Die spirituellen Heilmethoden der Naturvölker unter Berücksichtigung ihrer Weltanschauung - Dr. Thomas Vetter - E-Book

Die spirituellen Heilmethoden der Naturvölker unter Berücksichtigung ihrer Weltanschauung E-Book

Dr. Thomas Vetter

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Beschreibung

Was sind die eigentlichen Mechanismen von Heilung? Sind es unsere heutigen pharmakologischen, chirurgischen oder strahlentherapeutischen Methoden auf biomedizinischer Grundlage einerseits oder die aktuell geltenden psychotherapeutischen Verfahren andererseits, die Heilung bewirken? Oder gibt es viel grundsätzlichere Voraussetzungen für Heilung, die zudem zu allen Zeiten von Bedeutung waren, und ohne die auch die heutige Biomedizin nicht erfolgreich sein könnte? Der Autor befasst sich mit diesen Fragen am Beispiel der Heilungen bei den Naturvölkern und setzt sich mit ihren Heilungsritualen insbesondere von Schamanen und Medizinmännern auseinander. Dafür war auch eine eingehende Beschäftigung mit dem Weltbild, der Religion und Mentalität der Naturvölker erforderlich. Die Bedeutung von Spiritualität, Mystik, Magie und Zauber mit dem Glauben an Geister, Ahnen und Dämonen wird dabei deutlich gemacht. Es werden auch ausführlich die Probleme und Beschränkungen gewürdigt, die in der Beschäftigung mit dieser Thematik zu berücksichtigen sind. Seine Ausführungen zielen auch auf ein besseres Verständnis der Naturvölker. Der Autor hat hierbei eine eher populärwissenschaftliche Darstellungsform verwendet. Er wendet sich an interessierte Mediziner und Mitarbeiter von Heilberufen aber auch an Psychologen, Ethnologen, Theologen und Philosophen als auch an interessierte Laien.

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Thomas Vetter

Die spirituellen Heilmethoden der Naturvölker unter Berücksichtigung ihrer Weltanschauung

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2025

Zur Person des Autors:

Er ist Neurologe und Psychiater, hat in Frankfurt am Main Medizin studiert und anschließend die nervenärztliche Facharztweiterbildung absolviert. Von 1999 bis zu seiner Pensionierung 2018 war er als Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Neurologischen Klinik eines Landeskrankenhauses für Neurologie und Psychiatrie in der Nähe von Leipzig tätig und danach noch einige Jahre als ärztlicher Mitarbeiter in einer neurologisch-psychiatrischen Praxis. Sein besonderes Interesse gilt, vom Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit an, den Prinzipien aber auch den Problemen und Beschränkungen der heutigen biomedizinischen Krankenversorgung. Er hat zu dieser Thematik drei Bücher veröffentlicht und auch das vorliegende Buch lässt sich diesem Thema zuordnen.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Angaben nach GPSR:

www.engelsdorfer-verlag.de

Engelsdorfer Verlag Inh. Tino Hemmann

Schongauerstraße 25

04328 Leipzig

E-Mail: [email protected]

Copyright (2025) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor

Abb. Umschlag vorn: Medizinmann der Schwarzfuss-Indianer, einen Kranken behandelnd (nach einer Zeichnung von Catlin in Bartels S.149).

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Anlass zu diesem Buch

Vorwort

Die wesentlichen Hindernisse vorweg

Ihre Wahrnehmung ist eine völlig andere als die unsere

Die Interpretation der Ursachen ihrer Lebensbezüge

Die Beeinflussung ihres Weltbildes durch westliche Besucher

Ihr Misstrauen gegen westliche Beobachter

Die Subjektivität in unserer Interpretation der Vergangenheit

Die Vorurteile gegenüber ihrer Kultur

Das Problem der scheinbaren Entwicklung vom Niederen zum Höheren

Das Problem der Begrifflichkeit

Grundlagen ihrer Weltanschauung

Der Bezug zur Umwelt

Zeit

Raum

Gegenstand

Seele

Realität und Fiktion

Die beseelte Welt

Individuum und Gruppe

Rituale

Trance und Ekstase

Magie und Zauber

Die sympathetische Magie

Die imitative Magie

Die homöopathische Magie

Intuition und Prophezeiung

Krankheit und Heilung

Die Bedeutung von Krankheit und Tod in ihrer Weltanschauung

Die Bedeutung von Krankheit und Tod für den Einzelnen

Die Bedeutung von Krankheit und Tod für die Gruppe

Die Heiler

Schamanen

Medizinmänner

Ihre Funktionen

Ihre gesellschaftliche Stellung

Heilungsrituale

Heilungserfolge

Bezug zur heutigen Medizin

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Wie lässt sich Heilung erklären?

Bedeutung für die heutige Medizin

Schlussfolgerungen

Literatur

Anlass zu diesemBuch

Als schulmedizinisch tätiger Arzt hat mich über die Jahre meiner Berufstätigkeit hinweg stets besonders die Frage beschäftigt, was es eigentlich ist, das Heilung und Heilungserfolg ausmacht. Mir wurde dabei zunehmend klar, dass dies nicht ausschließlich und vielleicht noch nicht einmal vorrangig die aktuell geltenden Therapiemaßnahmen für bestimmte Krankheiten sein können. Denn wenn wir in die jüngere Vergangenheit zurückblicken, wurden vergleichbare Krankheiten vor 50 oder 100 Jahren anders behandelt und wir dürfen davon ausgehen, dass sie in 50 oder 100 Jahren wiederum anders behandelt werden als heute. Behandlungsmethoden, die zu einer gewissen Zeit als wirksam und notwendig galten, haben sich später als nicht ausreichend wirksam oder manchmal sogar als schädlich herausgestellt. Ein vergleichbares Schicksal wird wohl auch etlichen der aktuellen Behandlungsmethoden widerfahren.

Trotzdem war Heilung unter den jeweils geltenden Bedingungen bei bestimmten Erkrankungen zu allen Zeiten möglich. Was sind also die Bedingungen, die Heilung ermöglichen? Hier sind erst einmal die Selbstheilungskräfte zu nennen, über die jedes Lebewesen verfügt. Sie werden heute viel zu sehr unterschätzt. Aber alle der jeweils geltenden Behandlungsmethoden sind immer auf die Unterstützung durch Selbstheilungskräfte angewiesen. Eine chirurgische Operation wäre nicht möglich ohne den anschließenden Wundverschluss durch eine vom Körper selbst in Gang gesetzte Vernarbung der Operationswunde. Dies geschieht ausschließlich in Selbstheilung auch wenn sie durch den chirurgischen Wundverschluss unterstützt wird. Gibt es aber grundsätzliche Maßnahmen, die die Selbstheilungskräfte aktivieren und unterstützen können? Sind vielleicht eher diese Maßnahmen die entscheidenden Voraussetzungen für Heilung zu allen Zeiten und unabhängig von den aktuell geltenden und im Zeitverlauf wechselnden Behandlungsmethoden?

Meine Erfahrung als Arzt sagt mir, dass die wesentliche Voraussetzung für Heilung genau diese Maßnahmen sind. Sie werden heute, wie in vergangenen Zeiten, bewusst oder unbewusst von jedem Arzt angewendet und ohne sie wäre erfolgreiche Behandlung kaum möglich. Es sind dies die so genannten weichen Faktoren, die wir heute als psychologische Faktoren bezeichnen würden, wie Zuwendung, Vertrauen, Überzeugung, Glauben, Plausibilität, Kompetenz. Wir wissen aus der Placeboforschung, dass der häufig entscheidendere Faktor für Heilungserfolg allein die Überzeugung ist, dass die eingeleitete Therapie wirksam ist.

Mich hat stets die Frage beschäftigt, wie lassen sich diese psychologischen Faktoren bei Behandlungsmaßnahmen systematischer und effektiver nutzen, um größeren Behandlungserfolg zu erzielen? Gibt es die Möglichkeit Bedingungen zu schaffen, die eine bessere Nutzung dieser Behandlungsmaßnahmen ermöglichen? Über die Beschäftigung mit den so genannten Wunderheilungen Jesu im neuen Testament bin ich auf die Beschäftigung mit den Heilmethoden bei den Naturvölkern gestoßen. Hier gibt es deutliche Hinweise dafür, dass ein wesentlicher Teil ihrer Krankenbehandlung eine psychologisch spirituelle Grundlage hatte und dass sie auch recht erfolgreich war. Ich weiß auch, dass psychologische und besonders spirituelle Behandlungsprinzipien wissenschaftlich nur schwer zu untersuchen sind. Zudem verbaut unsere aktuelle materialistisch wissenschaftliche Orientierung auf körperliche Krankheitsursachen den Nachweis ihrer Nützlichkeit wie auch ihre gezielte Anwendung zusätzlich. Aber gerade diese Behandlungsprinzipien wurden in der Vergangenheit sehr viel vordergründiger eingesetzt. Sie waren jeweils auch erfolgreich, besonders und gerade auch bei Naturvölkern. Die Grundlage hierfür war das herrschende Weltbild, das den Erfolg der Behandlungen nicht nur begünstigte sondern auch erst ermöglichte. Es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass viele Krankheiten unter Bedingungen einer noch weitgehend intakten Kultur der Naturvölker, wie sie teilweise noch im vorletzten Jahrhundert beobachtet werden konnte, prompter, besser und ärmer an Nebenwirkungen behandelt werden konnten als heute, und dass es sich dabei nicht nur um sogenannte psychosomatische Krankheiten im heutigen Sinne handelte. Insofern stellt sich die Frage: Können die Erfolge einer Medizin der Naturvölker auf heutige Bedingungen übertragen werden? Oder steht dem unser wissenschaftlich analytisches Weltbild entgegen? Ich glaube nicht, dass es genügt z.B. schamanische Methoden der Naturvölker auf heute zu übertragen, wie dies von esoterisch orientierten Zeitgenossen praktiziert wird. Um sich dieser Frage zu nähern, ist es notwendig sich umfassend mit den Heilmethoden der Naturvölker zu befassen, sich vorurteilsfrei in ihr Weltbild zu versetzen und die damaligen Behandlungsmethoden aus diesem Blickwinkel heraus nachzuvollziehen, um die dahinterliegenden Prinzipien zu erkennen. Dies ist weniger mit analytischen oder wissenschaftlichen Methoden möglich. Es ist zwar differenzierte Kenntnisnahme der umfangreichen Literatur zu diesem Thema, aber insbesondere Intuition und Einfühlungsvermögen erforderlich. Diesen Fragen versuche ich in dem vorliegenden Buch nachzugehen.

Ein positiver Nebeneffekt ist, dass die Beschäftigung mit dem Weltbild der Naturvölker und ihren Heilern uns sehr viel über unser eigenes Weltbild und unsere Sicht auf die heutige Medizin lehren kann, insbesondere auch etwas zur Relativität und vielleicht auch zur Einseitigkeit unseres Weltverständnisses und unseres Blickes auf die heutigen medizinischen Maßnahmen. Die Konsequenz ist die Notwendigkeit zu mehr Toleranz mit anderen Weltbildern und Kulturen.

Vorwort

Wenn wir uns mit den Heilmethoden der Naturvölker beschäftigen, müssen wir uns über eine ganze Reihe von Problemen bewusst sein, die ein Verständnis erschweren. Wir müssen dabei geradezu ein Problembewusstsein entwickeln, das uns stets begleitet, denn anderenfalls unterliegen wir Missverständnissen und Vorurteilen, wie sie mehr oder weniger in der gesamten Literatur zu dieser Thematik zu finden sind, bis auf den heutigen Tag.

Sie seien hier kurz genannt:

Was verstehen wir unter einem Naturvolk?

Ihre Wahrnehmung ist eine völlig andere als die unsere.

Die Interpretation der Ursachen ihrer Lebensbezüge.

Die Beeinflussung ihres Weltbildes durch westliche Besucher.

Ihr Misstrauen gegen westliche Besucher.

Die Subjektivität in unserer Interpretation der Vergangenheit.

Die Vorurteile gegenüber ihrer Kultur.

Das Problem der scheinbaren Entwicklung vom Niederen zum Höheren.

Das Problem der Begrifflichkeit.

Ich werde auf die einzelnen Probleme und deren Auswirkungen noch näher eingehen, denn sie limitieren grundsätzlich die Aussagekraft dessen, was bisher zu diesem Thema niedergeschrieben wurde. Trotzdem ist ein möglichst tiefgreifendes Verständnis des Weltbildes der Naturvölker für das Verständnis und die Interpretation ihrer Behandlungsmethoden bei Krankheit unabdingbar. Es ist auch aus meinen Bemühungen um Verständnis der Naturvölker naheliegend und nicht zu umgehen, dass das vorliegende Buch zu einem wesentlichen Anteil meine ganz persönlichen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zum Weltbild der Naturvölker widerspiegelt. Die Literatur, die sich mit dem Leben, dem Weltbild, der Mystik und den Heilmethoden der Naturvölker beschäftigt, füllt ganze Bibliotheken. Verfasst wurden sie von Eroberern und Kolonialbeamten, von Handelsreisenden, Naturforschern, Abenteurern, Ethnologen, Sprachwissenschaftlern, Medizinern, Klerikern, Religionswissenschaftlern und anderen. Der Schwerpunkt der Berichte über das Leben der Naturvölker liegt im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, einer Zeit in der es noch viele Naturvölker gab und die auch noch relativ ursprünglich lebten. Allerdings ist dabei stets zu berücksichtigen, dass auch diese Berichte keine reine Ursprünglichkeit der Kultur und des Weltbildes widerspiegeln, da immer durch die Berichterstatter selbst und fast immer durch bereits vorausgehende Kontakte mit westlichen Besuchern ihre Kultur beeinflusst war und zudem auch durch vorausgehende Kontakte mit anderen Kulturen es eine Ursprünglichkeit im eigentlichen Sinne nicht geben konnte. Auch Rückschlüsse aus archäologischen Befunden, sprachwissenschaftlichen Untersuchungen, antiken schriftlichen Berichten über die damaligen Völker, Aufzeichnungen des Mittelalters und Untersuchungen über archaische Reste in unserer westlichen Welt sind hilfreich und geeignet Rückschlüsse auf das Weltbild der Naturvölker zu treffen und Vergleiche zu ziehen. Im Zeitverlauf der Veröffentlichungen wurde jeweils von den Autoren eine dem Geist der Zeit entsprechende zunehmende Orientierung auf Wissenschaftlichkeit der Untersuchungen und Interpretationen beansprucht, so dass man annehmen müsste, dass neuere Veröffentlichungen den höchsten wissenschaftlichen Standard und damit die verlässlichste Aussagekraft besitzen. Es sind vorrangig die Ethnologen, die in den letzten Jahrzehnten eine führende Kompetenz beansprucht haben. Sie sind aber tendenziell dazu übergegangen sich auf die Untersuchung der Reste einer Naturvölkerkultur beziehungsweise deren Vermischung mit anderen, insbesondere der westlichen Kultur zu orientieren. Mit einer im vorliegenden Buch wiederholt genannten westlichen Kultur oder westlichen Besuchern ist eine vorwiegend an mitteleuropäischer Mentalität und Weltanschauung orientierte Kultur gemeint. Da es so gut wie keine Ursprünglichkeit der Kultur von Naturvölkern mehr gibt, ist die neuere Literatur zur derzeitigen Kultur bei Naturvölkern für die Zwecke, die das vorliegende Buch verfolgt, wenig brauchbar. Dies gilt insbesondere für die Heilmethoden der Naturvölker, die es heute in dieser elementaren und streng an ein ursprünglich gefestigtes Weltbild gebundenen Art so gut wie nicht mehr gibt. Sie gab es aber noch vor 100 Jahren und eher.

Im vorliegenden Buch habe ich deshalb eher die ältere Literatur berücksichtigt oder die, die sich mit der älteren Literatur auseinandersetzt. Dabei ist mir bewusst, dass auch die Aussagen der ersten Beobachter der Naturvölker mit größter Vorsicht zu bewerten sind, denn auch sie beschreiben die Beobachtungen mit ihren eigenen Worten und Wahrnehmungen, die nichts gemein hatten mit denen der Naturvölker (Levy-Bruhl S. 342). Es ist zu erwarten, dass meine aus dieser Literatur abgeleiteten Erkenntnisse und Einsichten über das Weltbild und die Heilmethoden der noch relativ ursprünglich lebenden Naturvölker, beeinflusst durch meine medizinische Ausbildung und Prägung, durchaus auch Widerspruch und Kritik bei anderen Fachrichtungen, insbesondere bei den Ethnologen, auslösen wird. Zumal auch die Diskussion über die Frage der Ursprünglichkeit sich widersprüchlich durch die gesamte Literatur zieht und bis heute nicht verbindlich beantwortet werden kann. Ich werde trotzdem versuchen aus der vorliegenden Literatur über Naturvölker eine gewisse Ursprünglichkeit ihrer Kultur abzuleiten und mich in meinen Ausführungen darauf beschränken. Denn die Literatur enthält viele Hinweise darauf, dass sich bereits mit geringen Kontakten zu westlichen Beobachtern die Fähigkeit zu spirituellen Erlebnissen und damit auch zu ursprünglichen Heilmethoden bei den Naturvölkern erst einschränkten und oft auch bald verloren gingen. Sie wurden deshalb von fremden Beobachtern oft als Schauspieler und Trickbetrüger verkannt. Da es heute fast keine Naturvölker mehr gibt, die von westlichen Beobachtern unbeeinflusst leben, beziehe ich meine Ausführungen und Einschätzungen auf vergangene Zeiten, wie sie von früheren Beobachtern wahrgenommen und niedergeschrieben worden. Es geht also um den etwas gewagten Versuch eine noch weitgehend unverfälschte Vergangenheit der Naturvölker zu zeichnen, mit den genannten Einschränkungen. Es handelt sich in meinem Buch also um die Kultur und Weltanschauung von Naturvölkern, wie sie vor etwa 100-200 Jahren beschrieben wurde und ich orientiere mich dabei auf die Naturvölker, die zu der Zeit noch in relativ einfachen Verhältnissen lebten. Denn Naturvölker, die bereits über Gewehre verfügten, waren schon zu sehr von westlicher Kultur beeinflusst. Auch bereits der Kontakt mit Metallwerkzeugen führte in der Gesellschaftsstruktur zu ersten Hierarchien, Arbeitsteilung und Tauschhandel in größeren Maßstab, so dass auch die damit veränderte Kultur nicht mehr deckungsgleich mit der hier gemeinten Kultur der Naturvölker war. Ich verwende deshalb, weil sich mein Buch mit der Vergangenheit befasst, überwiegend die Vergangenheitsform in der Beschreibung der Phänomene, allerdings nicht grundsätzlich, z.B. bei Zitaten, in denen die Gegenwartsform verwendet wurde.

Das vorliegende Buch unterliegt über die genannten Probleme hinaus einigen weiteren Beschränkungen. Der überwiegende Anteil der vorliegenden Literatur zu diesem Thema bemüht sich um die Darstellung beobachteter Verhältnisse bei einzelnen Volksgruppen und arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Volksgruppen in vergleichbarer Umgebung oder in weit voneinander entfernten Weltregionen heraus. Dies teilweise aus eigener Anschauung, aber auch im Vergleich mit den Anschauungen anderer Autoren. Die Literatur ist dadurch oft von langen Darstellungen ähnlicher oder vergleichbarer Beobachtungen bei den unterschiedlichen Volksgruppen geprägt, die sich oft wie endlose Wiederholungen ausnehmen. Kompliziert und oft unübersichtlich wird dies zudem durch die regional unterschiedlichen Bezeichnungen für bestimmte Vorgänge, Personen, Gegenstände oder Wahrnehmungen. Es ist allerdings verblüffend, wie sehr sich diese Beobachtungen nicht nur zwischen sprachverwandten nahen Völkern sondern auch zwischen Volksgruppen in den unterschiedlichen Kontinenten ähneln. Selbstverständlich waren Naturvölker keine einheitliche kulturelle Gruppe. Sie unterschieden sich, teilweise erheblich in ihrer Lebensweise, ihren Nahrungsgewohnheiten und Umweltbedingungen. Die Inuit in Alaska hatten völlig andere Lebensbedingungen als die Buschmänner in Afrika oder die Aborigines in Australien. Es gab aber Gemeinsamkeiten in der Weltanschauung, in den Ritualen, in ihren Umgang der Menschen miteinander und ihren Glauben an Dämonen, Geister und Ahnen. Das vorliegende Buch verzichtet bewusst auf die Darstellung der Besonderheiten und Unterschiede von Volksgruppen. Das Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf ihren Gemeinsamkeiten und vernachlässigt graduelle und qualitative Unterschiede. Es wird versucht Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus den Gemeinsamkeiten der Beobachtungen zu ziehen. Dies im Bewusstsein, dass Verallgemeinerung subjektiv und Vereinfachung ist.

Meine Ausführungen gründen sich nicht auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen sondern ausschließlich auf Literaturrecherche. Dies nicht nur weil es heute kaum noch ursprünglich lebende Naturvölker gibt, sondern auch weil nach meiner Überzeugung jeder auch noch so positiv gemeinte Kontakt zu Naturvölkern zum Untergang ihrer Kultur beiträgt. Es ist insofern für dieses Buch ein Dilemma, dass ich einerseits auf die vielfältigen Beobachtungen früherer westlicher Menschen mit ihren Niederschriften angewiesen bin, andererseits aber genau diesen Kontakt westlicher Menschen mit den Naturvölkern kritisch sehe. Dies gilt nicht nur für Abenteurer und Eroberer sondern auch für Wissenschaftler und vermeintliche Helfer und Beschützer der Naturvölker. Sie alle haben auch einen Beitrag zum Verlust ihrer Kultur geleistet, auch wenn den ernsthaften Helfern und Beschützern eine zumindest abmildernde und unterstützende Bedeutung zu bescheinigen ist. Ich verhehle nicht, dass ich den Untergang von Kulturen der Naturvölker sehr bedauere, auch wenn mir bewusst ist, dass dies wohl letztlich unvermeidbar ist, nicht zuletzt auch weil es ein legitimes menschliches Bedürfnis nach komfortableren Leben gibt. Aber ihr Untergang ging und geht mit einem Verlust der Identität ihrer Menschen, ihrer besonderen und vielleicht unwiederbringlichen Fähigkeiten und einem Verlust der Vielfalt an Kulturen einher. Es gibt aber auch weitere Probleme, auf die ich in diesem Buch noch eingehen werde. Im Bewusstsein, dass jeder Kontakt einer anderen Kultur mit der der Naturvölker, sei er auch erstmalig und flüchtig, deren Kultur beeinflusst, werde ich hier doch den Versuch unternehmen, eine gewisse Ursprünglichkeit ihrer Kultur zu zeichnen und als Grundlage der Betrachtungen zu nutzen. Dies kann nur mit Unsicherheiten und Einschränkungen erfolgen und ist auch noch dadurch beeinträchtigt, dass auch noch vor dem Kontakt mit westlicher Kultur über Jahrhunderte und Jahrtausende die Kultur der Naturvölker von Kontakten mit anderen Gesellschaften, kriegerischen Völkern oder ersten urbanen Gesellschaften beeinflusst wurde. Dies erklärt wahrscheinlich auch, dass in der Wahrnehmung der Autoren immer wieder bestimmte Rituale, Glaubensformen und Wahrnehmungen verfälscht und wie aus der allgemeinen Weltanschauung herausgelöst wirkten. Trotz insgesamt nicht geringer Probleme hinsichtlich der Interpretationsmöglichkeiten der Kultur der Naturvölker, besteht Anlass zur Hoffnung, dass die im vorliegenden Buch dargestellten Phänomene und Erkenntnisse nicht nur bisherige Erkenntnisse ergänzen können, sondern deren Kultur auch in einem anderen Blickwinkel interpretiert werden kann, dass aber auch Rückschlüsse auf unsere eigene Kultur und Medizin möglich sind.

Das vorliegende Buch befasst sich nicht eingehender mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, Lebensbedingungen und den Lebensalltag der Naturvölker. Es wird vorausgesetzt, dass der Leser hiervon eine allgemeine Vorstellung hat. Es orientiert sich vielmehr auf weltanschauliche Fragen und deren Auswirkung auf die Wahrnehmungen und das Verhalten insbesondere auch im Umgang mit Krankheit. Auch wenn sich eine Weltanschauung und Kultur nicht unabhängig von den herrschenden Lebensbedingungen und den hierfür zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln wie Unterkunft, Werkzeug oder Kleidung entwickelt, ist eine Weltanschauung und Kultur ganz wesentlich von gemeinschaftlicher Wahrnehmung, Glauben und der Vorstellung von Abhängigkeit und Einfluss geprägt. Gemeinsam mit einigen wesentlichen Autoren (z.B. L. Levy-Bruhl) wird im vorliegenden Buch letzteren die wesentliche Bedeutung für Kultur und Weltanschauung aber auch für Alltagsbedingungen und sogar für Unterkunft, Werkzeug und Kleidung der Naturvölker zugemessen. Das gesamte Leben wurde vom Glauben und der subjektiven Wahrnehmung gesteuert und selbst elementare Bedürfnisse, wie Gesundheit, Nahrung, Schlaf oder Gemeinschaft waren dem untergeordnet. Dies erklärt auch warum aus unserer westlichen Sicht bestimmte Rituale, Tabus und Verhaltensweisen elementarer Bedürfnisbefriedigung entgegen stehen konnten. Wir sind geneigt dies als Aberglaube zu bezeichnen. Aber die teilweise nicht unerheblichen und scheinbar überflüssigen Einschränkungen und Gefahren, die sich Naturvölker dadurch auch aussetzten, wurden offenbar durch den Gewinn für Stabilisierung der Gemeinschaft und des Weltbildes wieder aufgewogen. Dies galt möglicherweise für die vielfältigen Tabus, denen sich Naturvölker unterwarfen, oder für die massiven gesundheitlichen Gefahren bei Initiationsritualen und vielleicht sogar für Menschenopfer.

Es muss an dieser Stelle vorausgeschickt werden, dass für Naturvölker alles, was sie erlebten, auch im Traum, Visionen oder Legenden den Charakter von Realität hatte. Deshalb haben Berichte, die von Mitgliedern der Naturvölker selbst als reales Erlebnis geschildert und von Autoren niedergeschrieben worden, oft auch Bestandteile von Träumen, Visionen oder Legenden zum Inhalt. Dies macht die Beurteilung von nachvollziehbaren realen Phänomenen schwierig. Für Naturvölker war alles Realität. Für Widersprüche in ihren Erzählungen konnten sie schon deshalb nicht empfänglich sein, weil ihnen auch das logisch analytische Denken fremd war.

Im Interesse einer Bemühung um flüssige und verständliche Darstellung sind Literaturverweise jeweils in Klammern nur mit Verweis auf den Autor und die Seitenzahl der im Literaturverzeichnis enthaltenen Schriften erfolgt. Das vorliegende Buch erhebt keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, egal in welcher Fachrichtung, auch und gerade nicht in medizinischer Hinsicht. Nach meiner Auffassung ist der Weltanschauung der Naturvölker nicht mit Wissenschaft beizukommen, so wertvoll sie sich auch hierfür erwiesen hat. Ihr näher zu kommen ist nur mit Einfühlung möglich und der konsequenten Bereitschaft die eigene Prägung und Weltanschauung zu relativieren. Dies kann selbstverständlich nur begrenzt gelingen und unterliegt immer auch der Subjektivität. Dem Buch liegen insofern die eigenen persönlichen Hypothesen und Schlussfolgerungen in der von mir erfolgten Auseinandersetzung mit dem Thema zugrunde. Mir ist bewusst, dass viele Autoren, die sich mit dem Thema befasst haben, auch renommierte Autoren deren Bücher als Standardwerke gelten, zu oft gut begründeten anderen Hypothesen gelangen. Insofern soll das Buch in erster Linie ein Denkanstoß und hoffentlich Anlass zur kritischen Auseinandersetzung sein.

Die wesentlichenHindernisse vorweg

Jede Gesellschaft, so auch die der Naturvölker ist auf eine Übereinkunft des Zusammenlebens und des Umgangs mit der jeweiligen Umwelt angewiesen. Das Ziel dabei ist Harmonie; Harmonie in der Gesellschaft, in der Gruppe und mit dem sichtbaren und nicht sichtbaren Umfeld. Die Harmonie wird in allen Gesellschaften immer wieder und oft auch anhaltend bedroht. Es besteht also die Notwendigkeit der Beherrschung von bedrohenden oder schädigenden Phänomenen mit Regeln und Maßnahmen, die dem entgegen wirken. Bedrohungen gibt es von Außen wie von Innen. Die Maßnahmen dagegen können sich aber auch verselbstständigen und sich im Lauf der Zeit vom ursprünglichen Ziel abkoppeln. Diese Maßnahmen und die damit zusammenhängenden Rituale können dann über lange Zeit noch als Tradition gepflegt werden, ohne oder mit nur geringen Bezug zum ursprünglichen Motiv. Dass dies auch bei Naturvölkern vorkam, ist aus vielfältigen Darstellungen in der Literatur zu entnehmen, wo weder die Einheimischen noch nachvollziehbar mitteilen konnten, warum bestimmte Traditionen gepflegt werden, und auch westliche Beobachter keine hinreichenden Erklärungen fanden. Dies wurde dann zu schnell als Aberglaube abgetan. Dabei wurde aber oft vernachlässigt, dass auch Traditionen, die vom ursprünglichen Ziel abgekoppelt scheinen, einen wichtigen Beitrag für Identität, Zusammenhalt und damit Harmonie der Gruppe leisten. Es wurde dabei auch nicht berücksichtigt, dass Naturvölker kein analytisches Nachdenken kannten und damit für sie das ursprüngliche Motiv für aktuelles Handeln eine allenfalls untergeordnete Bedeutung hatte. Insgesamt ist aber anzunehmen, dass bei genauer Betrachtung und vorurteilsfreier Herangehensweise auch für uns die meisten Handlungen, Verhaltensweisen und Rituale der Naturvölker eine sinnvolle und gemeinschaftsfördernde Grundlage hatten. Dies soll im Weiteren meiner Darstellungen auch an Einzelbeispielen noch deutlich werden.

Im Folgenden möchte ich aber auf die im Vorwort genannten formalen Probleme näher eingehen.

Was verstehen wir unter einem Naturvolk?

In der Literatur über Naturvölker wird zumeist vorausgesetzt, was unter einem Naturvolk zu verstehen ist. Es wird zudem oft nicht sorgfältig unterschieden zwischen Menschen, die noch unter Bedingungen der Steinzeit lebten und solchen die bereits Ackerbau oder Viehzucht betrieben und dies wiederum oft auch nicht abgegrenzt von Gesellschaftsformen mit komplexeren Organisationsstrukturen. Zumindest wird öfters darauf hingewiesen, dass es Volksgruppen gibt, die noch in sehr einfachen ursprünglichen Gesellschaftsformen leben. Hierzu wurden vorwiegend die Aborigines Australiens, die Völker in der Polarregion, die Buschmänner Afrikas und die indigenen Völker Nord-, Mittel- und Südamerikas gezählt. Die Ausführungen im vorliegenden Buch beziehen sich vorrangig auf Darstellung von Beobachtungen bei diesen Volksgruppen.

Es geht dabei um eine menschliche Gesellschaft, die noch in einer ursprünglichen natürlichen Umgebung, Kultur und Weltanschauung lebte, noch ohne oder weitgehend ohne Ackerbau und ohne wesentlichen Einfluss westlicher Kulturen. Das Leben spielte sich in kleinen Gruppen mit verwandtschaftlicher Bindung ab. Prinzipien zur Vermeidung von Inzucht wurden unterschiedlich gehandhabt, aber weitgehend konsequent angewandt. Kontakte gab es zu benachbarten Gruppen mit identischer oder ähnlicher Kultur und Weltanschauung und mit teilweise verwandtschaftlichen Bezug. Sie lebten in kleinen Siedlungen, teilweise dauerhaft stationär oder als Nomaden umherwandernd oder in wechselnden Sommer- und Winterquartieren. Das Leben und der Alltag wurde von weltanschaulichen Gegebenheiten und den Umweltbedingungen bestimmt. Es ist dabei von hoher Relevanz, dass die in der Regel spirituell mystische Weltanschauung die Wahrnehmung der Umweltbedingungen bestimmte und damit auch das Leben und der Alltag von dieser Weltanschauung bestimmt wurde. Dies lässt sich auch daran ableiten, dass sich im Vergleich der Weltanschauungen von z.B. ursprünglich in der polaren Region lebenden Völkern mit in der Steppe Afrikas oder Australiens oder im Urwald Südamerikas oder Südostasiens lebenden Menschen bei jeweils unterschiedlichen Umweltbedingungen weltanschaulich viele Gemeinsamkeiten finden. Wir gehen dabei stets von einer Kultur der Naturvölker aus, wie sie noch vor mehr als 100 Jahren bestanden hat.

Eine Gruppe Polareskimos (aus Rasmussen 2 S. 64)

Es ist auch von besonderer Bedeutung, dass frühere Vorfahren der heute lebenden Menschen, egal in welchen Kulturkreis, vergleichbar gelebt haben. Dies ist naheliegend und hierfür gibt es in der Literatur zahlreiche Hinweise. Bei der Beschäftigung mit Naturvölkern handelt es sich deshalb auch um die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Vergangenheit. Es handelt sich insofern auch von daher um ein hochinteressantes und lehrreiches Unterfangen, berührt es doch die Wurzeln unseres eigenen menschlichen Daseins.

Ich verwende im vorliegenden Buch ausschließlich den Begriff Naturvölker, da er mir am neutralsten erscheint. Viele Autoren verwenden den Begriff Primitive mit oder ohne Anführungsstriche. Dieser Begriff scheint mir nicht nur diffamierend sondern auch sachlich ungerechtfertigt. Ich komme noch darauf zurück. Es gab eine Zeit, wo die Naturvölker mit den Tieren gleichgesetzt wurden oder sogar wegen bestimmter Rituale noch unter ihnen stehend. Sie wurden wie Tiere behandelt und abgeschlachtet. Leider ist diese Tendenz Menschen anderer Kulturen und Weltanschauungen zu verachten und abzuschlachten auch heute noch ein weltweit andauerndes Problem.

Ihre Wahrnehmung ist eine völlig andere als die unsere

Die Naturvölker lebten in einer völlig anderen Welt, die mit unserer nicht vergleichbar ist. Ihre Wahrnehmung dessen, was um sie herum und in ihnen selbst vor sich ging, wie sie davon abhängig waren, davon beeinflusst wurden und darauf Einfluss nehmen konnten, steht im krassen Widerspruch zu unserer Wahrnehmung. Nur wenn wir uns dies immer wieder deutlich machen und uns in ihr Wahrnehmungsmuster versuchen einzufühlen, können wir ihre Weltanschauung und ihre Art mit Problemen umzugehen vorurteilsfrei erkunden. Aber es muss auch klar sein, dass wir uns nicht frei machen können von unserer Art zu denken und wahrzunehmen. Es ist deshalb nicht zu verhindern, dass wir dies auch immer wieder auf die Betrachtung der Phänomene bei Naturvölkern anwenden. Wir können dadurch nur begrenzt ihre Wahrnehmung und ihr Weltbild erfassen und verstehen. Dies bedingt eine unüberwindliche Hürde im Verständnis, wie sie auch deutlich wird in der Lektüre der vielfachen Literatur zu diesem Thema. Die Details und Auswirkungen dieser anderen Anschauung der Welt werden noch im Einzelnen zu erörtern sein.

Die Interpretation der Ursachen ihrer Lebensbezüge

In der Literatur werden unterschiedliche Auffassungen vertreten, in wieweit Naturvölker ihr Verhalten von rationalen oder zumindest pragmatischen Ansätzen heraus steuerten oder ihr Verhalten von magischen Interpretationen und Geisterglauben gesteuert war. Es gibt Autoren, die letzteres eher als nachrangig und weniger bedeutend sehen, z.B. englische Forscher wie Frazer, Spencer, Tylor (Frazer und Koty S. 222). Andere Autoren sehen dagegen das Verhalten der Naturvölker umfassend und fast ausschließlich von ihrer spirituell magischen Wahrnehmung her gesteuert. Als wichtigster Vertreter hiervon wäre der französische Forscher Levy-Bruhl zu nennen. Die meisten Autoren legen sich zu dieser Frage nicht fest. Sie sehen sowohl in vielen Verhaltensweisen rationale und pragmatische Ansätze, in anderen wiederum spirituelle oder magische Motive. Nicht selten werden auch instinktiv-triebhafte Grundlagen von Handlungen angenommen und magisch spirituelle Bezüge erst ab einer gewissen Stufe kultureller Entwicklung zugestanden (Koty ab S. 225). Dies gilt auch für die Heilkunde. Ursprünglich habe es nur Reflexaktionen und Heilinstinkte gegeben, vergleichbar den Tieren (Schadewaldt S. 16). Neuere Forschungen zeigen aber, dass schon die Neandertaler und der Homo erectus als Vorfahre des heutigen Homo sapiens Begräbniszeremonien kannten und damit über spirituelle Vorstellungen verfügen mussten.

Im Ergebnis meiner Literaturrecherche tendiere ich zur Auffassung von Levy-Bruhl, dass das Verhalten der Naturvölker ganz überwiegend und auch ursprünglich von ihrer spirituell magischen Wahrnehmung gesteuert wurde. Beispielsweise kann man die Auffassung vertreten, dass ihre Anwendung von Drogen und Pflanzen zur Krankenbehandlung durch Erfahrungswissen zu deren stofflicher Wirksamkeit bedingt war, also der Pflanze eine pharmakologische Wirkung zugeordnet wurde. Dies verkennt aber, dass Naturvölker weder pharmakologische Wirkungszusammenhänge noch eine gegenständliche Bedeutung von Pflanzen kannten. Jede Pflanze und jede Droge hatte für sie immer einen Bezug zur spirituellen Welt und nur darüber war für sie deren Wirksamkeit erklärbar. Dies galt im übrigen auch noch bis ins europäische Mittelalter, z.B. bei Hildegard von Bingen (Schipperges S. 72).

Die rübenförmige Alraunwurzel hat Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper und galt deshalb noch im Mittelalter als Zauber- und Heilpflanze (aus Volak S. 24).