Die Spionin - Stefan Appelius - E-Book

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Stefan Appelius

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Beschreibung

Die Entdeckung eines der größten deutschen Spionagefälle der Nachkriegszeit und ein spannendes Stück Zeitgeschichte – so packend wie ein Agententhriller. Die frühen Jahren des Kalten Krieges in Berlin: Olga Raue, ihr Mann und ihr Schwager spionieren für die CIA, zuerst in der DDR, später in Moskau. Als eine Freundin sie verrät, wird Olga inhaftiert. Sechs Jahre später kauft die Bundesrepublik Olga frei, 1977 darf sie die DDR verlassen. Olga schweigt über ihre Mission – mehr als 50 Jahre lang. Doch als der Politikwissenschaftler Stefan Appelius auf den «Spionagering Raue» stößt, beginnt sie zu erzählen. Appelius hat die politischen Wellen, die die Spione auslösten, nachgezeichnet. Doch die menschlichen Hintergründe – die kann nur Olga Raue schildern.

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Stefan Appelius

Die Spionin

Olga Raue – CIA-Agentin im Kalten Krieg

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die Entdeckung eines der größten deutschen Spionagefälle der Nachkriegszeit und ein spannendes Stück Zeitgeschichte – so packend wie ein Agententhriller.

 

Die frühen Jahren des Kalten Krieges in Berlin: Olga Raue, ihr Mann und ihr Schwager spionieren für die CIA, zuerst in der DDR, später in Moskau. Als eine Freundin sie verrät, wird Olga inhaftiert. Sechs Jahre später kauft die Bundesrepublik Olga frei, 1977 darf sie die DDR verlassen. Olga schweigt über ihre Mission – mehr als 50 Jahre lang. Doch als der Politikwissenschaftler Stefan Appelius auf den «Spionagering Raue» stößt, beginnt sie zu erzählen. Appelius hat die politischen Wellen, die die Spione auslösten, nachgezeichnet. Doch die menschlichen Hintergründe – die kann nur Olga Raue schildern.

Über Stefan Appelius

Prof. Dr. Stefan Appelius, geboren 1963, lebt als selbständiger Wissenschaftler und Publizist in Berlin; seine Forschungsschwerpunkte sind Zeitgeschichte, Parteien und politisch-soziale Bewegungen. Er ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg und Mitglied des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität Berlin.

Inhaltsübersicht

VorbemerkungEinleitung Ein seltener GlücksfallErstes Kapitel Von Akten und MenschenAuge in AugeGemeinsame SacheEin Wochenende bei den AmerikanernEine neue ZeitEin Bund fürs LebenEin neuer FreundZweites Kapitel GrenzerfahrungenVon Diensten umkreistZwischenweltenVom Winde verwehtEin guter RatDrittes Kapitel Alles AuslegungssacheAbgestempeltIn einem BootZukunftsmusikEin kleines BlümeleinPlanspieleFalsche FährtenViertes Kapitel Auf die Probe gestelltSpionenehreEine folgenreiche EntscheidungBeziehungen muss man habenDie Freundin von der VolkspolizeiEine große ChanceEin GeständnisFünftes Kapitel Ein kleines RädchenOffenkundig?GewissensbisseEin vielversprechender GenosseWichtige NachrichtenDie Ganoven in der Newa-BarSechstes Kapitel Eine schwierige FrageKollateralschädenEin Auge fürs DetailDer schöne IreSiebtes Kapitel DetektivarbeitDas Rätsel um «Hedwig»Auf den LeimDie SinnfrageAchtes Kapitel Die WasserstoffbombenfabrikWie ein Gesetz für Heinz Raue umschifft wurdeNeue PläneAusflug nach BorodinoFeierlauneNeuntes Kapitel Neue Erkenntnisse«Reni»Die verräterische FreundinDas Unheil nimmt seinen LaufZehntes Kapitel Alles unter KontrolleEin Sarg vor der KirchentürErste ZweifelSpione belauern Spione«Keine Erkenntnisse einer Bedrohung»Ein sorgloser SommerEin GeständnisPerfekte BesetzungLeicht gesagtElftes Kapitel Die Welt der DiensteDie Freiheit, zu fragenSportlicher EhrgeizZukunftspläneEine SchnapsideeKatz und MausBildteilZwölftes Kapitel Gute Amerikaner und schlechte AmerikanerHeinz Raues verlorener SohnHoneckers SchwagerRiskantes SpielEin amerikanischer TraumEnglisch ohne MüheEin Besuch im ClausewitzDreizehntes Kapitel Ein Denkmal auf der ClayalleeEin gut gemeinter RatschlagDas Spiel ist ausSchwierige EntscheidungenTraue niemandTätige ReueDer ProzessVierzehntes Kapitel Amerikanisches FieberWas heißt schon Schuld?Endlich freiErster Kontakt mit dem WestenEin rätselhafter SelbstmordGeschenke erhalten die FreundschaftNeue FreundeZukunftsfragenFünfzehntes Kapitel Ein operatives SpielEin Geheimnis wird gelüftetDer Amerikaner kümmert sich nichtGrüße von HänschenSubbotnik in HessenwinkelBesuch vom VerfassungsschutzUm nichts in der WeltSechzehntes Kapitel Das geheime NetzwerkEine Illusion wenigerHeinz spielt nicht mehr mitEin Traum zerplatztEpilog Ein Haufen GeldZeitstrahl – Was passiert wann?Kommentiertes Personenregister (Auswahl)Bildnachweis

EinleitungEin seltener Glücksfall

Ehemalige politische Gefangene aus der DDR sprechen noch heute über die Taten eines tollkühnen Spionagerings der CIA. Ich weiß noch genau, wie ich von dieser Geschichte erfuhr. Es war an einem Spätsommertag im Jahr 2010, als sie mir ein alter Mann auf einer gemeinsamen Autofahrt nach Bautzen zum «Tag der offenen Tür» in einem früheren Stasi-Gefängnis erzählte. Das Städtchen Bautzen befindet sich im Dreiländereck nahe den Grenzen zu Polen und der Tschechischen Republik. Hierher, in die berüchtigte Sonderhaftanstalt Bautzen II, verbrachte der Staatssicherheitsdienst der DDR als besonders gefährlich eingestufte Staatsfeinde. Der alte Mann, der neben mir saß, hatte selber viele Jahre in diesem Gefängnis zugebracht. Im Herbst 1960 waren Heinz Raue, seine Frau Olga Raue und sein Bruder Gerd Raue in einem Geheimprozess zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt worden. Während Gerd und Olga Raue in der Haftanstalt Hohenschönhausen verblieben, kam Heinz Raue, als Kopf der Gruppe, nach Bautzen II. Mein Gesprächspartner erinnerte sich genau an ihn. Der Mann, den er im Sommer 1966 kennenlernte, hatte so gar nichts von einem Helden. «Er war eine Zeit lang Kalfaktor und verteilte das Essen. Wenn er in meine Zelle kam, sagte ich Guten Tag. Er schaute immer erst zum Aufseher, um rauszufinden, ob er den Gruß erwidern durfte. Das werde ich nie vergessen.»

Xing-Hu Kuo arbeitete vor seiner Verhaftung als Übersetzer für die chinesische Botschaft in Ostberlin. Die Staatssicherheit hatte ihn im Januar 1965 verhaftet, weil er angeblich DDR-Flüchtlinge im Kofferraum seines schwarzen Mercedes 180 in den Westen geschmuggelt hatte. In der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen lernte er damals einen Gefangenenzahnarzt kennen, von dem sich die Häftlinge hinter vorgehaltener Hand haarsträubende Husarenstücke erzählten. Doktor Gerd Raue, so munkelte man, habe Walter Ulbricht persönlich im Auftrag der Amerikaner ein Abhörgerät als Plombe in den Mund eingepflanzt. Über seine Schwägerin Olga Raue hieß es, sie habe in Moskau mit Offizieren der Roten Armee geschlafen, um militärische Geheimnisse auszuspionieren. Sie sei der eigentliche Kopf der Gruppe gewesen. Olga war damals als Leiterin der Offiziersküche in der Haftanstalt eingesetzt.

Auch Katharina Leendertse hat Gerd Raue in dieser Zeit kennengelernt. Sie wurde 1964 nach einem gescheiterten Fluchtversuch in die Haftanstalt Hohenschönhausen eingeliefert. Frau Leendertse erinnert sich genau an den Moment, in dem sie nicht lange danach von einem Aufseher begleitet zur Zahnbehandlung geführt wurde:

«Im hinteren Teil des Raumes befand sich der Behandlungsstuhl, der schräg von links nach rechts ausgerichtet war. Ich merkte sofort, hier stimmte etwas nicht. Der Zahnarzt, sein Gesicht lag zunächst im Schatten, kam mir nicht entgegen, sondern stand wie angewurzelt seitlich hinter dem Stuhl. Sein Aussehen passte nicht zu dem üblichen Auftreten seiner Zunft. Die Hosen hatten keine Bügelfalte, er trug kein sauberes weißes gebügeltes Oberhemd, keine Krawatte; der Arztkittel war mehr grau als weiß und hing schlaff an ihm herunter, auch die Schuhe waren seltsam. Die Frau hingegen, die vor dem niedrigen Schrank stand, der sich an der rechten Wandseite befand, war in eine tadellose Uniform gekleidet.»

Während Doktor Raue die Zähne von Frau Leendertse inspizierte, verwickelte ihn die Wachhabende in ein Gespräch über die alljährliche Großdemonstration am 1. Mai, die auch über die Karl-Marx-Allee führte. Der Arzt antwortete ihr sehr einsilbig mit «ja» und «so». Katharina Leendertse wusste zunächst nicht, ob dieser Mann frei war oder selbst ein Gefangener. Doch während die Wachhabende für ihn eine Salbe im Medizinschrank suchte, berührte er seine Patientin am linken Unterarm und flüsterte ihr rasch ins Ohr: «Du musst durchhalten! Halte durch!» Diese wenigen Worte haben viel bei ihr bewirkt, erinnert sie sich noch heute. Zum ersten Mal seit ihrer Verhaftung war sie wieder einem Menschen begegnet.

«Ich war einfach überwältigt. Nicht nur von meinen Gefühlen, auch von diesem Menschen und dem, was die Begegnung für mich bedeutete. Jetzt wusste ich, ich bin nicht allein. Ich fühlte mich nicht mehr so verloren. Damals verkörperte der Zahnarzt von Hohenschönhausen für mich ‹Menschsein› – das heißt Liebe, Zugewandtsein, tiefes Verständnis, Trost, Ermutigung. Seine Körpersprache verriet Furchtlosigkeit, Souveränität, aber auch Demut. Wir haben kein Gespräch geführt, und doch war es ein Dialog. Vielleicht war unsere Begegnung im Sinne von Martin Buber ein echtes Gespräch, als wir den jeweils anderen als Du wahrgenommen haben. Liebe ist Verantwortung eines Ich für ein Du – Doktor Raue hat das gelebt.»

Ich bekomme noch immer eine Gänsehaut, wenn ich mich an diese Schilderungen erinnere. Damals beschloss ich, dass ich die wahre Geschichte dieses Spionagerings erfahren wollte. Vor allem aber interessierte mich, was aus diesem Zahnarzt, dem ängstlichen Heinz und der mysteriösen Olga geworden war. Es gab keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen über ihren Prozess. Wie aber findet man einen Heinz Raue, von dem man kaum etwas weiß? Ich hatte Glück. Denn Xing-Hu Kuo begegnete den beiden Brüdern nach seinem Freikauf in die Bundesrepublik in den siebziger Jahren in Westberlin wieder. Damals fand Heinz Raue mit seiner Hilfe Arbeit im Axel-Springer-Haus. Nicht als Journalist, sondern als Mitarbeiter eines von Axel Springer Ende der sechziger Jahre gegründeten Firmengeheimdienstes, der gegen den Osten arbeitete und seinerseits in enger Verbindung mit der Westberliner CIA-Führung stand. Man berichtete ausführlich über Fluchten, war mitunter sogar an deren Durchführung beteiligt und sammelte alle Art Informationen, die es über die DDR herauszufinden gab. Herr Kuo hat damals eine Weile mit Heinz Raue im selben Büro in der 16. Etage des Springer-Hauses gearbeitet. Ihr Chef war der Historiker Herbert Marzian. Vor allem an ein Detail erinnerte sich Kuo noch sehr genau. Immer wenn Raue zur Toilette musste, stellte er sich in die Ecke des Büros, nahm Haltung an und fragte: «Herr Marzian, darf ich bitte austreten gehen?»

Ich erfuhr, dass Heinz Raue noch bis weit in die neunziger Jahre in Berlin lebte. Doch danach hatten seine früheren Kollegen und Mitgefangenen den Kontakt zu ihm verloren. Es verging eine ganze Weile, bis ich schließlich über eine früher bei Springer beschäftigte Sekretärin herausfand, dass Heinz Raue ein paar Monate zuvor in Freiburg im Breisgau verstorben war. Sie hatte ihn immer an seinem Geburtstag angerufen. Der Kontakt war erst im Vorjahr abgebrochen. Da hatten andere Leute ihren Anruf entgegengenommen und die Auskunft erteilt, er sei im Krankenhaus. «Dass er CIA-Agent war, wusste ich nicht. Hätte ich ihm nie zugetraut.»

Inzwischen wusste ich auch, dass sein Bruder, der Zahnarzt, zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze Weile nicht mehr am Leben war. Es gab verschiedene Mutmaßungen über seinen Tod, die wahlweise darauf hinausliefen, er sei vergiftet worden oder er habe sich das Leben genommen. Doch wann und wo das geschehen sein sollte, darüber gab es nicht den kleinsten Hinweis.

Nun sind zeitgeschichtliche Personenrecherchen im Zeitalter des allumfassenden Datenschutzes eine zunehmend schwierige Herausforderung. Von der Angst beseelt, es könne ein wie auch immer geartetes Geschäftsinteresse hinter dem Forscher stehen, wird ein Rechercheweg nach dem anderen mit deutscher Gründlichkeit verbaut. Selbst Zeitzeugen reagieren am Telefon oft misstrauisch, denn es könnte ja ein Gauner sein, der ihnen ihr Erspartes aus der Tasche ziehen will. Für Wissenschaftler, die sich für ihre Akteure interessieren und nicht mit Bibliothekswissen zufriedengeben wollen, wird es immer schwerer, diese zu finden. Bis man eines nicht mehr allzu fernen Tages gar nichts mehr über historische Ereignisse und ihre Protagonisten wird herausfinden können.

Meine Recherche schien in eine Sackgasse zu verlaufen, zumal ich bald darauf in Erfahrung brachte, dass die sterblichen Überreste von Heinz Raue bereits wenige Monate nach seinem Tod an einen unbekannten Ort überführt worden waren. Und in der deutschen Dienststelle in Berlin, in der Informationen über frühere Soldaten der Wehrmacht verwahrt werden, hieß es, die Herausgabe der Akten von Heinz Raue sei aus Gründen des Datenschutzes frühestens 2023 möglich. Ich habe zwar einen langen Atem in meinen Recherchen, aber zehn Jahre zu warten, das schien selbst mir zu lange. War ich zu spät gekommen?

Ich schöpfte erst wieder Hoffnung, nachdem es mir gelungen war, das Geburtsdatum von Heinz Raue in Erfahrung zu bringen. Ich hatte das Unternehmensarchiv des Axel Springer Verlags mehrfach besucht und mich einige Male mit dem in unmittelbarer Nähe des Springer-Hauses lebenden Xing-Hu Kuo getroffen. Mit diesem Geburtsdatum konnte ich nach Akten beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR forschen. Ich stellte einen Forschungsantrag.

 

Schon sehr bald wurde allerdings klar, dass die dort gewonnenen Erkenntnisse nicht sehr weit führen würden. Ich erfuhr nämlich von einer Vereinbarung der Bundesregierung mit der Regierung der USA, dass selbst die Decknamen früherer in Deutschland tätiger CIA-Offiziere bis heute nicht genannt werden dürfen. Und zwar auch dann nicht, wenn diese Decknamen etwa in Veröffentlichungen der Stasi schon Jahrzehnte zuvor in riesiger Auflage und in allen möglichen Sprachen publiziert worden waren. Aus diesem Grunde werden selbst offenkundige frühere Decknamen längst verstorbener CIA-Leute bis heute geheim gehalten. Darüber wacht das Bundesinnenministerium. Gleichzeitig lernte ich, dass die DDR-Geheimdienstakten in der Stasi-Unterlagen-Behörde keineswegs vollständig sind. Ich wusste bis dahin nur, dass die Stasi selbst kurz vor dem Untergang der DDR noch viele Akten und Dossiers zerstört hatte. Nun erfuhr ich, dass die westlichen Geheimdienste diese Akten zunächst nach für sie relevanten Fragestellungen gefilzt hatten. Das heißt, es waren Akten und Einträge zu Personen, die für diese Dienste von Interesse waren, in unbekannter Größenordnung entfernt und gelöscht worden, sodass Recherchen nach ihnen ins Leere laufen, ohne dass der Antragsteller erfährt, warum. Erst kurz vor der Veröffentlichung dieses Buches fand ich die Identität eines hochkarätigen MfS-Agenten heraus, der die CIA Ende der fünfziger Jahre gründlich genarrt hatte. Die Akte war natürlich weg, obwohl sie im MfS längst im Archiv verstaubt war.

In der Stasi-Unterlagen-Behörde «nicht erfasst» heißt also nicht automatisch, dass es zu einer Person bei der Stasi nichts gab. Es heißt nur, dass man beim Bundesbeauftragten über diese Person nichts finden wird. Außerdem wurden die Akten der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) und des Militärgeheimdienstes der NVA ebenfalls vernichtet – mit der von Rainer Eppelmann vorgetragenen Begründung, man habe die Geheimdienstler im Ministerium für Nationale Aufklärung vor strafrechtlicher Verfolgung beschützen wollen. Höchstwahrscheinlich wurde mindestens ein Teil dieser Akten zuvor in westliche Geheimdienst-Aktendepots überführt.

Von diesem Zeitpunkt an war mir klar, dass ich Augenzeugen der Geschichte brauchte. Menschen, die sich an die damaligen Ereignisse erinnerten und bereit waren, darüber zu sprechen. Heinz und Gerd waren tot. Es blieb mir also nur Olga Raue. Sie schien aber wie vom Erdboden verschluckt zu sein. In meinem Kopf drehte sich alles um die Frage, was aus ihr geworden war. Und, falls sie noch lebte, ob sie mit mir sprechen würde.

Inzwischen begann ich die ersten Stasi-Akten zu lesen. Es handelte sich um über dreißig Bände mit Vernehmungsprotokollen und einem eigens von der Staatssicherheit hergestellten Album mit Fotografien von präparierten Taschen, Funkgeräten, toten Briefkästen und Geheimschrifttabletten. Vermutlich wurde dieses Album angelegt, um dem Richter und den Schöffen beim Bezirksgericht Frankfurt an der Oder die Gefährlichkeit der Angeklagten zu verdeutlichen. Neben diesem penibel beschrifteten Fotoalbum hat allerdings keines der damals im Gerichtsgebäude präsentierten Beweisstücke die Jahrzehnte in einer Asservatenkammer des MfS überdauert. Eine Recherche nach der Handtasche und den eleganten hochhackigen schwarzen Lackschuhen mit den Geheimverstecken, die die Ermittler bei Olga Raue fanden, verlief im Sande.

Nun ist es allerdings so, dass kein Geheimdienst der Welt sämtliche Spuren bestimmter Ereignisse oder Personen restlos auslöschen kann. Man findet immer etwas, wenn man nur hartnäckig genug danach sucht. Und mit Menschen zusammenarbeitet, die einen darin unterstützen. Für dieses Buch kam aber noch ein ganz anderer Glücksfall hinzu. Meine Bekanntschaft mit der Hauptakteurin.

Olga Raue entspricht in vielerlei Hinsicht so gar nicht dem Frauenbild, das heute mit den fünfziger Jahren verbunden wird. Sie war eine autarke Frau, die sich auf Technik verstand, Medizin studierte und sogar ein eigenes Motorrad fuhr. Auf den Fotos sah ich eine gertenschlanke, attraktive junge Frau mit langen dunklen Haaren und dunklen Augen. Inzwischen steckte schon eine Menge Arbeit in meinen Recherchen. Und es wurde immer deutlicher, dass die Fortsetzung dieser Recherchen davon abhing, ob ich sie finden und ob sie mit mir sprechen würde. Keiner der früheren Mitgefangenen aus Hohenschönhausen, mit denen ich sprach, wusste, was aus ihr geworden war. Gerüchteweise hieß es, sie sei nach Westdeutschland gegangen. Schließlich erhielt ich von einem alten Herrn, der sie in den sechziger Jahren kennengelernt hatte, ein paar Hinweise. Ich hatte eine Spur. Und es gelang mir im Herbst 2014, eine Telefonnummer von Olga Raue ausfindig zu machen. Aber es vergingen noch fast zwei Wochen, bis ich mich endlich dazu durchringen konnte, die Nummer zu wählen. Wieder und wieder hatte ich mir überlegt, wie das Gespräch wohl verlaufen würde. Manchmal schon hatte ich erlebt, dass es den betreffenden Anschluss nicht mehr gab, wenn ich einen endlich aufgefundenen Zeitzeugen anrufen wollte. Ab und zu wurde das Telefonat auch nach wenigen Worten abrupt beendet. Meistens, wenn ich versuchte, mit einem früheren Stasi-Offizier zu sprechen. Aber auch bei einer anderen Akteurin in dieser Geschichte verlief die Kontaktaufnahme mit einer unwiderruflichen Absage. Traudel, eine frühere Freundin von Gerd Raue, die ebenfalls zu einer hohen Zuchthausstrafe verurteilt worden war, ließ mir über ihren Mann erklären, sie habe mit dem Thema abgeschlossen und wolle nicht mit mir sprechen. Als ich anderthalb Jahre später noch einmal bei ihr anrief, existierte der Anschluss nicht mehr.

Ich wusste also, dass alles von diesem ersten Gespräch mit Olga Raue abhängen würde.

 

Anfang Dezember 2014 fasse ich mir schließlich ein Herz. Nachdem das Telefon schon mehrfach geklingelt hat, bin ich kurz davor, aufzulegen, als der Hörer auf der anderen Seite abgehoben wird. Es meldet sich eine Frauenstimme. Kräftig, freundlich, neugierig. Ich stelle mich vor und nenne mein Anliegen. Füge ein paar Sätze mit meinen bisherigen Rechercheergebnissen hinzu. Sage, warum ihre Geschichte mich interessiert. Sie reagiert überrascht. Aber nicht in der Weise überrascht, die ich befürchtet hatte. Nein, sie ist überrascht, dass sich überhaupt jemand dafür interessiert. In ihrer Familie habe nie irgendjemand etwas über diesen Teil ihres Lebens wissen wollen, sagt sie. Nicht die Angehörigen ihrer Geschwister und auch nicht die vielen Verwandten des Mannes, mit dem sie fast vierzig Jahre verheiratet war. Es klingt so, als freue sie sich, nach so vielen Jahren endlich einmal nach all dem gefragt zu werden.

Ich berichte ihr, dass Heinz Raue im Vorjahr verstorben ist. Sie weiß es noch nicht, reagiert gefasst. Sie konnte es sich denken. Er müsste ja mittlerweile schon neunzig Jahre alt sein, sagt sie. Und dass Heinz Raue ihre gemeinsame Geschichte immer hatte aufschreiben wollen. Mir fällt auf, dass sie ihn nie ihren Mann oder Exmann nennt, sondern stets nur von «dem Raue» spricht. Sie erzählt, dass sie immer schon eher etwas für Praktiker übrighatte. «Der Raue war mehr so ein Spinner», sagt sie und lacht. Als ob es ihr in der Rückschau ein wenig peinlich wäre, ihn gekannt zu haben.

Dann berichtet sie mir, dass die Amerikaner «dem Raue» für seine Heldentaten einen Orden verliehen hätten. Dieser Orden sei ihm bei einer Reise in die USA überreicht worden. «Wäre ich mit ihm gereist, hätte ich auch einen Orden bekommen», fügt sie hinzu, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, von den Amerikanern mit einem Orden dekoriert zu werden. Aber sie hätte kein Interesse daran gehabt. Und außerdem habe ihr Mann gemeint, sie müsse mit dieser Geschichte endlich abschließen. An diese Verabredung hat sie sich all die Jahre gehalten. Seit damals hat sie vieles verdrängt und manches vergessen. Doch mittlerweile ist ihr letzter Lebenspartner selbst verstorben.

Ich habe so viele Fragen an Olga Raue. Weiß sie, wer sie damals verraten hat? Doch eine Frage liegt mir ganz besonders auf der Zunge. Was wurde aus Gerd, dem Zahnarzt von Hohenschönhausen? «Er hat sich an einem Ostersamstag vergiftet», sagt sie nur. Das war 1981. Ihr Mann führte einen sehr genauen Kalender und hat alle alten Kalender in seinem Wandschrank aufbewahrt. Sie sind gemeinsam zur Trauerfeier nach Berlin gefahren. Gerd Raues weißer Sarg stand während der Zeremonie vor der Dorfkirche in Kladow und nicht im Altarraum. War das nicht der Beweis für einen Selbstmord? Weil man Selbstmörder von alters her nicht auf dem Kirchhof beerdigte? Viele haben es damals so interpretiert, sagt sie. Ich nehme mir vor, dieser Frage auf den Grund zu gehen und in Erfahrung zu bringen, ob es eventuell einen Obduktionsbericht gibt.

Noch bin ich ganz am Anfang meiner Recherchen. Ich habe erst einen Teil der Akten gelesen und die Spurensuche nach Überlebenden hat gerade erst begonnen. Im Moment liegt die Frage nach Gerds Schicksal wieder im Fokus meines Interesses.

 

Das Telefonat mit Olga Raue lässt mir keine Ruhe. Und auch ihr hat es keine Ruhe gelassen, wie ich erfahre, als ich sie schon am nächsten Tag wieder anrufe. Sie hat schlecht geschlafen. Meine Fragen haben viele Erinnerungen in ihr geweckt. Ich will ihr zeigen, dass ich es mit meinem Vorhaben ernst meine und ihr im Zuge dieses Forschungsvorhabens vielleicht auch Dinge erzählen kann, die schöne Erinnerungen zurückbringen. Dass ich dabei sehr rasch zu dem Menschen werde, der ihr Leben besser kennt als alle Nachbarn und die weitläufige Verwandtschaft, lässt ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen uns entstehen, und ich bin mir der damit verbundenen Verantwortung bewusst. Von sich aus erwähnt Olga Raue, dass sie nach ihrer Haftentlassung aus Hohenschönhausen von der ostdeutschen Spionageabwehr angeworben wurde. Ich kenne noch keine Akten darüber und weiß noch nicht, dass die ganze Begnadigung von Olga und Gerd Raue ebenso wie die Nichtentlassung von Heinz Raue als Teil eines operativen Spiels zu verstehen war, mit dem die Staatssicherheit ehemalige amerikanische Topagenten gegen die CIA einsetzen wollte, um deren Netzwerke zu enthüllen.

Damals hatte ich noch großen Respekt vor der Stasi, die in zahlreichen westdeutschen Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen als eine Art Megageheimdienst dargestellt wurde. Ein allwissender Krake, vor dem nichts und niemand sicher war. Ich wusste zwar, dass es auch westliche Geheimdienste gab, aber über deren Aktivitäten zu Zeiten des Kalten Krieges ist kaum etwas bekannt. Zwar gibt es ein Informationsfreiheitsgesetz und manchmal sogar eine Historikerkommission. Doch wer sich als Wissenschaftler auf dieser Basis Erkenntnisse verspricht, tappt auch weiterhin im Dunkeln, zumal wenn er davon ausgeht, dass die Dienste des Westens nur mit dem Degen fochten und die schmutzigen Tricks allein der Osten anwandte. Heute weiß ich, dass auch den Buchveröffentlichungen westlicher Agenten wie Werner Stiller nur bedingt Glauben zu schenken ist, weil viele relevante Inhalte aus operativen Notwendigkeiten geändert oder gestrichen werden mussten. Ganz davon abgesehen, dass Stiller kein Agent war, sondern ein Stasi-Offizier, der aus bestimmten Gründen in den Westen überlief. Es ist immer eine Verlockung, solche Entscheidungen rückwirkend mit edlen Motiven auszuschmücken. Ich lernte in Gesprächen mit früheren Agenten westlicher Nachrichtendienste, dass es einen Ehrenkodex gibt, über diese Dienste und ihre Aktivitäten in der Öffentlichkeit nichts verlauten zu lassen. Auch ich kann in diesem Buch nicht über jedes Detail alles enthüllen, was ich erlebt oder herausgefunden habe. Das Vertrauen eines früheren Topagenten zu gewinnen und dessen Geschichte unzensiert erzählen zu dürfen ist ein Privileg. Wenn diese Agentin wie in meinem Fall darüber hinaus auch noch über ein sehr gutes Gedächtnis und die ein oder anderen Dokumente verfügt, über die sie eigentlich nicht verfügen dürfte, haben wir es mit einem sehr seltenen Glücksfall zu tun.

Zu Beginn meiner Recherchen war mir der «amerikanische Geheimdienst» noch ebenso unbekannt wie den Stasi-Offizieren, die die Raues monatelang von früh bis spät verhörten. Das Erste, was ich bei der Lektüre der Berichte feststellte, war, dass sowohl die Vernehmer als auch die für das Abtippen der Vernehmungsprotokolle zuständigen Stasi-Mitarbeiter offensichtlich keine Englischkenntnisse oder nennenswerte Schulbildung besaßen. Wenn sich ein amerikanischer Geheimdienstoffizier damals den Decknamen «Siegfried Warfield» gegeben hatte, so landete dieser Siegfried wahlweise als Worfield, Worefield oder Worfild in den Akten. An Siegfried den Drachentöter dachte ganz sicher niemand dieser Verteidiger des selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaates, weil sie noch nie zuvor von der Nibelungensage gehört hatten. Nun mag der Name «Siegfried Warfield» etwas brachial gewählt sein, er zeigt aber doch auch, dass sein Träger ein Studium der Landeskunde und der Sprache seines Einsatzlandes durchlaufen hat. Und genau in dieser Hinsicht unterschieden sich die amerikanischen Geheimdienstler in den fünfziger Jahren ganz erheblich von ihren ostdeutschen Gegenspielern. Ob man bei der Staatssicherheit wohl ahnte, dass bei der CIA hoch qualifizierte Fachleute zum Einsatz kamen, die in allen erdenklichen Einzelheiten auf den Gegner im Osten eingestellt waren? Dass die CIA-Leute jeweils nach zwei bis drei Jahren wieder abgezogen und gegen frisch ausgebildeten Nachwuchs ersetzt wurden? Jedenfalls wurde keine erkennbare Energie darauf verwendet, die Identitäten der amerikanischen Geheimdienstoffiziere und ihre Legendierung zu enttarnen. Man wusste zwar, dass man es mit dem amerikanischen Hauptquartier in der Clayallee zu tun hatte, mehr aber auch nicht.

 

Mittlerweile hatte ich herausgefunden, dass die sterblichen Überreste von Heinz Raue aus dem Breisgau an die Nordseeküste umgebettet worden waren. Dorthin war die Frau gezogen, die er kurz nach seiner Haftentlassung geheiratet hatte. Heinz Raue stand gänzlich unter dem Regiment seiner Frau, erinnert sich der frühere Springer-Journalist Walter Scharfenecker. Nur manchmal, in unbeobachteten Augenblicken, blitzte der alte Schwerenöter noch hervor, der gerne jedem Rock nachguckte.

Damals lebte Heinz Raue mit seiner Frau im vornehmen Berliner Westen. Der Kontakt zu seinem Bruder Gerd war sehr angespannt. Es gibt da diese eine Episode, an die sich Xing-Hu Kuo noch so genau erinnert, als habe sie sich gestern ereignet. Am 14. Juli 1976 war Kuo mit Doktor Raue im Springer-Haus zu einem Hintergrundgespräch über «das Privatleben der SED-Funktionäre» verabredet. Kuo traute weder Heinz Raue noch Gerd Raue. Bis zuletzt war er davon überzeugt, dass die beiden etwas mit der Staatssicherheit zu tun gehabt haben mussten. Am Ende der Unterhaltung riet ihm Doktor Raue ganz unvermittelt, gegenüber seinem Bruder etwas vorsichtig zu sein. Was dann folgte, war so brisant, dass Kuo sofort eine detaillierte Aktennotiz anfertigte. «Ich wette tausend zu eins, dass meine Schwägerin Agentin der Staatssicherheit ist. Auch muss ich die Möglichkeit erwähnen, dass mein Bruder während der Haft aufgrund seines labilen Charakters und seines Schuldkomplexes – er hat die ganze Familie in Haft gebracht – ebenfalls für den Osten arbeitet. Vielleicht tue ich ihm bitterstes Unrecht, aber ich muss es Ihnen sagen.»

Kuo war erschüttert. Er war es nämlich gewesen, der Heinz Raue im Jahr zuvor die Anstellung im Springer-Haus verschafft hatte. Wenn etwas an den Anschuldigungen dran war, dann würde das auch auf ihn zurückfallen. Er würde womöglich seinen Arbeitsplatz verlieren. Es wäre eine Katastrophe für ihn und seine Familie. Auf Kuos Nachfrage, ob es denn konkrete Anhaltspunkte für diese ungeheuren Anschuldigungen gebe, entgegnete Doktor Raue, ihm sei diese ganze Geschichte schon vor seiner Flucht in den Westen bekannt geworden. Die Bekanntschaft dieser Frau mit seinem Bruder sei vom Staatssicherheitsdienst arrangiert worden.

Schließlich fanden sich die beiden Männer beim Chefredakteur des Axel-Springer-Inlandsdienstes ein. Auf die Frage von Johannes Otto, ob Gerd Raue sich der Tragweite seiner Anschuldigungen bewusst sei, nickte er nur und sagte: «Schmeißen Sie ihn doch raus, er kann bei mir als Buchhalter auch sein Geld verdienen.»

Als mir Kuo diese Geschichte erzählt und zum Beweis seine Kopie der damals von ihm verfassten dreiseitigen Hausmitteilung überreicht, scheint ihm der Schrecken erneut ins Gesicht geschrieben. Natürlich will ich wissen, wie die Geschichte weiterging. Das ist schnell erzählt: Jeder in der Redaktion habe damals gewusst, dass sich Johannes Otto einmal wöchentlich mit dem Westberliner CIA-Chef zum Mittagessen traf. Die Amerikaner hätten gleich Entwarnung gegeben. Heinz Raue durfte bleiben, und auch mein Gesprächspartner behielt seinen Job. Der Doktor Raue müsse völlig übergeschnappt gewesen sein, meint Kuo, als er mich in der einsetzenden Dämmerung durch den Garten in Richtung Straße verabschiedet.

Auf dem Heimweg denke ich darüber nach, was Heinz’ Witwe mir wohl erzählen wird. Inzwischen habe ich nämlich einen Brief von ihr erhalten, in dem sie sich zu einem Gespräch bereit erklärt hat.

 

Wir sind nicht bei ihr, sondern in einem Café verabredet. Auf neutralem Boden. Ich kann die Wohnzimmer landauf, landab schon gar nicht mehr zählen, die ich im Laufe der Jahre bei meinen Recherchen besuchte. Es gab mal, schon vor vielen Jahren, eine alte Dame, die forderte mich hinter einer eingehängten Türkette stehend auf, ihr zuerst meinen Personalausweis zu zeigen. Während der NS-Zeit war sie als Kommunistin verfolgt worden. Aber auch sie ließ mich nach eingehender Musterung und Überprüfung des Dokuments eintreten. Heinz Raues zweite Ehefrau lässt eine solche Annäherung nicht zu. Generell bedeutet ein Treffen auf neutralem Boden, dass der Gesprächspartner misstrauisch ist und bei aller Neugier nicht zu viel von sich preisgeben möchte.

Es sei für sie nicht einfach, nach so langer Zeit die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Ihren Mann habe sie auch nach –– überführen lassen. Auf seinem Grabstein steht: Ruhe in Frieden. Und dabei soll es bleiben, lässt sie mich wissen.

Ist das eine Absage? Aber warum will sie sich dann mit mir treffen? Ein Buch über seine Lebensgeschichte habe er nie schreiben können, denn sie hätten eine Verzichtserklärung unterschrieben, erfahre ich zu Beginn der Unterhaltung. Heinz und sie haben eine Verzichtserklärung unterschrieben? Was hat sie denn mit dieser Geschichte zu tun? Wem hat Heinz das versprochen und was erhielt er im Gegenzug? Diese und andere Fragen gehen mir durch den Kopf, als wir uns schließlich um die Mittagszeit zu einem «klärenden Gespräch» treffen. Ich kläre sie darüber auf, dass ich schon eine ganze Weile über die Raue-Gruppe forsche und als Wissenschaftler natürlich ein Buch darüber schreiben möchte. Sie umgeht den möglichen Konflikt und entschuldigt sich, dass wir uns nicht bei ihr zu Hause getroffen haben. Sie hätten beide unterschrieben, dass sie keine Memoiren schreiben dürfen, wiederholt sie. Bei wem sie das unterschrieben, wisse sie nicht. Dann erzählt sie, dass Heinz in all den Jahren eine freundschaftliche, fast schon familiäre Verbindung zum amerikanischen Generalkonsulat in Westberlin hatte. Die Amerikaner seien immer zu ihnen zum Essen gekommen. Sie konnten sich jederzeit an sie wenden. Einer erzählte, dass er in Indien eingesetzt war und an Tigerjagden mit dem Maharadscha teilgenommen hatte. Insgesamt dreimal sei Heinz Raue in die USA gereist. Er habe dort seinen Patensohn besucht, einen amerikanischen Offizier, berichtet Frau Raue. Davon, dass die Amerikaner ihrem Mann eine hohe fünfstellige Summe für seine Agentendienste zahlten, ist ihr hingegen nichts bekannt. Sie grübelt. Die Frage lässt sie nicht los. Dann kommt ihr der Verdacht, dass Gerd Raue den Betrag unterschlagen haben könnte. Und ich frage mich, wer wohl dieser amerikanische Patensohn ist.

Gerd und Olga Raue haben im Westen Geld von der CIA erhalten, Heinz Raue aber nicht? Wie merkwürdig. Von einer Verzichtserklärung hat mir bisher auch noch kein ehemaliger amerikanischer Agent berichtet. Warum sollte Heinz Raue möglicherweise so ein Papier unterschrieben haben müssen? Und zu den Amerikanern hatten die meisten früheren Spione nach ihrer Übersiedlung in den Westen auch keine Verbindung mehr.

Über die Familie ihres Mannes will sie sich nur mündlich äußern. Wen fürchtet sie denn? Olga Raue? Sie ist die Einzige von ihnen, die noch am Leben ist. Ich wage es nicht, diese Frage anzuschneiden. Aber ich kann mir denken, dass es vor allem eine Abrechnung mit dem verhassten Schwager sein wird. An ihrer Deutungshoheit über den verstorbenen Heinz Raue lässt sie keinen Zweifel. Sie habe ihn besser gekannt als alle seine Weggefährten von damals.

Weggefährten? Gerd war sein Bruder und Olga seine Frau. Sie hatte mit den hier geschilderten Ereignissen doch erst nach Heinz Raues Haftentlassung zu tun. Aber auch diese Widersprüche lasse ich im Raum stehen. Die Atmosphäre zwischen uns hat sich entspannt. Wir trinken Kaffee zusammen, und sie drängt mir die Einladung zum Mittagessen förmlich auf.

Eine frühere Arbeitskollegin, die damals mit Gerd Raue liiert war, habe sie und Heinz Raue miteinander bekannt gemacht. Es sei Liebe auf den zweiten Blick gewesen, erfahre ich. Ende 1973 sind Heinz und sie legal aus der DDR in die Bundesrepublik ausgereist.

Olga Raue habe bei ihrer letzten Begegnung im Spätsommer 1989 gesagt, Heinz habe ihr Leben verpfuscht. Diesen Vorwurf habe sie nicht im Raum stehen lassen wollen und sich ein heftiges Wortgefecht mit der Exfrau ihres Mannes geliefert. Außerdem sei diese Ehe für Heinz Raue nur ein Zweckbündnis gewesen. Eine wahre Liebe habe ihn in dieser Zeit nur mit Theresia verbunden. Von jener Theresia, die Redakteurin beim SED-Zentralorgan Neues Deutschland gewesen war, hatte ich kurz zuvor einen Brief erhalten, dass sie an einem Treffen mit mir nicht interessiert sei. Um zu dokumentieren, dass es die alte Theresia nicht mehr gibt, hat sie die wenigen handschriftlichen Zeilen an mich mit dem Familiennamen ihres Ehemannes unterschrieben. Frau Raue erzählt mir, dass Heinz ihr Anfang der siebziger Jahre einmal durch Zufall in Ostberlin auf der Straße begegnete. Theresia habe so getan, als ob sie ihn nicht kenne.

Mir ist längst klar, dass die Rekonstruktion der historischen Ereignisse bei den Beteiligten noch immer viele alte Wunden aufreißt. Olga Raue wird sich zwar an das Zusammentreffen mit Heinz und seiner Frau erinnern, einen Disput habe es aber nicht gegeben. Es sei vielmehr ihr Mann gewesen, der dazu geraten habe, die alte Bekanntschaft nun endlich zu beenden. Woraufhin sie die vielen Briefe, die Heinz Raue ihr bis dahin geschrieben hatte, alle weggeworfen habe. Die Verbindung zwischen ihnen sei bald darauf, kurz nach der Wiedervereinigung, endgültig abgebrochen.

 

Dass Heinz Raue am Ende seines Lebens große Angst vor seiner Exfrau hatte und fürchtete, von ihr vernichtet zu werden, wie seine Witwe mir bei unserem Mittagessen erzählt, kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Gleichzeitig berichtet sie nämlich auch, dass sie mit Heinz wenige Jahre vor dessen Tod noch einmal die wichtigen Orte seines Lebens besuchte und mit ihm auf dieser Reise auch in Greppin war. Wenn es einen Grund gab, nach Greppin zu fahren, kann es nur Olga Raue gewesen sein, die dort aufgewachsen war. Nun aber wird es richtig interessant. Wir kommen nämlich auf ihren Schwager zu sprechen, den Gefangenenzahnarzt von Hohenschönhausen. Frau Raue sagt mir, dass Gerhard sie habe umbringen wollen und dass diese Mordversuche seinerzeit bei der Polizei aktenkundig geworden seien. Daraufhin habe sie den Kontakt zu ihm ganz abgebrochen. Darüber, wann genau sich diese Vorkommnisse zugetragen haben sollen, sagt sie nichts. Ich weiß aber, dass es einige wenige Familienbilder von Doktor Raue gibt, die aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre stammen. Auf zwei Fotografien, die in einem Einfamilienhaus unweit des Wannsees entstanden, ist das Ehepaar Raue bei Gerd Raue und dessen damaliger Lebensgefährtin Rhea zu Besuch, einer gläubigen Christin, die einen guten Einfluss auf den Schwager gehabt habe. Wann sollen sich diese Mordversuche denn zugetragen haben? Gerd Raue ist wenig später gestorben. Die Puzzlestücke ihrer Erinnerung passen offenbar nicht zusammen.

Inzwischen weiß ich, dass sich das Urnengrab von Gerd Raue und seiner Mutter auf dem Bergfriedhof in Steglitz befindet. Es ist schon seit 2001 abgelaufen und soll in Kürze eingeebnet werden. Niemand kann mir eine Auskunft erteilen, ob es überhaupt noch besteht. Als Nutzungsberechtigter ist Heinz Raue eingetragen, den die Friedhofsverwaltung irgendwann nicht mehr erreichen konnte. Ich habe inzwischen aus Gerichtsakten erfahren, dass auch Lotte Raue, die Mutter von Heinz und Gerd, wegen Spionage angeklagt wurde und einen Teil ihrer Strafe ebenfalls in der berüchtigten Sonderhaftanstalt Bautzen II verbringen musste. Mit ihr kam als weitere Komplizin Gerd Raues damalige Ehefrau Christa hinter Gitter. Wie es scheint, war die ganze Familie für den amerikanischen Geheimdienst tätig. Das also meinte Doktor Raue, als er gegenüber Kuo den Schuldkomplex seines Bruders erwähnte, geht es mir durch den Kopf.

Lotte Raue durfte Anfang der siebziger Jahre legal nach Westdeutschland ausreisen. Sie wohnte zuerst eine Weile bei ihrem Lieblingssohn Gerd, der damals eine schwierige Zeit durchlebte. Schließlich machte ihre Krebserkrankung einen Umzug zu Heinz und der Schwiegertochter erforderlich. Sie starb im August 1975 in Steglitz.

Manches, was Frau Raue mir erzählt, entspricht nachweislich der Wahrheit. Ihre eigene Rolle bei dem Bruch zwischen den beiden Brüdern blendet sie völlig aus. Sie berichtet mir, dass ein Haftkamerad namens Wolfgang ihren Mann dazu gedrängt habe, die Ehe mit ihr zu beenden. Das muss Wolfgang Veith sein, denke ich.

Ich ahne, dass es früher oder später Ärger mit dieser Frau geben wird. Aber ich habe noch so viele Fragen. Ich erkundige mich nach dem amerikanischen Orden, von dem mir Olga Raue berichtete, vorsichtshalber ohne das Gespräch mit ihr zu erwähnen. Und erhalte sofort die Bestätigung. Heinz Raue habe sogar zwei solche Auszeichnungen erhalten, sagt sie. Ich will natürlich unbedingt mehr darüber erfahren. Doch das wird nicht einfach, erkenne ich schon gleich. Der letzte Wille ihres Mannes sei gewesen, diese Orden mit in sein Grab zu nehmen. Weitere Unterlagen gebe es nicht. Sie habe zwar noch ein Papier gehabt, das aber schickte sie schon vor einigen Jahren an die amerikanische Botschaft nach Berlin. Sie habe damals dringend Hilfe gebraucht, doch die Amerikaner hätten nicht geantwortet.

Erstes KapitelVon Akten und Menschen

Auge in Auge

Kann man einen anderen Menschen durch Stasi-Akten kennenlernen? Man kann vielleicht einen ersten Eindruck gewinnen, findet ein paar Rahmendaten über den zeitlichen Hintergrund heraus. Hundertprozentig verlassen kann man sich auf die Daten in diesen Dokumenten allerdings nicht. Vieles stimmt einfach nicht, zudem war die Aktenführung häufig nachlässig.

Und wie könnte man Menschen kennenlernen, die heimlich beobachtet wurden oder die nach ihrer Festnahme aus politischen Gründen vom Arbeiter- und Bauernstaat als Verbrecher drangsaliert und schikaniert wurden? Menschen, die verzweifelt waren und Angst hatten. Die sich an jeden Strohhalm klammerten, den man ihnen bot. Das ist es aber nicht allein. Was in diesen Akten steht, ist stets aus dem Blickwinkel und mit dem Vokabular der «staatlichen Organe» geschrieben. Kennenlernen würde man nicht einmal einen ihrer Hauptamtlichen, wenn man dessen Kader-Akte vor sich hätte.

Ich sitze im Auto und bin auf dem Weg nach Norddeutschland. Während der mehrstündigen Fahrt, an deren Ziel ich Olga Raue persönlich kennenlernen werde, frage ich mich, wie es kommt, dass sie mir schon so vertraut ist. Ich habe eine Erwartung, eine Vorstellung, was für ein Mensch sie sein muss. Es wird an den zahlreichen Telefonaten liegen, die wir in der Zwischenzeit geführt haben. Es ergibt sich aber auch aus dem, was ich über Heinz und Gerd Raue in Erfahrung gebracht habe. Einer der beiden Brüder soll die Hauptperson in meinem Buch werden. Wahrscheinlich der charismatische Gerd. Olga Raue jedenfalls nicht. Sie ist ein bescheidener Mensch und steht nicht gerne in der ersten Reihe. Und anscheinend hat sie fast alles vergessen, was damals geschah.

Tatsächlich gibt es keinerlei Fremdheit, als sie schließlich in ihrer Wohnungstür vor mir steht. Wir begrüßen uns wie alte Bekannte. Vor mir steht eine geschmackvoll gekleidete und gepflegte ältere Dame. Ein bisschen hört man ihre Herkunft aus Sachsen-Anhalt heraus, obwohl sie schon vor gut sechzig Jahren von dort wegging. Ich sehe weder den Gehstock noch den Rollator, den sie am Telefon immer leicht spöttisch ihren Wagen nennt.

Sie hat Kaffee und Kekse vorbereitet. «Da, auf dem Sofa», zeigt sie mir einen Platz auf der Wohnzimmercouch, gleich beim Fenster. Soll ich mich dort hinsetzen, frage ich mich. Nein. Schon folgt die Erklärung: «Dort saß der Raue, als er mich mit seiner Frau das letzte Mal besuchte. Meine Güte, das ist jetzt auch schon fast dreißig Jahre her. Meine Schwester und mein Mann waren auch dabei. Heute ist ja niemand mehr da, der diese alten Geschichten noch kennt.»

Ich liebe es, direkt in eine Geschichte einzutauchen.

«Schauen Sie mal. Die habe ich vorhin im Arbeitszimmer noch gefunden.» Sie hält mir einige alte Postkarten entgegen. «Die sind vom Raue.» Ich nehme das Päckchen andächtig in die Hand und frage, ob ich sie lesen darf. Sie nickt.

Er muss viel auf Reisen gewesen sein, als er im Westen lebte. Die Karten sind aus Österreich, Italien, Norwegen, aus der Schweiz und auch aus den USA. Am 22. April 1981 schreibt er ihr aus San Francisco. Das war nur ein paar Tage nach Gerd Raues Tod. Aber seine Frau hatte ihn nicht darüber informiert, sie wollte ihm seine schöne Reise nicht verderben, hat sie mir erklärt. Oder ahnte sie, dass er selbst dort mit seinen Gedanken noch immer in der Vergangenheit und bei seiner Exfrau war, die er jetzt die «liebe Olga Freundin» nennt? «Im schönen Kalifornien, in dem wir einst unsere Zelte aufschlagen wollten, lasse ich wenigstens meine Augen übergehen – und kann nichts finden, was mir nicht gefällt!», schreibt er.

Ein leichter Schauer überfällt mich, während ich diese melancholischen Zeilen lese. Im Grunde steht ihre ganze Geschichte darin, vor allem aber seine Traurigkeit. Und seine Sehnsucht. Sie wollten damals gemeinsam mit ihrem Freund Hänschen in die Vereinigten Staaten gehen. Die amerikanische Staatsbürgerschaft hatten sie schon Jahre vor ihrer Festnahme beantragt.

Auf einer anderen Postkarte ist Weihnachten 1968 als Datum angegeben. War Heinz Raue da nicht noch in der Sonderhaftanstalt Bautzen II inhaftiert? Tatsächlich. Er schreibt, dass es die einzige Weihnachtskarte ist, die er in diesem Jahr verschicken darf. Die bekommt die Frau, die, wenn ich mich richtig erinnere, ein paar Wochen zuvor die Scheidung von ihm eingereicht hat.

Meine Augen fliegen über die Zeilen. «Ich trage Dir den Schmerz nicht nach, den Du mir zufügen musstest, um selbst glücklich sein zu können. Bitte verzeih auch Du mir allen Schmerz, den ich Dir angetan habe.»

Hat er sie immer geliebt? Bis zuletzt? Und sie hat ihn trotzdem verlassen. Für ihn muss es die Hölle gewesen sein. Ein Wunder, dass er nicht daran zerbrochen ist. Leicht war es sicher auch nicht für sie. Vielleicht spricht sie ja deshalb immer nur von «dem» Raue. Als wäre er im Grunde immer ein Fremder gewesen und nicht ihr Mann. Es ist vielleicht eine Art emotionaler Schutzschild. Zudem haben sie in all den Jahren nie zusammengelebt. Hatten nie eine gemeinsame Wohnung. Er studierte in Leipzig, sie in Moskau.

Die Postkarten haben mich völlig in ihren Bann gezogen. Im Februar 1978 schreibt er ihr nach einem Besuch in Pontresina: «Hier musste ich viel an Dich denken.» 1956 waren sie dort gemeinsam mit Hänschen gewesen. Und aus Tirol erinnert er sie im Sommer 1993 an «Bergwanderungen wie zu Hänschens Zeiten».

Ich fühle mich Heinz Raue, je mehr ich über ihn erfahre, eigentümlich verbunden. Kein Wunder, wird mir Olga Raue ein paar Minuten später erklären. Er sei ein Schreiber gewesen. Ihre Männer aber, die waren Techniker. Die haben Häuser gebaut. Dazu wäre der Raue nie imstande gewesen. Ich auch nicht, denke ich und fühle Solidarität mit Heinz Raue. Mittlerweile hat sie einige alte Fotografien hervorgeholt. Darunter auch eine, auf der sie im Trainingsanzug zu sehen ist, wie sie auf einem Feldweg einen Fahrradschlauch flickt. 1952 steht auf der Rückseite. Da waren sie auf einer Radtour in Thüringen. Heinz hatte einen Platten, aber keine Ahnung, wie man den Schaden behebt. Wie kann ein Mann nur so unbeholfen sein? In ihrer ersten Nacht in einer großen Getreidegarbe hätte er wegen der Mäuse keine Ruhe gegeben, sodass sie danach immer in Scheunen übernachten mussten, erzählt mir Olga Raue mit einem Kopfschütteln. Dafür, dass sich ihre Wege schon vor so langer Zeit trennten, dafür, dass es so wenig Gemeinsames in ihrem Leben gab, erinnert sie sich doch an eine ganze Menge.

Warum er ein Schreiber war, verstehe ich zuerst nicht. Heinz Raue war Absolvent der Journalistischen Fakultät der Karl-Marx-Universität. Und er hat nach seiner Haftentlassung Mitte, Ende der siebziger Jahre bei Axel Springer in Westberlin gearbeitet. Aber keiner seiner Kollegen erinnert sich, dass er dort viel geschrieben hat. Einer sagte mir mit einem verständnisvollen Lächeln, er habe Heinz Raue damals für einen Sozialfall gehalten. Wieso also Schreiber?

«Weil er seit seiner Inhaftierung Gedichte schrieb», erklärt Olga Raue und reicht mir ein gefaltetes, vergilbtes Blatt. «Später hat er auch wunderschöne Märchen und Kurzgeschichten geschrieben.» Das wusste ich nicht. Andächtig entfalte ich das Papier. Es ist mit blauer Tinte beschrieben, in einer schönen, geschwungenen Handschrift. Unten steht: «Zum 29. Juni 1966». An jenem Tage wurde Olga Raue achtunddreißig Jahre alt. Das Blatt ist in Bautzen II entstanden, in seiner Zelle. Es ist ein Liebesgedicht, in dem er ihr schreibt, dass das Leben nur in ihrer Nähe ein wirkliches Leben ist. Für einen Augenblick ist es so, als säße er mit uns gemeinsam am Couchtisch.

Im Laufe unseres Gespräches fallen ihr immer mehr Einzelheiten ein. Sie berichtet, dass ihnen die Amerikaner in Westberlin falsche westdeutsche Pässe gaben. «Sie hatten ein ganz leicht zu merkendes System. Das Geburtsdatum wurde einfach plus eins geändert. So wurde bei mir aus dem 29. Juni 1928 der 30. Juli 1929», erzählt sie mit einem verschmitzten Lächeln, als wäre sie ein ausgebuffter Ganove. «Und unser Deckname war Homann.»

Ich bin beeindruckt. So dezidiert steht es nicht in den Akten. Das System mit den falschen Pässen hat die CIA damals in Westberlin nur bei ihren Topagenten praktiziert. Eine Zeitlang vorher galt auch die Regel, dass diese Leute bei ihren Aufenthalten in Westberlin keine ostdeutschen Ausweise mit sich führen durften. Sie sollten nicht durch einen unglücklichen Zufall von der Westberliner Polizei verhaftet und aktenkundig werden. Die Amerikaner trauten den westdeutschen Behörden nicht, sie gingen davon aus, dass diese Bereiche von der Staatssicherheit durchsetzt waren. Die andere Seite verfuhr übrigens nicht anders. Östliche Agenten folgten bei ihren Einsätzen in Westdeutschland viele Jahre derselben Regel und hatten nichts bei sich, was ihre ostdeutsche Identität offenbart hätte.

Auch Olga Raue wurde komplett westlich ausstaffiert. Das habe Hänschen persönlich übernommen. «Damit reduzieren wir das Risiko, dass Leute von drüben Sie zufällig wiedererkennen», habe er ihr erklärt. «Wir werden alles hier für Sie verwahren, sodass Sie, immer wenn Sie zu uns kommen, gleichzeitig nach Hause kommen.»

Offensichtlich hatte er Freude an diesem Einsatz, denn die beiden verbrachten einen ganzen Tag auf dem Ku’damm, Westberlins nobelster Einkaufsstraße, und spazierten von einem Geschäft zum nächsten, um Kleider, Schuhe, Handtaschen, Unterwäsche, zwei Mäntel und natürlich auch Kosmetikartikel zu erstehen, erzählt sie amüsiert. Hänschen zeigte eine wahre Engelsgeduld, während Olga Raue in zahllosen Umkleidekabinen verschwand, sparte nicht mit Komplimenten und trug all die Schachteln und Pakete wie ein Gentleman.

Auf dem Tisch liegt ein Porträtfoto von Heinz Raue. Es ist Mitte der fünfziger Jahre in einem Atelier in Leipzig entstanden. Der Mann trägt einen Anzug mit Krawatte. Er hat sanfte, feine Züge, ein liebenswürdiges Lächeln. Sieht so ein Spitzenspion aus? Wenn man mich fragen würde: eher ein Musiklehrer oder vielleicht ein Bibliothekar.

Diese Geschichte ist nicht einfach. Je mehr ich weiß, umso komplizierter wird es. Später erfahre ich, dass der merkwürdige Teddybär, der über der Truheneckbank Eiche rustikal thront, ein Geschenk von ihm war. Er hat ihn ihr aus Bautzen II in die Haftanstalt Hohenschönhausen geschickt. Und ihre Mitgefangenen haben ihm Häftlingskleidung genäht.

Hier hängt auch eine gerahmte Bleistiftzeichnung. Sie trägt das Datum 13. Oktober 1963. Die Vergangenheit scheint doch noch sehr gegenwärtig. Olga Raue bleibt davor stehen. «Sehen Sie mal. Das bin ich.» Die Frau hat einen ernsten Blick und trägt ein Hemd mit geöffnetem Kragen. «Das wurde von einer Mitgefangenen in Hohenschönhausen angefertigt. Aber das erzählen Sie besser nicht, sonst glauben die Leute am Ende noch, wir hätten dort eine schöne Zeit verbracht.»

Ich möchte wissen, wie sie das meint. «Na, sehen Sie hier.» Sie zeigt mir ein Bild, das nur ein paar Schritte entfernt hängt. Es ist ein kleines gerahmtes Ölbild mit einer Landschaft nach van Gogh. «Das kommt auch aus Hohenschönhausen. Das hat mir eine andere Gefangene geschenkt. Es wurde auf einem leeren Zuckersack aus der Offiziersküche als Leinwand gemalt. Sonntags gab es Freizeit für so was.»

Vorsichtig nimmt sie es von der Wand und hält es mir entgegen. Es ist auf der Rückseite beschriftet. Isolde Thümmler hat es gemalt und Olga gewidmet. Die DEFA-Schauspielerin und spätere «Aktenzeichen XY»-Sprecherin war wegen Beihilfe zum illegalen Verlassen der DDR verurteilt. Sie wird sich sofort an das Bild erinnern, wenn ich sie danach frage. Und natürlich an den Gefangenenzahnarzt, diesen «charming boy»: «Er gab mir mal ein Glas Wasser und sagte: Nehmen Sie es als Glas Champagner, Madame.» Der Zuckersack ist allerdings eine Legende, sagt sie. «Es war richtiges Zeichenpapier.»

Ich hatte nicht erwartet, dass es hier noch so viel geben würde, das mit der Geschichte verbunden ist. Und ich bemerke, dass sich Olga Raue, je öfter und je länger wir uns über die damaligen Ereignisse unterhalten, nach und nach immer besser erinnert.

Wenn sie mir von dem charmanten Amerikaner namens Raymond erzählt, den sie Hänschen nannten, scheint es für einen Moment, als habe sich das alles erst kürzlich zugetragen. Sie zieht zwei kleine Schwarz-Weiß-Fotos hervor. «Sehen Sie, das ist Hänschen», sagt sie und zeigt mir einen stattlichen Mann mit freundlichem Gesicht. Der Mann auf dem anderen Bild wirkt etwas bullig. «Das ist Keilmann», sagt sie, bevor ich danach fragen kann. Sie hat tatsächlich Fotos der CIA-Leute. Und von Hänschen sogar noch etliche mehr. Ich sehe mehrere Fotografien auf dem Tisch liegen, die aus derselben Serie stammen müssen wie ein Bild, das ich erst kürzlich in der Stasi-Unterlagenbehörde sah. Es zeigt Olga neben Hänschen in Pontresina. Beide Bilder sind sehr ähnlich. Oder ist es sogar das gleiche Bild? Die Stasi hatte es bei Olgas Mutter entdeckt und beschlagnahmt. Das Bild des Amerikaners darf nicht gezeigt werden, wurde mir in der Behörde eingeschärft. Schließlich gehörte er zu einem befreundeten Dienst.

Und nun liegt es hier. Wie sie in den Besitz dieser Bilder gelangte, ist mir völlig unerklärlich. Wenn sie bei ihren Aufenthalten im Westen Erinnerungsfotos machten, durften die Amerikaner nicht darauf zu sehen sein. Da gab es strikte Vorschriften. Zudem wurden die Filme von den Amerikanern für sie verwahrt. Abzüge mit in den Osten zu nehmen war strengstens verboten. Olga Raue kümmerte das nicht. Die Stasi kassierte das Foto.

Aber wie kommen diese Bilder auf ihren Wohnzimmertisch? Das weiß sie nicht mehr. «Hänschen war unser Freund. Wir vertrauten ihm absolut. Wir alle», sagt sie mit Nachdruck in der Stimme.

Er muss eine starke Ausstrahlung und eine große Liebenswürdigkeit besessen haben. Alle, die ihn kennengelernt hatten, schwärmen bis heute von ihm, stelle ich in meinen Gesprächen mit Zeitzeugen fest. Er, der CIA-Kontaktmann, hat alles zusammengehalten. An ihn glaubten sie auch noch, als das Spiel längst verloren war.

[...]

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Karin Schneider

Umschlaggestaltung FAVORITBUERO, München

Umschlagfoto Archiv Stefan Appelius

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ISBN Printausgabe 978-3-498-00100-1 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00099-5

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Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

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