Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Was wäre, wenn ein heruntergefallener Joghurtbecher dein ganzes Leben infrage stellen würde? Genau das erlebt Sven Zimmermann, ein statistisch denkender Versicherungsmathematiker: Eines Morgens löst ein banaler Zwischenfall eine existenzielle Krise aus. Körperliche Symptome, Todesangst, digitale Selbstdiagnosen was zunächst wie eine Panikattacke aussieht, wird zu einer Reise durch Wissenschaft, Philosophie und Spiritualität. Ist seine Angst begründet? Oder ist sie Ausdruck einer tieferen, menschlichen Wahrheit? Dieser Roman nimmt die Leserschaft mit auf eine schonungslose, dabei immer wieder humorvolle Auseinandersetzung mit der größten aller Fragen: dem Tod. Dabei bleibt er nicht an der Oberfläche, sondern beleuchtet fundiert und anschaulich, was moderne Medizin, Psychologie und Neurowissenschaft wirklich über Sterben, Bewusstsein und das Leben danach sagen. Authentisch schildert er die Spirale aus Selbstbeobachtung, medizinischer Recherche und philosophischer Sinnsuche. Dabei wird klar: Die Angst vor dem Tod ist nicht irrational, sondern lässt sich verstehen, einordnen und verwandeln. Wer sich mit ihr auseinandersetzt, gewinnt nicht nur Erkenntnis, sondern auch einen neuen Blick auf das Leben. Ein außergewöhnliches Buch, das Fakten und Fiktion verbindet, ohne zu belehren. Es ist tiefgründig, empathisch und oft unerwartet komisch eine Einladung, die Angst nicht zu verdrängen, sondern ihr mutig entgegenzutreten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 246
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Prolog: Die Wissenschaft der Angst
Der Joghurt des Schicksals
Dr. Google und Mr. Angst
Die genervte Göttin in Weiß
Statistisch gesehen
Testament und Torschlusspanik
Die Bibliothek des Endes
Mission Todvermeidung
Das Haus des Lächelns
Frau Hubers letzte Weisheiten
Der Neurologe und das Nichts
Weihwasser und Weisheit
Zen und die Kunst des Sterbens
Cassys Kristallkugel
YouTube University
Der Lavendeltee- Zwischenfall
Zwischen den Welten
Zurück ins Leben
Die Angst vor der Angst
Zurück ins Hospiz
Die letzte Statistik
Der Abschied
Die Krise
Das Leben ist jetzt
Das letzte Lächeln
Ich habe Angst vor dem Tod.
Diese Erkenntnis traf mich nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie schlich sich in mein Leben, wie ein ungebetener Gast, der zunächst nur kurz vorbeischaut und dann beschließt zu bleiben. Erst waren es nur flüchtige Gedanken in schlaflosen Nächten, dann wurden sie zu beharrlichen Begleitern. Irgendwann musste ich mir eingestehen: Ich fürchte mich vor dem Ende. Vor dem Nichts. Vor dem Unbekannten.
Und so begann ich, dieses Buch zu schreiben. Als Selbsttherapie. Als Versuch, das zu verstehen, was wir alle fürchten und doch nicht vermeiden können. Denn der Tod ist, wie Steve Jobs es einmal ausdrückte, "sehr wahrscheinlich die beste Erfindung des Lebens. Er ist der Motor des Wandels. Er beseitigt das Alte und schafft Raum für das Neue."
Was wissen wir eigentlich wirklich über den Tod? Nicht das, was wir glauben oder hoffen,
sondern das, was die Wissenschaft uns sagen kann?
Der Tod ist kein Moment, sondern ein Prozess. Diese Erkenntnis stammt nicht aus spirituellen Texten, sondern aus der modernen Medizin. Wenn das Herz aufhört zu schlagen, beginnt eine Kaskade von Ereignissen. Zunächst tritt der klinische Tod ein – Herzschlag und Atmung setzen aus. Das Gehirn kann etwa drei bis fünf Minuten ohne Sauerstoff überleben, das Herz bis zu einer halben Stunde. Wird der Herzschlag nicht wiederhergestellt, folgt der biologische Tod, bei dem die Zellen nach und nach absterben.
Medizinisch betrachtet gibt es verschiedene Definitionen des Todes: den klinischen Tod (Herzstillstand), den Hirntod (irreversibles Erlöschen der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms) und den informationstheoretischen Tod – ein Zustand, in dem selbst mit zukünftigen Technologien keine Wiederherstellung der Person mehr möglich wäre.
Warum müssen wir überhaupt sterben? Die Biologie gibt uns eine nüchterne Antwort: Der programmierte Zelltod ist ein wesentlicher Mechanismus des Lebens. An den Enden unserer Chromosomen befinden sich Telomere, eine Art Schutzkappe. Bei jeder Zellteilung werden diese Telomere kürzer, bis sie schließlich so kurz sind, dass keine Teilung mehr stattfinden kann. Biologisch gesehen kann der menschliche Körper maximal etwa 120 Jahre funktionieren.
Und was geschieht in den letzten Momenten? Hier wird es besonders interessant. Forschende der University of Michigan Medicine School haben bei sterbenden Menschen eine erhöhte Hirnaktivität festgestellt – insbesondere einen Anstieg von Gammawellen. Diese Wellen treten normalerweise bei starker geistiger Anstrengung, Meditation oder erhöhter Aufmerksamkeit auf. Die Wissenschaftler vermuten, dass diese gesteigerte Aktivität die intensiven visuellen Eindrücke erklären könnte, von denen Menschen nach Nahtoderfahrungen berichten.
Das helle Licht am Ende eines Tunnels, das Gefühl, über dem eigenen Körper zu schweben, das Vorbeiziehen des eigenen Lebens wie in einem Film – diese Erlebnisse werden von vielen Menschen unabhängig von ihrer kulturellen oder religiösen Prägung beschrieben. Ein Sauerstoffmangel im Gehirn führt zu Gammawellen-Schüben, die möglicherweise diese intensiven Erfahrungen auslösen.
Doch was bedeutet das alles? Nimmt es dem Tod seinen Schrecken oder verstärkt es ihn? Ist es tröstlich zu wissen, dass unsere letzten Momente von intensiven, möglicherweise sogar angenehmen Erfahrungen geprägt sein könnten? Oder ist es beunruhigend, dass selbst unsere tiefsten spirituellen Erlebnisse auf neurologische Prozesse reduziert werden können?
Ich habe keine endgültigen Antworten gefunden. Aber ich habe gelernt, dass die Wissenschaft des Todes faszinierend ist und dass das Wissen darüber mir geholfen hat, meine eigene Angst besser zu verstehen. Vielleicht kann es auch dir helfen.
Dieses Buch ist mein Versuch, die Angst vor dem Tod mit Humor zu nehmen, ohne ihr den Ernst zu nehmen. Es ist eine Geschichte über einen Mann, der wie ich lernen muss, mit seiner Sterblichkeit zu leben. Es ist eine Reise durch die Wissenschaft, die Philosophie und die menschliche Erfahrung des Todes – erzählt mit einem Augenzwinkern, aber auf der Grundlage echter Forschung.
Denn manchmal ist Lachen die beste Medizin gegen die Angst. Selbst gegen die Angst vor dem Ende.
Quellen:
– Deutsche Welle: "Fünf Fakten über den Tod", 19.04.2019
– Tomorrow Bio: "10 Fakten über den Tod", 26.08.2022
– National Geographic: "Nahtoderfahrung: Was passiert im Gehirn, wenn wir sterben?", 10.05.2023
Sven Zimmermann erwachte an diesem Dienstagmorgen mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend. Es war nicht das übliche Magengrummeln nach zu scharfem Thai-Curry. Nein, dieses Gefühl war anders. Diffuser. Beunruhigender.
Es fühlte sich an wie... Vorahnung.
Sven setzte sich auf und rieb sich die Augen. Die Digitalanzeige seines Weckers zeigte 6:28 Uhr. Zwei Minuten vor dem Klingeln. Wie immer. Sein Körper hatte einen so präzisen inneren Wecker, dass er die elektronische Variante eigentlich gar nicht brauchte. Trotzdem stellte er jeden Abend gewissenhaft den Alarm. Man konnte nie wissen.
Er schaltete den Wecker aus, bevor er klingeln konnte, und schwang die Beine über die Bettkante. Seine Füße fanden wie automatisch die Hausschuhe, die er jeden Abend exakt 24,5 Zentimeter vom Bett entfernt platzierte. Nicht zu nah, nicht zu weit.
"Guten Morgen, Sven ", sagte er zu sich selbst, wie er es jeden Morgen tat. Eine kleine Routine, um den Tag zu beginnen. Um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Noch lebte.
Aber heute klang seine Stimme anders in seinen Ohren. Brüchiger. Als wäre sie bereits dabei, sich aufzulösen.
Er schüttelte den Kopf, um die seltsamen Gedanken zu vertreiben, und ging ins Badezimmer. Dort folgte er seinem morgendlichen Ritual mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks: Zähneputzen (exakt drei Minuten, gemessen mit der Sanduhr), Gesicht waschen, Haare kämmen.
Als er in den Spiegel blickte, erschrak er. War das ein neuer grauer Strang in seinem Haar? Und diese Falte neben dem linken Auge – war die gestern auch schon da gewesen? Seine Haut wirkte fahl im Licht der Energiesparlampe.
"Du bildest dir das ein", murmelte er. "Statistisch gesehen altert man nicht über Nacht um fünf Jahre."
Aber das seltsame Gefühl in seinem Magen wollte nicht weichen. Es hatte sich ausgebreitet, war in seine Brust gekrochen und drückte nun gegen sein Herz.
Sven zog seinen Bademantel an – marineblau, Baumwolle, seit sieben Jahren derselbe – und ging in die Küche. Kaffee. Kaffee würde helfen. Kaffee half immer. Die Wissenschaft hatte bewiesen, dass Koffein die Ausschüttung von Dopamin förderte, was wiederum das Wohlbefinden steigerte.
Während die Kaffeemaschine vor sich hin blubberte, öffnete Sven den Kühlschrank. Joghurt. Naturjoghurt mit einem Schuss selbstgemachtem Himbeersirup und einer Handvoll Granola – sein Frühstück seit über einem Jahrzehnt. Verlässlich. Berechenbar. Sicher.
Er griff nach dem Joghurtbecher im obersten Fach, aber seine Finger waren heute ungeschickt, zittrig. Der Becher rutschte, kippte, fiel.
Zeit dehnte sich. Sven beobachtete, wie der weiße Plastikbecher in Zeitlupe durch die Luft segelte, sich einmal um die eigene Achse drehte und dann – mit einem dumpfen Geräusch – auf seinem rechten Fuß landete.
Schmerz schoss durch seinen Zeh. Der Deckel des Bechers war abgesprungen, und ein kleiner Klecks Joghurt hatte sich auf seinem Hausschuh verteilt.
Und in diesem Moment wusste Sven es mit absoluter Gewissheit: Er würde heute sterben.
Es war nicht der Schmerz, der ihn zu dieser Erkenntnis brachte. Es war nicht einmal der ruinierte Hausschuh. Es war die statistische Anomalie des Ereignisses. In all den Jahren, in denen er Joghurt zum Frühstück aß, war ihm nie – nicht ein einziges Mal – der Becher heruntergefallen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies an einem völlig gewöhnlichen Dienstagmorgen geschah, war verschwindend gering. Es musste ein Zeichen sein.
"Das ist lächerlich", sagte Sven laut zu seinem Kühlschrank. "Zeichen gibt es nicht. Das ist abergläubisches Denken ohne jede wissenschaftliche Grundlage."
Der Kühlschrank antwortete nicht, aber Sven hatte das Gefühl, dass er ihn skeptisch anstarrte, mit seinem weißen, rechteckigen Gesicht und dem Griff, der wie ein missbilligend verzogener Mund wirkte.
"Ich meine es ernst", fuhr Sven fort, während er sich bückte, um den Joghurtbecher aufzuheben. "Die Tatsache, dass mir der Joghurt auf den Fuß gefallen ist, hat keinerlei prädiktiven Wert für meine Lebenserwartung."
Aber selbst während er diese Worte aussprach, spürte er, wie sein Herz schneller schlug. Sein Atem wurde flacher. Seine Handflächen begannen zu schwitzen.
Panik. Das war Panik. Sven kannte die Symptome. Erhöhte Herzfrequenz, Hyperventilation, Schwitzen, das Gefühl drohender Gefahr – alles klassische Anzeichen.
"Atme", sagte er zu sich selbst. "Atme langsam. Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden halten, acht Sekunden ausatmen."
Er lehnte sich gegen die Küchentheke und versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Aber die Gedanken rasten weiter. Was, wenn der fallende Joghurt tatsächlich ein Vorbote war? Was, wenn sein Körper bereits wusste, was sein Bewusstsein noch nicht akzeptieren wollte?
Es gab Studien über Tiere, die Naturkatastrophen vorhersagen konnten. Vielleicht hatte sein Unterbewusstsein etwas wahrgenommen, das sein rationales Denken noch nicht erfasst hatte.
Unsinn", murmelte er. "Völliger Unsinn
Aber das Gefühl wollte nicht weichen. Es hatte sich in ihm festgesetzt wie ein Parasit, der sich von seinen Ängsten nährte.
Sven blickte auf die Uhr an der Küchenwand. 6:47 Uhr. In genau 43 Minuten musste er das Haus verlassen, um pünktlich im Büro zu sein. Er sollte duschen, sich anziehen, frühstücken. Sein normaler Morgen. Sein normales Leben.
Aber nichts fühlte sich normal an. Nicht heute.
Mit zitternden Händen griff er nach seinem Smartphone, das auf der Küchentheke lag. Er öffnete den Browser und tippte: "Vorahnungen Tod wissenschaftlich belegt".
Die Suchergebnisse luden. Sven starrte auf den Bildschirm, während sein Herz immer schneller schlug. Der erste Artikel trug den Titel: "Nahtoderfahrungen: Was die Wissenschaft wirklich weiß". Der zweite: "Können wir unseren Tod vorhersehen? Die Psychologie der Vorahnung."
Sven klickte auf den zweiten Link und begann zu lesen. Der Artikel sprach von "terminaler Luzidität" – einem Phänomen, bei dem Menschen kurz vor ihrem Tod eine ungewöhnliche geistige Klarheit erlangen. Von "Todesahnungen", die in verschiedenen Kulturen dokumentiert wurden. Von statistischen Anomalien, die sich häufen, wenn große Veränderungen bevorstehen.
Statistik. Das war Bens Gebiet. Als Aktuar bei der Mitteldeutschen Lebensversicherung verbrachte er seine Tage damit, Risiken zu berechnen, Wahrscheinlichkeiten zu analysieren, Muster zu erkennen. Er wusste, dass Zufälle selten wirklich zufällig waren. Dass hinter scheinbar unzusammenhängenden Ereignissen oft eine verborgene Ordnung lag.
Was, wenn der fallende Joghurt Teil eines solchen Musters war?
Sven spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. Die Küche schien zu schrumpfen, die Wände rückten näher. Er musste hier raus. Musste frische Luft atmen.
Mit einem Ruck stieß er sich von der Küchentheke ab und stolperte ins Wohnzimmer. Dort sank er auf sein Sofa – grau, Mikrofaser, ergonomisch geformt – und starrte aus dem Fenster. Die Morgensonne warf lange Schatten auf den Asphalt der Straße. Ein Nachbarskind radelte vorbei, auf dem Weg zur Schule. Eine Frau ging mit ihrem Hund spazieren. Normale Menschen an einem normalen Morgen.
Nur für Sven war nichts mehr normal. Nicht seit dem Joghurt des Schicksals.
Er wusste, dass er sich zusammenreißen musste. Dass er rational denken musste. Er war schließlich Wissenschaftler. Nun ja, zumindest hatte er Statistik studiert, was nahe genug dran war. Er glaubte an Fakten, an Zahlen, an beweisbare Theorien. Nicht an Vorahnungen und fallende Joghurtbecher.
Aber was, wenn die Wissenschaft nicht alles erklären konnte? Was, wenn es Dinge gab, die jenseits der messbaren Realität lagen?
Sven schüttelte den Kopf. Nein. So durfte er nicht denken. Das war der Weg in den Wahnsinn. In die Irrationalität. Er musste methodisch vorgehen. Systematisch. Wie bei jedem anderen Problem auch.
Wenn er tatsächlich heute sterben würde – eine Hypothese, die er nur zu Forschungszwecken in Betracht zog, versteht sich – dann gab es dafür eine Ursache. Eine medizinische, physikalische oder anderweitig erklärbare Ursache. Keine mystischen Zeichen. Keine kosmischen Botschaften via Milchprodukt.
Sven atmete tief durch und stand auf. Er würde duschen. Sich anziehen. Zur Arbeit gehen. Und wenn er sich immer noch seltsam fühlte, würde er in der Mittagspause einen Termin bei Dr. Weiß machen, seiner Hausärztin. Sie würde ihm sagen, dass alles in Ordnung war. Dass er nicht starb. Dass der fallende Joghurt nichts bedeutete.
Aber als er unter der Dusche stand, das heiße Wasser auf seiner Haut, konnte er nicht anders, als zu denken: Was, wenn dies meine letzte Dusche ist? Mein letzter Dienstag? Mein letzter Tag?
Und zum ersten Mal in seinem Leben fragte sich Sven Zimmermann, ob er bereit war zu sterben. Ob er mit dem, was er bisher erreicht hatte, zufrieden sein konnte. Ob er überhaupt gelebt hatte – oder nur existiert.
Der Gedanke erschreckte ihn mehr als die Vorstellung des Todes selbst.
Sven Zimmermann saß an seinem Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm seines Laptops. Die Zahlen und Tabellen der Lebensversicherungsstatistiken, mit denen er normalerweise seinen Arbeitstag verbrachte, waren heute nur ein verschwommener Hintergrund für die wirklich wichtigen Dinge, die er recherchieren musste.
Seine Finger tippten hektisch auf der Tastatur: "Plötzliches Unwohlsein + Vorahnung + Todesangst".
Die Suchmaschine spuckte in 0,47 Sekunden etwa 187.000 Ergebnisse aus. Sven klickte auf den ersten Link: "Panikattacken – Wenn die Angst übermächtig wird". Er überflog den Text, während sein Herzschlag sich beschleunigte.
"Typische Symptome einer Panikattacke sind Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern, Atemnot, Schwindel, Übelkeit, Brustschmerzen, Erstickungsgefühle und die Angst, die Kontrolle zu verlieren oder zu sterben."
Sven schluckte. Herzrasen? Check. Schweißausbrüche? Seine Handflächen waren feucht. Check. Zittern? Er blickte auf seine Hände. Definitiv. Check.
"Ich habe eine Panikattacke", murmelte er. "Nur eine Panikattacke."
Das war beruhigend. Panikattacken waren unangenehm, aber nicht tödlich. Laut dem Artikel vergingen sie in der Regel nach 20 bis 30 Minuten von selbst. Sven blickte auf die Uhr. Sein seltsames Gefühl hatte vor etwa zwei Stunden begonnen. Das passte nicht.
Die Spirale der Selbstdiagnose
Er löschte die Suchanfrage und tippte neu: "Anhaltende Panikattacke + Todesvorahnung".
Diesmal führte ihn die Suche zu einem Forum für Angststörungen. Ein Nutzer namens "AngstHase42" beschrieb Symptome, die Bens erschreckend ähnlich waren. Die Antworten waren weniger beruhigend: "Klingt nach einer generalisierten Angststörung", "Könnte auch eine Herzrhythmusstörung sein", "Lass unbedingt deine Schilddrüsenwerte checken".
Schilddrüse? Sven hatte nie über seine Schilddrüse nachgedacht. Er öffnete einen neuen Tab und suchte nach "Schilddrüsenüberfunktion Symptome".
Die Liste war beeindruckend: Nervosität, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Gewichtsverlust trotz gesteigertem Appetit, Hitzeintoleranz, vermehrtes Schwitzen, Herzrasen, Zittern der Hände.
"Meine Hände zittern", flüsterte Sven und hielt sie vor sein Gesicht, um sie genauer zu betrachten. Tatsächlich, da war ein leichtes Zittern. Und hatte er in letzter Zeit nicht auch schlecht geschlafen? Und war ihm nicht öfter warm gewesen als sonst?
Er klickte weiter und las, dass eine unbehandelte Schilddrüsenüberfunktion zu einer thyreotoxischen Krise führen konnte – einem lebensbedrohlichen Zustand mit hohem Fieber, extremem Herzrasen und sogar Bewusstlosigkeit.
"Oh Gott", murmelte Sven und fühlte seine Stirn. War sie warm? Wärmer als normal? Was war überhaupt normal?
Er öffnete einen weiteren Tab und suchte nach "normale Körpertemperatur Stirn". Während die Seite lud, bemerkte er ein leichtes Stechen in seiner Brust.
Brustschmerzen. Das war neu.
Mit zitternden Fingern löschte er die Suchanfrage und tippte: "Brustschmerzen Ursachen".
Die Ergebnisse waren ein Albtraum: Herzinfarkt, Lungenembolie, Aortendissektion, Pneumothorax, Perikarditis...
Sven klickte auf "Herzinfarkt Symptome" und las: "Typische Anzeichen eines Herzinfarkts sind Schmerzen oder ein Druckgefühl in der Brust, die in den linken Arm, den Kiefer, den Rücken oder den Oberbauch ausstrahlen können. Begleitet werden diese Symptome oft von Atemnot, Übelkeit, kaltem Schweiß und Todesangst."
Todesangst. Da war es wieder. Das Gefühl, das ihn seit dem Vorfall mit dem Joghurt nicht mehr losgelassen hatte.
Sven lehnte sich zurück und versuchte, tief durchzuatmen. Seine Brust fühlte sich eng an. War das Atemnot? Oder bildete er sich das nur ein, weil er gerade darüber gelesen hatte?
Er wusste, dass er rational bleiben musste. Als Statistiker war er mit dem Konzept der Wahrscheinlichkeit vertraut. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein 42-jähriger Mann ohne Vorerkrankungen oder familiäre Belastung einen Herzinfarkt erlitt, war verschwindend gering. Andererseits geschahen unwahrscheinliche Dinge ständig. Das war das Paradoxe an der Statistik: Im Einzelfall bedeutete eine geringe Wahrscheinlichkeit nichts.
Die Angst wuchs mit jedem Klick. Sven öffnete einen neuen Tab und suchte nach "Herzinfarkt Überlebenschancen".
"Bei sofortiger medizinischer Versorgung liegt die Überlebensrate bei einem Herzinfarkt bei etwa 90 Prozent", las er. Das klang gut. Aber was, wenn er keinen sofortigen Zugang zu medizinischer Versorgung hatte? Was, wenn er allein in seiner Wohnung einen Herzinfarkt erlitt?
Er suchte weiter: "Allein zu Hause Herzinfarkt was tun".
Die Antworten waren nicht beruhigend. "Rufen Sie sofort den Notarzt", "Nehmen Sie eine Aspirin-Tablette", "Setzen oder legen Sie sich hin und warten Sie auf Hilfe".
Sven hatte keine Aspirin zu Hause. Er hatte nie daran gedacht, eine Hausapotheke anzulegen. Ein schwerwiegender Fehler, wie ihm jetzt klar wurde.
Er öffnete einen weiteren Tab und suchte nach "Hausapotheke Grundausstattung". Die Liste war lang: Schmerz- und Fiebermittel, Mittel gegen Durchfall und Erbrechen, Elektrolytlösungen, Wunddesinfektionsmittel, Verbandsmaterial, Fieberthermometer, Pinzette, Schere...
Sven machte sich Notizen. Er würde in der Mittagspause zur Apotheke gehen und alles besorgen. Aber was, wenn er es nicht bis zur Mittagspause schaffte?
Er suchte weiter: "Wie lange dauert es bis zum Tod bei unbehandeltem Herzinfarkt?"
Die Antworten waren erschreckend. "Die meisten Todesfälle durch Herzinfarkt ereignen sich in den ersten Stunden", las er. "Etwa 40 bis 65 Prozent der Todesfälle treten in der ersten Stunde nach Symptombeginn auf."
Sven blickte auf die Uhr. Sein Bruststechen hatte vor etwa fünf Minuten begonnen. Wenn es tatsächlich ein Herzinfarkt war, hatte er noch... er rechnete schnell... etwa 55 Minuten, um Hilfe zu bekommen.
Aber war es wirklich ein Herzinfarkt? Das Stechen war nicht besonders stark. Eher ein gelegentliches Ziehen. Vielleicht war es nur ein Muskelkrampf. Oder Sodbrennen. Hatte er nicht gestern Abend scharf gegessen?
Er suchte nach "Sodbrennen oder Herzinfarkt unterscheiden".
"Sodbrennen verursacht in der Regel ein brennendes Gefühl hinter dem Brustbein, das sich bei Bewegung nicht verschlimmert. Herzinfarktschmerzen hingegen sind oft drückend oder einschnürend und können sich bei körperlicher Anstrengung verstärken."
Sven stand auf und ging ein paar Schritte in seinem Büro auf und ab. Das Stechen in seiner Brust veränderte sich nicht. Das war gut. Oder?
Er setzte sich wieder und suchte nach "Panikattacke oder Herzinfarkt unterscheiden".
"Panikattacken können Symptome verursachen, die einem Herzinfarkt ähneln, wie Brustschmerzen, Atemnot und Herzrasen. Im Gegensatz zum Herzinfarkt treten diese Symptome bei einer Panikattacke jedoch plötzlich auf und erreichen innerhalb von Minuten ihren Höhepunkt."
Das passte nicht zu seinem Erleben. Seine Symptome hatten sich langsam entwickelt, über Stunden hinweg.
Sven spürte, wie sein Herzschlag sich weiter beschleunigte. Er öffnete einen neuen Tab und suchte nach "normale Herzfrequenz". Laut der ersten Quelle lag die normale Ruheherzfrequenz bei Erwachsenen zwischen 60 und 100 Schlägen pro Minute.
Er legte die Finger an sein Handgelenk und zählte. Eins, zwei, drei... In 15 Sekunden zählte er 28 Schläge. Mal vier... 112 Schläge pro Minute. Das war zu hoch.
Neue Suche: "Erhöhte Herzfrequenz Ursachen".
Die Liste war endlos: Stress, Angst, körperliche Anstrengung, Fieber, Anämie, Schilddrüsenüberfunktion (da war sie wieder!), Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz, Lungenembolie...
Sven klickte auf "Lungenembolie Symptome" und las: "Eine Lungenembolie tritt auf, wenn ein Blutgerinnsel eine Lungenarterie blockiert. Zu den Symptomen gehören plötzliche Atemnot, Brustschmerzen, die sich beim Atmen verschlimmern, Husten (manchmal mit Blut), schneller oder unregelmäßiger Herzschlag, Schwindel und Angstzustände."
Angstzustände. Natürlich. Aber was, wenn die Angst nicht die Ursache, sondern ein Symptom war? Was, wenn sein Körper versuchte, ihm etwas mitzuteilen?
Die Wissenschaft der Körperwahrnehmung Sven suchte weiter: "Körper spürt Krankheit vor Diagnose".
Er stieß auf einen Artikel über Interozeption – die Fähigkeit des Körpers, innere Signale wahrzunehmen. "Manche Menschen haben eine besonders ausgeprägte Interozeption und können subtile Veränderungen in ihrem Körper wahrnehmen, bevor diese klinisch relevant werden", las er. "Dies kann dazu führen, dass sie Krankheiten 'spüren', bevor diese diagnostiziert werden."
Das war es! Er hatte eine ausgeprägte Interozeption. Sein Körper hatte die Krankheit bereits erkannt, bevor sie sich vollständig manifestierte. Der fallende Joghurt war kein Zufall gewesen – es war sein Unterbewusstsein, das die Kontrolle verlor, weil es wusste, was kommen würde.
Aber was genau kam auf ihn zu? Welche Krankheit hatte sein Körper erkannt?
Sven öffnete einen neuen Tab und tippte: "Plötzlicher Tod Ursachen".
Die Ergebnisse waren ein Horrorfilm in Textform: Herzinfarkt, Schlaganfall, Aortenruptur, Lungenembolie, Hirnblutung, plötzlicher Herztod...
Plötzlicher Herztod. Das klang beunruhigend spezifisch.
Er klickte auf den Link und las: "Der plötzliche Herztod tritt ohne Vorwarnung auf und führt innerhalb von Minuten zum Tod. Die häufigste Ursache ist eine Herzrhythmusstörung, die das Herz daran hindert, effektiv Blut zu pumpen."
Ohne Vorwarnung? Das passte nicht. Er hatte Vorwarnungen. Viele sogar.
Sven lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Sein Bildschirm war mittlerweile mit über zwanzig geöffneten Tabs übersät, jeder mit einer anderen potenziell tödlichen Erkrankung.
Er wusste, dass er sich in eine Spirale begeben hatte. Eine Spirale aus Angst und Informationsüberflutung. Irgendwo hatte er den Begriff "Cyberchondrie" gelesen – eine moderne Form der Hypochondrie, bei der übermäßiges Googeln von Symptomen zu Angstzuständen führt.
War er ein Cyberchonder? Bildete er sich alles nur ein?
Aber der Joghurt. Der verdammte Joghurt. Das war real gewesen.
Der Wendepunkt kam unerwartet. Sven schloss alle Tabs bis auf einen: "Hausärzte in der Nähe". Er musste professionelle Hilfe suchen. Dr. Weiß würde ihn beruhigen können. Oder ihm sagen, dass er tatsächlich im Sterben lag. So oder so, er brauchte Gewissheit.
Er wählte die Nummer der Praxis und wartete. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme: "Praxis Dr. Weiß, Sie sprechen mit Schwester Claudia."
"Guten Morgen", sagte Sven und versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. "Hier ist Sven Zimmermann. Ich... ich bräuchte dringend einen Termin. Heute noch, wenn möglich."
"Worum geht es denn, Herr Schreiber?"
Sven zögerte. Wie sollte er erklären, dass er glaubte, heute zu sterben, weil ihm ein Joghurtbecher auf den Fuß gefallen war?
"Ich habe... verschiedene Symptome", sagte er schließlich. "Brustschmerzen, Herzrasen, Atemnot. Ich mache mir Sorgen, dass es etwas Ernstes sein könnte."
"Haben Sie akute, starke Schmerzen? Sollten wir einen Notarzt schicken?"
"Nein, nein", beeilte sich Sven zu sagen. "Es ist nicht... akut. Nur beunruhigend."
"Verstehe. Dr. Weiß hat heute einen vollen Terminkalender, aber bei diesen Symptomen sollten wir Sie trotzdem untersuchen. Können Sie um 14:30 Uhr in der Praxis sein?"
Sven blickte auf die Uhr. Es war kurz nach 10. Viereinhalb Stunden. Würde er so lange durchhalten?
"Ja", sagte er. "14:30 Uhr ist gut. Danke."
Er legte auf und starrte auf seinen Bildschirm. Viereinhalb Stunden. 270 Minuten. 16.200 Sekunden.
Eine Ewigkeit, wenn man glaubte, jeden Moment sterben zu können.
Sven öffnete einen neuen Tab und suchte nach "Wie überlebe ich bis zum Arzttermin".
Die Arztpraxis von Dr. Marlene Weiß befand sich im ersten Stock eines renovierten Altbaus in der Innenstadt. Sven hatte die letzten vier Stunden damit verbracht, sich mental auf diesen Moment vorzubereiten. Er hatte seine Symptome in einer Excel-Tabelle dokumentiert, nach Schweregrad und Häufigkeit sortiert. Er hatte eine Liste mit Fragen erstellt, die er der Ärztin stellen wollte. Und er hatte sein Testament aktualisiert – nur für den Fall.
Als er nun im Wartezimmer saß, umgeben von hustenden, niesenden und schnäuzenden Mitmenschen, wurde ihm bewusst, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte. Er hätte einen Notarzt rufen sollen. Oder direkt ins Krankenhaus fahren. Stattdessen saß er hier, in einer Petrischale aus Krankheitserregern, und wartete darauf, aufgerufen zu werden.
"Herr Schreiber?"
Sven zuckte zusammen. Eine Sprechstundenhilfe in mintgrüner Kleidung stand in der Tür und lächelte ihn freundlich an.
"Ja", sagte er und erhob sich. Seine Beine fühlten sich wackelig an. War das ein Symptom für eine Herzinsuffizienz? Oder nur die Aufregung?
"Bitte folgen Sie mir."
Er folgte der Frau durch einen kurzen Flur in ein Behandlungszimmer. Dr. Weiß saß bereits an ihrem Schreibtisch und tippte etwas in ihren Computer. Sie war eine Frau Mitte fünfzig mit kurzen, grauen Haaren und einer randlosen Brille. Sven kannte sie seit Jahren, aber heute erschien sie ihm wie eine Fremde. Eine Fremde, die über sein Schicksal entscheiden würde.
"Guten Tag, Herr Schreiber", sagte sie, ohne von ihrem Bildschirm aufzublicken. "Was führt Sie zu mir?"
Sven holte tief Luft. Er hatte sich vorgenommen, sachlich zu bleiben. Nur die Fakten zu präsentieren. Keine Interpretationen.
"Ich habe seit heute Morgen verschiedene beunruhigende Symptome", begann er. "Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern, ein Engegefühl in der Brust, gelegentliche Stiche im Brustbereich, Atemnot und ein allgemeines Gefühl der Bedrohung."
Dr. Weiß blickte nun auf und musterte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg. "Seit heute Morgen?"
"Ja. Es begann, als mir ein Joghurtbecher auf den Fuß fiel."
Eine ihrer Augenbrauen hob sich leicht. "Ein Joghurtbecher."
"Ja. Ich weiß, das klingt seltsam, aber es war ein statistisch höchst unwahrscheinliches Ereignis, und seitdem habe ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Mit mir, meine ich. Gesundheitlich."
Die Konfrontation mit der medizinischen Realität
Dr. Weiß lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. "Herr Schreiber, Sie waren in den letzten drei Jahren genau siebenmal in meiner Praxis. Jedes Mal mit Symptomen, die Sie als lebensbedrohlich eingeschätzt haben. Erinnern Sie sich, was daraus geworden ist?"
Sven rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. "Nun, die Diagnosen waren unterschiedlich..."
"Die Diagnosen waren immer dieselbe", unterbrach ihn Dr. Weiß. "Stress und Angst. Keine Herzerkrankung. Kein Schlaganfall. Kein Tumor. Keine tödliche Infektion."
"Aber diesmal ist es anders", beharrte Ben. "Ich habe recherchiert und—"
"Sie haben gegoogelt", unterbrach ihn Dr. Weiß erneut. "Und wie immer hat Dr. Google Ihnen gesagt, dass Sie im Sterben liegen."
Sven spürte, wie Hitze in sein Gesicht stieg. Teils aus Verlegenheit, teils aus Ärger. "Ich habe nur versucht, informiert zu sein."
Dr. Weiß seufzte und nahm ihre Brille ab. "Herr Schreiber, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich schätze informierte Patienten. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Information und Panik. Was Sie betreiben, ist keine Recherche, sondern Selbstquälerei."
Sie stand auf und deutete auf die Liege. "Aber gut, lassen Sie uns Ihre Symptome ernst nehmen und Sie gründlich untersuchen. Bitte machen Sie den Oberkörper frei und legen Sie sich hin."
Sven tat wie geheißen, während Dr. Weiß ein Stethoskop aus einer Schublade holte. Sie wärmte das Metall kurz in ihren Händen, bevor sie es auf seine Brust legte.
"Tief einatmen... und ausatmen... noch einmal..."
Sven versuchte, ruhig zu atmen, aber sein Herz raste. Er war sich sicher, dass Dr. Weiß es hören konnte. Den unregelmäßigen Rhythmus. Die Anzeichen einer Herzerkrankung.
"Ihr Herz schlägt schnell, aber regelmäßig", sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. "Das ist konsistent mit Angst, nicht mit einer Herzerkrankung."
Sie maß seinen Blutdruck, leuchtete in seine Augen, klopfte seine Reflexe ab und tastete seinen Bauch ab. Alles mit der routinierten Effizienz einer Ärztin, die solche Untersuchungen tausendmal durchgeführt hatte.
"Ihr Blutdruck ist leicht erhöht, aber das ist bei Aufregung normal", sagte sie schließlich. "Ansonsten kann ich bei der körperlichen Untersuchung keine Auffälligkeiten feststellen."
Sven setzte sich auf und zog sein Hemd wieder an. "Aber die Brustschmerzen..."
"Sind wahrscheinlich muskulär oder durch Hyperventilation bedingt", ergänzte Dr. Weiß. "Herr Schreiber, ich verstehe, dass Sie beunruhigt sind. Aber aus medizinischer Sicht gibt es keinen Grund zur Sorge."
"Könnten wir nicht sicherheitshalber ein EKG machen? Oder eine Blutuntersuchung? Vielleicht ein MRT?"
Dr. Weiß setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. "Ein EKG können wir machen, wenn Sie sich dann besser fühlen. Aber ich muss Sie warnen: Selbst wenn das Ergebnis unauffällig ist, wird es Ihre Ängste wahrscheinlich nicht beseitigen. Sie werden sich fragen, ob wir etwas übersehen haben. Ob ein anderer Test mehr gezeigt hätte."
Sven wollte widersprechen, aber er wusste, dass sie Recht hatte. So war es immer. Jede Entwarnung brachte nur kurzzeitige Erleichterung, bevor die Zweifel zurückkehrten.
"Herr Schreiber", fuhr Dr. Weiß fort, nun mit sanfterer Stimme, "haben Sie schon einmal von Hypochondrie gehört?"
Sven versteifte sich. "Ich bilde mir meine Symptome nicht ein."
"Das habe ich auch nicht gesagt. Die Symptome sind real. Aber ihre Ursache ist nicht körperlich, sondern psychisch. Hypochondrie, oder wie wir es heute nennen, Krankheitsangststörung, ist eine ernsthafte Erkrankung. Menschen mit dieser Störung interpretieren normale Körperempfindungen als Anzeichen einer schweren Krankheit. Sie fokussieren sich so stark auf diese Empfindungen, dass sie tatsächlich körperliche Symptome entwickeln – Herzrasen, Schwitzen, Zittern, sogar Schmerzen."
"Aber der Joghurt", beharrte Ben. "Das war ein Zeichen."
Dr. Weiß lehnte sich vor. "Herr Schreiber, in meiner dreißigjährigen Karriere als Ärztin habe ich noch nie erlebt, dass ein Joghurtbecher ein Vorbote für eine tödliche Erkrankung war."
Sie sagte es mit einem leichten Lächeln, aber Sven fand es nicht komisch. Für ihn war es todernst.
"Ich schlage Folgendes vor", sagte Dr. Weiß nach einer kurzen Pause. "Wir machen jetzt ein EKG, um Ihr Herz zu überprüfen. Ich bin mir sicher, dass es normal sein wird. Dann möchte ich Ihnen eine Überweisung zu einem Kollegen geben – einem Psychotherapeuten, der auf Angststörungen spezialisiert ist."
Sven spürte, wie Wut in ihm aufstieg. "Sie denken also, ich bin verrückt."
"Nein, Herr Schreiber. Ich denke, Sie leiden. Und ich möchte Ihnen helfen, dieses Leiden zu beenden. Eine Psychotherapie kann bei Krankheitsangststörungen sehr effektiv sein."
Sven wollte aufstehen und gehen. Ihr sagen, dass sie keine Ahnung hatte. Dass er einen anderen Arzt aufsuchen würde, einen, der ihn ernst nahm. Aber etwas in ihrer Stimme – eine Mischung aus Autorität und echter Sorge – hielt ihn zurück.
"Das EKG", sagte er schließlich. "Lassen Sie uns damit anfangen."
Dr. Weiß nickte und rief per Intercom ihre Assistentin. Wenige Minuten später lag Sven mit Elektroden auf der Brust auf der Liege, während ein Gerät seine Herzaktivität aufzeichnete.
"Sehen Sie?", sagte Dr. Weiß, als sie das Ergebnis betrachtete.
"Völlig normal. Ein gesundes Herz."
Sie zeigte ihm den Ausdruck, aber für Sven waren die Zacken und Kurven nur bedeutungslose Linien. Er musste ihr glauben.
Oder nicht.