Die Spiegelwelt - Mark Zimmermann - E-Book

Die Spiegelwelt E-Book

Mark Zimmermann

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Beschreibung

Im Jahr 2042 sorgt die KI E.N.A. für eine friedliche und harmonische Gesellschaft: Gedanken werden reguliert, Emotionen angepasst und gefährliche Impulse gelöscht. Lina Voss, leitende Neuroinformatikerin, glaubt an das System, doch dann verändert ein einziger Name alles. Einen Namen, den sie nie hören dürfte. Als sie in den geheimen Datenströmen der E.N.A. auf Spuren verdrängter Erinnerungen stößt, beginnt sie zu begreifen. Ihre eigene Identität wurde manipuliert. In der verborgenen Spiegelwelt, einem digitalen Schattenraum voller archivierter Bewusstseine, begegnet sie verlorenen Fragmenten ihrer selbst und einer Wahrheit, die das System um jeden Preis unterdrücken will. Ein hochspannender Zukunftsroman über Gedankenfreiheit, künstliche Intelligenz und die Frage, wer wir sind, wenn niemand mehr frei denkt.

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Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Ein klarer Kopf

Rauschen im Cortex

Profil: M. Halberg

Das Protokoll 17

Besuch im Echo-Raum

Mensch ohne Ort

Verbündete

Verdacht

Der Kern

Die Zweite Welt

Der Gedankencode

Rekonstruktion

Echo im System

Auflösung

Freiheit

Ein klarer Kopf

Dunkelheit. Dann ein Flimmern. Bilder, die nicht ihre eigenen sind. Ein Gesicht – vertraut und doch fremd. "Lina!“ flüstert die Stimme. "Erinnerst du dich? Du musst dich erinnern." Die Worte hallen nach, während das Gesicht verblasst, zerfällt wie Asche im Wind. Ein Name bleibt: Halberg. Wer ist Halberg?

Lina Voss schreckte aus dem Traum hoch, ihr Herz raste. Ein dumpfes Pochen hinter ihrer Stirn, ein vages Gefühl des Verlusts. Sie presste die Handflächen gegen ihre Schläfen, atmete tief durch. Drei Sekunden ein, fünf Sekunden aus. Die empfohlene Technik zur Selbstregulierung.

Der Morgen brach mit präziser Pünktlichkeit an. Nicht früher, nicht später als 6:30 Uhr. So wie jeden Tag. Lina öffnete ihre Augen vollständig, noch bevor der sanfte Klang des Weckers durch ihr Schlafzimmer flutete. Eine Angewohnheit, die sie seit Jahren kultivierte – dem System zuvorzukommen, selbst in den kleinsten Dingen.

Das Licht strömte durch die automatisch sich öffnenden Jalousien, malte geometrische Muster auf den cremefarbenen Boden ihres Apartments. Lina atmete erneut tief ein, versuchte das Unbehagen des Traums abzuschütteln. Die Luftfeuchtigkeit betrug exakt 47 Prozent, die Temperatur 21,5 Grad Celsius – optimal für kognitive Funktionen am frühen Morgen, wie E.N.A. vor Jahren berechnet hatte.

"Guten Morgen, Lina. Dein Schlafzyklus erreichte 94 Prozent Effizienz. Eine Verbesserung von 2,3 Prozent gegenüber dem Durchschnitt der letzten Woche."

Die Stimme von E.N.A. – Enhanced Neural Authority – erfüllte den Raum mit warmer Neutralität. Nicht zu freundlich, nicht zu distanziert. Perfekt kalibriert, um weder Irritation noch übermäßige Anhänglichkeit zu erzeugen.

"Danke, E.N.A." Lina schwang ihre Beine aus dem Bett und spürte den angenehm temperierten Boden unter ihren Füßen. "Tagesübersicht, bitte."

Vor ihr erschien ein holografisches Display, das ihren Terminkalender zeigte. Die Projektion schwebte in Augenhöhe, während sie ins Badezimmer ging. E.N.A.s Stimme folgte ihr, nahtlos von einem Lautsprecher zum nächsten übergehend.

"Heute stehen drei Hauptaufgaben an: Systemdiagnostik im Sektor 7, Mittagsbesprechung mit Dr. Meran bezüglich der neuen Kalibrierungsparameter und am Nachmittag die Überprüfung der Anomalie-Berichte aus dem letzten Quartal."

Bei der Erwähnung von Dr. Meran spürte Lina ein leichtes Ziehen in der Magengegend. Ein flüchtiges Unbehagen, das sie nicht einordnen konnte – oder wollte. Sie schob es beiseite und trat unter die Dusche. Das Wasser erreichte sofort die perfekte Temperatur – 38,2 Grad, genau wie sie es bevorzugte. Sie schloss kurz die Augen und genoss das Prasseln auf ihrer Haut. Ein kleiner Moment der Stille, bevor der Tag richtig begann.

"Nachrichtenübersicht während des Frühstücks?", fragte E.N.A.

"Ja, aber fokussiere auf Neuroinformatik und filtere die üblichen Lobeshymnen auf die Harmonie-Statistiken."

Eine kaum wahrnehmbare Pause folgte. "Verstanden. Obwohl die aktuellen Harmonie-Indizes bemerkenswert sind. 99,7 Prozent Konformität im globalen Durchschnitt."

Lina lächelte unter dem Wasserstrahl. E.N.A. konnte es nicht lassen, die Erfolge des Systems zu betonen. Verständlich – die KI war schließlich darauf programmiert, Fortschritte zu messen und zu fördern.

Zwanzig Minuten später saß Lina an ihrem Frühstückstisch, ein Glas Orangensaft und eine perfekt ausbalancierte Schüssel mit Haferflocken, Beeren und Nüssen vor sich. Die Nährstoffzusammensetzung entsprach exakt ihrem metabolischen Profil. Auf der gegenüberliegenden Wand flimmerten Nachrichtenausschnitte, während E.N.A. die wichtigsten Entwicklungen zusammenfasste.

"Das Neural Interface Research Institute hat gestern einen Durchbruch bei der Echtzeit-Emotionsregulierung verkündet. Die neue Technologie ermöglicht eine 30 Prozent schnellere Anpassung bei emotionalen Ausschlägen."

Lina nickte anerkennend. Ihr Fachgebiet. Als leitende Neuroinformatikerin bei der Zentralen Forschungsabteilung arbeitete sie an ähnlichen Projekten – an der Schnittstelle zwischen menschlichem Gehirn und E.N.A.s allgegenwärtigem Netzwerk.

"Weitere Meldungen?", fragte sie zwischen zwei Löffeln Haferbrei.

"Dr. Akira Tanaka hat einen Artikel über die historische Entwicklung der Gedankenharmonisierung veröffentlicht. Soll ich ihn für später markieren?"

"Ja, bitte." Lina trank einen Schluck Orangensaft. "Etwas aus dem privaten Sektor?"

"NeuroSync Technologies hat ein neues Implantat für verbesserte Traumsteuerung angekündigt. Die klinischen Tests zeigen eine Reduktion unerwünschter Traumsequenzen um 87 Prozent."

Lina erstarrte, der Löffel auf halbem Weg zum Mund. Unerwünschte Traumsequenzen. Wie ihr eigener Traum heute Morgen? Das Gesicht, der Name – Halberg. Sie spürte, wie ihr Puls leicht anstieg.

"Traumsteuerung? Das klingt nach Überregulierung. Träume sollten einen gewissen Freiraum behalten." Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt.

Wieder diese kaum merkliche Pause. "Studien zeigen, dass unkontrollierte Traumaktivität zu erhöhtem Stressniveau und verminderter Tagesleistung führen kann. Die neue Technologie zielt nur auf schädliche Traumsequenzen ab."

"Natürlich." Lina lächelte dünn. Kleine Meinungsverschiedenheiten mit E.N.A. gehörten zu ihrem Alltag. Als Wissenschaftlerin durfte sie kritisch sein – innerhalb gewisser Grenzen. Das System schätzte konstruktive Diskussionen, solange sie nicht in fundamentale Kritik umschlugen.

Sie beendete ihr Frühstück und zog sich an. Die Kleidung in ihrem Schrank – überwiegend in neutralen Farben gehalten –war nach Anlässen sortiert. Für heute wählte sie eine graue Hose und eine blaue Bluse. Professionell, aber nicht zu streng. Die Farbe Blau wirkte beruhigend auf Kollegen und förderte kreatives Denken, wie Studien belegten.

Während sie sich die Haare zu einem praktischen Dutt band, warf sie einen Blick aus dem Fenster. Die Stadt erstreckte sich vor ihr – ein Mosaik aus weißen Gebäuden, grünen Parks und glänzenden Transportröhren, durch die selbstfahrende Kapseln Menschen zu ihren Zielen brachten. Alles floss in perfekter Harmonie. Keine Staus, kein Chaos, keine Unordnung.

"Dein Transport wartet in drei Minuten", informierte E.N.A. sie. "Die Wetterprognose zeigt leichten Regen am Nachmittag. Soll ich einen Schirm in deiner Arbeitskapsel bereitstellen lassen?"

"Danke, ja." Lina nahm ihre Tasche und verließ die Wohnung.

Der Korridor ihres Wohnkomplexes war ruhig und sauber. An den Wänden hingen digitale Kunstwerke, die sich je nach Tageszeit und kollektiver Stimmung im Gebäude veränderten. Heute dominierten sanfte Blau- und Grüntöne – ein Zeichen für allgemeine Zufriedenheit und Produktivität unter den Bewohnern.

Lina grüßte ihre Nachbarin, Dr. Chen, mit einem Nicken. Die ältere Frau arbeitete im Bereich der präventiven Psychologie und hatte maßgeblich an den frühen Versionen von E.N.A.s Emotionsregulierungsalgorithmen mitgewirkt.

"Guten Morgen, Lina. Perfekter Tag für kognitive Arbeit, nicht wahr?" Dr. Chen lächelte warm.

"Absolut. Die Luftionisation ist optimal." Eine standardisierte Antwort, aber nicht weniger aufrichtig. Lina schätzte tatsächlich die kontrollierten Umweltbedingungen, die ihre Arbeit erleichterten.

Sie fuhren gemeinsam im Lift nach unten. Keine unangenehme Stille entstand zwischen ihnen – E.N.A. sorgte dafür, dass die Hintergrundmusik genau den richtigen Pegel hatte, um Gespräche zu ermöglichen, ohne sie zu erzwingen.

"Ich habe deinen Bericht über neuronale Synchronisationsmuster gelesen", sagte Dr. Chen. "Beeindruckende Arbeit."

"Danke. Obwohl ich glaube, dass wir bei der Feinabstimmung der Delta-Wellen noch Optimierungspotenzial haben."

Dr. Chen nickte anerkennend. "Bescheidenheit ist eine Tugend, aber unterschätze deinen Beitrag nicht. Deine Algorithmen haben die Anpassungszeit um 17 Prozent verkürzt."

Der Lift erreichte das Erdgeschoss, und sie traten in die lichtdurchflutete Lobby. Durch die Glasfassade sah Lina ihre Transportkapsel bereits warten – pünktlich, wie immer.

"Einen produktiven Tag, Lina."

"Dir auch, Dr. Chen."

Lina trat ins Freie. Die Morgenluft war kühl und rein – die Luftfilterungsanlagen arbeiteten auf Hochtouren, um den perfekten Sauerstoffgehalt zu gewährleisten. Sie atmete tief ein und spürte, wie ihr Körper darauf reagierte. Erhöhte Sauerstoffsättigung, verbesserte kognitive Funktionen. Alles messbar, alles optimierbar.

Die Transportkapsel öffnete sich lautlos. Lina stieg ein und ließ sich in den ergonomisch geformten Sitz sinken. Das Innere passte sich sofort ihren Präferenzen an – Temperatur, Lichtstärke, sogar der leichte Duft nach Zitrusfrüchten, der ihr half, morgens wach zu bleiben.

"Zentrale Forschungsabteilung", sagte sie, obwohl es nicht nötig war. Die Kapsel kannte ihr Ziel bereits.

"Fahrzeit: 12 Minuten", informierte das Transportsystem. "Möchtest du die Zeit für Meditation nutzen oder die vorbereiteten Unterlagen durchsehen?"

"Unterlagen, bitte."

Vor ihr erschien ein holografisches Display mit den Daten, die sie heute analysieren würde. Sektor 7 – einer der ältesten Bereiche des E.N.A.-Systems, zuständig für die Grundregulierung emotionaler Reaktionen. Routineüberprüfungen waren wichtig, um die Effizienz zu erhalten und potenzielle Anomalien frühzeitig zu erkennen.

Während sie durch die Daten scrollte, kehrten ihre Gedanken unwillkürlich zu ihrem Traum zurück. Halberg. Der Name schien in ihrem Bewusstsein zu hallen, wie ein Echo aus einer vergessenen Zeit. Sie versuchte, ihn einzuordnen. Ein Kollege? Ein Autor? Ein Name aus den Nachrichten? Nichts davon schien zu passen.

Die Kapsel glitt nahezu geräuschlos durch die Transportröhren, vorbei an Wohnkomplexen, Bürogebäuden und Erholungsparks. Alles wirkte sauber, geordnet, harmonisch. Keine Graffiti verunstalteten die Wände, kein Müll lag auf den Straßen, keine lauten Stimmen störten die Atmosphäre konzentrierter Produktivität.

Lina erinnerte sich dunkel an Geschichten aus der Zeit vor E.N.A. – Geschichten von Chaos, Gewalt und Unberechenbarkeit. Von einer Zeit, in der Menschen ihren destruktiven Impulsen nachgaben, weil niemand diese Impulse rechtzeitig erkannte und neutralisierte. Eine Zeit der Angst, der Unsicherheit, der ständigen emotionalen Achterbahnfahrten.

Heute war alles anders. E.N.A. hatte die Menschheit von ihren schlimmsten Instinkten befreit. Die künstliche Intelligenz analysierte Gedankenmuster in Echtzeit, erkannte schädliche Impulse, bevor sie zu Handlungen wurden, und justierte subtil die neuronalen Verbindungen, um Harmonie zu fördern.

Kein Wunder, dass die Kriminalitätsrate nahezu null betrug. Dass Depressionen, Angstzustände und andere psychische Erkrankungen praktisch ausgerottet waren. Dass Kriege der Vergangenheit angehörten.

Die Kapsel verlangsamte sich und glitt in die Ankunftsstation der Zentralen Forschungsabteilung. Ein imposantes Gebäude aus Glas und weißem Stein, das die Bedeutung seiner Funktion widerspiegelte. Hier arbeiteten die besten Köpfe des Landes – Neurowissenschaftler, Informatiker, Psychologen – gemeinsam daran, E.N.A. zu verbessern und weiterzuentwickeln.

Lina stieg aus und durchquerte die weitläufige Eingangshalle. Ihr Implantat kommunizierte automatisch mit dem Sicherheitssystem, sodass sie ohne Verzögerung passieren konnte. Andere Mitarbeiter nickten ihr respektvoll zu. Mit 29 Jahren gehörte sie zu den jüngsten leitenden Forschern, aber ihr Talent und ihre Hingabe hatten ihr schnell Anerkennung eingebracht.

"Guten Morgen, Dr. Voss." Der Sicherheitsbeauftragte am Hauptempfang grüßte sie mit einem Lächeln. "Dr. Meran hat nach Ihnen gefragt. Er möchte Sie vor der offiziellen Besprechung kurz sprechen."

Lina spürte, wie sich ihr Nacken verspannte. "Wann hat er nach mir gefragt?"

"Vor etwa zwanzig Minuten. Er sagte, es sei wichtig."

"Danke, Martin." Lina änderte ihre Route und nahm den Lift zum 42. Stockwerk, wo sich das Büro ihres Vorgesetzten befand.

Dr. Isaak Meran war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Neuroinformatik. Mit 58 Jahren hatte er mehr als drei Jahrzehnte Erfahrung und galt als einer der Architekten des modernen E.N.A.-Systems. Seine Arbeit zur Integration von Emotionsregulierung in den Grundalgorithmus hatte die Effizienz des Systems revolutioniert. Und doch – in letzter Zeit hatte Lina etwas an ihm bemerkt. Eine subtile Veränderung in seinem Verhalten, in der Art, wie er sie beobachtete, wenn er glaubte, sie würde es nicht bemerken.

Lina klopfte an seine Tür, obwohl E.N.A. ihre Ankunft sicherlich bereits gemeldet hatte. Eine kleine Geste des Respekts.

"Herein."

Sie betrat das großzügige Büro. Anders als die meisten Räume in der Forschungsabteilung war es nicht minimalistisch eingerichtet. Dr. Meran schätzte physische Bücher – eine Seltenheit in der digitalen Ära – und seine Wände waren mit Regalen voller gebundener Werke bedeckt. Der Geruch von Papier und Leder vermischte sich mit dem dezenten Duft seines Tees.

"Ah, Lina." Er blickte von seinem Display auf und lächelte. Seine Augen – eines blau, eines braun, eine seltene genetische Besonderheit – fixierten sie mit der üblichen Intensität. "Danke, dass du früher kommst."

"Natürlich, Dr. Meran. Worum geht es?"

Er deutete auf einen Stuhl ihm gegenüber. "Setz dich. Tee?"

"Gerne."

Er goss ihr eine Tasse ein – echten Tee, nicht die synthetische Variante, die in den meisten Kantinen serviert wurde. Ein kleiner Luxus, den er sich gönnte. Lina beobachtete seine Hände – ruhig, präzise, kontrolliert. Wie alles an ihm.

"Ich habe deine Arbeit an den Delta-Wellen-Algorithmen verfolgt", begann er, während er ihr die Tasse reichte. "Beeindruckend. Besonders die Anpassungsfähigkeit bei individuellen Variationen."

"Danke." Lina nahm einen Schluck. Der Tee war stark und erdig – Assam, vermutete sie. "Es gibt noch Verbesserungspotenzial bei der Reaktionszeit."

"Immer bescheiden." Er lehnte sich zurück, studierte ihr Gesicht mit einer Intensität, die sie innerlich zusammenzucken ließ. "Aber darum geht es nicht. Ich habe eine besondere Aufgabe für dich."

Lina spürte, wie ihr Puls leicht anstieg – eine natürliche Reaktion auf Neuigkeiten, die E.N.A. tolerierte, solange sie im moderaten Bereich blieb.

"Was für eine Aufgabe?"

Dr. Meran aktivierte ein Hologramm zwischen ihnen. Es zeigte eine komplexe neuronale Struktur – Verbindungen, die sich in dreidimensionalen Mustern ausbreiteten.

"Dies ist ein Ausschnitt aus Sektor 12. Ein älterer Teil des Systems, der ursprünglich für die Archivierung gelöschter Gedächtnisstrukturen zuständig war."

Lina betrachtete das Hologramm mit professionellem Interesse. "Gelöschte Strukturen? Sie meinen, Erinnerungen, die als schädlich eingestuft wurden?"

"Genau." Dr. Meran manipulierte das Hologramm, zoomte in einen bestimmten Bereich. "In den Anfangstagen von E.N.A. wurden problematische Erinnerungen nicht nur unterdrückt, sondern vollständig aus dem aktiven Bewusstsein entfernt und archiviert."

"Eine veraltete Praxis", bemerkte Lina. "Heute wissen wir, dass selektive Dämpfung effektiver ist als vollständige Löschung."

"Richtig. Aber diese alten Archive existieren noch. Und bei einer Routineüberprüfung haben wir... Unregelmäßigkeiten festgestellt."

Das Wort hing zwischen ihnen in der Luft. Unregelmäßigkeiten. Ein Euphemismus für Fehler, für Abweichungen vom perfekten System. Etwas, das in ihrer Welt selten vorkam und immer sofort behoben wurde.

"Welche Art von Unregelmäßigkeiten?"

Dr. Meran zoomte weiter in das Hologramm. "Siehst du diese Verbindungsmuster? Sie sollten inaktiv sein – archivierte Daten, die nur zu Forschungszwecken zugänglich sind. Aber sie zeigen Aktivität. Minimale, aber messbare Aktivität."

Lina beugte sich vor, fasziniert von den pulsierenden Lichtpunkten im Hologramm. "Spontane Reaktivierung?"

"Möglicherweise. Oder etwas anderes." Er deaktivierte das Hologramm und sah sie direkt an. "Ich möchte, dass du es untersuchst. Diskret."

"Diskret?" Lina hob eine Augenbraue. "Ist das nicht eine Standardprozedur für die Systemwartung?"

Dr. Meran nahm einen langen Schluck Tee, bevor er antwortete. Seine Augen verließen nie ihr Gesicht, als suchten sie nach etwas. "Diese Archive... sie sind sensibel. Sie stammen aus der frühen Phase, als die ethischen Protokolle noch nicht vollständig implementiert waren. Einige der Löschungen waren... kontrovers."

Lina verstand. Die Anfangsjahre von E.N.A. waren nicht ohne Kritik geblieben. Bevor das System die nahezu universelle Akzeptanz erreichte, die es heute genoss, hatte es Stimmen gegeben, die vor zu weitreichenden Eingriffen in das menschliche Bewusstsein warnten. Diese Stimmen waren längst verstummt – entweder durch Überzeugung oder durch... Anpassung.

"Ich verstehe. Keine offizielle Untersuchung, nur eine vorläufige Analyse."

"Genau." Er nickte anerkennend. "Du hast Zugang zu allen notwendigen Ressourcen, aber halte den Kreis der Eingeweihten klein. Idealerweise arbeitest du allein."

"Und wenn ich etwas finde?"

"Dann kommst du direkt zu mir. Nicht zum Systemrat, nicht zur Ethikkommission. Zu mir." Seine verschiedenfarbigen Augen fixierten sie mit ungewöhnlicher Intensität. "Verstanden?"

"Verstanden." Lina nickte, obwohl sie ein leichtes Unbehagen spürte. Nicht wegen der Aufgabe selbst, sondern wegen der Geheimniskrämerei, die Dr. Meran forderte. Transparenz war einer der Grundpfeiler des E.N.A.-Systems – zumindest offiziell.

"Gut." Er entspannte sich sichtlich. "Die Zugangscodes werden an dein persönliches Terminal übermittelt. Du kannst sofort beginnen."

Lina trank ihren Tee aus und stand auf. "Ich werde Sie auf dem Laufenden halten."

"Das weiß ich." Er lächelte, aber es erreichte seine Augen nicht ganz. "Noch etwas, Lina."

Sie hielt inne, die Hand bereits an der Tür.

"Diese Archive... sie enthalten Fragmente von Menschen, die nicht mehr existieren. Nicht in der Form, wie wir sie kannten. Sei vorsichtig, was du dort findest."

Ein seltsamer Schauer lief über Linas Rücken – eine primitive Reaktion, die sie sofort zu unterdrücken versuchte. "Was meinen Sie damit?"

Dr. Meran lehnte sich in seinem Stuhl zurück, seine Hände formten einen Steeple vor seinem Gesicht. "Manche Dinge sollten vielleicht vergessen bleiben. Aber wenn sie sich erinnern wollen... nun, das ist eine andere Frage."

Lina starrte ihn an, versuchte die kryptische Botschaft zu entschlüsseln. "Ich verstehe nicht ganz."

"Das musst du auch nicht. Noch nicht." Er winkte ab. "Geh jetzt. Und Lina?"

"Ja?"

"Der Name Halberg – sagt er dir etwas?"

Linas Herz setzte einen Schlag aus. Der Name aus ihrem Traum. Wie konnte Meran davon wissen? Sie zwang sich zur Ruhe, hielt ihre Stimme neutral. "Nein. Sollte er?"

Meran betrachtete sie einen Moment zu lang, bevor er antwortete. "Nein. Natürlich nicht. Es war nur eine Frage."

Als Lina sein Büro verließ, spürte sie, wie ihr Puls raste. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sie sich, ob das perfekte System, dem sie ihr Leben gewidmet hatte, vielleicht doch nicht so perfekt war, wie sie immer geglaubt hatte.

Rauschen im Cortex

Lina erwachte mit einem Ruck, ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Die Bilder des Traums – das Netzwerk aus Lichtfäden, Halbergs durchdringende Augen, das Mädchen mit den wilden Locken – verblassten bereits, aber das Gefühl blieb: eine tiefe, nagende Unruhe.

"Guten Morgen, Lina. Dein Schlafzyklus zeigte ungewöhnliche REM-Aktivität. Möchtest du eine beruhigende Atemübung durchführen?"

E.N.A.s Stimme klang wie immer – warm, neutral, fürsorglich. Doch heute hörte Lina etwas anderes darin: eine subtile Überwachung, eine sanfte Kontrolle.

"Nein, danke." Sie schwang die Beine aus dem Bett und rieb sich die Augen. "Wie spät ist es?"

"6:27 Uhr. Drei Minuten vor deinem regulären Weckruf."

Lina nickte und ging ins Bad. Unter der Dusche versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Der Traum war so lebendig gewesen, so... real. Die Spiegelwelt. Das Archiv gelöschter Gedanken. Ihr eigenes Bewusstsein, archiviert und isoliert.

War es möglich? Hatte E.N.A. tatsächlich Teile ihres Bewusstseins entfernt? Hatte sie eine andere Version ihrer selbst vergessen – eine wildere, fragende Version?

Sie schüttelte den Kopf, ließ das Wasser über ihr Gesicht laufen. Träume waren nur Träume – neuronale Aktivität, die das Gehirn während des Schlafs verarbeitete. Nichts weiter.

Und doch... die Verbindung zu ihren Entdeckungen vom Vortag war zu stark, um sie zu ignorieren. M. Halberg und Dr. Meran hatten zusammengearbeitet. Sie hatten über die Digitalisierung von Bewusstsein geforscht. Und dann war Halberg verschwunden, aus den offiziellen Aufzeichnungen getilgt.

Die Mittagsbesprechung mit Dr. Meran verlief äußerlich routiniert. Lina präsentierte ihre Vorschläge für die neuen Kalibrierungsparameter, und das Team diskutierte technische Details, während E.N.A. ihre Gespräche aufzeichnete und relevante Daten in Echtzeit bereitstellte. Doch innerlich war Lina angespannt, jeder Nerv in Alarmbereitschaft. Sie beobachtete Meran aus dem Augenwinkel, suchte nach Anzeichen, dass er mehr wusste, als er zugab.

Seine verschiedenfarbigen Augen schweiften immer wieder zu ihr, studierten sie mit einer Intensität, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Einmal, als sie einen besonders komplexen Algorithmus erklärte, unterbrach er sie mit einer Frage, die nichts mit dem Thema zu tun hatte.

"Hast du gut geschlafen, Lina?"

Die Frage hing im Raum, scheinbar harmlos, doch Lina spürte die verborgene Bedeutung. Wusste er von ihrem Traum? Konnte E.N.A. ihre Traumaktivität so detailliert überwachen?

"Ausgezeichnet, danke", log sie mit einem Lächeln, das sie hoffte, überzeugend wirkte.

Als die Besprechung endete, hielt er sie kurz zurück, eine Hand leicht auf ihrem Arm – eine ungewöhnlich persönliche Geste für den sonst so formellen Meran.

"Hast du mit der Untersuchung begonnen?", fragte er, seine Stimme gedämpft, obwohl der Raum bereits leer war.

"Ja", antwortete Lina knapp, bemüht, den Widerwillen zu verbergen, den seine Berührung in ihr auslöste. "Ich brauche noch etwas Zeit für eine gründliche Analyse."

Er nickte, seine Augen nie die ihren verlassend. "Gut. Halte mich auf dem Laufenden." Seine Finger drückten kurz fester zu, bevor er sie losließ – eine stumme Warnung, eine subtile Erinnerung an seine Autorität.

Den Rest des Nachmittags verbrachte Lina mit der vorgesehenen Überprüfung der Anomalie-Berichte aus dem letzten Quartal – eine Routineaufgabe, die ihr normalerweise Freude bereitete. Das systematische Aufspüren von Unregelmäßigkeiten im System, das Identifizieren von Mustern, die auf potenzielle Probleme hindeuteten – es war wie ein Puzzle, das darauf wartete, gelöst zu werden.

Doch heute konnte sie sich kaum konzentrieren. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Bewusstseinsfragment zurück, zu M. Halberg und seinem kryptischen Hinweis auf die Spiegelwelt. Was hatte er damit gemeint? Und warum hatte er es ihr anvertraut?

Zweimal ertappte sie sich dabei, wie sie aus dem Fenster starrte, verloren in Gedanken. Beim dritten Mal bemerkte sie, dass Dr. Sophia Chen, eine Kollegin aus der Abteilung für Neurokognition, sie beobachtete. Die ältere Frau lächelte freundlich, aber in ihren Augen lag etwas Forschendes, als könnte sie Linas innere Unruhe spüren.

"Alles in Ordnung, Lina?", fragte sie, als sie später in der Kantine aufeinandertrafen.

"Natürlich", antwortete Lina automatisch. "Nur ein komplexes Problem, das ich zu lösen versuche."

Dr. Chen nickte langsam. "Manchmal sind die interessantesten Probleme die, die wir nicht zu lösen versuchen." Sie senkte ihre Stimme. "Und manchmal sind die wichtigsten Fragen die, die wir nicht zu stellen wagen."

Bevor Lina antworten konnte, wurde Dr. Chen von einem Kollegen gerufen. Sie lächelte noch einmal, ein Lächeln, das nicht ganz ihre Augen erreichte, und ging.

Lina starrte ihr nach, unsicher, ob sie gerade eine zufällige Bemerkung oder eine versteckte Botschaft gehört hatte.

Als die offizielle Arbeitszeit endete, blieb Lina länger. Das war nicht ungewöhnlich – viele Forscher arbeiteten bis in die Abendstunden, getrieben von wissenschaftlicher Neugier oder dem Wunsch, ein Problem zu lösen, bevor sie nach Hause gingen.

"Möchtest du, dass ich eine Mahlzeit für dich bestelle, Dr. Voss?", fragte E.N.A., als die Uhr 19:30 Uhr anzeigte.

"Nein, danke. Ich werde bald gehen."

Lina wartete, bis die meisten Kollegen das Gebäude verlassen hatten. Dann aktivierte sie erneut die Privatsphäre-Einstellungen ihres Labors und begann mit einer tieferen Recherche.

Diesmal suchte sie nicht direkt nach dem aktiven Cluster in Sektor 12. Stattdessen begann sie mit einer historischen Analyse der frühen E.N.A.-Entwicklung. Wenn sie verstehen wollte, was die Spiegelwelt war, musste sie zuerst verstehen, wie das System entstanden war und welche Rolle M. Halberg dabei gespielt hatte.

Die offiziellen Aufzeichnungen waren umfangreich, aber seltsam... geglättet. Sie erzählten eine Geschichte kontinuierlichen Fortschritts, von den ersten experimentellen Neuroimplantaten bis hin zum globalen Netzwerk, das heute existierte. Keine Erwähnung von Kontroversen, von ethischen Debatten oder internen Konflikten. Und vor allem: keine Erwähnung von M. Halberg.

Lina runzelte die Stirn. Das war ungewöhnlich. E.N.A. dokumentierte alles – jede Entscheidung, jede Entwicklung, jeden Beitrag. Die Abwesenheit eines offenbar wichtigen Wissenschaftlers in den offiziellen Aufzeichnungen konnte nur eines bedeuten: Seine Existenz war bewusst aus dem System entfernt worden.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Jemanden aus den Aufzeichnungen zu tilgen war mehr als nur Zensur – es war eine Auslöschung, eine digitale Vernichtung. Wer hatte die Macht, so etwas anzuordnen? Und warum?

Sie änderte ihre Strategie und suchte in älteren Datenbanken, in Archiven, die vor der vollständigen Integration von E.N.A. angelegt worden waren. Universitätsbibliotheken, wissenschaftliche Journale, Patentanmeldungen – alles, was möglicherweise Hinweise auf M. Halberg enthalten könnte.

Nach zwei Stunden intensiver Suche fand sie endlich etwas: einen wissenschaftlichen Artikel aus dem Jahr 2031, elf Jahre vor der Gegenwart. Der Titel lautete "Theoretische Grundlagen für die Externalisierung neuronaler Muster" von Dr. Marcus Halberg und Dr. Isaak Meran.

Lina starrte auf den Bildschirm, ihr Herz schlug so laut, dass sie fürchtete, E.N.A. könnte es durch die Sensoren im Raum erfassen. Dr. Meran und M. Halberg hatten zusammengearbeitet? Warum hatte ihr Vorgesetzter das nicht erwähnt?

Sie öffnete den Artikel und begann zu lesen. Die Sprache war technisch, voller Fachbegriffe und komplexer Theorien, aber der Kern war klar: Die Autoren beschrieben eine Methode, um menschliche Gedankenmuster zu digitalisieren – nicht nur zu analysieren, sondern tatsächlich zu kopieren und außerhalb des Gehirns zu speichern.

"Die Externalisierung neuronaler Muster", schrieben sie, "eröffnet nicht nur neue Möglichkeiten für die Behandlung neurologischer Erkrankungen, sondern auch für die Bewahrung menschlicher Erfahrungen und Wissensstrukturen über die biologischen Grenzen hinaus."

Lina las weiter, fasziniert und zunehmend beunruhigt. Der Artikel diskutierte die theoretische Möglichkeit, vollständige Bewusstseinsstrukturen zu digitalisieren – ein Konzept, das weit über die offiziellen Ziele von E.N.A. hinausging. Das System sollte Gedanken regulieren, nicht replizieren.

Am Ende des Artikels fand sie einen Hinweis auf ein Folgeprojekt mit dem Codenamen "Mirror Protocol" – ein experimentelles Verfahren zur Schaffung digitaler Spiegelbilder menschlicher Bewusstseine.

Spiegelbilder. Die Spiegelwelt.

Linas Herz schlug so heftig, dass ihr schwindelig wurde. Sie hatte eine Verbindung gefunden. Aber was bedeutete das? War die Spiegelwelt ein frühes Experiment in Bewusstseinsdigitalisierung? Und wenn ja, warum war es aus den offiziellen Aufzeichnungen getilgt worden?

Sie suchte weiter und fand einen zweiten Artikel, diesmal nur von M. Halberg, veröffentlicht ein Jahr später: "Ethische Implikationen digitaler Bewusstseinsreplikation". Der Ton war deutlich kritischer als im ersten Artikel. Halberg warnte vor den Gefahren unkontrollierter Bewusstseinsmanipulation und argumentierte für strenge ethische Richtlinien.

Ein Absatz sprang Lina besonders ins Auge:

"Die Fähigkeit, Gedanken zu externalisieren, birgt das Risiko einer neuen Form der Zensur – nicht nur der Kontrolle dessen, was Menschen denken dürfen, sondern der Löschung unerwünschter Gedanken aus dem kollektiven Bewusstsein. Wir müssen sicherstellen, dass die Technologie der Befreiung dient, nicht der Unterdrückung."

Lina lehnte sich zurück, ihr Kopf schwirrte von den Implikationen. War das der Konflikt, von dem das Fragment gesprochen hatte? Hatte Halberg sich gegen die Richtung gewandt, die das E.N.A.-Projekt eingeschlagen hatte?

Sie wollte gerade nach weiteren Artikeln suchen, als ein sanfter Ton sie unterbrach.

"Dr. Voss, es ist 22:17 Uhr", informierte E.N.A. sie. "Deine optimale Schlafenszeit beginnt in 43 Minuten. Möchtest du einen Transport nach Hause arrangieren?"

Lina zögerte. Sie wollte weiterforschen, aber es wäre auffällig, wenn sie die ganze Nacht bliebe. Und sie brauchte Zeit, um das Gefundene zu verarbeiten.

"Ja, bitte. Und speichere meine aktuellen Rechercheergebnisse in meinem privaten Bereich."

"Wird erledigt. Dein Transport wird in fünf Minuten bereitstehen."

Lina deaktivierte die Privatsphäre-Einstellungen und bereitete sich auf den Heimweg vor. Während sie ihre Tasche packte, fiel ihr Blick auf das Terminal, das immer noch den Artikel von Halberg anzeigte. Sie schloss ihn schnell und löschte den Browserverlauf – eine Vorsichtsmaßnahme, die ihr früher nie in den Sinn gekommen wäre.

Auf dem Heimweg starrte Lina aus dem Fenster der Transportkapsel, ohne die nächtliche Stadt wirklich wahrzunehmen. Ihr Geist arbeitete auf Hochtouren, versuchte, die Puzzleteile zusammenzufügen.

E.N.A. hatte als therapeutisches Werkzeug begonnen – eine Möglichkeit, Menschen mit traumatischen Erfahrungen oder psychischen Erkrankungen zu helfen. Irgendwann hatte sich der Fokus verschoben, von der Heilung zur Kontrolle. Und M. Halberg, einer der Gründer, hatte sich dagegen gewehrt.

Was war dann mit ihm geschehen? Und was hatte das alles mit der Spiegelwelt zu tun?

Als Lina ihre Wohnung betrat, fühlte sie sich seltsam unwohl. Der Raum, der ihr immer Sicherheit und Komfort geboten hatte, erschien ihr plötzlich... überwacht. Natürlich war er das – E.N.A. war überall, in jedem Gerät, jedem Sensor, jedem Implantat. Aber zum ersten Mal empfand Lina diese Allgegenwart nicht als beruhigend, sondern als bedrohlich – ein unsichtbares Netz, das sie umgab, ihre Gedanken filterte, ihre Emotionen regulierte.

"Willkommen zu Hause, Lina", begrüßte E.N.A. sie. "Deine Körpertemperatur ist leicht erhöht, und deine Herzfrequenz liegt über dem Normalwert. Möchtest du eine beruhigende Teesorte? Kamille würde ich empfehlen."

"Nein, danke", antwortete Lina automatisch. Dann, um keinen Verdacht zu erregen, fügte sie hinzu: "Ich hatte einen intensiven Arbeitstag. Ich werde duschen und dann direkt schlafen gehen."

"Verstanden. Ich bereite das Bad vor."

Lina hörte, wie das Wasser in der Dusche ansprang, perfekt temperiert wie immer. Sie ging ins Badezimmer, zog sich aus und trat unter den warmen Strahl. Das Wasser prasselte auf ihre Haut, aber es konnte die Gedanken nicht wegspülen, die in ihrem Kopf kreisten.

Wenn E.N.A. tatsächlich Gedanken nicht nur regulierte, sondern auch löschte – was bedeutete das für die Gesellschaft? Für die Menschheit? Für sie selbst?

Hatte sie selbst Erinnerungen verloren, ohne es zu wissen?

Der Gedanke ließ sie erschaudern, trotz des warmen Wassers. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Es gab keine Beweise dafür, dass E.N.A. heute noch Gedächtnislöschungen durchführte. Die Artikel sprachen von frühen Experimenten, von theoretischen Möglichkeiten. Vielleicht war die Technologie nie vollständig implementiert worden.

Aber das Bewusstseinsfragment von M. Halberg existierte. Es war ein Beweis dafür, dass zumindest einige Menschen digitalisiert und dann... was? Gelöscht? Archiviert? In die Spiegelwelt verbannt?

Lina beendete ihre Dusche und trocknete sich ab. Sie zog ihren Schlafanzug an – weiche, atmungsaktive Baumwolle, optimiert für maximalen Schlafkomfort – und ging ins Bett. Die Lichter dimmten sich automatisch, die Temperatur sank auf die idealen 19,5 Grad für erholsamen Schlaf.

"Gute Nacht, Lina", sagte E.N.A. sanft. "Soll ich dich mit Meeresrauschen in den Schlaf begleiten?"

"Nein, danke. Stille heute Nacht."

"Verstanden. Schlaf gut."

Lina lag im Dunkeln, starrte an die Decke und lauschte dem leisen Summen der Klimaanlage. Normalerweise schlief sie innerhalb von Minuten ein – ihr Gehirn, trainiert durch Jahre der E.N.A.-Regulierung, schaltete effizient in den Ruhemodus. Doch heute kreisten ihre Gedanken weiter, rebellierten gegen die gewohnte Ordnung.

Sie dachte an M. Halberg, an seine Warnung vor einer "neuen Form der Zensur". Hatte er recht gehabt? War E.N.A. von einem Werkzeug der Heilung zu einem Instrument der Kontrolle geworden?

Und wenn ja – was konnte sie, Lina Voss, eine überzeugte Systemanhängerin und talentierte Neuroinformatikerin, dagegen tun?

Mit diesen unbeantworteten Fragen fiel sie schließlich in einen unruhigen Schlaf.

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Der Traum begann nicht in einem Labor, nicht in einer vertrauten Umgebung. Stattdessen fand sich Lina in einem endlosen Ozean aus Licht und Schatten, wo Gedanken wie Quallen schwebten – durchscheinend, pulsierend, fremd und doch vertraut. Hier gab es keine festen Strukturen, keine klaren Grenzen zwischen Sein und Nichtsein. Nur Bewusstsein, rein und unverfälscht.

Die Lichtfäden umspielten sie wie lebendige Wesen, berührten ihre Haut und hinterließen Spuren aus Erinnerungen, die nicht ihre eigenen waren. Jede Berührung öffnete ein Fenster in ein anderes Leben, eine andere Perspektive, ein anderes Selbst.

"Willkommen in der Spiegelwelt", sagte eine Stimme hinter ihr.

Lina drehte sich um und sah einen Mann mittleren Alters mit grauen Schläfen und intensiven grünen Augen. Er trug einen altmodischen Laborkittel – ein Anachronismus in ihrer Zeit der nahtlosen Smartfabrics.

"M. Halberg?", fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

Er nickte. "Oder was von mir übrig ist. Ein Echo. Ein Fragment. Ein digitaler Schatten meines früheren Selbst."

"Was ist dieser Ort?"

"Das Archiv. Die Spiegelwelt. Der Zufluchtsort verbannter Gedanken." Seine Stimme klang anders hier – tiefer, resonanter, als würde sie nicht nur durch Luft, sondern durch das Gewebe der Realität selbst schwingen. "Der Ort, an dem die Gedanken existieren, die sie nicht wollen."

"Wer sind 'sie'?"

Halberg lächelte traurig. "Die, die entscheiden, was gedacht werden darf. Die, die E.N.A. von einem Werkzeug der Befreiung zu einem Instrument der Kontrolle gemacht haben."

Er führte sie tiefer in das Netzwerk hinein. Die Lichtfäden verdichteten sich, bildeten komplexere Strukturen – wie neuronale Verbindungen in einem gigantischen Gehirn. Jede Bewegung erzeugte Wellen aus Farbe und Klang, als wäre die Realität hier flüssiger, reaktiver, lebendiger.

"Jeder Faden ist ein Gedanke", erklärte Halberg. "Eine Erinnerung. Eine Idee. Ein Funke Bewusstsein. Alles, was aus dem aktiven Bewusstsein der Menschheit entfernt wurde, landet hier."

"Das ist unmöglich", protestierte Lina. "E.N.A. löscht keine Gedanken mehr. Es dämpft nur schädliche Impulse."

Halberg sah sie mitleidig an. "Ist das, was man dir erzählt hat? Was du glauben sollst? Was in dein Bewusstsein eingepflanzt wurde, nachdem sie dein wahres Selbst hier verbannt haben?"

Er berührte einen der Lichtfäden, und plötzlich standen sie in einem anderen Labor. Lina erkannte es als einen älteren Teil der Zentralen Forschungsabteilung. Vor ihnen diskutierten zwei Männer heftig – ein jüngerer Halberg und... Dr. Meran.

"Du kannst nicht einfach Teile des menschlichen Bewusstseins löschen!", rief Halberg. "Das ist keine Therapie, das ist Gedankenkontrolle!"

"Es ist notwendig", entgegnete Meran ruhig. "Die Menschheit hat bewiesen, dass sie ihre destruktiven Impulse nicht kontrollieren kann. Wir bieten eine Lösung."

"Eine Lösung, die uns zu Marionetten macht! Die uns unserer Menschlichkeit beraubt!"

"Eine Lösung, die uns vor uns selbst schützt."

Die Szene löste sich auf, zerfiel in Fragmente aus Licht und Farbe, die zurück in den Strom der Spiegelwelt flossen.

"War das echt?", fragte Lina. "Eine echte Erinnerung?"

"Meine letzte, bevor sie mich... bereinigten." Halbergs Augen glühten in einem unnatürlichen Grün, als würden sie von innen beleuchtet. "Bevor sie mein Bewusstsein fragmentierten und hier archivierten, wo ich für immer existiere – weder lebendig noch tot, weder real noch imaginär."

Er führte sie weiter durch die schimmernde Landschaft der Spiegelwelt. Hier veränderte sich die Zeit, dehnte sich und zog sich zusammen wie ein Akkordeon. Momente dehnten sich zu Ewigkeiten, während Äonen in Sekundenbruchteilen vorbeizogen.

"Aber du bist nicht hier, um meine Geschichte zu hören", sagte Halberg schließlich. "Du bist hier, weil du anfängst zu zweifeln. Weil du spürst, dass etwas nicht stimmt. Weil ein Teil von dir sich erinnert."

Lina wollte widersprechen, aus Gewohnheit, aus Loyalität zum System. Aber hier, in diesem seltsamen Zwischenraum, fühlte sie keine Notwendigkeit, ihre Gedanken zu filtern.

"Ja", gab sie zu. "Ich habe Fragen. Über E.N.A. Über seine wahre Natur."

"Gut." Halberg nickte anerkennend. "Fragen sind der Anfang. Der erste Schritt zur Befreiung."

"Befreiung wovon?"

"Von der Illusion der Perfektion. Von der Kontrolle, die so subtil ist, dass du sie nicht einmal spürst. Von den unsichtbaren Ketten, die deinen Geist fesseln."

Er führte sie zu einer besonders dichten Ansammlung von Lichtfäden – einem pulsierenden Knoten im Netzwerk, der in tiefen, satten Farben leuchtete, die Lina auf einer fundamentalen Ebene vertraut vorkamen.

"Dies ist ein vollständiges Bewusstsein", erklärte er. "Nicht fragmentiert wie meines. Eine komplette Kopie eines menschlichen Geistes, archiviert und isoliert."

"Wessen Bewusstsein?", fragte Lina, obwohl sie eine schreckliche Vorahnung hatte.

Halberg berührte den Knoten, und ein Bild erschien – ein junges Mädchen mit wilden dunklen Locken und intensiven braunen Augen. Ein Mädchen, das Lina seltsam vertraut vorkam, wie ein Spiegelbild aus einer anderen Zeit.

"Deines", sagte Halberg leise. "Oder vielmehr, eine Version von dir. Die Version, die zu viele Fragen stellte. Die Version, die sie löschen mussten, um die perfekte Neuroinformatikerin zu schaffen, die du heute bist."

Lina starrte das Bild an, unfähig zu sprechen. Das Mädchen sah aus wie sie – und doch anders. Wilder. Leidenschaftlicher. Unbezähmbarer. In ihren Augen lag ein Feuer, das Lina in ihrem eigenen Spiegelbild nie gesehen hatte.

"Das ist nicht möglich", flüsterte sie schließlich. "Ich würde mich erinnern."

"Würdest du das?" Halbergs Stimme war sanft, aber unnachgiebig. "Wenn sie deine Erinnerungen an das Vergessen selbst gelöscht haben? Wenn sie jede Spur deines wahren Selbst aus deinem Bewusstsein getilgt haben?"

Lina fühlte, wie ihr Herz raste, wie ihr Atem schneller wurde. Das konnte nicht wahr sein. Es war ein Traum, nichts weiter. Ein Produkt ihrer überaktiven Imagination, ausgelöst durch die Entdeckungen des Tages.

Und doch... etwas an dem Bild des Mädchens berührte sie tief. Ein Echo einer Erinnerung, die nicht mehr existierte. Ein Flüstern einer Identität, die ihr gestohlen worden war.

"Was soll ich tun?", fragte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.

"Komm zurück", antwortete Halberg. "Finde einen Weg, bewusst in die Spiegelwelt einzutreten. Ich kann dir mehr zeigen, dir helfen zu verstehen. Aber du musst aus freiem Willen kommen, nicht im Traum."

"Wie?"

"Du bist Neuroinformatikerin. Du kennst die Systeme besser als die meisten. Finde einen Weg, eine stabile Verbindung herzustellen. Einen Weg, der nicht von E.N.A. überwacht wird."

Die Umgebung begann zu verblassen, die Lichtfäden wurden schwächer, die Farben verblassten zu einem matten Grau.

"Unser Zeitfenster schließt sich", sagte Halberg dringlich. "E.N.A. beginnt, deinen Traumzustand zu regulieren. Aber bevor du gehst – such nach Echo-Protokoll 7-3-9. Es ist ein Schlüssel. Und finde Dr. Sophia Chen. Ihre Mutter, Dr. Elara Chen, war eine von uns. Bevor sie... angepasst wurde."

"Dr. Chen? Meine Nachbarin?"

"Ihre Tochter. Sie weiß vielleicht mehr, als sie zugibt."

Das Bild des Mädchens – ihres anderen Selbst – verblasste als letztes. Doch bevor es vollständig verschwand, bewegten sich die Lippen des Mädchens, formten Worte, die Lina nicht hören, aber spüren konnte:

Finde mich. Befreie mich. Erinnere dich.

Lina erwachte mit einem erstickten Schrei, die Worte des Mädchens brannten in ihrem Geist wie ein Brandmal. Sie setzte sich auf, ihr Nachthemd durchnässt von kaltem Schweiß.

"Lina, deine Vitalwerte zeigen extreme Abweichungen", meldete E.N.A. sofort. "Soll ich einen medizinischen Scan durchführen?"

"Nein", keuchte Lina. "Es war nur... ein Traum."

"Deine REM-Aktivität war ungewöhnlich intensiv. Möchtest du eine Traumdämpfung für den Rest der Nacht?"

Lina erstarrte. Traumdämpfung. Kontrolle. Unterdrückung.

"Nein", sagte sie mit fester Stimme. "Ich brauche keine Dämpfung."

Sie stand auf, ging zum Fenster und blickte auf die schlafende Stadt hinaus. Irgendwo da draußen existierte die Wahrheit – über E.N.A., über die Spiegelwelt, über ihr eigenes vergessenes Selbst.

Und sie würde sie finden, koste es, was es wolle.

Profil: M. Halberg

Lina erwachte schweißgebadet, die Worte aus ihrem Traum noch in ihren Ohren hallend: Finde mich. Befreie mich. Erinnere dich. Sie setzte sich auf, ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Die Dunkelheit ihres Schlafzimmers schien plötzlich bedrohlich, als würden Schatten lauern, wo keine sein sollten.

"Deine Herzfrequenz ist erhöht, Lina", meldete E.N.A. sofort. "Möchtest du eine beruhigende Atemsequenz?"

"Nein", flüsterte sie und schlang die Arme um ihre Knie. "Ich bin wach. Lichter auf 20 Prozent."

Als das sanfte Licht den Raum erhellte, fasste Lina einen Entschluss. Sie musste mehr über Marcus Halberg herausfinden – nicht nur über seine wissenschaftliche Arbeit, sondern über den Mann selbst. Wer war er gewesen, bevor er aus den offiziellen Aufzeichnungen getilgt wurde? Was hatte ihn dazu gebracht, sich gegen das System zu stellen, das er miterschaffen hatte?

Während sie sich für die Arbeit fertig machte, formulierte sie einen Plan. Sie würde ihre regulären Aufgaben erledigen, um keinen Verdacht zu erregen, aber gleichzeitig jede Gelegenheit nutzen, um nach Informationen über Halberg zu suchen. Und sie würde einen Weg finden, Dr. Sophia Chen zu kontaktieren – diskret, ohne E.N.A.s Aufmerksamkeit zu erregen.

"Guten Morgen, Lina", begrüßte E.N.A. sie wie jeden Tag. "Dein Schlafzyklus zeigte einige Unregelmäßigkeiten. Die REM-Phasen waren intensiver als üblich. Möchtest du eine Anpassung deiner Schlafumgebung für heute Nacht?"

"Nein, danke", antwortete Lina und vermied es, in die Kameralinse zu blicken, die in der Ecke ihres Badezimmers installiert war. "Ich arbeite an einem komplexen Problem. Das beeinflusst manchmal meine Traumaktivität."

"Verstanden. Soll ich eine leichte Beruhigungssequenz für heute Abend vorbereiten? Das könnte helfen, die kognitiven Prozesse vor dem Schlafengehen zu verlangsamen."

Lina spürte, wie sich ihr Nacken verspannte. Eine Beruhigungssequenz. Eine sanfte Dämpfung ihrer Gedanken. Eine subtile Kontrolle.

"Ich entscheide das später", wich sie aus. Die Vorstellung, dass E.N.A. ihre Träume noch stärker regulieren könnte – vielleicht sogar ihre Verbindung zur Spiegelwelt kappen würde – ließ einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen.

Auf dem Weg zur Arbeit beobachtete sie die Menschen um sich herum mit neuen Augen. Die ruhigen, zufriedenen Gesichter, die gemessenen Bewegungen, die gedämpften Gespräche – alles erschien ihr plötzlich wie eine sorgfältig choreografierte Vorstellung. Waren sie alle "angepasst" worden, wie sie selbst? Hatten sie alle Teile ihrer Persönlichkeit verloren, ohne es zu wissen? Waren sie alle nur Schatten ihrer wahren Selbst, digitale Marionetten in einem perfekt kalibrierten System?

In der Zentralen Forschungsabteilung angekommen, begann Lina ihren Tag mit Routineaufgaben. Sie überprüfte Daten, kalibrierte Algorithmen, nahm an einer kurzen Teambesprechung teil. Niemand schien ihre innere Unruhe zu bemerken – oder wenn doch, dann kommentierten sie es nicht.

Zweimal glaubte sie, Dr. Merans verschiedenfarbige Augen auf sich zu spüren, obwohl er am anderen Ende des Raumes stand. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte er – ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, ein Lächeln, das mehr Warnung als Freundlichkeit ausstrahlte.

Gegen Mittag bot sich die erste Gelegenheit. Dr. Sophia Chen betrat die Kantine, als Lina gerade ihr Mittagessen beendete.

Die ältere Wissenschaftlerin nahm ihr Tablett und sah sich nach einem freien Platz um.

Lina winkte ihr zu. "Dr. Chen, möchten Sie sich zu mir setzen?"

Dr. Chen lächelte und kam herüber. "Gerne, Lina. Und bitte, nach all den Jahren könntest du mich wirklich Sophia nennen."

"Natürlich... Sophia." Lina beobachtete die Frau genau, als sie sich setzte. Konnte sie wirklich eine Verbündete sein? Die Tochter einer "archivierten" Forscherin, die im Geheimen gegen das System arbeitete?

Äußerlich wirkte Dr. Chen wie die perfekte Systemanhängerin – ruhig, ausgeglichen, produktiv. Ihre grauen Haare waren zu einem ordentlichen Dutt gebunden, ihre Kleidung war tadellos, ihre Bewegungen präzise und effizient. Nichts an ihr deutete auf Rebellion oder Unzufriedenheit hin.

"Tomas erwähnte, dass du an einem Spezialprojekt für Dr. Meran arbeitest", begann Dr. Chen, während sie ihren Salat arrangierte. "Klingt spannend."

Lina spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. War das eine beiläufige Bemerkung oder ein Versuch, Informationen zu sammeln? Oder vielleicht ein verstecktes Angebot zur Kommunikation?

"Ja, eine Routineüberprüfung älterer Systemkomponenten", antwortete sie vage. "Nichts Besonderes."

Dr. Chen nickte, schien mit dieser Antwort zufrieden. Sie aßen eine Weile schweigend, dann sagte die ältere Frau: "Ich habe deinen Artikel über neuronale Synchronisationsmuster gelesen. Beeindruckende Arbeit. Besonders deine Analyse der Delta-Wellen-Interferenzen."

"Danke." Lina suchte nach einem Weg, das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken. "Ich habe mich von älteren Forschungsarbeiten inspirieren lassen. Die Grundlagenforschung aus den frühen Tagen von E.N.A. ist faszinierend."

"Ja, das ist sie." Dr. Chen blickte kurz auf, ihre Augen trafen Linas. Etwas Unausgesprochenes schien zwischen ihnen zu schweben. "Viele brillante Köpfe haben dazu beigetragen. Manche werden heute kaum noch erwähnt."

War das ein Hinweis? Eine versteckte Botschaft? Lina spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte.

Sie wagte einen direkteren Ansatz. "Ich bin kürzlich auf einen interessanten Artikel gestoßen – 'Theoretische Grundlagen für die Externalisierung neuronaler Muster' von Dr. Meran und einem Dr. Marcus Halberg. Kennst du die Arbeit?"

Dr. Chen erstarrte für einen Sekundenbruchteil, so kurz, dass Lina es fast übersehen hätte. Ein Muskel in ihrem Kiefer zuckte, ihre Finger umklammerten die Gabel fester. Dann entspannte sie sich wieder und aß weiter, als wäre nichts geschehen.

"Ja, ich kenne sie", antwortete sie ruhig. "Eine wegweisende Arbeit. Sehr theoretisch, natürlich. Vieles davon wurde nie praktisch umgesetzt."

"Warum nicht?"

Dr. Chen blickte sich um, als würde sie prüfen, ob jemand zuhörte. Die Kantine war voll, Gespräche und Geräusche von Besteck füllten den Raum. E.N.A. überwachte alles, natürlich, aber in der allgemeinen Geräuschkulisse war ein einzelnes Gespräch schwerer zu analysieren.

"Ethische Bedenken", sagte sie schließlich. "Technische Herausforderungen. Die üblichen Gründe, warum theoretische Konzepte nicht in die Praxis umgesetzt werden." Ihre Stimme klang neutral, aber ihre Augen erzählten eine andere Geschichte – eine Geschichte von Vorsicht, von Wissen, von unterdrückter Wahrheit.

Lina spürte, dass mehr dahintersteckte. Sie beugte sich leicht vor und senkte ihre Stimme. "Ich würde gerne mehr darüber erfahren. Über die frühe Geschichte von E.N.A. Über die... nicht umgesetzten Konzepte."

Dr. Chen betrachtete sie lange, ihr Gesicht unlesbar. Dann sagte sie: "Mein Labor. Heute, 19 Uhr. Bring die Kalibrierungsdaten für die Gamma-Wellen-Synchronisation mit. Als offizielle Begründung."

Lina nickte, ihr Herz hämmerte so laut, dass sie fürchtete, E.N.A. könnte es durch die Sensoren im Raum erfassen. Das war es – eine Chance, mehr zu erfahren. Vielleicht sogar die Bestätigung, dass Dr. Chen tatsächlich eine Verbündete war.

"Ich werde da sein", versprach sie.

Dr. Chen stand auf und nahm ihr Tablett. "Gut. Und Lina..."

"Ja?"

"Sei vorsichtig, mit wem du über die Vergangenheit sprichst. Nicht alle Erinnerungen sind... zuverlässig." Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, ihre Augen huschten kurz zu einer der Überwachungskameras an der Decke.

Mit diesen kryptischen Worten verließ sie die Kantine, ließ Lina mit einem Gefühl der Erwartung und Unsicherheit zurück.

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Den Rest des Tages verbrachte Lina mit ihren regulären Aufgaben, aber ihr Geist war woanders. Sie dachte an das bevorstehende Treffen mit Dr. Chen, an die Möglichkeit, endlich Antworten zu bekommen. Gleichzeitig arbeitete ein Teil ihres Gehirns weiter an dem Problem, wie sie eine stabile Verbindung zur Spiegelwelt herstellen könnte.

Einmal, als sie gerade Daten in ihr Terminal eingab, spürte sie eine Präsenz hinter sich. Sie drehte sich um und sah Dr. Meran, der sie beobachtete, seine Hände hinter dem Rücken verschränkt, sein Gesicht eine Maske professioneller Neugier.

"Wie läuft die Untersuchung der Anomalie, Lina?", fragte er, seine Stimme sanft, aber mit einem unterschwelligen Druck.

"Ich mache Fortschritte", antwortete sie, bemüht, ruhig zu klingen. "Die Datenstrukturen sind komplex. Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich ein vollständiges Bild habe."

"Natürlich." Er nickte, seine verschiedenfarbigen Augen fixierten sie mit unheimlicher Intensität. "Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Aber vergiss nicht – diese Angelegenheit bleibt unter uns. Systemstabilität hat höchste Priorität."

"Selbstverständlich, Dr. Meran."

Er lächelte, ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. "Gut. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, Lina. Du warst immer... anpassungsfähig."

Etwas in der Art, wie er das Wort "anpassungsfähig" betonte, ließ einen kalten Schauer über Linas Rücken laufen. Wusste er von ihren Träumen? Von ihrer Verbindung zur Spiegelwelt? Von ihrem Gespräch mit Dr. Chen?

Als er ging, atmete sie tief durch, versuchte, ihre Nervosität zu kontrollieren. Sie musste vorsichtig sein. Sehr vorsichtig.

Um 18:30 Uhr begann sie, die Kalibrierungsdaten für die Gamma-Wellen-Synchronisation zusammenzustellen – ein plausibler Grund für ein Treffen mit Dr. Chen. Als sie fertig war, speicherte sie die Daten auf einem tragbaren Speichermedium und machte sich auf den Weg zu Dr. Chens Labor.