ebenfalls etwas entdeckte. »Jetzt seh’ ich es jetzt auch. Schwarzer Rauch und er bewegt sich auf uns zu. Seltsam«, murmelte er besorgt.
Siva drängte ihn, zu gehen, und zog ihm am Arm
Er ließ sich mitziehen. »Ja, gehen wir besser zu den anderen.«
»Ich scheuch’ die Kinder aus dem Wasser und komme danach zu euch. Nimmst du meinen Korb mit den Fischen mit? Übrigens, sechzehn. Ich habe gewonnen«, sagte Siva, drehte sich um und eilte voraus.
Jeng wandte sich noch mal zu der bedrohlich anmutenden Erscheinung um. Sie war nähergekommen und schien geradewegs auf ihn zuzukommen. Das ist kein Rauch, dachte er, sein Herz begann schneller zu schlagen. Es bewegt sich wie ein Tier, das eine Spur verfolgt. Es gab keine großen Raubtiere in der kleinen Welt, die ihre Bewohner für die Einzige hielten, doch Jeng spürte instinktiv die Bedrohung, die von der Erscheinung ausging. In einem Anflug von Panik drehte er sich um und rannte, so schnell er konnte, zu den Klippen, um Tino und Tifa zu warnen.
Als er sie erreichte, blieb er Abrubt stehen. Die beiden liebten sich am Strand und es galt als äußerst unhöflich sie dabei zu stören. Er zögerte und drehte sich noch einmal zu der Erscheinung um. Der schwarze Rauch hatte den Strand beinahe erreicht und weiter unten sah er Siva, wie sie die Kinder zusammenrief und zum Rückweg drängte.
»Tifa, Tino wir müssen weg von hier!«, rief er, mit lauter, nachdrücklicher Stimme.
»Was ist los? Was soll das?«, fragte Tino verärgert über die Störung.
Jeng sah, wie sich das schwarze Wesen nun in Richtung der Klippen bewegte. »Schaut selbst, da ist etwas am Strand und es kommt auf uns zu«, sagte er eindringlich.
Tino und Tifa bewegten sich immer noch nicht, schauten aber den Strand hinunter.
Als sie den schwarzen Rauch entdeckten, war es bereits zu spät. Das Wesen war bereits zu nahe gekommen. Jeng schleuderte ihm den Fischspeer entgegen, doch der flog einfach durch es hindurch. Der Rauch näherte sich unbeirrt weiter, und als es Jeng erreichte, sprang es ihn an. Im selben Augenblick wurde die Welt um ihn herum schwarz.
Es war so leicht, in den Körper einzudringen. Das Wesen, das ihn bewohnte, war schwach und bot mir nur wenig Widerstand. Ich drängte meinen unfreiwilligen Wirt so weit ich nur konnte zurück, während ich mich in ihm ausbreitete. Ja, so fühlte sich das gut an.
Meine rauchartige Substanz eroberte jeden Winkel seines Körpers. Nun endlich gehörte er mir. Und je mehr ich ihn in Besitz nahm, umso größer wurde meine Freude, über die Macht die ich durch ihn erlangte.
Nachdem ich den Körper vollständig durchdrungen hatte, quoll ich aus ihm heraus und hüllte ihn vollständig ein. Langsam wurde die Welt um mich herum wieder sichtbar, zuerst nur als helle und dunkle Konturen, doch allmählich nahm die Umgebung wieder Gestalt und Farbe an.
Jetzt konnte ich auf diese Welt Einfluss nehmen und die Kraft meines neuen Körpers erproben. Ich sah mich um und entdeckte die beiden Wesen, die von mir flohen. Ihre panischen Bewegungen reizten mich, ihnen zu folgen. Doch auch die glitzernden Spuren, die sich überall am Ufer befanden, erweckten meine Neugier. Prüfend bewegte ich meine neuen Glieder und setzte mich in Bewegung. Jetzt war ich bereit diese Welt zu erkunden und meine neu gewonnene Macht zu erproben.
Es fühlte sich an, als würde er mit brutaler Gewalt gegen einen Felsen gepresst. Jeng konnte sich nicht mehr bewegen, konnte weder sehen noch hören.
Er wollte schreien, aber auch seine Stimme gehörte nicht mehr ihm. Nach einiger Zeit zog sich die ihn umgebende Schwärze zurück und er sah. Doch schienen es die Augen eines Fremden zu sein, durch die er blickte. Er erkannte den Strand, die Klippen und den Pfad, der zum Dorf hinauf führte, aber die Farben erschienen ihm seltsam falsch. Sein Kopf wurde gedreht, der Blick verfolgte Tino und Tifa, die um ihr Leben rannten. Er war es nicht, der seinen Körper bewegte.
Ihm war, als säße er, wie ein kleines Insekt, auf der Schulter eines gewaltigen Tieres, das sich nun in Bewegung setzte, um ihnen zu folgen.
»Nein«, schrie er in seinen Gedanken und versuchte mit ganzer Kraft, die Herrschaft über seinen Körper zurückzugewinnen, doch all seine Bemühungen waren vergeblich. Die Umklammerung, die ihn hielt, schien nur noch stärker zu werden.
Das Fremde Wesen in ihm hatte Tifa und Tino fast erreicht. Sie rannten um ihr Leben, doch half es ihnen nicht. Jeng konnte sie Schreien hören, als das Wesen sie mit grausamer Gewalt packte. Darauf folgte ein Geräusch, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ-das Geräusch von Knochen, die wie dünnes, morsches Holz brachen.
»Bitte tu das nicht!«, dachte er mit ganzer Kraft, während er hilflos dem Geschehen zusah. Unbeschreibliches Entsetzen ergriff ihn, als er erkannte, dass das Wesen seinen Körper in Richtung des Dorfes lenkte.
Ich tötete die beiden Wesen die vor mir flohen, mit Leichtigkeit. Gierig sog ich ihre Angst und ihren Schmerz in mich auf, dabei spürte ich, wie meine Kraft zunahm. Ich bin hungrig, erkannte ich. Ich brauche mehr!
Lockend glitzerten die Spuren weiterer Wesen am Strand und ich folgte neugierig dem Pfad, den sie entlanggelaufen waren. Da drangen plötzlich die Gedanken des Fremden in mein Bewusstsein. Ich hielt inne. »Sei still!«, dachte ich und verstärkte den Griff um seinen Geist. Dann setzte ich meinen Weg unbeirrt fort.
Als der Pfad endete, trat ich auf eine Lichtung hinaus. Hier gab es viele Wesen, an denen ich meinen Hunger stillen konnte. Lärmend liefen sie von mir fort.
In mir spürte ich eine nie zuvor gekannte Energie. Mit großer Freude erhob ich mich in die Luft und stürzte mich dann auf eine Gruppe Flüchtender, ergriff sie und schleuderte sie kraftvoll von mir fort. Verspielt schnappte ich mir zwei der Wesen noch im Flug und riss ihre Körper auseinander.
Übermütig und äußerst entzückt griff meine Substanz nach allem, was sich bewegte. Sie flohen vor mir, doch keiner konnte mir entkommen.
Viele von ihnen fielen sofort tot zu Boden. Andere lebten noch und krochen langsam von mir fort. Die leblosen Körper ignorierte ich und spielte nur mit denen, die sich noch bewegten.
Die Wesen bewarfen mich mit langen Stöcken. Ich wandte mich den Angreifern zu und schickte vier Ausläufer meiner Substanz aus, um sie zu ergreifen. In einer Halbkreisbewegung schleuderte ich sie von mir fort.
Ein kleineres Wesen kreischte. Ich flog zu ihm und blickte es an. Es schrie lauter. Das Geräusch war mir unerträglich. Ich drückte es zu Boden und es war still.
Anschließend sah ich mich um. Keine Bewegung und kein Geräusch zogen mich mehr an. Gelangweilt fiel mein Blick auf ein großes ovales Gebilde. Ich näherte mich ihm und schaute in die Öffnung hinein. Darin hockten zwei Wesen an der Wand. Menschen, schoss es mir durch den Kopf, das ist der Name für diese Wesen.
Beiläufig erkannte ich, dass das Wissen von dem Fremden kam, dessen Körper ich nun besaß.
Ich betrachtete die beiden hockenden Gestalten. Frauen, Risa und Miri drang es in mein Bewusstsein; die Wörter sagten mir nichts.
»Bitte, lass sie leben«, hörte ich den Anderen flehen.
»Du sollst still sein«, sagte ich zornig zu ihm. Ich dehnte meine Substanz weiter aus und begann, mich in einer Drehbewegung durch die Hütte zu bewegen. Die Wände und das Dach brachen auseinander. Ich griff nach den beiden Frauen und schleuderte sie durch die Luft. Begeistert fing ich sie im Flug wieder auf und warf sie erneut.
Als sie sich nicht mehr regten, schüttelte ich sie. Sie reagierten nicht mehr, also ließ ich sie fallen.
In mir spürte ich den Anderen. Aus ihm quollen Schmerz, Angst und Entsetzen hervor.
Ich bin schon satt, dachte ich, während ich interessiert die neue Nahrungsquelle in meinem Inneren betrachtete. Dabei suchte ich nach weiteren Wesen, mit denen ich spielen konnte. Doch nichts regte sich mehr.
Enttäuscht dachte ich: Ich werde zum Festland zurückkehren, dort gibt es viel mehr Dinge zu entdecken. Diese Insel ist zu klein, zu uninteressant für mich.
Entschlossen erhob ich mich hoch in die Luft und folgte dem Pfad zurück zum Strand, dann zog ich über das Meer, dem Festland entgegen.
Während des Fluges bemerkte ich ein zunehmend unangenehmes Gefühl, das sich immer weiter verstärkte, je länger ich flog.
Ich wusste nicht, was das war. Es war etwas, dass ich nie zuvor gespürt hatte.
Nach zweieinhalb Tagen erreichte ich, mitten in der Nacht, das Festland und landete.
Sofort wendete ich mich der neu entstandenen Nahrungsquelle in mir selbst zu und stillte meinen Hunger. Das unerträgliche Gefühl aber blieb. Es schwächte mich und hinderte mich daran, weiterzufliegen. Jeder Versuch mich erneut in die Luft zu erheben war eine mühsame Qual. Kurz darauf gab ich nach und landete ich widerwillig erneut. Etwas drängte mich dazu, die Kontrolle über den Anderen aufzugeben und mich in das Innere des Körpers zurückzuziehen. Es dämmerte bereits, als ich dem Drängen widerwillig nachgab.
Dunkelheit
liegt
in der
Tiefe
Als Jeng plötzlich die Gewalt über seinen Körper zurückerlangte, stürzte er zu Boden. Er rang nach Luft und musste sich übergeben. Sein Magen war leer, und so würgte er nicht mehr als Schleim und grüne Gallenflüssigkeit aus. Der Druck in seiner Blase war so stark, dass er den Urin nicht zurückhalten konnte. Er urinierte unter sich und kroch dann unkontrolliert zitternd ein Stück von der Stelle fort, bevor er zur Seite fiel und schwer atmend liegen blieb. Obwohl völlig erschöpft, ließen ihn der Schock und das Entsetzen, über das Geschehene, nicht zur Ruhe kommen. Ein quälender Durst plagte ihn. Seit Tagen hatte er keinen Tropfen Wasser mehr getrunken. Er lag im hohen Gras und versuchte, das Geschehene zu verarbeiten. Sie sind tot! Es hat sie alle umgebracht! Es hat sie mit meinem Körper umgebracht, dachte er mit unbeschreiblichen Grauen. »Wo bin ich hier?«, stieß er heiser krächzend hervor. Er kämpfte sich wankend auf die Beine, kam taumelnd hoch und sah sich um. Das ihn umgebende Gräsermeer war ihm vollkommen fremd. Ich bin über das Meer geflogen, oder habe ich das alles nur geträumt? Das ist nicht mehr die Welt, die ich kenne. Das Wesen, das von mir Besitz ergriffen hat, hat mich hierhergebracht. Aber wo ist es jetzt? Mit Mühe bewegte er sich vorwärts, von quälendem Durst getrieben. Ich muss dringend Wasser finden, und zwar schnell.
* * *
Unbemerkt beobachtete ich meinen Wirt.
Als Wasser aus seinem Körper floss, fühlte auch ich den unangenehmen Druck schwinden. Sofort versuchte ich erneut von ihm Besitz zu ergreifen, doch gelang es mir nicht. Dagegen drangen die Gedanken meines Wirts deutlich zu mir durch. Auch wenn ich vieles davon nicht verstehen konnte, erkannte ich, dass eines für den Menschen jetzt von größter Wichtigkeit war: Wasser, er suchte nach Wasser.
Wieso gibt dieser Mensch erst Wasser ab und braucht dann sofort neues?, fragte ich mich verwundert. Ich dachte an das riesige Meer von Wasser, über das ich geflogen war. Er geht in die falsche Richtung, dachte ich und richtete meine Worte laut an den Fremdent: »Wenn du Wasser brauchst, dreh um, das Meer ist nicht weit entfernt.«
Der Mensch erstarrte sofort, als er meine Worte hörte und erkannte, dass ich noch immer in ihm war.
»Geh fort!«, dachte er so laut er konnte. »Das ist mein Körper.«
Er spürte in sich das Zucken meiner Substanz in sich, bevor ich ihm antwortete: »Du gehörst mir!«
Mein Wirt versuchte, mich zu ignorieren und seine Suche unbeirrt fort.
»Du gehst in die falsche Richtung«, erklärte ich ihm erneut.
»Meerwasser kann ich nicht trinken«, gab er widerwillig zur Antwort.
»Warum?«, fragte ich.
»Weil es salzig ist.«
Der Mensch fiel plötzlich auf die Knie, von einem heftigen Krampf geschüttelt. »Bitte geh fort oder sei’ wenigstens still«, flehte er mich an.
Das ignorierend fragte ich neugierig: »Warum fließt jetzt Wasser aus deinen Augen? Wenn du so dringend welches brauchst, warum verschwendest du es dann?«
Der Mensch schwieg. Er zog an seinen Haaren und wiegte seinen Oberkörper hin und her.
Ich verstummte, während ich ein weiteres mal vergeblich versuchte, den Körper des Fremden zu übernehmen. Seine Handlungen waren für mich unbegreiflich, seine Motive und Gedanken unergründlich. Warum verletzte er sich selbst? Warum war er jetzt so viel schwächer, als noch vor drei Tagen? Und warum konnte ich ihn nicht mehr benutzen? Frustration und Zorn brodelte in mir auf. Es ist sinnlos, mit ihm zu sprechen, dachte ich verbittert. Seine Antworten sind so unsinnig wie seine Handlungen. Hilflos beschloss ich, einfach abzuwarten. Doch die Ungewissheit nagte an mir, während ich mich zunehmend in diesem fremden Körper gefangen fühlte.
* * *
Die grausame Stimme in seinem Kopf war verstummt. Doch die schrecklichen Erlebnisse konnte Jeng nicht aus seinem Gedächtnis tilgen, genau so wenig wie er das fremde Wesen, das von ihm Besitz ergriffen hatte, vertreiben konnte. Die Schreckensszenen drangen immer wieder in sein Bewusstsein – mit Grauen hörte er das Brechen von Knochen, die Schreie der Kinder und er musste hilflos zusehen, wie seiner Mutter ein Arm vom Körper gerissen wurde. Dabei konnte er ihr direkt in das vor Entsetzen verzerrte Gesicht blicken. Und dann war da das Blut, das viele Blut, das den Dorfplatz tränkte …
Es dauerte lange, bis Jeng sich endlich beruhigte. Vom quälenden Durst getrieben, stand er mühsam auf, um seine Suche fortzusetzen.
In dem endlos erscheinenden Grasmeer stolperte er umher, doch seine Umgebung nahm er dabei kaum wahr.
Er übersah die riesigen Tierherden, die in einiger Entfernung grasten, genauso wie die Vogelschwärme, die sich auf den vereinzelten Bäumen niederließen. Selbst die Dornenbüsche, die ihm die Haut aufrissen, bemerkte er nicht. Die Verletzungen verheilten augenblicklich, ohne, dass er es wahrnahm.
Seine ganze Wahrnehmung war nur auf die Suche nach Wasser konzentriert. Nie vorher hatte er solchen Durst verspürt. Doch noch schlimmer als der Durst, der ihn vorantrieb, war der Schmerz, der tief in seinem Herzen wütete und kaum Platz ließ für etwas anderes.
So stolperte er durch die fremde Welt, bis er endlich einen kleinen Bach fand, der als dünnes Rinnsaal durch das Grasmeer floss. Erleichtert kniete er nieder und trank gierig. Sein Durst war kaum gestillt, als er zur Seite fiel und vor Erschöpfung einschlief.
* * *
Zur Untätigkeit verdammt, verfolgte ich den Weg meines Wirtes. Das unerträgliche Gefühl, das mich daran hinderte, von ihm Besitz zu ergreifen, wurde immer stärker. Ich fühlte mich zunehmend unwohl und unzufrieden mit dieser Verbindung. Hatte ich doch erwartet, den Körper uneingeschränkt benutzen zu können. Jetzt schien es aber so, als müsste ich mich mit seinen widerwärtigen und mir völlig unverständlichen Bedürfnissen herumplagen.
Vielleicht sollte ich ihn wieder verlassen, überlegte ich. Ich verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Ich hatte ihn gerade erst in Besitz genommen und würde schon noch herausfinden, wie ich ihn benutzen konnte.
Endlich fand der Wirt das Wasser, das er so dringend zu benötigen schien und sog es gierig durch seinen Mund in sich hinein. Das unerträgliche Gefühl ließ daraufhin nach, doch bald darauf verlor der Mensch das Bewusstsein und lag reglos im Gras.
Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?
Noch einmal versuchte ich mich vergebens in ihm auszudehnen. Tod war er nicht. Er bewegte sich sogar ab und zu, ohne jedoch das Bewusstsein wiederzuerlangen.
Da ich nicht wusste, was ich dagegen tun konnte, blieb mir nichts weiter übrig, als abzuwarten. Währenddessen beobachtete ich die Umgebung und versuchte, mir die Zeit zu vertreiben.
Ich betrachtete das Gras, das vom Wind sacht bewegt wurde, und sah den kleinen Tieren zu, die an mir vorbeihuschten. Schließlich näherte sich mir ein sehr großes Tier und blieb ganz in meiner Nähe stehen.
Beunruhigt fragte ich mich, ob dieses Tier meinem neu erlangten Körper wohl schaden könnte. Doch das Tier schnupperte nur und entfernte sich dann in die entgegengesetzte Richtung. Erleichtert wendete ich mich den kleinen Lichtpunkten zu, die sich jetzt am Himmel zeigten. Sterne, so schoss es mir durch den Kopf. Ich erinnere mich an die Sterne. Diese hellen Lichtpunkte, die am Nachthimmel leuchteten, hatte ich schon früher gesehen.
Wann war das gewesen? Und wie lange war es her?
Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Nur eine vage Ahnung sagte mir, dass mir etwas genommen worden war. Doch von wem und warum konnte ich nicht sagen.
Als es zu dämmern begann, regte sich der Andere und erlangte das Bewusstsein wieder.
Noch einmal trank er Wasser aus dem Bach, und die Nahrungsquelle, die er mir bot, begann erneut zu sprudeln. Ich saugte gierig daran.
Währenddessen lauschte ich auf die Gedanken des anderen: Ich habe großen Hunger.
* * *
Jeng erwachte aus seinem unruhigen Schlaf und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Bis ihn die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse wieder einholten und der Schmerz, der sein Herz umklammerte, mit aller Macht zurückkehrte. Doch genauso schnell, wie der Schmerz gekommen war, verschwand er plötzlich wieder. Eine eiskalte Ruhe breitete sich in Jeng aus und er wurde sich bewusst, wie hungrig er war. Er sah sich nach möglichen Nahrungsquellen um. Seine Augen suchten nach möglichen Nahrungsquellen und fielen auf die zahlreichen Heuschrecken, die sich im Gräsermeer tummelten. Er fing eine und riss ihr Beine und Flügel ab, bevor er sie aß. Dann suchte und fing er weitere. So bewegte er sich durch die Graslandschaft, immer auf der Suche nach dem nächsten Happen.
Als er einen Baum entdeckte, in dem viele Vögel gemeinsam brüteten, erklomm er ihn, um deren Nester zu plündern. Den Inhalt der Eier saugte er mitsamt der Vogelembryonen aus. Während er noch im Baum saß, spürte er plötzlich, wie sich die unheimliche Kreatur in ihm regte und ihn zurückdrängte. Erschrocken verlor Jeng den Halt und stürzte unaufhaltsam dem Boden entgegen.
Endlich gehört der Körper wieder mir, dachte ich erfreut, während ich noch im Fallen meine Substanz über ihn zog und den fremden Geist zurückdrängte. Ich setzte elegant auf dem Boden auf. Dort verharrte ich für einen Moment regungslos und blickte zu den … Nestern im Baum hinauf, die so eine Anziehungskraft auf den Anderen gehabt hatten.
Ich erhob mich in die Luft, um sie aus der Nähe betrachten zu können und blickte in eines der Nester hinein. Darin lagen … Eier. Ich griff nach einem, doch zu meinem Bedauern zerplatzte die dünne Schale sofort zwischen meinen Krallen.
So vorsichtig ich konnte griff ich nach einem weiteren und drehte es behutsam, um es von allen Seiten zu betrachten. Dann öffnete ich es, um den Inhalt in das Nest fallen zu lassen. Ein kleines Lebewesen, ein … Embryo, lag darin, von einer schleimigen Flüssigkeit umgeben. Die fremden Wörter, die in meinen Geist drangen, waren das Wissen meines Wirtes. Ich nahm die Informationen wie selbstverständlich auf. Neugierig betrachtete ich den Embryo im Ei und fragte mich, wie er dort wohl hinein gekommen war.
Ich fing einen der Vögel, die aufgeregt um den Baum herumflatterten, und öffnete meine Substanz, um auch ihn von Nahem betrachten zu können. Der Vogel war tot. Ich ließ ihn fallen. Diese Wesen sind zu zerbrechlich, sie sterben zu schnell, erkannte ich und sah mich dabei nach größeren Lebewesen um.
Für die Tiere, die auf der Ebene grasten, gab es keine Namen in der Erinnerung des Anderen.
Ich bewegte mich auf sie zu. Die Tiere setzten sich in Bewegung und flohen, doch wurden sie nicht von mir aufgeschreckt, sondern von einem … Raubtier, das sie verfolgte.
Ich hielt inne und beobachtete gespannt die Jagd. Das Raubtier brachte bald darauf eines der großen dunkelbraunen Tiere zu Fall und verbiss sich in dessen … Kehle, bis es sich nicht mehr regte.
Fasziniert näherte ich mich Geschehen. Als mich das Raubtier entdeckte, fauchte es drohend und rannte davon. Sofort sezte ich ihm nach und holte das Tier mühelos ein. Ein Ausläufer meiner Substanz ergriff ein Bein und ich zog es zu mir heran.
Das Tier schlug wild um sich, verzweifelt darum bemüht sich aus meinem Griff zu befreien. Ich ließ es los, um die Jagt zu verlängern.
Es lief von mir fort, so schnell es konnte.
Ich folgte.
Als ich näher kam, drehte sich das Tier blitzschnell zu mir um und sprang mich an. Doch darauf war ich vorbereitet. Mühelos fing ich seinen Sprung ab, packte ihn an der Kehle und stoppte den Angriff.
Das Raubtier kämpfte mit aller Kraft und versuchte, sich zu befreien, doch weder seine Kraft, noch seine scharfen Krallen halfen ihm. Unerbittlich hielt ich es fest und ließ nicht los.
Meine Substanz ergriff den Ober- und Unterkiefer des Tieres. Ich zwang sein Maul auf, bis die Knochen brachen und schaute dann neugierig in seinen weit geöffneten Rachen hinein, während sich meine Substanz forschend in seine Kehle ergoss. Nachdem mein Wissensdurst gestillt war, zog ich mich wieder aus seinem Körperinneren zurück und ließ das Tier fallen. Taumelnd kroch es von mir fort.
Ich verlor das Interesse mich weiter mit dem Tier zu befassen und flog zurück zu seiner Beute. Dort angekommen formte ich eine Klaue des Raubtieres nach und öffnete damit den Bauch seiner Beute, um dessen Inneres näher betrachten zu können und zog dann das heraus, was sich darin befand.
Ekel überkam mich, beim Betrachten des Inhalts. Besaßen all diese Wesen derartig widerliche Körper? Ist der Körper, den ich jetzt bewohne, ebenso beschaffen?
Ich beschloss, das Innere eines noch lebenden Tieres zu untersuchen. Ich erhob mich senkrecht in die Luft und blickte über die Ebene.
Die grasenden Tiere hatten sich weit vor mir entfernt. Schnell holte ich sie ein und fing eines mit auffälligen schwarz-weißen Mustern auf dem Fell. Das Tier schrie und zappelte in meinem Griff, während ich ihm den Bauch aufschlitze.