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Was wäre, wenn Rom nie gefallen wäre? Im Jahr 2025 - oder DCCLXXVIII a Caesare, wie die offizielle Zeitrechnung lautet - erstreckt sich das Imperium Romanum über den gesamten Globus. Marmorne Säulen und goldene Adler stehen neben Wolkenkratzern und Raumschiffen. Die Aqua Cogitans-Technologie, eine Verschmelzung aus Wasser und künstlicher Intelligenz, durchdringt jeden Aspekt des Lebens. Aurelia Cassia Drusus, brillante Dozentin an der Academia Minerva in Alexandria, entdeckt eine verstörende Anomalie in der offiziellen Geschichte des Imperiums. Als ihr Bruder Titus, ein Entschlüssler im Ministerium für Ideologische Integrität, spurlos verschwindet, beginnt sie eine gefährliche Reise durch die Schichten der imperialen Macht. Unterstützt von der rebellischen KI Pallas und dem rätselhaften Consiliarius Primus Livius Varro stößt Aurelia auf eine erschütternde Wahrheit: Die Geschichte des Imperiums ist eine sorgfältig konstruierte Lüge. Das Projekt "Pax Aeterna" droht zudem, die Menschheit für immer zu versklaven. In einer Welt, in der Gedanken kontrolliert werden und Individualität tabu ist, muss Aurelia entscheiden, ob sie die Wahrheit enthüllt und damit alles riskiert, was ihr vertraut ist.
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Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Dies Imperii
Archivum Obscurum
Vox ex Machina
Subcultura Libertatis
Consiliarius Primus
Codex Fraternus
Veritas Historica
Sempronius
Liberatio
Confrontatio
Florentia
Strategia
Infiltratio
Reunio
Veritas Divulgata
Capitolium
Impressum
Der Morgen brach über Alexandria herein, ein goldenes Licht, das sich über die weißen Marmorfassaden der Academia Minerva ergoss. Die Wasserdatenleitungen, die sich wie kristallene Adern durch die Stadt zogen, glitzerten im Sonnenlicht und pulsierten mit dem stetigen Rhythmus der Informationen, die durch sie flossen. Aurelia Cassia Drusus stand auf dem Balkon ihres Arbeitszimmers und beobachtete, wie die Stadt erwachte. Die Domus Viventes – adaptive Wohnstrukturen – entfalteten ihre Sonnenkollektoren wie metallische Blüten, während Aeronavia-Schiffe majestätisch über den Horizont glitten.
Sie atmete tief ein und spürte die Anspannung, die sich in ihrem Nacken festgesetzt hatte. Heute war ein wichtiger Tag. Ihre Vorlesung über die Ethica Romanorum würde von hochrangigen Mitgliedern des Senatus Digitalis besucht werden – eine Ehre und gleichzeitig eine Prüfung. Als Dozentin für Rhetorik und Ethik an der renommiertesten Akademie des Imperiums trug sie eine besondere Verantwortung. Ihre Worte formten die Gedanken der nächsten Generation römischer Bürger.
Aurelia wandte sich von der Aussicht ab und trat vor den Spiegel. Ihre Toga mit den eingewebten Datenfäden schimmerte in verschiedenen Blautönen, der Farbe der Akademiker. Mit geübten Fingern arrangierte sie die komplexe Flechtfrisur, die ihren Status symbolisierte. Perfekt, wie es sich für eine Patrizierin aus der Familie Drusus gehörte.
"Pallas, meine Notizen für heute, bitte", sagte sie in den Raum hinein.
Vor ihr materialisierte sich das holographische Interface der KI – eine klassische Büste der Göttin Pallas Athene, deren Augen intelligent funkelten.
"Selbstverständlich, Magistra Aurelia", antwortete die KI mit ihrer melodischen Stimme. "Ich habe mir erlaubt, einige aktuelle Daten aus dem Oraculum Globalis hinzuzufügen. Die Statistiken zur Bürgerpartizipation wurden gestern aktualisiert."
Aurelia nickte dankend, während vor ihr Textfragmente und Diagramme erschienen, die in der Luft schwebten. Sie studierte die Informationen sorgfältig, prägte sich die neuen Zahlen ein. Ihr außergewöhnliches Gedächtnis, eine Gabe, die in ihrer Familie häufig vorkam, machte es ihr leicht, komplexe Daten zu verarbeiten.
"Interessant", murmelte sie, als ihr Blick auf eine Anomalie in den Statistiken fiel. "Die Beteiligung an den öffentlichen Debatten im Senatus ist im letzten Quartal um sieben Prozent gesunken, während die offizielle Zustimmungsrate zur imperialen Politik gestiegen ist. Das erscheint..." Sie hielt inne. Wollte sie wirklich "widersprüchlich" sagen? Selbst in ihrem privaten Arbeitszimmer? Die Custodes Mentis hatten Augen und Ohren überall, und der Begriff "Widerspruch" in Verbindung mit offiziellen Statistiken könnte als problematisch angesehen werden. "...bemerkenswert", vollendete sie den Satz vorsichtiger.
War da ein subtiles Flackern in Pallas' Augen? Fast als hätte die KI ihre ursprüngliche Intention verstanden und gebilligt? Unmöglich. Die Cogitatores waren programmiert, die imperiale Doktrin zu unterstützen, nicht abweichende Gedanken zu fördern.
"Die Zeit drängt, Magistra", erinnerte Pallas sie sanft. "Die Aula Magna füllt sich bereits."
Aurelia sammelte ihre Gedanken und verließ ihr Arbeitszimmer. Die Korridore der Academia waren erfüllt vom Summen der Aqua Cogitans – der hydro-mechanischen Rechenmaschinen, die das Herzstück der Bildungseinrichtung bildeten. Studenten in verschiedenfarbigen Togen eilten an ihr vorbei, verbeugten sich respektvoll. Ihr Ruf als brillante Dozentin hatte sich in den drei Jahren ihrer Tätigkeit gefestigt.
Als sie die Aula Magna betrat, verstummten die Gespräche. Der imposante Raum mit seinen hohen Säulen und dem Kuppeldach aus schimmerndem Glas bot Platz für mehrere hundert Zuhörer. Heute war er bis auf den letzten Platz gefüllt. In der ersten Reihe erkannte Aurelia die purpurgesäumten Togen der Senatsvertreter – darunter, zu ihrer Überraschung, auch eine hagere Gestalt mit durchdringendem Blick: Livius Varro, der Consiliarius Primus des Imperators selbst.
Ihr Herz schlug schneller. Warum war der zweitmächtigste Mann des Imperiums bei ihrer Vorlesung anwesend? Sie hatte ihn bisher nur bei offiziellen Zeremonien aus der Ferne gesehen. Seine Anwesenheit erhöhte den Druck enorm.
Mit ruhigen Schritten bestieg sie das Podium und aktivierte das holographische Interface. Hinter ihr erschien eine detaillierte Karte des Imperiums – ein beeindruckendes Bild der römischen Macht, die sich über alle Kontinente erstreckte.
"Salve, cives Romani", begann sie mit klarer, kraftvoller Stimme. "Willkommen zu unserer heutigen Betrachtung der Ethica Romanorum im Kontext des globalen Imperiums. Wir werden untersuchen, wie die Grundprinzipien römischer Ethik – Pflicht, Ehre, Loyalität und kollektives Wohlergehen – die Stabilität unserer Gesellschaft über Jahrhunderte gesichert haben."
Die Worte flossen mühelos, perfekt formuliert und ideologisch einwandfrei. Doch während sie sprach, bemerkte Aurelia, wie Livius Varro sie mit einem seltsam prüfenden Blick beobachtete. Nicht kritisch oder missbilligend, sondern erwartungsvoll? Als suche er nach etwas Bestimmtem in ihren Worten.
Als sie zur historischen Entwicklung der imperialen Ethik kam, projizierte das System Bilder des jungen Imperiums: Caesar, der das Attentat überlebte, die Etablierung der "philosophischen Monarchie", die friedliche Integration des Christentums als Cultus Concordiae.
"Die Weisheit unserer Vorfahren", fuhr sie fort, "lag in ihrer Fähigkeit, Stabilität mit Anpassungsfähigkeit zu verbinden. Das Imperium hat stets..." Ein kurzes Flackern im holographischen System unterbrach sie. Für den Bruchteil einer Sekunde veränderte sich das Bild hinter ihr. Statt der offiziellen Darstellung von Caesars Überleben erschien eine andere Szene – Caesar, blutüberströmt auf den Stufen des Senats. Dann war das Bild verschwunden, so schnell, dass Aurelia sich fragte, ob sie es sich nur eingebildet hatte.
Sie stockte kaum merklich, fing sich aber sofort wieder. "...stets verstanden, dass wahre Stärke in der Einheit liegt, in der Verschmelzung verschiedener Kulturen unter dem Banner Roms."
Während sie weitersprach, kreisten ihre Gedanken um das, was sie gesehen hatte. Ein technischer Fehler? Oder etwas anderes? Sie bemerkte, dass Livius Varro sich leicht vorgebeugt hatte, seine Augen unverwandt auf sie gerichtet.
Die Vorlesung dauerte zwei Stunden. Aurelia führte ihre Studenten durch die komplexen ethischen Systeme des Imperiums, erklärte die Verbindung zwischen persönlicher Moral und staatlicher Ordnung, zwischen individueller Pflicht und kollektivem Wohlergehen. Sie tat es mit der Eloquenz und Präzision, für die sie bekannt war.
Als sie endete, brandete Applaus auf. Die Studenten erhoben sich, auch die Senatsvertreter nickten anerkennend. Nur Livius Varro blieb regungslos sitzen, sein Blick undurchdringlich.
Während die Aula sich leerte, trat ein junger Assistent an sie heran und überreichte ihr diskret eine kleine Bronzescheibe – eine Miniaturversion der Tabula Publica, wie sie für persönliche Nachrichten verwendet wurde.
"Von Ihrem Bruder, Magistra", flüsterte er. "Er sagte, es sei dringend."
Aurelia nahm die Scheibe entgegen, Besorgnis stieg in ihr auf. Titus schickte selten Nachrichten während ihrer Arbeitszeit, und nie auf diesem Weg. Die Tabula Publica war zwar sicher, aber auch nachverfolgbar.
Sie wartete, bis sie allein war, dann aktivierte sie die Scheibe. Die Nachricht war kurz und kryptisch:
"Die Geschichte hat zwei Gesichter. Suche nach dem, was unter der Oberfläche liegt. Vertraue niemandem. Auch nicht mir, wenn ich mich ändere."
Aurelias Hände zitterten leicht, als sie die Nachricht las. Was hatte Titus entdeckt? Und warum diese Warnung?
Als sie aufblickte, stand Livius Varro in der Tür. Sein hageres Gesicht zeigte keine Emotion, aber seine Augen schienen direkt in ihre Seele zu blicken.
"Magistra Aurelia Cassia Drusus", sagte er mit einer Stimme, die wie trockenes Pergament raschelte. "Eine beeindruckende Vorlesung. Der Imperator wäre erfreut über Ihre Eloquenz." Er machte eine kurze Pause. "Ich würde gerne mehr von Ihren Gedanken hören. Würden Sie mir die Ehre erweisen, morgen im Palatium Alexandrinum zu speisen?"
Es war keine wirkliche Frage. Eine Einladung des Consiliarius Primus war ein Befehl.
"Die Ehre wäre ganz meinerseits", antwortete Aurelia mit einer Verbeugung, während sie die Tabula Publica unauffällig in den Falten ihrer Toga verschwinden ließ.
Als Livius Varro ging, blieb Aurelia allein zurück, ihr Geist ein Wirbel aus Fragen. Das Flackern in der Projektion, die kryptische Nachricht ihres Bruders, die unerwartete Einladung des zweitmächtigsten Mannes im Imperium – all das an einem einzigen Tag.
Etwas stimmte nicht. Und tief in ihrem Inneren spürte Aurelia, dass ihr Leben dabei war, sich für immer zu verändern.
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Der Abend senkte sich über Alexandria, und die Lichter der Stadt begannen zu leuchten – nicht das grelle elektrische Licht vergangener Zeiten, sondern das warme Glühen der Aqua Luminosa, biolumineszierender Wasserkanäle, die die Straßen säumten. Aurelia stand am Fenster ihrer Wohnung im obersten Stockwerk eines der ältesten Domus Viventes der Stadt, ein Privileg ihrer Stellung als Patrizierin und Akademikerin.
Die Nachricht ihres Bruders hatte sie den ganzen Tag verfolgt. Titus war stets der Vorsichtigere von ihnen gewesen, methodisch und bedacht. Wenn er eine solche Warnung schickte, musste etwas Ernstes vorgefallen sein. Sie hatte versucht, ihn zu kontaktieren, aber sein persönlicher Kommunikationskanal blieb stumm.
"Pallas", rief sie leise.
Die holographische Büste der Göttin erschien, diesmal kleiner und mit gedämpftem Licht, wie es für den Abend angemessen war.
"Ja, Magistra?"
"Kannst du den Aufenthaltsort meines Bruders ermitteln? Seine letzte registrierte Position?"
Die Augen der KI flackerten, als sie das Oraculum Globalis durchsuchte.
"Titus Marcellus Drusus wurde zuletzt vor achtzehn Stunden beim Verlassen des Ministeriums für Ideologische Integrität registriert. Seitdem gibt es keine offiziellen Aufzeichnungen seiner Bewegungen."
Aurelia runzelte die Stirn. "Das ist ungewöhnlich. Er meldet sich immer ab, wenn er das Ministerium verlässt."
"In der Tat", bestätigte Pallas. "Soll ich eine offizielle Anfrage stellen?"
"Nein", antwortete Aurelia schnell. Zu schnell vielleicht. "Ich bin sicher, es gibt eine einfache Erklärung."
Die KI schwieg einen Moment länger als nötig, bevor sie antwortete: "Wie Sie wünschen, Magistra."
Aurelia wandte sich wieder dem Fenster zu. Die Einladung von Livius Varro beunruhigte sie ebenso wie das Verschwinden ihres Bruders. War es Zufall, dass beides am selben Tag geschah? In einer Welt, die von den Custodes Mentis überwacht wurde, glaubte sie nicht an Zufälle.
Sie zog die kleine Bronzescheibe hervor und betrachtete sie erneut. Die Tabula Publica war eigentlich fälschungssicher – jede Nachricht wurde in die Bronzestruktur eingeätzt und war unveränderlich. Doch Titus hatte in seiner Nachricht angedeutet, dass selbst dieser sichere Kanal kompromittiert sein könnte. "Vertraue niemandem. Auch nicht mir, wenn ich mich ändere."
Ein Gedanke formte sich in ihrem Kopf, so ketzerisch, dass sie ihn kaum zu denken wagte. Was, wenn die offizielle Geschichte – die Geschichte, die sie heute in ihrer Vorlesung präsentiert hatte – nicht die Wahrheit war? Was, wenn das kurze Flackern in der Projektion kein Fehler gewesen war, sondern ein Durchsickern der Realität?
"Pallas", sagte sie langsam, "ich möchte eine historische Anfrage stellen. Rein akademisch natürlich."
"Selbstverständlich, Magistra. Welcher Art?"
Aurelia zögerte. Jede Anfrage an das Oraculum Globalis wurde aufgezeichnet und könnte von den Custodes Mentis überprüft werden. Sie musste vorsichtig sein.
"Ich bereite eine vergleichende Studie über historische Narrative vor. Gibt es in den Archiven Hinweise auf alternative Interpretationen des Attentats auf Caesar?"
Die Büste der Göttin erstarrte für einen Moment, als würde die KI ihre Anfrage verarbeiten – oder bewerten.
"Eine interessante Frage, Magistra", antwortete Pallas schließlich. "Die offiziellen Archive enthalten keine solchen Interpretationen. Jede Abweichung von der historischen Wahrheit wäre natürlich eine Verletzung des Codex Historicus."
Aurelia nickte langsam. Die Antwort war genau das, was sie erwartet hatte – die offizielle Linie. Doch etwas in der Art, wie Pallas formulierte, ließ sie aufhorchen. "Die offiziellen Archive enthalten keine solchen Interpretationen." War das eine subtile Betonung des Wortes "offiziell"? Deutete die KI an, dass es inoffizielle Archive gab?
"Natürlich", sagte Aurelia leichthin. "Es war nur eine theoretische Frage für meine Forschung."
"Ihre akademische Neugier ist lobenswert", erwiderte Pallas. "Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?"
"Bitte."
"Die Bibliotheca Alexandrina verfügt über eine Sammlung vorrömischer Texte, die kürzlich digitalisiert wurden. Einige davon enthalten interessante Perspektiven auf die Natur historischer Wahrheit. Sie könnten für Ihre vergleichende Studie von Wert sein."
Aurelia betrachtete die holographische Büste aufmerksam. War das ein versteckter Hinweis? Die Bibliotheca Alexandrina war der Stolz des Imperiums, ein Symbol seiner Verbindung zur antiken Welt. Aber sie enthielt auch Texte, die vor der Gründung des ewigen Imperiums geschrieben wurden – Texte, die möglicherweise nicht vollständig der imperialen Doktrin entsprachen.
"Eine ausgezeichnete Idee", sagte sie. "Ich werde morgen nach meinem Treffen mit dem Consiliarius Primus dort vorbeischauen."
"Sehr gut, Magistra. Soll ich Ihnen bei den Vorbereitungen für das Treffen helfen? Es ist eine große Ehre, vom Consiliarius Primus persönlich eingeladen zu werden."
"Ja, das ist es wohl", murmelte Aurelia. "Bereite bitte eine Zusammenfassung meiner jüngsten Forschungen vor. Nichts Kontroverses, nur die Standardarbeiten zur imperialen Ethik."
"Wie Sie wünschen."
Als die KI verschwand, trat Aurelia auf den Balkon hinaus. Die Nachtluft war warm und duftete nach den Gewürzen des nahegelegenen Marktes. In der Ferne erhob sich der Leuchtturm von Alexandria, nicht mehr der antike Pharos, sondern ein moderner Turm aus Marmor und Glas, der das Oraculum Globalis für die östlichen Provinzen beherbergte.
Sie dachte an ihren Bruder, an seine Arbeit im Ministerium für Ideologische Integrität. Als Codex-Entschlüssler hatte er Zugang zu sensiblen Informationen, zu Texten, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Was hatte er entdeckt, das ihn dazu veranlasste, ihr diese Warnung zu schicken?
Und warum interessierte sich Livius Varro plötzlich für eine Akademikerin, deren Arbeit bisher nie die Aufmerksamkeit der höchsten Ebenen des Imperiums erregt hatte?
Aurelia spürte, wie sich etwas in ihr veränderte. Der Zweifel, der sich während ihrer Vorlesung geregt hatte, wuchs zu einer brennenden Neugier heran. Sie hatte ihr Leben lang die Wahrheiten des Imperiums gelehrt, hatte an die Ethica Romanorum geglaubt, an die Überlegenheit des römischen Systems. Doch nun begann sie sich zu fragen, ob alles, was sie wusste, auf einer Lüge basierte.
Morgen würde sie dem Consiliarius Primus gegenübertreten. Morgen würde sie vielleicht Antworten finden – oder sich tiefer in Gefahr begeben, als sie es sich vorstellen konnte.
Mit einem letzten Blick auf die glitzernden Lichter der Stadt kehrte Aurelia in ihre Wohnung zurück. Sie musste sich vorbereiten, musste ihre Gedanken ordnen und ihre Maske der perfekten römischen Bürgerin aufsetzen. Doch unter dieser Maske begann ein neues Bewusstsein zu erwachen – das Bewusstsein, dass die Welt, die sie kannte, vielleicht nur eine sorgfältig konstruierte Illusion war.
Und wenn das stimmte, was bedeutete das für sie? Für das Imperium? Für die Zukunft der Menschheit unter römischer Herrschaft?
Die Fragen wirbelten in ihrem Kopf, während die Nacht voranschritt und der Dies Imperii – der Tag des Imperiums – sich seinem Ende zuneigte, um einem ungewissen Morgen Platz zu machen.
Das Ministerium für Ideologische Integrität erhob sich im Herzen Roms, ein monolithischer Bau aus schwarzem Basalt und poliertem Stahl, der bewusst einschüchternd wirkte. Anders als die eleganten Marmorpaläste des Senats oder die funktionalen Glasstrukturen des Ordo Technocraticus strahlte das Ministerium eine Aura unnachgiebiger Autorität und undurchdringlicher Geheimhaltung aus. Seine fensterlosen Mauern schienen das Sonnenlicht zu verschlucken, und die wenigen Eingänge wurden von schwer bewaffneten Prätorianern bewacht, deren Rüstungen noch imposanter wirkten als die ihrer Kameraden an anderen Orten.
Hier, in den tiefen, labyrinthartigen Korridoren dieses Gebäudes, verbrachte Titus Marcellus Drusus seine Tage. Als Codex-Entschlüssler gehörte er zu einer kleinen, elitären Gruppe von Spezialisten, deren Aufgabe es war, die unzähligen historischen Dokumente, Texte und Datenfragmente zu analysieren, zu interpretieren und – wo nötig – zu "harmonisieren", die das Imperium über die Jahrhunderte angesammelt hatte. Es war eine Arbeit, die höchste Präzision, absolute Loyalität und ein tiefes Verständnis der imperialen Doktrin erforderte.
Titus war gut in seinem Job. Sein methodischer Verstand, sein photographisches Gedächtnis für Texte und Codes und seine angeborene Vorsicht machten ihn zu einem idealen Mitarbeiter für das Ministerium. Er war stolz auf seine Arbeit, auf seinen Beitrag zur Stabilität des Imperiums, das seine Familie seit Generationen diente. Die Gens Cassia Drusus hatte stets loyale Diener des Staates hervorgebracht – Senatoren, Militärführer, Akademiker wie seine Schwester Aurelia, und nun auch ihn, einen Wächter der historischen Wahrheit.
Doch in den letzten Monaten hatte sich ein leiser Zweifel in Titus' Geist eingeschlichen, ein Zweifel, den er kaum zu benennen wagte. Es begann mit kleinen Unstimmigkeiten, winzigen Widersprüchen in den Texten, die er bearbeitete. Ein Datum, das nicht passte, eine Formulierung, die aus dem Kontext fiel, eine Signatur, die verdächtig aussah. Zuerst hatte er sie als einfache Fehler abgetan, als menschliches Versagen in der langen Kette der Kopisten und Archivare, die die Dokumente über die Jahrhunderte weitergegeben hatten.
Aber die Anomalien häuften sich. Und sie schienen sich auf bestimmte historische Perioden zu konzentrieren – die Zeit um Caesars angebliches Überleben, die Integration des Christentums, die Eingliederung Arabiens. Je tiefer Titus grub, desto mehr Fragen tauchten auf. Er begann, Querverweise zu prüfen, verschiedene Versionen desselben Dokuments zu vergleichen, nach Mustern in den Abweichungen zu suchen.
Seine Arbeit führte ihn immer tiefer in die Eingeweide des Ministeriums, in das sogenannte "Archivum Obscurum" – das dunkle Archiv. Es war kein offizieller Name, sondern ein Begriff, den die Codex-Entschlüssler untereinander flüsterten. Hier lagerten die problematischen Texte, die Dokumente, die nicht ins offizielle Narrativ passten, die Fragmente, die Zweifel säen könnten. Offiziell dienten sie als Referenzmaterial für die "Harmonisierung" der Geschichte, als Beispiele dafür, wie historische Wahrheit durch Irrtum oder böswillige Absicht verzerrt werden konnte.
Doch Titus begann zu ahnen, dass das Archivum Obscurum mehr war als nur eine Sammlung von Fehlern. Es war ein Speicher für unterdrückte Wahrheiten, ein Mausoleum für alternative Geschichten.
An diesem Morgen saß Titus an seiner Arbeitsstation im Herzen des Archivum Obscurum. Der Raum war kühl und still, nur das leise Summen der Lebenserhaltungssysteme und das gelegentliche Klicken der mechanischen Archiveinheiten durchbrachen die Stille. Die Wände waren mit Reihen von Datenspeichern bedeckt, die Tausende von Jahren an Geschichte enthielten – oder zumindest die Version der Geschichte, die das Imperium bewahren wollte.
Titus trug die formelle Toga der Ministeriumsbeamten, deren eingewebte Sicherheitsmuster seinen hohen Zugangsberechtigungslevel anzeigten. Sein kurz geschnittenes Haar und seine militärische Haltung verrieten seine Herkunft aus einer Familie mit starker Bindung zum militärischen Flügel der Gesellschaft. Anders als seine eloquente Schwester Aurelia war Titus ein Mann der Tat, der Präzision und der stillen Beobachtung.
Vor ihm auf dem holographischen Interface schwebte ein Fragment eines antiken Textes – eine Passage aus den Aufzeichnungen eines Senators namens Gaius Cassius Longinus, datiert auf das Jahr 44 v. Chr. Die offizielle Version dieses Textes, die in den Hauptarchiven gespeichert war, beschrieb Cassius' Bewunderung für Caesars Weisheit und seine Freude über dessen Überleben des Attentats.
Doch die Version, die Titus im Archivum Obscurum gefunden hatte, erzählte eine andere Geschichte. Sie sprach von einer Verschwörung, von der Notwendigkeit, die Republik vor einem Tyrannen zu retten, von der Hoffnung auf eine Wiederherstellung der alten Freiheiten. Und sie endete abrupt, mitten im Satz, als hätte der Schreiber aufgehört zu schreiben – oder als wäre der Rest des Textes entfernt worden.
Titus verglich die beiden Versionen Wort für Wort. Die Fälschung war meisterhaft. Der Stil war perfekt imitiert, die Handschrift nahezu identisch. Nur winzige Details verrieten den Unterschied – eine leicht veränderte Buchstabenform hier, eine subtile Abweichung in der Tinte dort. Details, die nur ein geschulter Codex-Entschlüssler wie er erkennen konnte.
Er lehnte sich zurück, rieb sich die Augen. Dies war nicht die erste solche Entdeckung. In den letzten Wochen hatte er Dutzende ähnlicher Fälle gefunden – Texte, die manipuliert, umgeschrieben oder vollständig gefälscht worden waren, um die offizielle Version der Geschichte zu stützen.
Die Implikationen waren erschütternd. Wenn die grundlegendsten Ereignisse der imperialen Geschichte auf Lügen basierten, was war dann noch wahr? War das gesamte Gebäude des Imperiums, seine Ideologie, seine Ethik, seine Legitimität, auf Sand gebaut?
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er dachte an seine Schwester Aurelia, die diese gefälschte Geschichte an der Academia Minerva lehrte, die an die Ethica Romanorum glaubte, die auf diesen Lügen basierte. Wenn sie die Wahrheit erfahren würde, würde es ihre Welt zerstören.
Und doch spürte er eine wachsende Verpflichtung, die Wahrheit aufzudecken. Nicht aus Rebellion, nicht aus dem Wunsch, das Imperium zu stürzen, sondern aus einem tiefen Bedürfnis nach intellektueller Redlichkeit, nach historischer Genauigkeit. Als Codex-Entschlüssler war es seine Aufgabe, die Wahrheit zu bewahren, nicht sie zu verzerren.
Aber er wusste auch, wie gefährlich dieses Wissen war. Das Ministerium für Ideologische Integrität existierte nicht nur, um die Geschichte zu bewahren, sondern auch, um sie zu kontrollieren. Und diejenigen, die diese Kontrolle in Frage stellten, wurden nicht geduldet.
Er dachte an seinen Vorgesetzten, den Präfekten des Archivs, Lucius Cornelius Scipio. Ein Mann, der die imperiale Doktrin mit fanatischer Hingabe verteidigte und jeden Anflug von Zweifel als Verrat betrachtete. Scipio hatte Titus' zunehmendes Interesse an den problematischen Texten bereits bemerkt, hatte ihn subtil gewarnt, sich auf die "offiziell sanktionierten Interpretationen" zu konzentrieren.
Ein leises Geräusch ließ Titus aufschrecken. Er blickte auf und sah Scipio in der Tür seines Arbeitsbereichs stehen. Der Präfekt war ein großer, hagerer Mann mit stechenden Augen und einem dünnlippigen Mund, der selten lächelte. Er trug die purpurgesäumte Toga eines hohen Beamten, und seine Haltung strahlte Autorität und Misstrauen aus.
"Marcellus", sagte Scipio mit seiner trockenen Stimme. "Ich sehe, du bist wieder tief in die obskuren Ecken unseres Archivs eingetaucht."
Titus schaltete schnell das holographische Interface auf eine harmlose Darstellung um – eine Analyse spätrömischer Keramikstile. "Präfekt Scipio", grüßte er respektvoll. "Ich überprüfe nur einige Querverweise für meine aktuelle Aufgabe."
Scipios Augen verengten sich. "Deine aktuelle Aufgabe betrifft die Handelsrouten im 3. Jahrhundert, wenn ich mich recht erinnere. Was hat das mit den Aufzeichnungen von Cassius Longinus zu tun?"
Titus spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Scipio wusste genau, was er sich angesehen hatte. Die Überwachung im Ministerium war noch lückenloser, als er befürchtet hatte.
"Ich stieß zufällig auf eine Anomalie", improvisierte Titus. "Eine Diskrepanz in den Datierungen, die möglicherweise Auswirkungen auf die Chronologie der Handelsgesetze haben könnte. Ich wollte nur sichergehen."
Scipio trat näher, sein Blick bohrte sich in Titus. "Du verbringst in letzter Zeit viel Zeit im Archivum Obscurum, Marcellus. Mehr als für deine Aufgaben notwendig wäre. Gibt es etwas, das dich besonders interessiert? Etwas, das du mit mir besprechen möchtest?"
Die Frage war eine Falle. Wenn Titus seine Zweifel offenbarte, würde er sich selbst verraten. Wenn er log, würde Scipio es wahrscheinlich erkennen.
"Nein, Präfekt", sagte Titus, bemüht, seine Stimme ruhig zu halten. "Ich bin nur fasziniert von der Komplexität unserer Geschichte, von den vielen Schichten und Interpretationen. Es hilft mir, die offizielle Linie besser zu verstehen und zu verteidigen."
Scipio schwieg einen Moment, musterte Titus prüfend. Dann nickte er langsam. "Gut. Das ist die richtige Einstellung. Die Wahrheit des Imperiums ist wie ein Diamant – klar, rein und unveränderlich. Unsere Aufgabe ist es, diesen Diamanten zu schützen, ihn vor den Verunreinigungen durch Zweifel und Häresie zu bewahren."
Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: "Ich habe übrigens eine neue Aufgabe für dich. Eine, die deine Talente besser nutzen wird als die Analyse alter Handelsrouten."
Titus spürte eine böse Vorahnung. "Welche Aufgabe, Präfekt?"
"Wir haben Grund zu der Annahme, dass es innerhalb des Ministeriums undichte Stellen gibt", sagte Scipio leise. "Informationen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, scheinen nach außen zu dringen. Wir brauchen jemanden mit deinem analytischen Verstand, um die Kommunikationsprotokolle zu überprüfen, nach Mustern zu suchen, die auf Verrat hindeuten könnten."
Titus verstand sofort. Sie wollten ihn von den historischen Archiven abziehen, ihn in eine Position bringen, in der er keine weiteren gefährlichen Entdeckungen machen konnte – und gleichzeitig seine Fähigkeiten nutzen, um andere potenzielle Abweichler zu jagen.
Es war eine geschickte Falle. Wenn er ablehnte, würde er Verdacht erregen. Wenn er zustimmte, würde er zum Werkzeug seiner eigenen Unterdrückung.
"Ich fühle mich geehrt durch Ihr Vertrauen, Präfekt", sagte Titus nach kurzem Zögern. "Ich werde mein Bestes tun, um dieser wichtigen Aufgabe gerecht zu werden."
Ein dünnes Lächeln huschte über Scipios Lippen. "Ausgezeichnet. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann. Du beginnst sofort. Dein Zugang zum Archivum Obscurum wird vorübergehend eingeschränkt, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Konzentriere dich ganz auf deine neue Aufgabe."
Mit einem letzten prüfenden Blick drehte sich Scipio um und verließ den Raum, seine Schritte hallten leise in der Stille des Archivs wider.
Titus blieb allein zurück, sein Herz hämmerte in seiner Brust. Sie hatten ihn kaltgestellt. Sie wussten oder ahnten zumindest, dass er auf etwas gestoßen war, und sie hatten ihn effektiv von seiner Forschung abgeschnitten.
Er blickte auf seine Arbeitsstation, auf die nun gesperrten Dateien, die die Wahrheit über die Gründung des Imperiums enthielten. Er hatte Kopien gemacht, versteckt auf verschlüsselten Datenträgern, die er an einem sicheren Ort aufbewahrte. Aber wie lange würde es dauern, bis sie auch diese fanden?
Und was war mit Aurelia? Sie war brillant, neugierig, aber auch naiv in Bezug auf die dunklen Seiten des Imperiums.
Wenn er ihr nicht bald eine Warnung zukommen lassen konnte, würde sie vielleicht unwissentlich in Gefahr geraten.
Er musste handeln, schnell und entschlossen. Er musste einen Weg finden, seine Entdeckungen zu sichern und seine Schwester zu warnen, bevor es zu spät war. Aber wie? Jede seiner Bewegungen wurde überwacht, jede Kommunikation abgehört.
Er dachte an die kryptische Nachricht, die er Aurelia schicken wollte – die Warnung, niemandem zu vertrauen, nicht einmal ihm selbst, wenn er sich änderte. Er hatte sie noch nicht abgeschickt, hatte gezögert, sie in Gefahr zu bringen. Aber jetzt wusste er, dass er keine Wahl mehr hatte.
Mit einem tiefen Atemzug begann Titus, einen Plan zu schmieden. Einen gefährlichen Plan, der ihn alles kosten könnte, aber der vielleicht die einzige Möglichkeit war, die Wahrheit zu retten – und seine Schwester zu schützen.
Das Archivum Obscurum, das dunkle Herz des Ministeriums, hatte ihm seine Geheimnisse offenbart. Nun musste er dafür sorgen, dass diese Geheimnisse nicht mit ihm begraben wurden.
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Titus verließ das Archivum Obscurum mit gemessenen Schritten, bemüht, keine Anzeichen von Nervosität oder Eile zu zeigen. Die Korridore des Ministeriums waren mit Überwachungssystemen gespickt – sowohl sichtbaren als auch verborgenen. Die offensichtlichen Kameras und Sensoren dienten ebenso der Abschreckung wie der tatsächlichen Überwachung. Die wahre Gefahr ging von den versteckten Systemen aus, den Synapsenscannern, die Gedankenmuster analysieren konnten, den subtilen Pheromonsensoren, die emotionale Zustände erkannten, den Mikroexpressions-Analysatoren, die jedes Zucken eines Gesichtsmuskels registrierten.
Titus hatte gelernt, seine Gedanken zu kontrollieren, seine Emotionen zu dämpfen, seine Gesichtszüge zu beherrschen. Es war eine notwendige Fähigkeit für jeden, der im Ministerium arbeitete, besonders für diejenigen, die Zugang zu sensiblen Informationen hatten. Aber er wusste auch, dass niemand perfekt war. Früher oder später würde er einen Fehler machen, eine Schwäche zeigen, und dann würden sie ihn haben.
Er erreichte sein Büro, einen kleinen, funktionalen Raum mit einer Arbeitsstation, einem Stuhl und einem schmalen Fenster, das auf einen Innenhof hinausging. Das Fenster war aus Sicherheitsgründen nicht zu öffnen, und das Glas war so konstruiert, dass es keine Reflexionen zeigte – eine weitere Maßnahme, um die Privatsphäre zu minimieren und die Überwachung zu erleichtern.
Titus setzte sich an seine Arbeitsstation und begann, die Kommunikationsprotokolle zu durchsuchen, wie Scipio es angeordnet hatte. Es war eine monotone, aber anspruchsvolle Aufgabe, die seine volle Konzentration erforderte – was vielleicht genau der Grund war, warum Scipio sie ihm zugewiesen hatte. Solange sein Geist mit der Analyse komplexer Datenmuster beschäftigt war, hatte er weniger Kapazität, über gefährliche historische Wahrheiten nachzudenken.
Doch während seine Finger über die holographische Tastatur flogen und seine Augen die Datenströme verfolgten, arbeitete ein Teil seines Gehirns an einem Plan. Er musste einen Weg finden, seine Entdeckungen zu sichern und Aurelia zu warnen, ohne Verdacht zu erregen.
Die direkte Kommunikation war zu riskant. Jede Nachricht, die das Ministerium verließ, wurde gescannt, analysiert und archiviert. Selbst die vermeintlich sicheren Kanäle der Tabula Publica waren kompromittiert – das Ministerium hatte Hintertüren in das System eingebaut, die es ihnen ermöglichten, jede Nachricht zu entschlüsseln.
Er brauchte einen anderen Weg, einen, den sie nicht erwarten würden.
Während er methodisch die Kommunikationsprotokolle durchforstete, fiel ihm etwas auf – ein Muster in den Daten, das nicht ganz stimmig wirkte. Es war subtil, fast unmerklich, aber für sein geschultes Auge erkennbar. Bestimmte Nachrichten, die das Ministerium verließen, schienen eine zusätzliche Ebene der Verschlüsselung zu haben, eine, die nicht Teil des Standardprotokolls war.
Titus' Herz schlug schneller. War dies die "undichte Stelle", nach der Scipio suchte? Oder war es etwas anderes – vielleicht ein geheimer Kommunikationskanal, den jemand innerhalb des Ministeriums nutzte?
Er vertiefte sich in die Analyse, verfolgte die Muster, identifizierte die Quellen der ungewöhnlichen Nachrichten. Sie schienen alle aus einer bestimmten Abteilung zu stammen – der Abteilung für historische Revision, geleitet von niemand anderem als Lucius Cornelius Scipio selbst.
Titus' Gedanken rasten. Scipio, der fanatische Verteidiger der imperialen Doktrin, der Mann, der ihn von seiner Forschung abgezogen hatte – war er selbst in irgendeiner Form von Verrat verwickelt? Es schien unvorstellbar.
Vorsichtig, um keine Spuren zu hinterlassen, begann Titus, die verschlüsselten Nachrichten zu analysieren. Die Verschlüsselung war komplex, aber nicht undurchdringlich für jemanden mit seinen Fähigkeiten. Nach Stunden intensiver Arbeit gelang es ihm, einen Teil des Codes zu knacken.
Was er fand, ließ ihn erstarren. Die Nachrichten waren nicht an externe Feinde des Imperiums gerichtet, wie er zunächst vermutet hatte. Sie gingen an eine Gruppe, die sich selbst als "Collegium Dissidentium" bezeichnete – ein Name, der in den offiziellen Aufzeichnungen des Imperiums nicht existierte.
Der Inhalt der Nachrichten war noch schockierender. Sie enthielten Hinweise auf die gleichen historischen Anomalien, die Titus entdeckt hatte, aber mit einer entscheidenden Wendung: Scipio schien nicht daran zu arbeiten, diese Wahrheiten zu unterdrücken, sondern sie zu bewahren und weiterzugeben.
Titus lehnte sich zurück, sein Geist versuchte, diese neue Information zu verarbeiten. War Scipio ein Verräter? Oder war er Teil einer geheimen Bewegung, die versuchte, die wahre Geschichte zu bewahren, während sie nach außen hin die offizielle Linie vertrat?
Und wenn letzteres zutraf, warum hatte Scipio ihn von seiner Forschung abgezogen? War es ein Test? Eine Prüfung seiner Loyalität oder seiner Fähigkeiten?
Titus wusste, dass er auf gefährlichem Terrain wandelte. Wenn er falsch lag, wenn dies eine Falle war, würde seine Entdeckung ihn direkt in die Hände der Custodes Mentis führen.
Aber wenn er recht hatte, wenn Scipio tatsächlich Teil einer Bewegung war, die versuchte, die Wahrheit zu bewahren, dann könnte dies sein Weg sein, seine Entdeckungen zu sichern und Aurelia zu warnen.
Er traf eine Entscheidung. Mit zitternden Händen begann er, eine Nachricht zu verfassen, verschlüsselt im gleichen Code, den Scipio verwendet hatte. Eine Nachricht, die seine Entdeckungen zusammenfasste und seine Bereitschaft signalisierte, sich dem Kampf für die historische Wahrheit anzuschließen.
Als er die Nachricht absenden wollte, hielt er inne. Was, wenn dies alles ein elaborierter Test war? Was, wenn Scipio ihn absichtlich auf diese Spur geführt hatte, um seine Loyalität zu prüfen?
Er löschte die Nachricht und begann von vorn. Diesmal verfasste er eine vorsichtigere Botschaft, eine, die seine Entdeckungen andeutete, ohne sich direkt zu bekennen. Eine Nachricht, die als Köder dienen könnte, um Scipios wahre Absichten zu testen.
Gerade als er die Nachricht fertiggestellt hatte, öffnete sich die Tür seines Büros. Titus fuhr herum, sein Herz raste. In der Tür stand Scipio, sein Gesicht eine undurchdringliche Maske.
"Marcellus", sagte er mit seiner trockenen Stimme. "Ich sehe, du hast interessante Entdeckungen gemacht."
Titus' Mund war plötzlich trocken. "Präfekt", begann er, unsicher, wie er fortfahren sollte.
Scipio hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. "Nicht hier", sagte er leise. "Die Wände haben Ohren, wie du weißt." Er deutete auf einen kleinen Gegenstand an seinem Handgelenk – einen unscheinbaren Armreif, der wie ein gewöhnliches Schmuckstück aussah, aber Titus erkannte ihn als einen Störsender, der Überwachungsgeräte in der Nähe blockieren konnte.
"Folge mir", sagte Scipio und drehte sich um, ohne auf eine Antwort zu warten.
Titus zögerte nur einen Moment, dann stand er auf und folgte dem Präfekten. Sie gingen durch die Korridore des Ministeriums, vorbei an Büros und Archiven, bis sie einen Teil des Gebäudes erreichten, den Titus noch nie betreten hatte – einen alten Flügel, der angeblich für Renovierungen geschlossen war.
Scipio führte ihn durch eine unscheinbare Tür in einen kleinen, fensterlosen Raum. Die Wände waren mit einer speziellen Beschichtung versehen, die Titus als Abschirmung gegen elektronische Überwachung erkannte. In der Mitte des Raums stand ein einfacher Tisch mit zwei Stühlen.
"Setz dich", sagte Scipio und deutete auf einen der Stühle.
Titus gehorchte, sein Geist arbeitete fieberhaft, um die Situation einzuschätzen. War dies der Ort, an dem Verräter verhört wurden, bevor sie verschwanden? Oder war es etwas anderes?
Scipio setzte sich ihm gegenüber und betrachtete ihn mit einem durchdringenden Blick. "Du hast Fragen entdeckt, für die es keine offiziellen Antworten gibt", sagte er schließlich. "Du hast Widersprüche gefunden, die nicht erklärt werden können, ohne die Grundfesten des Imperiums zu erschüttern."
Titus schwieg, unsicher, wie er reagieren sollte.
"Und du hast meine Nachrichten entdeckt", fuhr Scipio fort. "Schneller, als ich erwartet hatte. Du bist gut, Marcellus. Besser, als ich dachte."
"Wer sind Sie wirklich?", fragte Titus leise.
Ein dünnes Lächeln huschte über Scipios Lippen. "Ich bin, wer ich zu sein scheine – der Präfekt des Archivs, ein loyaler Diener des Imperiums. Aber ich diene nicht der Lüge, die das Imperium geworden ist. Ich diene der Wahrheit, die es einst war und wieder sein könnte."
Er lehnte sich vor. "Das Collegium Dissidentium ist keine Gruppe von Verrätern, wie die offizielle Propaganda behauptet. Wir sind Bewahrer der wahren Geschichte, Hüter des Wissens, das das Imperium zu unterdrücken versucht. Wir glauben, dass die Menschheit ein Recht auf ihre eigene Vergangenheit hat, auf die unverfälschte Wahrheit über ihre Entwicklung."
"Warum haben Sie mich von meiner Forschung abgezogen?", fragte Titus.
"Um dich zu schützen", antwortete Scipio. "Dein plötzliches Interesse an den problematischen Texten hat Aufmerksamkeit erregt – nicht nur meine. Die Custodes Mentis haben begonnen, deine Aktivitäten zu überwachen. Ich musste dich von den Archiven fernhalten, bevor sie genug Beweise sammelten, um dich zu verhaften."
Titus' Gedanken rasten. Wenn Scipio die Wahrheit sagte, dann hatte er einen potenziellen Verbündeten gefunden, einen Weg, seine Entdeckungen zu sichern und Aurelia zu warnen. Aber wenn dies eine Falle war...
"Beweise es", sagte er leise.
Scipio nickte anerkennend. "Vorsicht ist angebracht." Er griff in seine Toga und zog einen kleinen Gegenstand hervor – eine antike Münze, die Titus sofort als eine Rarität erkannte: eine Gedenkmünze für Brutus, geprägt nach den Iden des März. Solche Münzen waren im Imperium verboten, ihre bloße Existenz ein Beweis dafür, dass Caesar tatsächlich ermordet worden war, nicht überlebt hatte, wie die offizielle Geschichte behauptete.
"Dies ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit, die wir bewahren", sagte Scipio. "Es gibt mehr, viel mehr. Und wir brauchen Menschen wie dich, um uns zu helfen, diese Wahrheit zu schützen und eines Tages der Welt zurückzugeben."
Titus betrachtete die Münze, spürte ihr Gewicht in seiner Hand. Es war ein greifbarer Beweis für die Lüge, auf der das Imperium aufgebaut war. Ein Beweis, der sein Leben in Gefahr bringen könnte, wenn er in die falschen Hände fiel.
"Was ist mit meiner Schwester?", fragte er. "Sie ist in Gefahr, wenn sie beginnt, Fragen zu stellen."
"Aurelia Cassia Drusus", sagte Scipio nachdenklich. "Eine brillante Akademikerin, aber bisher loyal zum System. Ja, sie könnte in Gefahr sein, besonders wenn sie beginnt, die offiziellen Narrative in Frage zu stellen. Wir können ihr helfen, aber nur, wenn sie bereit ist, die Wahrheit zu akzeptieren."
"Ich muss sie warnen", sagte Titus entschlossen.
Scipio nickte. "Das kannst du. Aber sei vorsichtig. Die Custodes Mentis überwachen alle Kommunikationskanäle. Selbst die Tabula Publica ist nicht sicher."
"Ich weiß", sagte Titus. "Ich habe eine Methode entwickelt, eine verschlüsselte Botschaft zu senden, die nur Aurelia verstehen wird."
"Gut", sagte Scipio. "Aber denk daran – sobald du diesen Weg einschlägst, gibt es kein Zurück mehr. Du wirst ein Dissident sein, ein Feind des Systems. Dein Leben, wie du es kennst, wird vorbei sein."
Titus dachte an die Lügen, die er entdeckt hatte, an die manipulierte Geschichte, an die Unterdrückung der Wahrheit. Er dachte an seine Schwester, die unwissentlich diese Lügen lehrte. Und er traf seine Entscheidung.
"Ich bin bereit", sagte er fest.
Scipio lächelte, ein echtes Lächeln diesmal, das sein hageres Gesicht transformierte. "Dann willkommen im Collegium Dissidentium, Titus Marcellus Drusus. Möge die Wahrheit uns leiten."
Er reichte Titus die Hand, und als Titus sie ergriff, spürte er, wie sich etwas in ihm veränderte. Er war nicht mehr nur ein Codex-Entschlüssler, ein loyaler Diener des Imperiums. Er war ein Dissident, ein Bewahrer der Wahrheit, ein Kämpfer gegen die Lüge.
Und er würde alles tun, um seine Schwester zu beschützen und ihr die Augen für die Wahrheit zu öffnen.
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In den folgenden Tagen lebte Titus ein Doppelleben. Tagsüber analysierte er Kommunikationsprotokolle für Scipio, suchte nach Spuren von Verrätern – oder vielmehr nach Spuren von Custodes-Agenten, die dem Collegium Dissidentium auf der Spur waren. Nachts traf er sich mit anderen Mitgliedern des Collegium, lernte ihre Methoden, ihre Codes, ihre Wege, Informationen zu sammeln und zu verbreiten.
Das Collegium war größer und besser organisiert, als er erwartet hatte. Es hatte Mitglieder in allen Bereichen des imperialen Systems – in der Bürokratie, im Militär, in den Akademien. Sie alle vereint durch ein gemeinsames Ziel: die Wahrheit zu bewahren und eines Tages die Lügen des Imperiums zu entlarven.
Titus erfuhr von der wahren Geschichte des Imperiums – wie Caesar tatsächlich bei dem Attentat gestorben war, wie Augustus die Republik in ein Kaiserreich verwandelt hatte, wie die folgenden Jahrhunderte von Bürgerkriegen, Invasionen und Zusammenbrüchen geprägt waren. Die "ewige" Herrschaft Roms, die ununterbrochene Linie der Kaiser seit Caesar, die friedliche Integration aller Kulturen – all das waren Fiktionen, erschaffen, um die Macht der gegenwärtigen Herrscher zu legitimieren.
Und er erfuhr von der "Großen Transformation" – dem Moment, als die Custodes Mentis die Kontrolle über die kollektive Erinnerung der Menschheit übernommen hatten, als sie begonnen hatten, die Geschichte systematisch umzuschreiben, die Vergangenheit zu manipulieren, um die Gegenwart zu kontrollieren.
Es war überwältigend, erschütternd, aber auch befreiend. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Titus, dass er die Welt wirklich verstand, dass er die Wahrheit hinter dem Schleier der Lügen sah.
Doch während er tiefer in die Geheimnisse des Collegium eintauchte, wuchs seine Sorge um Aurelia. Er hatte ihr die verschlüsselte Warnung geschickt, aber er wusste nicht, ob sie sie verstanden hatte, ob sie begonnen hatte, Fragen zu stellen, ob sie in Gefahr war.
Er musste einen Weg finden, direkter mit ihr zu kommunizieren, ihr die Wahrheit zu zeigen, wie Scipio sie ihm gezeigt hatte. Aber wie?
Die Gelegenheit kam früher als erwartet. Eines Abends, als Titus gerade von einem geheimen Treffen des Collegium zurückkehrte, erhielt er eine Nachricht von Scipio: "Deine Schwester ist in Alexandria von Livius Varro kontaktiert worden. Der Consiliarius Primus selbst hat Interesse an ihr gezeigt. Dies könnte eine Gefahr sein – oder eine Gelegenheit. Komm sofort zum sicheren Raum."
Titus' Herz raste, als er die Nachricht las. Livius Varro, der zweitmächtigste Mann im Imperium, der engste Berater des Imperators selbst, hatte Kontakt zu Aurelia aufgenommen? Warum? Was wusste Varro über sie? War sie bereits als potenzielle Dissidentin identifiziert worden?
Er eilte zum sicheren Raum, wo Scipio bereits wartete, sein Gesicht ernst und besorgt.
"Was ist passiert?", fragte Titus atemlos.
"Unsere Quellen in Alexandria berichten, dass Varro persönlich eine Vorlesung deiner Schwester besucht hat", erklärte Scipio. "Danach hat er sie zu einem privaten Gespräch eingeladen. Wir wissen nicht, worum es ging, aber es ist ungewöhnlich. Varro interessiert sich normalerweise nicht für akademische Angelegenheiten, es sei denn, sie haben direkte politische Implikationen."
"Glauben Sie, dass er von ihren Zweifeln weiß?", fragte Titus besorgt.
Scipio schüttelte den Kopf. "Unwahrscheinlich. Aurelia hat bisher keine offenen Fragen gestellt, keine verdächtigen Recherchen durchgeführt. Aber Varro ist scharfsinnig. Vielleicht hat er etwas in ihr gesehen, ein Potenzial für Dissidenz, das wir nutzen könnten."
"Oder er plant, sie zu rekrutieren, um mich zu fangen", sagte Titus düster.
"Auch möglich", gab Scipio zu. "Varro ist ein Meister der Manipulation. Wir müssen vorsichtig sein."
"Ich muss nach Alexandria", sagte Titus entschlossen. "Ich muss Aurelia persönlich warnen, ihr die Wahrheit zeigen, bevor Varro sie in seine Pläne einspannen kann."
Scipio runzelte die Stirn. "Das wäre extrem riskant. Die Custodes Mentis überwachen alle Reisen, besonders die von Ministeriumsbeamten. Wenn du plötzlich nach Alexandria reist, wird das Verdacht erregen."
"Ich kann nicht hier sitzen und nichts tun, während meine Schwester in Gefahr ist", beharrte Titus.
Scipio seufzte. "Ich verstehe deine Sorge. Aber wir müssen klug vorgehen." Er dachte einen Moment nach, dann nickte er. "Es gibt vielleicht einen Weg. Wir könnten eine offizielle Mission arrangieren – eine Untersuchung der Bibliotheca Alexandrina auf potenzielle subversive Texte. Es würde deinen Besuch legitimieren und dir Zugang zu deiner Schwester verschaffen."
Titus' Augen leuchteten auf. "Das könnte funktionieren."
"Aber denk daran", warnte Scipio, "wenn du gehst, wirst du unter ständiger Beobachtung stehen. Ein falscher Schritt, und du könntest nicht nur dich selbst, sondern auch deine Schwester und das gesamte Collegium in Gefahr bringen."
"Ich werde vorsichtig sein", versprach Titus.
Scipio nickte langsam. "Gut. Ich werde die Papiere vorbereiten. Du wirst morgen abreisen."
Als Titus den sicheren Raum verließ, war sein Geist erfüllt von widerstreitenden Emotionen – Sorge um Aurelia, Angst vor der Gefahr, in die er sich begab, aber auch Entschlossenheit, die Wahrheit zu verbreiten, und Hoffnung, dass seine Schwester bereit sein würde, sie zu akzeptieren.
Er kehrte zu seiner Wohnung zurück, einem kleinen, spartanisch eingerichteten Apartment in einem der älteren Viertel Roms. Als er die Tür öffnete, spürte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Luft roch anders, und obwohl nichts offensichtlich verändert war, wusste er instinktiv, dass jemand in seiner Abwesenheit hier gewesen war.
Vorsichtig bewegte er sich durch die Räume, suchte nach Anzeichen eines Eindringlings. In seinem Schlafzimmer fand er schließlich einen Hinweis – ein kleines, fast unmerkliches Stück Papier, das unter seinem Bett hervorlugte. Er zog es hervor und erkannte es als ein Fragment eines antiken Textes, eines, den er nie zuvor gesehen hatte.
Die Handschrift war alt, die Tinte verblasst, aber die Worte waren noch lesbar: "Hüte dich vor dem Consiliarius. Er spielt sein eigenes Spiel. Vertraue niemandem, nicht einmal deinen neuen Verbündeten."
Titus starrte auf die Nachricht, sein Herz raste. Wer hatte sie hinterlassen? War es eine Warnung von einem unbekannten Verbündeten? Oder eine Falle, um Misstrauen innerhalb des Collegium zu säen?
Und was bedeutete sie? War Varro gefährlicher, als sie dachten? Spielte er ein komplexeres Spiel, als selbst Scipio vermutete?
Oder war die Warnung noch beunruhigender – sollte er dem Collegium selbst misstrauen, Scipio, der ihm die Wahrheit gezeigt hatte?
Titus faltete das Papier sorgfältig und versteckte es in einem Geheimfach seiner Toga. Er würde es niemandem zeigen, nicht einmal Scipio. Nicht, bis er mehr wusste, bis er die Wahrheit mit eigenen Augen gesehen hatte.
Morgen würde er nach Alexandria reisen, würde Aurelia treffen, würde versuchen, ihr die Augen zu öffnen. Und vielleicht würde er dabei auch herausfinden, was Varro wirklich plante und wem er wirklich vertrauen konnte.
Mit diesen Gedanken legte sich Titus schlafen, wissend, dass die kommenden Tage sein Leben für immer verändern würden – zum Guten oder zum Schlechten.
Am nächsten Morgen erwachte Titus früh, sein Geist bereits hellwach und angespannt. Er bereitete sich sorgfältig vor, packte nur das Nötigste und versteckte die wichtigsten Beweise, die er gesammelt hatte, in einem speziellen Fach seines Reisegepäcks, das gegen Scans abgeschirmt war.
Als er sein Apartment verließ, bemerkte er sofort die subtile Überwachung – ein Mann, der vorgab, eine Zeitung zu lesen, aber dessen Augen zu oft in seine Richtung wanderten; eine Frau, die "zufällig" den gleichen Weg einschlug wie er; die kaum merkliche Veränderung in den Überwachungskameras, die sich zu ihm drehten, als er vorbeiging.
Die Custodes Mentis beobachteten ihn. Ob auf Scipios Anweisung, um den Anschein zu wahren, oder aus eigenem Misstrauen, konnte er nicht sagen. Aber es bestätigte seine Befürchtung: Diese Mission würde gefährlicher sein, als er gedacht hatte.
Er erreichte das Ministerium und meldete sich bei Scipio, der ihm die offiziellen Papiere für seine Mission überreichte. "Alles ist arrangiert", sagte der Präfekt leise. "Du wirst mit dem Mittags-Aeronavia nach Alexandria fliegen. Deine Unterkunft ist in der Nähe der Academia Minerva gebucht, wo deine Schwester lehrt."
Titus nickte dankbar. "Und die Überwachung?"
Scipio lächelte dünn. "Standard für eine Mission dieser Art. Nichts, womit du nicht umgehen könntest. Aber sei vorsichtig.
Die Custodes in Alexandria sind besonders wachsam seit den jüngsten... Vorfällen."
"Vorfällen?", fragte Titus alarmiert.
"Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest", beruhigte ihn Scipio. "Nur die üblichen Studentenproteste, ein paar subversive Pamphlete. Nichts Ungewöhnliches für eine Universitätsstadt."
Titus war nicht überzeugt, aber er nickte. "Ich werde vorsichtig sein."
"Gut", sagte Scipio. "Und denk daran – deine offizielle Aufgabe ist die Überprüfung der Bibliotheca Alexandrina. Halte dich daran, führe die notwendigen Inspektionen durch. Dein Kontakt zu deiner Schwester sollte beiläufig erscheinen, familiär, nichts Verdächtiges."
"Verstanden", sagte Titus.
Mit einem letzten Nicken entließ ihn Scipio, und Titus machte sich auf den Weg zum Aeronavia-Terminal. Die Reise nach Alexandria würde mehrere Stunden dauern, genug Zeit, um seinen Plan zu verfeinern und sich auf die Begegnung mit Aurelia vorzubereiten.
Doch als er das Terminal erreichte, wartete eine Überraschung auf ihn. Ein Mann in der Uniform eines hohen Beamten des Ministeriums für Ideologische Integrität stand dort, umgeben von Prätorianern. Titus erkannte ihn sofort: Marcus Antonius Severus, der Leiter der Abteilung für Innere Sicherheit – ein bekannter Hardliner und enger Verbündeter der Custodes Mentis.
"Marcellus", grüßte Severus mit einem dünnen Lächeln. "Welch glücklicher Zufall. Es scheint, als würden wir die gleiche Reise unternehmen."
Titus' Magen verkrampfte sich. Dies war kein Zufall. Severus war hier, um ihn zu überwachen, vielleicht sogar zu testen. Die Mission war gerade noch gefährlicher geworden.
"Präfekt Severus", grüßte er respektvoll. "Ich wusste nicht, dass Sie nach Alexandria reisen."
"Eine kurzfristige Entscheidung", sagte Severus leichthin. "Einige Angelegenheiten, die meine persönliche Aufmerksamkeit erfordern. Aber ich bin froh um die Gesellschaft. Die Reise kann lang und einsam sein."
Titus zwang sich zu einem höflichen Lächeln. "Die Ehre ist ganz meinerseits."
Sie bestiegen gemeinsam das Aeronavia, ein elegantes Luftschiff, das die neueste Technologie des Imperiums repräsentierte. Während sie sich in ihre Sitze begaben, spürte Titus, wie Severus ihn beobachtete, jede seiner Bewegungen, jede seiner Reaktionen analysierte.
Die Reise würde lang werden, und am Ende wartete Alexandria – und mit ihr Aurelia, Varro und eine Wahrheit, die das Imperium zu verbergen suchte.
