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Die Spur der Hebamme E-Book

Sabine Ebert

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Beschreibung

Sachsen im Jahre 1173: Die Hebamme Marthe und ihr Mann, der Ritter Christian, könnten mit ihrem Leben glücklich sein, doch da erreicht sie eine schlimme Nachricht: Randolf, Christians ärgster Feind, ist aus dem Heiligen Land zurückgekehrt. Und damit nicht genug: Eines Tages taucht im Dorf jener fanatische Beichtvater auf, dem Marthe und ihre Fähigkeit, die Menschen zu heilen, schon lange ein Dorn im Auge sind. Nur zu gern ergreift er die Gelegenheit, die Hebamme zu denunzieren. Christian will seine Frau in Sicherheit bringen, doch zu spät: Marthe muss sich wegen Hexerei vor einem Kirchengericht verantworten … Die Spur der Hebamme von Sabine Ebert: Historischer Roman im eBook!

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Sabine Ebert

Die Spur der Hebamme

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Sachsen im Jahre 1173: Die Hebamme Marthe und ihr Mann, der Ritter Christian, könnten mit ihrem Leben glücklich sein, doch da erreicht sie eine schlimme Nachricht: Randolf, Christians ärgster Feind, ist aus dem Heiligen Land zurückgekehrt. Und damit nicht genug: Eines Tages taucht im Dorf jener fanatische Beichtvater auf, dem Marthe und ihre Fähigkeit, die Menschen zu heilen, schon lange ein Dorn im Auge sind. Nur zu gern ergreift er die Gelegenheit, die Hebamme zu denunzieren. Christian will seine Frau in Sicherheit bringen, doch zu spät: Marthe muss sich wegen Hexerei vor einem Kirchengericht verantworten …

Inhaltsübersicht

Dramatis Personae

Prolog

Erster Teil

März 1173 in Christiansdorf

Neuigkeiten

Gerichtstag

Heikle Gespräche

Mai 1173, Hoftag in Goslar

Das Zusammentreffen

Die Rückkehr

Josefas Prophezeiung

Die letzten glücklichen Tage

Lukas’ Braut

Zweiter Teil

Angeklagt

Ohne jede Spur

Christians Suche

Eingeschlossen

Schmerzliches Wiedersehen

Die Heimkehr

Bluttag

Der schwarze Reiter

Die Niederkunft

Absolution und Rache

Dritter Teil

Frühjahr 1174 in Meißen

Kriegsrat

Im Verborgenen

Die Vorhut

Die Entscheidung des Markgrafen

Der Silberschatz

Johanna

Gnadenfrist

Randolfs Rache

Die Hochzeit

Vierter Teil

Auf der Suche

Der Alchemist

Die Rückkehr

Das Turnier

Der Zweikampf

Herr und Herrin von Christiansdorf

Epilog

Nachbemerkungen

Zeittafel

Glossar

Dramatis Personae

Aufstellung der wichtigsten handelnden Personen. Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Bewohner von Christiansdorf

Christian*, Ritter im Dienste des Meißner Markgrafen Otto von Wettin

Marthe, eine junge Hebamme und Kräuterkundige, Frau von Christian

Thomas und Clara, ihre Kinder, sowie Johanna und Marie, Stieftöchter von Marthe

Randolf, erbittertster Feind Christians und Burgvogt von Christiansdorf

Richenza, Frau von Randolf

Lukas, einst Christians Knappe, nun Ritter in seinem Gefolge

Jakob, Lukas’ jüngerer Bruder, Knappe Christians

Gero und Richard, Ritter und Freunde Christians

Herwart, Hauptmann der Wachen von Christiansdorf

Jonas, ein Schmied, und seine junge Frau Emma

Karl, Schmied und Stiefsohn Marthes

Agnes, Frau von Karl

Mechthild, Köchin in Christians Haushalt

Till, Christians Schreiber, früher als Spielmann unter dem Namen Ludmillus bekannt

Hildebrand, der frühere Dorfälteste, und seine Frau Griseldis

Kuno und Bertram, angehende Wachen in Christians Diensten

Bartholomäus, der Dorfpfarrer

Hermann, der Bergmeister

Hans und Friedrich, ehemals Salzfuhrleute aus Halle

Peter und seine Schwester Anna, Waisenkinder

Hilbert, Kaplan in Christians Haushalt

Josef, ein Tuchhändler

Anselm, ein Gewandschneider

ein Medicus

Tilda, eine Hurenwirtin

Meißen

Otto von Wettin*, Markgraf von Meißen

Hedwig*, Gemahlin von Otto

Albrecht* und Dietrich*, Söhne von Otto und Hedwig

Sophia* und Adela*, Töchter von Otto und Hedwig

Ulrich von Böhmen*, Ehemann von Sophia

Martin*, Bischof von Meißen

Susanne, Magd im Dienste Hedwigs

Josefa, eine weise Frau und Ziehmutter Christians

Hochadel und Geistlichkeit

Kaiser Friedrich von Staufen*, genannt Barbarossa

Beatrix von Burgund*, Gemahlin von Friedrich

Heinrich der Löwe*, Herzog von Sachsen und Bayern

Mathilde*, Gemahlin von Heinrich

Jordan von Blankenburg*, Heinrichs Truchsess

Dietrich von Landsberg*, Markgraf der Ostmark, Bruder von Markgraf Otto

Konrad*, Markgraf Dietrichs Sohn

Dedo von Groitzsch*, Heinrich von Brehna*, Friedrich von Wettin*, weitere Brüder Markgraf Ottos

Wichmann*, Erzbischof von Magdeburg

Ludwig der Fromme*, Landgraf von Thüringen

Otto von Brandenburg*, Hermann von Weimar-Orlamünde*, Dietrich von Werben* und Bernhard von Aschersleben*, Söhne Albrechts des Bären* und Brüder Hedwigs*

Sonstige handelnde Personen

Ekkehart, Giselbert und Elmar, Ritter und Randolfs Freunde

Raimund, Ritter im Dienste Ottos und Freund Christians

Elisabeth, seine Frau

Sigrun, Lukas’ Braut

Sebastian, ihr Beichtvater

Berthold* und Conrad*, die Herren der Nachbardörfer von Christiansdorf und Freunde Randolfs

Martin und Gertrud, ehemalige Christiansdorfer, die ins Nachbardorf gezogen sind

Hilda, eine weise Frau

Melchior, Anführer und »Meister« einer Diebesbande von Kindern

Aloisius, Astrologe

Prolog

Mit allem Mut, den sie aufbringen konnten, und unter unsäglichen Mühen waren sie einst aufgebrochen, um in der Fremde ihr Glück zu suchen und ein freies Leben zu beginnen.

Dann wurde in ihrer neuen Heimat Silber gefunden. Unvorstellbar viel Silber.

Schnell verbreitete sich die Kunde, in Christiansdorf liege das Glück nur so auf den Straßen.

Doch unter Leiden mussten die Menschen lernen: Das Glück liegt nicht auf der Straße. Es will erkämpft sein.

Erster Teil

Gefährliche Begegnungen

März 1173 in Christiansdorf

Herr, wir brauchen ein Hurenhaus!«

Verwundert starrte der Reiter – ein dunkelhaariger Ritter von etwa dreißig Jahren mit scharf geschnittenen Gesichtszügen – auf die alte Frau, die ihm trotz des Schneetreibens entgegengerannt war und sich auf die Knie geworfen hatte, um mit griesgrämiger Miene diese merkwürdige Mitteilung loszuwerden.

Mit einem stummen Seufzer zügelte er seinen Grauschimmel. Er war tagelang bei Kälte und Schnee unterwegs gewesen und war müde, hungrig, durchgefroren und nass bis auf die Haut. Und er sehnte sich nach seiner Frau.

Herr im Himmel, ich weiß, wir sollen unsere Nächsten lieben, doch bei diesem ewig zeternden Weib machst Du mir das wirklich schwer, dachte er grimmig angesichts der griesgrämigen Alten.

Die Bäuerin schien seinen Unwillen vor lauter Entrüstung gar nicht wahrzunehmen. »Man kann nicht mehr durchs Dorf gehen, ohne auf diese Schamlosen mit ihren halbnackten Brüsten und lüsternen Blicken zu treffen«, ereiferte sie sich. »Selbst auf die Ehemänner haben sie es abgesehen. Und vor all dem wilden Mannsvolk, das sich inzwischen hier niedergelassen hat, ist keine ehrbare Frau mehr sicher.«

An dir wird sich bestimmt niemand vergreifen, schoss dem Ritter durch den Kopf. Doch etwas musste vorgefallen sein, wenn ihm die Alte bei diesem Wetter regelrecht aufgelauert hatte, noch bevor er in seinem Haus angekommen war.

»Ich kümmere mich darum, Griseldis«, sagte er ungeduldig. »Nun geh endlich wieder an deinen warmen Herd!«

Wie es aussah, wollte der Winter in diesem Jahr kein Ende nehmen. Dabei war es schon Mitte März. Wenn der Schnee nicht bald schmolz, würde die Aussaat verspätet beginnen. Aber falls die Nachrichten zutrafen, die er in Meißen bei seinem Dienstherrn Markgraf Otto erfahren hatte, würde sein Dorf bald noch schlimmere Sorgen haben als eine verspätete Aussaat.

»Ja, Herr. Selbstverständlich, Herr.« Eifrig verbeugte sich die Alte und humpelte davon, während der Ritter sein Pferd wieder in Bewegung setzte. Der Grauschimmel wusste längst, dass sein Stall in der Nähe war, und strebte von selbst dorthin.

Wie jedes Mal, wenn er nach längerer Abwesenheit zurückkehrte, ließ Christian seine Blicke über die Flur schweifen und betrachtete die gewaltigen Veränderungen, die sein Dorf erfahren hatte, seit er vor knapp sechs Jahren mit einer Gruppe fränkischer Siedler hier eingetroffen war. Sie hatten ihre Heimat verlassen und waren mit ihm ins Ungewisse gezogen, um nach einer gefahrvollen Reise mitten in der Wildnis dem Dunkelwald ein Stück Land abzuringen und urbar zu machen. Doch dann war eine mächtige Ader Silbererz gefunden worden. Bald zogen Bergleute und Handwerker in so großer Zahl hierher, dass aus den ursprünglich vier Dutzend Bewohnern nun schon ein paar hundert geworden waren. Und es kamen auch Diebe, Abenteurer und Huren, mit denen es während seiner Abwesenheit wieder einmal Ärger gegeben haben musste, wollte er Griseldis glauben.

Männer und Frauen verbeugten sich und grüßten ehrerbietig, als sie ihren Herrn erkannten.

Im Gegensatz zu anderen Dörfern herrschte hier keine Winterruhe. Von allen Seiten hörte er das Schlagen und Pochen der Bergleute in den Gruben, die an Stelle von Feldern die Flur prägten, das Hämmern an den Scheidebänken und in der Schmiede. Aus den Schmelzhütten am Bach drang dicker Qualm.

Voller Vorfreude lenkte Christian den Grauschimmel auf den Hof seines Anwesens. Doch statt der erwarteten Marthe war es eine der Mägde, die ihm entgegenlief.

Wozu hat man eine hellsichtige Frau, wenn sie nicht einmal ahnt, dass ich komme, dachte er enttäuscht.

»Gott sei gepriesen, Ihr seid gesund zurück, Herr«, begrüßte ihn die Magd mit ehrlicher Freude.

Er dankte ihr für das Willkommen. »Wo ist meine Frau?«

»Es tut mir leid, Herr. Sie sagte, dass Ihr wohl heute eintreffen würdet. Wir haben Suppe auf dem Herd und heißes Wasser für ein Bad. Aber sie musste fort. Vorhin hat es in einer der Gruben ein Unglück gegeben.«

Wenigstens ist es keine Entbindung, zu der sie gerufen wurde, dachte Christian. Dann hätte es sein können, dass er sie den ganzen Tag nicht zu sehen bekam. Doch im nächsten Augenblick schalt er sich für seine Gedanken. Vielleicht hatte es Verletzte gegeben oder sogar Tote.

»Jemand soll ihr Bescheid sagen, dass ich da bin. Und ein heißes Bad wäre wunderbar.«

Die Magd entfernte sich rasch, während Christian begann, seinen Hengst trockenzureiben. Der Grauschimmel war zu unberechenbar, als dass er einen der Stallburschen an ihn heranlassen konnte. Nachdem er dem Pferd eine reichliche Portion Hafer gegeben hatte, ging er endlich ins Haus. Dort erwartete ihn schon die zehnjährige Marie, eine der beiden Stieftöchter seiner Frau aus ihrer ersten, erzwungenen und unglücklichen Ehe. Sie hatte seinen Sohn Thomas an der Hand. Scheu begrüßte Marie den Ankömmling, während der knapp Dreijährige begeistert seinem Vater entgegenstürzte. Erst umklammerte er Christians Beine, dann reckte er die Arme, um hochgenommen zu werden. Der Junge schmiegte sein Gesicht an die Wange seines Vaters, um im nächsten Augenblick zurückzuzucken und sich lautstark über die Bartstoppeln zu beschweren.

»Nachher lasse ich mich rasieren«, versprach Christian lächelnd. Stolz und zärtlich sah er auf seinen Sohn, der ihm mit seinen schwarzen Haaren und dunklen Augen wie aus dem Gesicht geschnitten war.

»Was macht deine Schwester?«, erkundigte er sich.

»Schläft. Sie kann immer noch nicht laufen«, entrüstete sich Thomas zur heimlichen Belustigung seines Vaters. »Aber alle sagen, dass sie es bald tut«, fügte er mit wichtigtuerischer Miene hinzu.

Clara war ein dreiviertel Jahr alt. Ihr Bruder hegte vom Tag ihrer Geburt an ritterliche Gefühle für seine Schwester und beobachtete genau jeden Fortschritt, den die Kleine machte.

Der Junge strampelte, um auf dem Boden abgesetzt zu werden, und zerrte seinen Vater zur Wiege, der nur zu bereitwillig mitging. Gerührt betrachtete er seine Tochter. Während Thomas nach ihm kam, versprach die kleine Clara mit ihren grünen Augen und dem kastanienbraunen Haar das Abbild ihrer Mutter zu werden. Jetzt schlief sie. Ihre Lippen zuckten leicht, als ob sie saugen würde, ihr Gesicht war rund und rosig. Jeden Tag dankte Christian Gott dafür, dass er ihn mit zwei gesunden Kindern gesegnet und dass seine Frau die Entbindungen überlebt hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er ohne Marthe sein sollte. Sie war die Liebe seines Lebens.

Mechthild, die Köchin, kam zu ihnen. »Wollt Ihr heiße Suppe, Herr? Das Bad ist gleich fertig.«

Christian beschloss, sich das Essen in der Küche geben zu lassen, die wegen der Brandgefahr etwas abseits des Haupthauses stand. Dort war es wärmer, und die Mahlzeiten wurden nicht kalt auf dem Weg in die Halle. Die Köchin füllte ihm eine Schüssel und schob ihm einen Kanten Brot zu. Frisch gebacken, merkte Christian beim ersten Bissen und sog den verführerischen Duft der Suppe ein, ehe er zu essen begann. Bohneneintopf, auf jene besondere Art mit Kräutern gewürzt, die nur Marthe beherrschte. Er tunkte das Brot in die Schüssel und ließ seinen Sohn davon abbeißen.

Die heiße Suppe und das Herdfeuer taten ihm gut. Erst jetzt merkte er, wie erschöpft und durchgefroren er war. Der harte Ritt hatte ihn trotz der Kälte schwitzen lassen. Seine in Heilkünsten erfahrene Frau würde darauf bestehen, dass er schnellstens die nassen Sachen ablegte und ins heiße Wasser stieg.

Er schob die Schüssel mit dem Rest der Suppe zu seinem Sohn, der ihn mit immer kleiner werdenden Augen ansah.

»Wenn du aufgegessen hast, gehst du schlafen.«

Der Junge verzog das Gesicht. »Noch nicht«, bettelte er.

»Gehorche, dann reiten wir morgen zusammen aus.«

Freudestrahlend sah Thomas zu ihm auf. Christian strich ihm über das seidige Haar. Nachdem er seinen Sohn wieder Marie übergeben hatte, ging er hinauf in die Schlafkammer, wo schon heißes Wasser im Badezuber dampfte und Tücher bereitgelegt waren.

Während er es genoss, wie sich sein Körper entspannte und durchgewärmt wurde, kreisten seine Gedanken um die Reise, von der er gerade zurückgekehrt war.

Was ihm sein Lehnsherr, Markgraf Otto von Meißen, aufgetragen hatte, konnte beträchtlichen Ärger mit sich bringen. Wieder einmal standen das Schicksal seines Dorfes und sein eigenes auf dem Spiel. Das Silber war Segen und Fluch zugleich. Es hatte ihnen zu einem gewissen Wohlstand verholfen, gemessen an den Entbehrungen der ersten harten Jahre nach ihrer Ankunft in der Einöde, aber auch Gier von Feinden geweckt, Blut und Leid gekostet.

Doch noch mehr beschäftigte ihn ein anderer Gedanke. Die nächsten Wochen würden Klarheit darüber bringen, was aus seinem erbittertsten Feind geworden war, mit dessen Rückkehr er schon seit Monaten rechnete. Der Mann, den zu töten er geschworen hatte.

 

Das Knarzen der Tür riss ihn aus seiner Versunkenheit.

Da stand sie, schlank und zierlich, noch mit Schneeflocken auf dem Umhang. Ihr Gesicht leuchtete vor Freude.

Mit einer schnellen Bewegung erhob sich Christian und stieg aus dem Zuber.

Marthe griff nach einem der Tücher und ging auf ihn zu, um ihn trockenzureiben. Doch er hinderte sie daran, indem er sie fest in seine Arme schloss und an sich zog. »Du hast mir gefehlt.«

Der Begrüßungskuss schien kein Ende zu nehmen. Schließlich löste sie sich von ihm und sagte, glucksend lachend: »Das sehe ich«, während sie ihren Blick seinen Körper hinabwandern ließ.

Sie verschränkte ihre Arme in seinem Nacken, küsste ihn sanft und flüsterte: »Ich hab dich auch vermisst.«

Er schob die Haube von ihrem Kopf, so dass er ihr kastanienbraunes Haar sehen und mit den Händen hindurchfahren konnte, und streifte ihr den Umhang von der Schulter. Dann nahm er sie auf seine Arme und trug sie zum Bett.

Während seine Lippen ihre Schulter liebkosten, glitten seine Hände schon ihre Schenkel empor, die sie bereitwillig öffnete.

Ungeduldig zerrte Marthe an den Schnüren ihres Gewandes. Manchmal wusste sie nicht, wie sie auch nur einen Tag ohne ihn auskommen sollte. Jedes Mal, wenn er fort gewesen war, fielen sie wie ausgehungert übereinander her.

Diesmal würde sie wohl nicht mehr aus den Kleidern kommen. Sie konnte genauso wenig länger warten wie er.

Sie umklammerte ihn, bog sich ihm entgegen und stöhnte erleichtert auf, als er in sie glitt und begann, sich kraftvoll zu bewegen. Es dauerte nicht lange, bis sie gemeinsam vor Leidenschaft schrien.

»Jetzt habe ich dein Kleid zerdrückt«, sagte er mit gespielter Reue, als sie schwer atmend, schweißnass und glücklich nebeneinanderlagen. »So können wir nicht in die Halle gehen, ohne dass sich jeder in diesem Haushalt seinen Teil denkt.«

Marthe lachte leise. »Nach dem Lärm, den wir gemacht haben und der bis ins Nachbardorf zu hören war, dürfte der Zustand meines Kleides wohl niemanden mehr überraschen.«

Zärtlich strich sie über sein Gesicht. »Sie wissen doch sowieso, wie es um uns steht.«

Nun blitzte Schalk in ihren graugrünen Augen auf. »Und hab ich als dein Eheweib nicht die Pflicht, dir alle Wünsche zu erfüllen?«

Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich bestehe darauf.«

Sie setzte sich auf. »Hilfst du mir bei den Schnüren? Ich werde das Grüne anziehen.«

Geduldig entknotete er die Kordeln, die sie in ihrer Hast verheddert hatte, zog ihr erst das Kleid über den Kopf, dann das Unterkleid und betrachtete sie verliebt. Die zwei Schwangerschaften hatten ihren Körper kaum verändert, sie war mit ihren neunzehn Jahren immer noch fast so mädchenhaft schlank wie an dem Tag, als sie nach vielen Leiden zueinandergefunden hatten. Nur ihre Brüste waren voller geworden.

Als er sie das erste Mal gesehen hatte, war sie eine mittellose, blutjunge Wehmutter auf der Flucht gewesen. Ein grausamer Burgherr hatte ihr Hände und Füße abschlagen lassen wollen, weil seine Frau einen toten Sohn geboren hatte. Christian war damals gerade mit dem Siedlerzug aufgebrochen, den er in die Mark Meißen führen sollte, und bot ihr Schutz vor den Verfolgern an. Ihre wachen Sinne und ihr Geschick im Heilen lenkten bald seine Neugier auf das Mädchen, doch nicht nur seine. Als er sie auf den Meißner Burgberg mitnahm, damit sie den jüngsten Sohn des Markgrafen heilte, vereitelte Marthe einen Giftanschlag auf die Markgräfin Hedwig und zog damit auch die Aufmerksamkeit seiner Feinde auf sich. Nach den ersten Silberfunden überschlugen sich die Ereignisse. Markgraf Otto ernannte Christians mächtigsten Feind Randolf zum Vogt der künftigen Burg von Christiansdorf. Randolf wütete grausam im Dorf und ließ Christian unter falscher Anklage einkerkern und foltern. Unter Einsatz ihres Lebens konnten Marthe und Christians Knappe Lukas ihn retten und enthüllten ein Komplott gegen Markgraf Otto.

Marthe pflegte den fast zu Tode geschundenen Christian wieder gesund. Und bevor er in einen Kampf auf Leben und Tod zog, um sein Dorf von Randolf zu befreien, gestanden sie sich endlich ihre Liebe ein, die unmöglich erscheinende Liebe zwischen einem Ritter und einer jungen Kräuterfrau.

Markgraf Otto schickte Randolf zur Sühne ins Heilige Land und machte den einfachen Ministerialen Christian und seine junge Frau Marthe zu Edelfreien.

Dass sie wieder lachen kann!, dachte Christian, während er sie schweigend betrachtete. Zu lange hatte er mitansehen müssen, wie Kummer und Gram sie zerstörten. Die Liebe hatte sie beide geheilt, auch ihn von langer Trauer. Doch innere Narben waren geblieben, die nun wieder aufbrechen würden angesichts dessen, was er ihr bald eröffnen musste.

Marthe wollte aufstehen und das grüne Kleid aus der Truhe holen, doch er griff nach ihrer Hand und zog sie zurück aufs Bett. Der Anblick ihres nackten Körpers hatte erneutes Verlangen in ihm geweckt, doch es war noch mehr – als könnte er sie mit seiner Umarmung vor allem Unheil bewahren. Er wollte sie glücklich sehen.

Bereitwillig sank sie neben ihn und strich mit ihren Fingern durch sein schulterlanges Haar, über sein Gesicht und die muskulösen Arme. Dann begann sie, jede der Narben auf seinem Oberkörper nachzuzeichnen, wie sie es oft tat, wenn sie nebeneinanderlagen.

Er unterbrach sie dabei, indem er sich auf sie schob. Diesmal ging er langsam vor, streichelte und küsste ihren Hals, ihre Brüste, ihre Schenkel.

Doch schon bald wurde sie ungeduldig.

»Komm«, forderte sie ihn auf und machte ihm mit einem Griff ihrer schmalen Hand klar, dass sie nicht länger warten wollte.

Er war fast zwei Wochen weg gewesen. Eine endlose Zeit.

 

»Bei Gott, der ganze Haushalt wird verhungern, wenn wir nicht endlich hinuntergehen. Und wenn ich jetzt nicht aufstehe, schlafe ich ein und wache erst in zwei Tagen wieder auf«, meinte er später.

Marthe lächelte. »Du bist der Herr des Hauses. Wir können auch hierbleiben und die anderen allein essen lassen«, schlug sie vor.

Doch er lehnte ab, sosehr ihm der Vorschlag gefiel. Es war zur Gepflogenheit geworden, dass sie an den Abenden seiner Heimkehr von Reisen in großer Runde gemeinsam mit dem ganzen Haushalt in der Halle aßen und er sich erzählen ließ, was während seiner Abwesenheit im Dorf passiert war.

»Du hast doch die Köchin bestimmt gedrängt, etwas Besonderes aufzutischen. Dann wollen wir sie nicht enttäuschen.«

Jetzt, während der Fastenzeit und da beinahe alle Vorräte aufgebraucht waren, war es schwierig, ein gutes Mahl zu kochen. Mit mehr als fleischloser Suppe oder gesalzenem Fisch würde er wohl nicht rechnen dürfen.

Bevor sie nach unten gingen, sahen sie nach den Kindern, die nebenan ruhig schliefen. »Sie sind wunderbar«, flüsterte er und zog Marthe noch einmal an sich.

»Ja, das sind sie«, gab sie leise zurück. »Willkommen zu Hause.«

Neuigkeiten

Gemeinsam traten Christian und Marthe in die Halle, wo die Mägde bereits damit beschäftigt waren, Tische und Bänke aufzustellen. Marthes Stieftöchter halfen ihnen dabei.

»Bist du wohlauf, Johanna?«, begrüßte er die Ältere von beiden, die er seit seiner Ankunft noch nicht gesehen hatte. Bestimmt war sie mit Marthe bei den verletzten Bergleuten gewesen.

»Ja, mein Herr«, sagte sie schüchtern, knickste tief und strich eine blonde Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. »Obwohl jetzt viel zu tun ist. Das Winterfieber … und dann noch das Grubenunglück. Zwei Männer sind verletzt. Aber sie werden bald wieder arbeiten können.«

»Ich bin sicher, du hast dein Bestes getan«, sagte er freundlich zu ihr.

Die Zwölfjährige hatte sich früh für Marthes Arbeit zu interessieren begonnen und inzwischen beachtliche Kenntnisse im Umgang mit Kräutern erworben.

Nach seiner Hochzeit mit Marthe hatte er auch ihre Stieftöchter zu sich ins Haus genommen. Es waren zwei liebe, fleißige Mädchen, hübsch und mit blonden Locken, die ihm nach wie vor mit Scheu begegneten. Die Vorstellung, an Stelle eines einfachen, ergrauten Bauern nun einen Ritter als Hausvater zu haben, war ihnen immer noch fremd. Zumal die Dorfbewohner den als streng, aber gerecht geltenden Christian selten lächeln sahen. Nur in der Zweisamkeit mit Marthe oder bei seinen Freunden zeigte er sich von dieser anderen Seite.

Im Gegensatz zu ihrer meist fröhlichen jüngeren Schwester Marie war Johanna oft ernst und in sich gekehrt. Aber schon mit acht Jahren hatte sie großen Mut bewiesen, um gemeinsam mit Marthe ihren älteren Bruder Karl und den Dorfschmied Jonas vor dem Tod zu retten. Randolf hatte damals über die beiden jungen Männer, die zu Christians treuesten Verbündeten zählten, ein grausames Willkürurteil verhängt. Mit Johannas Unterstützung hatte sich Marthe unter Lebensgefahr nachts zu ihnen geschlichen, um ihnen zu helfen. Wäre Christian nicht im letzten Moment mit gezogenem Schwert aufgetaucht, hätte auch Marthe und die kleine Johanna eine blutige Strafe getroffen.

»Lauf zu Pater Bartholomäus, zum Bergmeister und zu Jonas und seiner Frau, um sie zum Essen einzuladen«, bat Christian Johanna. »Und bring auch deinen Bruder mit.«

Karl, ihr großer Bruder, arbeitete in der Schmiede bei Jonas und wohnte in der Kate, die seinem Vater gehört hatte.

Das Mädchen nickte, holte den Umhang und lief los, während die blonden Locken hinter ihr herflatterten.

 

Wenig später saßen alle gemeinsam am Tisch und ließen es sich schmecken. Neben Christian hatten die Ehrengäste Platz genommen: der Pater, der Bergmeister und der Dorfschulze. Pater Bartholomäus war ein zumeist freundlicher Mann mit weißem Haarkranz, der die Priesterweihen empfangen und vor sechs Jahren sein Kloster verlassen hatte, um mit den Siedlern in den Dunklen Wald zu ziehen und für ihr Seelenheil zu sorgen. In die Zuständigkeit von Bergmeister Hermann gehörte alles, was mit den Gruben und Schmelzhütten zu tun hatte. Jonas, den Dorfschmied mit der hübschen Frau, der rotblonden Emma, hatten die Bewohner von Christiansdorf vor drei Jahren trotz seiner Jugend zum Dorfschulzen gewählt. Sein Vorgänger Hildebrand – der Mann jener Griseldis, die Christian bei seiner Heimkehr abgefangen hatte – hatte sich in der Not als feige erwiesen.

An Marthes Seite saßen die Brüder Gero und Richard, Ritter ohne eigenes Land und Freunde Christians, die er vor drei Jahren in seine Dienste genommen hatte. Zwei fehlten neben ihnen: Lukas, der einst Christians Knappe gewesen und für seinen Mut von Markgraf Otto persönlich vorzeitig zum Ritter erhoben worden war, und sein jüngerer Bruder Jakob, der nun Christian als Knappe diente. Christian hatte die beiden nach Hause geschickt, als ein Bote die Nachricht brachte, ihr Vater sei schwer erkrankt.

Am langen Tisch saßen zur Feier des Tages alle, die noch zu Christians Haushalt gehörten: Marie, Johanna und Karl, die Köchin, die Mägde, Stallburschen und die Witwe Hiltrud, die in Christians Auftrag das Brauen und Backen im Dorf beaufsichtigte. Ihr Mann war unter merkwürdigen Umständen umgekommen, nachdem er Christian und dem Bergzimmerer Guntram heimlich gestohlenes Silber untergeschoben hatte. Guntram wurde dafür von Randolfs Leuten gehängt.

Dass Christian ihr keine Mitschuld am Verrat ihres Mannes gab, hatte die verängstigte Hiltrud mit fassungsloser Dankbarkeit erfüllt. Sie würde ihm jeden Wunsch von den Lippen ablesen und war seit dem Tod ihres gewalttätigen Mannes regelrecht aufgeblüht.

Zufrieden ließ Christian seinen Blick über die Runde schweifen. In dieser Gesellschaft fühlte er sich um ein Vielfaches wohler als unter den Intriganten und Schmeichlern bei Hofe. Marthe neben ihm strahlte vor Glück, oben schliefen seine Kinder. Leider würde er diese Idylle nicht lange genießen können.

Als alle mit der Mahlzeit fertig waren, schob er die Schüssel beiseite, ließ Bier nachschenken und lehnte sich zurück.

»Was gibt es Neues im Dorf?«, fragte er in die Runde.

»Drei Kinder sind schon an dem Fieber gestorben, das jetzt umgeht«, klagte Pater Bartholomäus. »Und zwei Lepröse sind im tiefsten Schnee hier angekommen. Wir haben für sie eine Unterkunft am Dorfrand bauen lassen und stellen regelmäßig Essen davor ab. Feuerholz können sie sich selbst aufsammeln. Wenn der Schnee geschmolzen ist, wollen sie weiterziehen, falls sie dann noch leben.«

»Griseldis hat sich bei mir beschwert und ein Hurenhaus gefordert. Was war los?«, erkundigte sich Christian.

Jonas konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Eine der Hübschlerinnen hat ihrem Hildebrand schöne Augen gemacht, und der konnte seine Blicke gar nicht mehr losreißen. Da sind die zwei Weiber aufeinander losgegangen und haben sich vor aller Augen geprügelt.«

»Solche Zustände können wir nicht dulden«, warf der Pater streng ein. »Vielleicht wäre ein Hurenhaus wirklich eine gute Lösung. So beschmutzen sie mit ihrem sündigen Anblick nicht unser aller Augen. Und es wäre auch für die Frauen besser.«

»Wir brauchen die Huren«, brummte der Bergmeister. »Unter meinen Leuten und den Wachen sind zu viele unverheiratete Männer. Wenn sie nicht ab und zu für Geld eine Frau haben können, gibt es hier noch mehr Ärger. Sie raufen sich doch schon jetzt um die paar Weiber.«

»So viele Abenteurer und Diebe sind hierhergekommen, da hatte ich geglaubt, die Huren folgen ihnen von ganz allein«, meinte Christian und warf Marthe einen hilfesuchenden Blick zu. Die lächelte in sich hinein. Wahrscheinlich würde Christian die Lösung dieses heiklen Problems lieber ihr überlassen.

»Über sündige Fleischeslust und zänkische Weiber werde ich beim nächsten Gottesdienst ein paar Worte verlieren. Aber du solltest schnell wieder einen Gerichtstag abhalten, mein Sohn. In letzter Zeit häufen sich die Diebstähle. Deine Wachen haben einen Jungen erwischt, als er der Witwe Elsa den Geldbeutel gestohlen hat«, berichtete der Pater.

Christian runzelte die Stirn. Er verhängte nicht gern Urteile, bei denen Diebe die Hand verloren, wenn es noch Kinder waren. Doch dulden konnte er auch nicht, dass jemand die Dorfbewohner um die Früchte ihrer Arbeit betrog. Es gab genug zu tun, und im Vergleich zu anderswo ging es den Menschen hier gut. Wer Not litt, konnte sich an einer Scheidebank verdingen und beim Zerkleinern der Erzbrocken sein Brot verdienen. Selbst die Krüppel und Bettler, die im Dorf lebten, wurden freigiebig mit Almosen versorgt. Das Silber hatte viele Menschen reicher gemacht, als sie in ihrer alten Heimat je hätten werden können.

Marthe legte ihre Hand auf seinen Arm. »Diese Sache solltest du genauer untersuchen. Ich glaube, jemand hat eine ganze Bande Kinder hergebracht, die er für sich stehlen lässt. Befrag den Jungen, der ist halb verhungert und grün und blau geschlagen, und finde den Mann.«

Als er die Runde später auflöste, forderte Christian den Bergmeister mit höflichen Worten auf, noch einen Moment zu bleiben.

Mit einem bedauernden Blick bat er Marthe um Verzeihung für das, was er jetzt eröffnen musste.

»Markgraf Otto will, dass ich ihn gleich nach Ostern zum Hoftag des Kaisers nach Goslar begleite. Dort soll ich noch mehr Bergleute anwerben. Nach Eurem jüngsten Bericht über die Erzgänge in der Nähe will der Markgraf auch dort die Förderung so schnell wie möglich beginnen.«

Der Bergmeister starrte ihn verblüfft, beinahe entsetzt an. »Ihr sollt dem Kaiser unter seinen Augen Bergleute aus seiner eigenen Stadt abwerben?«

»Ich verstehe Eure Bedenken, Bergmeister. Aber der Befehl des Markgrafen ist unmissverständlich«, entgegnete Christian hart.

Gleich nach dem ersten Silberfund hatte Markgraf Otto Bergleute nach Christiansdorf kommen lassen und die Erzförderung energisch vorangetrieben. Doch jetzt gab es für ihn einen zusätzlichen Grund, den Abbau zu beschleunigen. Der Kaiser, den die Lombarden spöttisch »Barbarossa« nannten, hatte die Absicht zu einem erneuten Feldzug nach Italien bekundet. Die Bereitschaft unter den Fürsten, sich daran zu beteiligen, war alles andere als groß. Der letzte Italienfeldzug, der immerhin schon sechs Jahre zurücklag, hatte sich als Desaster erwiesen, und es sprach wenig dafür, dass der nächste glücklicher verlaufen würde. Otto wollte sich – wie manch anderer auch – von der Teilnahme am Feldzug freikaufen. Doch dafür brauchte er Silber. Viel Silber.

Gemäßigter fuhr Christian fort: »Ich würde gern einen von Euren Männern mit in den Harz nehmen. Nicht Euch selbst, das wäre zu auffällig. Vielleicht einen der Steiger, jemanden, der Verwandte dort hat, die er ohne großes Aufsehen überzeugen kann, hierherzuziehen.«

»Ich werde Euch bis morgen jemanden benennen«, sagte Hermann nachdenklich und verabschiedete sich mit einem Dank für das Mahl.

Christian sah den Augenblick nahen, wo er wieder mit Marthe allein sein konnte, um endlich die schlimmsten Neuigkeiten loszuwerden. Doch da stand noch Karl, der unverkennbar etwas auf dem Herzen hatte.

Obwohl der junge Schmied vor Kraft nur so strotzte und bei Gefahr viel Mut bewiesen hatte, wirkte er diesmal reichlich eingeschüchtert.

Jonas stieß ihn leicht in Christians Richtung, Marthe lächelte ihn aufmunternd an. Mit verschränkten Armen wartete Christian gespannt, was nun kommen würde.

Karl trat mit verlegener Miene noch einen Schritt näher.

»Herr, ich möchte Euch um die Erlaubnis bitten, heiraten zu dürfen«, brachte er endlich hervor.

Christian war überrascht. »Wer soll die glückliche Braut sein?«

»Agnes, die Tochter des Obersteigers. Ich kann sie ernähren, in der Schmiede gibt es jede Menge Arbeit«, beeilte er sich anzufügen, denn eigentlich war er mit zwanzig Jahren noch zu jung, einen eigenen Hausstand zu gründen.

Christian rief sich das Mädchen in Erinnerung: ein schüchternes Wesen mit kastanienbraunem Zopf, das äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Marthe aufwies. Er hoffte sehr, dass Karl sie um ihrer selbst willen mochte und nicht nur als Ersatz für Marthe, die er geliebt hatte. Aber für Agnes würde es bestimmt keine schlechte Verbindung sein: Karl war als Schmied eine gute Partie und ein kräftiger, gutaussehender Kerl, der mit seinen jüngeren Schwestern liebevoll umging.

»Was sagt ihr Vater?«

»Er ist einverstanden.«

»Und sie selbst?«

Karl grinste und wurde noch verlegener. »Auch.«

Christian legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wann dachtet ihr?«

»Ihr seid einverstanden?«, fragte Karl so erleichtert, als hätte er statt mit der Zusage mit einem riesengroßen Donnerwetter gerechnet.

»Natürlich. Meinen Segen habt ihr.«

»Im Mai werde ich einundzwanzig«, sagte Karl, vor Glück strahlend.

»Also nach der Heuernte. Abgemacht? Wenn deine Stiefmutter einverstanden ist, überlassen wir euch das Haus und das Land deines Vaters.« Er wusste, dass Marthe diesen Vorschlag gutheißen würde, denn sie hatten darüber schon einmal gesprochen.

»Das würdet Ihr tun?«, brachte Karl erstaunt hervor.

»Wir haben hier ein gutes Auskommen. Dein Vater gab sein Leben, um Marthe zu retten. Nimm das Haus als dein rechtmäßiges Erbe.«

Er sah zu Jonas hinüber. »Was hältst du davon, wenn er dort eine zweite Schmiede einrichtet? Du klagst doch, dass ihr die Arbeit kaum noch schafft. Dann kann sich jeder einen Gehilfen nehmen, und ihr könnt euch die Aufträge aufteilen – soll einer für die Bergleute arbeiten und der andere Nägel und Hufeisen schmieden und Pflugscharen ausbessern. Oder wie ihr es sonst wollt. Ich rede euch da nicht hinein. Mit einer Ausnahme: Um die Waffen kümmerst du dich.«

Jonas nickte. »Ein guter Vorschlag. Besprechen wir gleich die Einzelheiten?«

Karl wirkte geradezu überwältigt. »Lass mich erst zu Agnes, ihr die gute Nachricht bringen.« Und schon war er aus dem Haus gelaufen.

Jonas und Emma tauschten einen innigen Blick, bevor auch sie sich verabschiedeten.

»Hast du davon gewusst?«, erkundigte sich Christian bei Marthe, immer noch überrascht von dieser Neuigkeit.

»Da bahnt sich schon eine ganze Weile zwischen den beiden etwas an«, antwortete sie lächelnd. »Und bevor du weiterfragst: Ja, er hat mit mir gesprochen, weil er sich nicht sicher war, ob der Zeitpunkt günstig ist für seine Frage und wie du reagieren würdest.«

Er schob sie die Treppe hoch in die Kammer, in der sie schliefen. »Warum sollte ich etwas dagegen haben? Er ist ein anständiger Kerl und tüchtig dazu«, brummte er.

»Sie werden bestimmt glücklich miteinander«, meinte Marthe, als sie oben angekommen waren. Dann griff sie nach einem Krug und schenkte zwei Becher voll.

»Nun raus damit: Was hast du verschwiegen, um es jetzt erst loszuwerden?«

Resigniert ließ sich Christian auf einen Schemel sinken. Ihr konnte man wirklich nichts vormachen. Mit einem Mal müde, strich er sich das dunkle Haar zurück. »Zum einen ist es ärgerlich, dass ich bald wieder fort muss. Und diesmal kannst du zum Hoftag nicht mitkommen.«

»Clara ist sowieso noch zu klein für solch eine Reise. Und dass ich sie selbst stille, würde nur für Befremden sorgen. Außerdem hast du es ja gehört, es geht ein gefährliches Fieber um, drei Kinder sind schon gestorben. Ich bin mit Johanna von früh bis spät unterwegs, um nach den Kranken zu sehen.«

»Bei Gott, das hätte ich fast vergessen!« Christian sprang auf und lief mit großen Schritten die Treppe hinunter. Verdutzt sah Marthe ihm nach. Wenig später kam er mit einem weichen Bündel wieder.

»Für dich.«

Verwundert schlug sie es auseinander und hielt vor Staunen den Atem an. Es war ein Umhang aus tiefblauem Tuch und mit Kapuze, am Rand mit Fell verbrämt. Gerührt legte sie sich das schöne Stück um die Schultern und strich über den weichen Stoff.

»Er ist wunderschön, aber er muss ein Vermögen gekostet haben. Können wird uns das überhaupt leisten?«

»Das sagst du jedes Mal, wenn ich dir Kleider kaufe. Du weißt doch, dass ich das nicht nur tue, um dich herauszuputzen.«

Marthe blickte ihn skeptisch an. »Du willst, dass ich damit Krankenbesuche mache?«

Er nickte nachdrücklich. »Teure Kleider zeigen deinen Stand an. Wenn du weiterhin diese Arbeit verrichten willst, darf niemand glauben, du wärst immer noch die kleine, schutzlose Heilerin, die sie nach Belieben herumstoßen können. Vergiss nicht – einmal wollten sie dich schon als Hexe erschlagen.«

Marthe seufzte innerlich. Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt, und das Thema bereitete ihr immer wieder Unbehagen. Nicht nur aus Sorge ums Geld. Ein einziges Dorf als Lehen genügte nicht, damit ein Ritter seine Ausrüstung bezahlen und seinen Verpflichtungen gegenüber seinem Lehnsherrn nachkommen konnte, doch ihr Dorf war durch das Silber reich und groß geworden. Christian aber setzte fast seine gesamten Einkünfte dafür ein, Wachen einzustellen und auszurüsten. Aus gutem Grund: Das Silber war eine große Verlockung für Diebe, und bereits mehrfach mussten sie Angriffe auf das Dorf abwehren.

Sie aber hatte auch andere Feinde – wenn vielleicht nicht hier, dann im Nachbarort, der von Gegnern Christians regiert wurde und in dem nun auch die Frau lebte, die sie einst der Hexerei beschuldigt hatte. Marthe hatte damals den Verfolgern nur entkommen können, weil sich ihr erster Mann ihnen in den Weg gestellt und sein Leben geopfert hatte. Damit hatte er wohl sühnen wollen, wie schlecht er sie in der erzwungenen Ehe behandelt hatte.

Teure Kleider würden sie schützen wie ihn ein Kettenpanzer, sagte Christian immer wieder. Und sie brauchte diesen Schutz, wenn er nicht da war. Deshalb bestand er unerbittlich darauf, dass sie auch bei der Krankenpflege wie eine Edelfrau gekleidet war.

Dabei mochte sie es nicht, die Herrin herauszukehren. Im Grunde ihres Herzens fühlte sie sich immer noch als einfaches Mädchen und nicht als Herrin, und es befremdete sie, wenn sich ihre früheren Gefährten vor ihr verneigten oder gar niederknieten.

Macht war ein zweischneidiges Schwert. Sie konnte leicht den verderben, der sie ausübte.

Marthe schob den Gedanken beiseite, wie sie wohl das kostbare Kleidungsstück in den engen, verrauchten Katen der Bauern und Bergleute sauber halten sollte. »Danke«, sagte sie leise, gerührt von seiner Sorge um sie. Dann blickte sie ihren Mann ernst an. »Was ist es wirklich, das dich bedrückt? Abgesehen davon, dass du bald wieder fortmusst und einmal mehr für Otto die Eisen aus dem Feuer holen sollst?«

Christian starrte für einen Moment ins Leere.

»Wir hatten jetzt drei friedliche, glückliche Jahre«, begann er und richtete den Blick auf seine junge Frau. »Möglich, dass die ruhige Zeit bald vorbei ist.«

Fragend blickte Marthe ihn an.

»Markgraf Otto hat Nachricht erhalten, dass Heinrich der Löwe Anfang des Jahres von seiner Pilgerfahrt aus dem Heiligen Land zurückgekehrt ist«, berichtete Christian. »Es heißt, die Braunschweiger hätten ihn und die fünfhundert Ritter seines Gefolges mit Jubel empfangen. Er soll wertvolle Reliquien mitgebracht haben und will nun eine prächtige Stiftskirche bauen. Und es heißt auch, er sei unterwegs überall wie ein König oder Kaiser empfangen worden.«

Marthe begriff sofort, was das bedeuten konnte.

Vor sieben Jahren hatte sich Markgraf Otto gemeinsam mit vielen anderen Fürsten und hohen Geistlichen einer Rebellion gegen Heinrich den Löwen, den mächtigen Herzog von Sachsen und Bayern, angeschlossen. Christian und sie waren dabei gewesen, als der Kaiser bei einem Hoftag in Würzburg die Aufständischen beschuldigte, seinen mächtigsten und treuesten Vasallen angegriffen zu haben. Nur weil die Gegner des Löwen damals einem brüchigen Frieden zugestimmt hatten, waren sie ohne Strafe davongekommen.

»Aber die meisten Anführer der Rebellion sind tot: Albrecht der Bär, Ludwig von Thüringen, Christian von Oldenburg … Denkst du, dass es trotzdem wieder zum Krieg kommt?«, fragte sie leise.

»Heinrich hat durch seine Pilgerfahrt noch an Macht und Einfluss gewonnen. Über kurz oder lang wird es gerade deshalb neuen Streit geben – zwischen ihm und den Fürsten, und vielleicht auch zwischen ihm und dem Kaiser.«

Marthe schloss für einen Moment die Augen. Vor sich sah sie die niedergebrannten Dörfer, die Berge von verstümmelten Kinder- und Frauenleichen, die toten Männer, die jene grausam geführte Fehde gekostet hatte. Musste Christian bald in den Krieg ziehen? Und würden die plündernden, brandschatzenden Horden diesmal auch hierherkommen? Denn nun war Christiansdorf nicht mehr ein unbekannter Weiler mitten im Dunklen Wald, sondern weithin bekannt für seinen Silberreichtum.

»Das ist immer noch nicht alles, was du mir sagen wolltest«, bohrte sie.

»Nein.« Christian holte tief Luft, bevor er weitersprach.

»Ottos Spione berichten, dass im Gefolge des Braunschweigers auch ein Meißnerischer Ritter von edlem Geblüt aus dem Heiligen Land zurückgekommen sein soll.«

Marthe sank auf ihrem Schemel in sich zusammen, obwohl sie längst mit dieser Nachricht gerechnet hatte.

Randolf war zurück. Der Mann, der sie gemeinsam mit seinen Kumpanen entführt und brutal geschändet hatte, als sie kaum vierzehn Jahre alt gewesen war, der Christian unter falscher Anklage gefangen und beinahe zu Tode gefoltert hatte und der von Otto für seine Missetaten lediglich zu einer Pilgerfahrt geschickt worden war. Aber um sie zu schützen, hatte Christian nach Ottos Richtspruch schweren Herzens darauf verzichtet, Randolf zum Zweikampf zu fordern und stattdessen Marthes Erhebung in den Stand einer Edelfreien erbeten.

Christian griff nach ihrer Hand, die auf einmal eiskalt geworden war, und legte sie an seine Brust, um sie zu wärmen. »Vielleicht ist er es nicht. Und wenn doch, ist er vielleicht in den Dienst des Löwen getreten. Wäre er sonst nicht zuerst nach Hause geritten, um seine Frau und seinen Sohn zu sehen?«

Sie wussten beide, dass Randolf unmittelbar vor seiner Abreise ins Heilige Land eine junge Witwe geheiratet hatte, um seine Ländereien nicht nur unter Aufsicht eines Verwalters zu lassen. In seiner Abwesenheit hatte seine Frau einen Sohn geboren, der fast auf den Tag genauso alt war wie ihr eigener.

Marthe blickte auf und sah Christian ruhig in die Augen. »Das glaubst du selbst nicht. Wie viele Ritter hat Otto sonst noch ins Heilige Land geschickt? Und Otto braucht ihn – so wie der Kaiser den Löwen braucht. Es sind ihre mächtigsten Gefolgsleute, sie stellen bei Feldzügen den größten Heerbann. Also wird er ihm noch mehr Einfluss und Macht versprechen, um ihn in der Mark Meißen zu halten.«

Sie holte tief Luft. »Du weißt es so gut wie ich. Es wird nicht lange dauern, bis Randolf wieder hier auftaucht. Gott sei uns allen gnädig.«

Gerichtstag

Am nächsten Morgen wurde Marthe in aller Frühe zu der verzweifelten Emma gerufen, deren Kinder fieberten. Rasch griff sie nach dem Korb mit Salben und Tinkturen und lief zu der jungen Frau, die aus dem gleichen Dorf wie sie stammte und seit jeher ihre Freundin war.

Auch Christian hielt sich nicht länger als nötig im Haus auf. Eine Menge Dinge waren zu regeln, bevor er wieder aufbrechen musste. Er trat vor die Tür und genoss den Anblick für einen Moment. Das Schneetreiben hatte aufgehört, die Sonne schien und brachte die weiße Schneedecke zum Funkeln, die unter jedem seiner Schritte knirschte.

Ein dunkles Bündel huschte an ihm vorbei, stolperte und rollte prustend in den Schnee.

»Hoppla!« Blitzschnell packte Christian den Jungen am Kittel und hielt ihn fest. Es war der kleine Christian – das erste Kind, das in diesem Dorf geboren worden war und auf Bitten der Eltern seinen Namen erhalten hatte. Inzwischen war er fast sechs Jahre alt.

»Wie geht es deiner Mutter?«, erkundigte sich Christian.

»Gut, Herr«, krähte der Kleine. Berthas Mann war jener Bergzimmerer gewesen, den Randolf unter falscher Anklage hatte hängen lassen. Der Bergmeister hatte sie danach bei sich aufgenommen, damit sie seinen Haushalt besorgte. Seine eigene Frau war schon lange tot, seine Tochter hatte er verstoßen, nachdem sie Marthe als Hexe verleumdet und ihren Tod gefordert hatte.

»Geh in mein Haus und lass dir von der Köchin etwas zu essen geben. Und trockne dich am Feuer!«, wies Christian den Jungen mit gespielter Strenge an. Der bedankte sich strahlend und lief hüpfend zum Haus. Dem kleinen Christian wurde von den meisten Dorfbewohnern besondere Fürsorge zuteil – nicht nur, weil er Halbwaise war, sondern vor allem, weil die Menschen in ihm auch ein Symbol für das Gedeihen ihres neuen Heimatortes sahen.

Christian ging weiter zu den Ställen und begrüßte seine Pferde.

»Nimmst du mich mit? Du hast es versprochen«, hörte er hinter sich die helle Stimme seines Sohnes.

Lächelnd drehte er sich um. »Sag Marie oder der Köchin Bescheid, damit dich niemand sucht.«

Begeistert rannte Thomas durch den Schnee zurück ins Haus.

Christian klopfte Drago, seinem Grauschimmel, auf den Hals. »Tut mir leid«, sagte er zu ihm, »aber mit diesem Irrwisch von Sohn muss ich ein anderes Pferd nehmen.«

Auch wenn Drago bald zu alt sein würde, um einen Ritter in voller Rüstung zu tragen, so war er immer noch unberechenbar und duldete keinen anderen als Christian auf seinem Rücken. Um Thomas davon abzuhalten, den wilden Grauschimmel später einmal heimlich zu reiten, unterließ er es bewusst, ihn mit Drago zusammenzubringen.

Er sattelte einen jungen Rappen mit überschäumendem Temperament. Nach Ansicht der meisten Menschen wäre auch dies kein Pferd, um einen Dreijährigen daraufzusetzen, doch Christian wollte, dass sein Sohn so früh wie möglich mit Pferden vertraut wurde. Und er selbst war ein so erfahrener Reiter, dass er sich zutraute, den übermütigen jungen Hengst zu einem zuverlässigen Gefährten zu erziehen. Der Rappe war das Hochzeitsgeschenk seines Freundes Raimund, der Pferde züchtete und sich Drago mehrfach als Deckhengst ausgeliehen hatte. Mit dieser großzügigen Gabe hatte sich Raimund auch dafür bedankt, dass Marthe ihm einst nach einer schweren Verwundung das Leben gerettet hatte.

Schon stand Thomas wieder neben ihm und sah ihn mit leuchtenden Augen an. Christian nahm seinen Sohn vor sich in den Sattel und ritt zum westlichen Dorfeingang, wo die Wachen, die er eingestellt hatte, Quartier, Ställe und Übungsplatz hatten und ein paar junge Burschen aus dem Dorf als Verstärkung ausbildeten. Ein weiterer Wachturm stand am nordöstlichen Ausgang des Dorfes, von wo aus der Weg nach Meißen führte.

Die Männer waren mit Waffenübungen beschäftigt, als Christian ankam. Zufrieden begrüßte er Herwart, ihren Hauptmann, der einen guten Ritter abgegeben hätte, wäre er von edler Geburt. Er mochte schon an die vierzig Jahre alt sein, hatte viele Kämpfe hinter sich und war trotz seines Alters schnell mit dem Schwert.

»Wie machen sich die neuen Leute?«, wollte Christian wissen.

»Mit dem Maul behender als mit der Waffe«, erwiderte Herwart grinsend, während sich die Falten in seinem kantigen, wettergegerbten Gesicht noch vertieften.

Er winkte zwei der Jungen heran, einen Rothaarigen mit unzähligen Sommersprossen und einen etwa Gleichaltrigen mit zerzaustem schwarzen Haar.

»Ihr da, der Herr will wissen, was ihr inzwischen gelernt habt. Lasst mal sehen!«

Die beiden traten näher und verbeugten sich. Kuno und Bertram waren zwei sechzehnjährige Burschen, die mit den ersten Siedlern hierhergekommen waren und vor Abenteuerlust nur so strotzten. Aber sie hatten sich in gefährlichen Situationen als tapfer erwiesen. So erfüllte Christian ihnen ihren brennenden Wunsch und ließ sie an den Waffen ausbilden. Der rothaarige Kuno war Waise; seine Ziehmutter, die alte Grete, war einst von Randolf erstochen worden, nachdem sie ihn verflucht hatte. Und die Eltern von Bertram – der ehemalige Dorfälteste und eben jene nörglerische Griseldis, die Christian am Vortag bei seiner Heimkehr aufgelauert hatte – wagten keinen Einspruch gegen Christians Entscheidung.

Was den beiden abenteuerlustigen Burschen im Umgang mit Waffen an Übung fehlte, machten sie mit Ungestüm wieder wett. Wenigstens teilweise.

»Ihr seid schneller geworden«, sagte Christian anerkennend. »Aber zu unvorsichtig.«

Er löste den Schwertgurt, reichte Herwart seine Waffe und ließ sich einen der Stöcke geben, mit denen die Burschen übten. Dann rief er den Rotschopf zu sich. »Greif an und versuch, mich abzuwehren.«

Zögernd trat Kuno näher. Es war schon schwer genug, sich einigermaßen unter den Männern zu behaupten, die ihm um Jahre in der Ausbildung voraus waren. Doch Christian besaß einen legendären Ruf als Schwertkämpfer. Kuno hatte selbst bei mehreren Gelegenheiten miterlebt, wie sein leuchtendes Vorbild größere und stärkere Gegner besiegt hatte. Aber kneifen durfte er nicht. Also hieb er kräftig drauflos.

Doch schon bei der dritten oder vierten Bewegung ließ Christian seinen Stock ungehindert mit einem wuchtigen Hieb von oben niederfahren und fing die Bewegung erst zwei Fingerbreit über der Stelle ab, wo Kunos Hals und Schulter ineinander übergingen.

»Wenn dein Gegner größer ist als du, wird er zumeist sofort mit einem Oberhau angreifen. Aber du warst völlig offen für meinen Hieb«, hielt er ihm vor.

Der sonst so kecke Kuno wirkte gleichermaßen enttäuscht und beschämt.

Christian wiederholte seine Bewegung, nur diesmal langsam.

»Wenn du schnell genug bist, kannst du den Augenblick nutzen, in dem dein Gegner weit ausholt. Dann ist sein Oberkörper ungedeckt«, erklärte er und bot Kuno durch seine langsame Bewegung Gelegenheit, einen Stich zu plazieren.

»Lerne vorauszusehen, was dein Gegner als Nächstes tut«, mahnte Christian, während er seinen Schwertgurt wieder umschnallte. »Dein Leben hängt davon ab.«

»Ihr habt mich blamiert, ihr Versager«, grollte Herwart.

»Dafür lass ich euch Rost von den Kettenpanzern schleifen, bis der Morgen graut, damit ihr Schwächlinge endlich Muskeln bekommt.«

»Nicht jetzt, Herwart«, fiel ihm Christian ins Wort.

Er schob seinen Sohn hinüber zu den beiden. »Passt für eine Weile auf den Jungen auf. Aber bleibt in der Nähe, ich habe einen Auftrag für euch.«

Zumindest die letzte Ankündigung richtete Kuno wieder auf. »Ja, Herr.«

»Denkt nicht, dass ihr so davonkommt!«, drohte Herwart.

Christian warf einen letzten Blick auf die zwei, denen sein Sohn begeistert folgte, weil er wusste, dass sie immer zu einem Streich aufgelegt waren. Dann ging er mit Herwart in die Wachstube.

»Ich muss gleich nach Ostern wieder fort, zum Hoftag des Kaisers«, informierte er den Hauptmann. »Vier von deinen besten Leuten sollen während meiner Abwesenheit in mein Haus ziehen.«

Diese Ankündigung veranlasste Herwart dazu, die Brauen hochzuziehen. Aber er hütete sich, zu fragen. Was zu sagen war, würde Christian schon kundtun.

Der Hauptmann kratzte seine bärtige Wange. »Wenn die Euren mehr Schutz brauchen, gehe ich wohl am besten selbst dorthin. Wir können die Waffenübungen auch auf Eurem Hof abhalten, dann bin ich immer zur Stelle.«

»Gut«, meinte Christian, erleichtert über den Vorschlag. »Was ist mit diesem kleinen Dieb, den ihr gefangen habt?«

»Gerade mal sieben Jahre alt und schon ein erfahrener Beutelschneider. Er hockt im Verhau.«

Herwart holte aus einer Kiste ein zusammengeknotetes Leinentuch. »Das haben wir bei ihm gefunden. Die alte Elsa hat es klar als ihr Eigentum erkannt – hier, an diesem gestickten Zeichen.«

Christian knotete das Tuch auf, das um eine von jenen Kupferschalen gebunden war, in denen die dünnen Pfennige übereinandergestapelt aufbewahrt wurden, damit sie nicht zerbrachen. »Ist noch alles da?«

Herwart nickte.

»Meine Frau vermutet, es gibt hier eine ganze Bande kleiner Diebe, die von einem Älteren auf Beutezüge geschickt werden.«

»Das denke ich auch, aber wir haben bisher noch niemanden ausfindig machen können. Jedenfalls wimmelt es in letzter Zeit hier von kleinen und sehr geschickten Langfingern. Ich weiß nicht, woher die auf einmal kommen, noch dazu um diese Jahreszeit. Die Waisen, die wir im Dorf haben, sind doch alle bei Verwandten untergebracht.«

»Hol den Burschen. Und mach ihm tüchtig Angst vor mir«, meinte Christian. Herwart grinste breit. »Aber gern.«

Wenig später kam er mit dem Gefangenem zurück, einem halb verhungerten, schmutzverschmierten Jungen, der sich alle Mühe gab, tapfer und gelassen zu wirken. Selbst im Dämmerlicht der Wachstube sah Christian, dass sein Gesicht, die halbnackten Arme und Beine von Prügelspuren unterschiedlichen Alters übersät waren.

»Knie nieder vor dem Herrn des Dorfes!«, raunzte Herwart den Jungen an, der sofort gehorchte.

»Morgen halte ich Gericht über dich«, verkündete Christian streng. »Um dich hängen zu lassen, müsste ich dich nach Meißen schaffen, dafür habe ich keine Zeit. Also lasse ich dir eine Hand abschlagen. Aber ich will gnädig sein: Du darfst wählen, ob die linke oder die rechte.«

Kreidebleich starrte der Junge ihn an, sichtlich bemüht, die Fassung zu bewahren. Doch er sagte kein Wort.

»Wer hat dich zum Stehlen geschickt?«, fragte Christian schroff und beugte sich vor.

»Das kann ich Euch nicht sagen, Herr«, sagte der Junge mit brüchiger Stimme.

»Und warum nicht? Wenn du gestehst, verhänge ich eine mildere Strafe.«

Der kleine Dieb kämpfte lange mit sich, bis er schließlich leise sagte: »Weil er dann meiner Schwester sehr weh tun würde …«

Christian fragte freundlicher: »Der Mann, der euch zum Stehlen ausschickt?«

Der Junge nickte und wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab. »Der Meister sorgt für uns, damit wir nicht verhungern. Wir haben doch sonst niemanden mehr …«

»Ich sehe nur, dass er euch schlägt, auf Diebeszüge schickt und sich nicht darum schert, ob ihr gehängt werdet«, entgegnete Christian scharf. »Wie viele gehören zu eurer Bande? Wo hält sich euer ›Meister‹ versteckt?«

»Herr!« Jetzt liefen dem Jungen die Tränen ungehindert übers Gesicht. »Ich darf Euch das nicht sagen, sonst schlägt er meine kleine Schwester tot.«

»Wie heißt sie? Und wie ist dein Name?«

»Peter. Sie heißt Anna. Sie ist noch nicht einmal sechs«, schniefte der magere kleine Dieb. »Wir sind die Einzigen, die noch übrig sind von unserer Familie …«

»Sag mir, wo ich sie finde, und ich sorge dafür, dass ihr nichts geschieht. Du hast mein Wort.«

 

Wenig später trat Christian wieder nach draußen und suchte nach Kuno und Bertram. Die beiden trieben sich mit seinem Sohn bei den Pferden herum und erzählten ihm genüsslich blutrünstige Geschichten über den berüchtigten Slawenfürsten Radomir, nach dem Christians Rappe benannt worden war. »Und er hat wirklich Wein aus den Schädeln seiner toten Feinde getrunken?«, fragte Thomas gerade mit leuchtenden Augen. »Aber ja!«, meinte Kuno. »Aus seinen Augen loderten Flammen, er hatte rabenschwarzes Haar wie das Pferd Eures Vaters. Und wenn ihm ein schönes Mädchen unter die Augen kam …«

»Genug Schauermärchen für heute«, unterbrach ihn Christian. »Kuno, Bertram, ihr müsst euch wieder mal verkleiden. Zieht Bergmannskittel oder Bauernkleider an und haltet im Handwerkerviertel Ausschau.«

Nach dem, was er soeben erfahren hatte, gab er ihnen genaue Anweisungen. »Aber wartet bis zum Nachmittag!«, bestimmte er. »Zuerst muss noch etwas erledigt werden.«

 

Als Christian mit seinem Sohn zurück ins Haus kam, stand Marthe in der Küche und kochte irgendetwas gegen Husten. Der Geruch war ihm vertraut, aber auch nach so vielen Jahren wusste er immer noch nicht genau: War das nun Thymian, oder was für Zeug rührte sie da zusammen? Ihre Fingerspitzen waren ganz grün wie meistens bei diesen Gelegenheiten.

»Wie geht es den Kindern von Emma und Jonas?«, erkundigte er sich, nachdem Thomas seine Mutter stürmisch begrüßt hatte und ihr aufgeregt von den gruseligen Geschichten erzählte, die Kuno ihm aufgetischt hatte.

»Noch ist das Fieber nicht hoch«, berichtete Marthe, während sie weiter Kräuter zerkleinerte. »Emma ist zum Glück rechtzeitig gekommen.«

Sie wirkte bedrückt. Christian wusste, dass sie sich Vorwürfe machte, die Kinder nicht gerettet zu haben, die am Fieber gestorben waren. Kinder und Alte starben immer zuerst bei Seuchen. Aber es gab kaum Alte in ihrem jungen Dorf.

Den gefahrvollen Weg nach Osten in die Fremde, in ein unbekanntes, erst zu erschließendes Land, hatten fast ausnahmslos junge, kräftige Leute auf sich genommen, um sich hier ein besseres Leben aufzubauen.

»Du tust, was du kannst«, versuchte er sie zu trösten. »Alle vermagst du nicht zu retten.«

Er nahm ihr das Kräutermesser aus der Hand und sagte: »Aber ich weiß von jemandem, den du retten kannst. Bist du bereit für ein kleines Wagnis?«

Während er ihr seinen Plan erklärte, sah er, wie wieder Leben in ihre Gesichtszüge kam, sich abwechselnd Zorn und Unternehmungslust darin spiegelten.

»Ich werde Johanna sagen, dass sie das hier fertigmachen soll«, meinte sie, wischte sich die Hände ab und holte den prachtvollen Umhang, den Christian ihr geschenkt hatte.

 

Zielstrebig ging Marthe auf das Viertel der Handwerker und Kaufleute zu, das in den letzten drei Jahren gewachsen war, seit zusätzlich zu Bauern und Bergleuten auch Seiler, Töpfer, Böttcher, Gürtler, Wagner und viele andere nach Christiansdorf gezogen waren. Nur die Gerber und die Seifensieder wohnten wegen ihres Gestank verbreitenden Gewerbes ein Stück abseits des Ortes. Die anderen Handwerker jedoch und die Kaufleute hatten unterhalb der Bauerngehöfte ihre Häuser gebaut und würden bald sogar ihre eigene Kirche haben, die prachtvoll zu werden versprach. Sie sollte dem Heiligen Nicolaus gewidmet werden, weshalb dieser Teil des Dorfes jetzt schon Nicolai-Viertel genannt wurde. Die Bergmannssiedlung hingegen hieß bei den Einheimischen »Sächsstadt«, weil die meisten Bergleute aus Sachsen kamen: aus dem Harz, der Kaiserstadt Goslar und vom Zellerschen Feld.

Noch waren für die neue Kirche kaum mehr als die Fundamente gesetzt, über deren Tiefe Marthe immer wieder staunte. Die ersten Reihen Steine waren wegen der Kälte in Stroh verpackt. Aus den Bauhütten drang der Lärm der Steinmetzen, die Formen für die Schmuckelemente der Pfeiler bearbeiteten.

Die Händler und Handwerker mussten gut verdienen, wenn sie sich eine Kirche aus Stein leisten konnten. Die beiden anderen Kirchen des Dorfes – die erste, die die Siedler bald nach ihrer Ankunft errichtet hatten, und die dem Heiligen Jakob geweihte Kirche in der Siedlung der Bergleute – waren schlichte Holzbauten.

Marthe ging an der entstehenden Kirche vorbei und bog in eine der Gassen ein, durch die ein paar magere Hunde streunten. Hier hatte sich der Schnee schon in schmutzigen Matsch verwandelt, aber er verbarg immer noch den größten Teil des Unrates, der auf den Straßen lag.

Betont gemächlich schlenderte sie die Gassen entlang und hielt dabei heimlich Ausschau. Sie kaufte beim Kerzenzieher einige Lichter, begutachtete bei der Frau des Töpfers Becher und Krüge und besprach mit ihr ein paar Muster, die sie haben wollte. Bald fühlte sie sich auf ihrem Weg von mehreren Augenpaaren beobachtet.

Einen neuen Krug und das Bündel mit den Kerzen gut sichtbar vor sich hertragend, ging sie weiter zu dem Tuchhändler, der sich im Herbst hier niedergelassen hatte, und betrachtete seine Waren.

»Meister Josef, ich will vier Ellen und nicht den ganzen Ballen kaufen«, rügte sie ihn, als er ihr einen viel zu hohen Preis nannte. Wortreich pries er die Qualität seiner Ware an und begann, mit ihr zu feilschen. Marthe wusste, dass er sie übervorteilen wollte, weil er glaubte, bei Frauen leichtes Spiel zu haben. Unwirsch unterbrach sie seinen Redeschwall. »Macht mir einen deutlich besseren Preis, dann bestellen wir bei Euch. Mein Mann will zum Osterkirchgang den ganzen Haushalt neu einkleiden. Aber wenn Eure Ware zu teuer ist, kaufen wir bei Meister Wolfram in Meißen.«

Solche herrischen Auftritte waren nicht Marthes Art, aber sie hatte lernen müssen, dass auch das gelegentlich nötig war, um sich zu behaupten.

Angesichts ihrer Worte huschten Gier und Bestürzung in schnellem Wechsel über Meister Josefs Gesicht. Unter vielen Beteuerungen und Verbeugungen führte er seine Kundin zur Tür.

Als sie aus dem Haus trat, wusste sie sich schon von einem unsichtbaren Rattenschwanz von Kindern verfolgt. Bald entdeckte sie, wonach sie Ausschau hielt.

Sie winkte ein mageres kleines Mädchen mit strähnigem Haar zu sich, das barfuß und mit zerlumptem Kleid im Schnee stand und sie mit flackernden Augen beobachtete.

»Du da! Du kannst mir die Einkäufe nach Hause tragen. Ich werde dich dafür bezahlen«, rief sie mit befehlsgewohnter Stimme. Die Kleine huschte herbei.

»Gern, edle Dame«, flüsterte sie und griff nach dem Bündel Kerzen, während ihre Augen Marthes Taille streiften. Die wusste, dass diese Augen nach dem Almosenbeutel am Gürtel unter ihrem Umhang suchten.

Marthe nahm das Mädchen fest bei der Hand, damit es nicht weglaufen konnte, und ging nun zielstrebig nach Hause. Sie wollte, dass das halbnackte Kind bald aus der Kälte kam, und sie fühlte sich auch zunehmend unwohl unter den vielen heimlichen Blicken, die ihr folgten.

Sie führte die Kleine in die Küche, schob sie Richtung Feuer und nahm ihr die Einkäufe ab. »Möchtest du etwas essen?«, fragte sie.

Das Mädchen bekam leuchtende Augen und nickte, doch dann erstarrte sie mitten in der Bewegung. »Ihr habt gesagt, Ihr würdet mich bezahlen, Herrin«, meinte sie ängstlich.

»Das werde ich auch«, beruhigte Marthe sie und füllte eine Schüssel mit warmem Brei. »Hier, iss.«

Sie wies die Köchin an, auf das Mädchen aufzupassen, das mit Heißhunger den Brei hinunterschlang, und ging hinaus, um Christian zu holen.

Als sie wenig später mit ihm die Küche betrat, zuckte die Kleine zusammen, schaufelte hastig den letzten Löffel voll in sich hinein und kniete nieder, die Augen ängstlich auf den Schwertgurt des streng dreinschauenden Ritters gerichtet.

»Du heißt Anna, nicht wahr?«, fragte Marthe und erntete dafür einen überraschten Blick. »Das ist Christian, der Herr des Dorfes«, fuhr sie ruhig fort. »Er wird morgen über deinen Bruder richten, der beim Diebstahl ertappt wurde.«

Das Mädchen sah wieder voller Angst auf Christian.

Als niemand etwas sagte, stand sie langsam auf und trat zwei Schritte auf ihn zu.

»Bitte, Herr, tut meinem Bruder nichts. Dann werde ich auch sehr nett zu Euch sein«, flüsterte sie und hob ihr zerlumptes Kleid hoch, wobei sie sich unbeholfen mit dem Ärmel ein paar Tränen abwischte.

Marthe und Christian wechselten einen finsteren Blick. Sie wussten beide, dass in großen Städten gewissenlose Anführer ganze Kinderbanden zu Beutezügen abrichteten und nicht selten auch dazu zwangen, die abartigen Gelüste mancher Männer zu befriedigen. Doch hier? Und diese magere Kleine war noch nicht einmal sechs Jahre alt!

Christian räusperte sich. »Zieh dein Kleid wieder herunter. Auf diese Art musst du hier zu niemandem nett sein.«

»Aber wenn Ihr meinem Bruder die Hand abschlagen lasst, kann er seine Arbeit nicht mehr tun, Herr. Dann wird der Meister ihn davonjagen, und er wird verhungern, und ich bin ganz allein«, sprudelte es aus dem Mädchen heraus.

»Verrate uns, wo ihr euch versteckt. Dann sorge ich dafür, dass du und dein Bruder eine richtige Unterkunft und ausreichend zu essen bekommt, ohne dafür stehlen … und zu Männern nett sein zu müssen«, redete Christian ihr zu.

»Aber er wird uns und die anderen bestrafen … Wir werden alle sterben!«, wimmerte das Mädchen und biss sich auf die Fingerknöchel.

»Du hast mein Wort. Dieser ›Meister‹ wird keinem von euch mehr etwas antun können. Wer von deinen Gefährten hierbleiben will, kann sich mit ehrlicher Arbeit sein Brot verdienen.«

 

Für den nächsten Morgen hatte Christian das gesamte Dorf zum Gerichtstag zusammengerufen. Schwere Verbrechen, auf die die Todesstrafe stand – wozu oft auch Diebstahl zählte –, wurden in Meißen verhandelt, die Zwistigkeiten der Bergleute schlichtete der Bergmeister, aber für alle anderen Streitigkeiten im Dorf war Christian zuständig. Von den verhängten Bußgeldern stand ihm ein Anteil zu, ebenso für die Nutzung der Dorfmühle, des Gemeindebackofens und das Braurecht. Er brauchte das Geld, um für den Schutz des Dorfes aufzukommen.

Während seiner Abwesenheit hatten sich einige Zwischenfälle zugetragen, über die er nun richten sollte.

Als Erstes erhob der Weinhändler Anklage gegen den Bader. »Er hat mir ausgerechnet vierzehn Tage nach Lichtmess fast die Hälfte meiner Vorräte abgekauft.«

»Das ist kein Verbrechen!«, protestierte der Bader sofort.

Das war es wirklich nicht, doch die Angelegenheit war für alle so offenkundig dreist, dass sofort Gemurmel aufkam und der Weinhändler das mehr oder weniger laut bekundete Mitgefühl der Zuschauer erhielt, während der Bader einige unflätige Rufe zu hören bekam.

Christian ermahnte die Versammelten zur Ruhe. Jedes Jahr am Lichtmesstag wurde das Geld »verrufen«; bei einem Beauftragten des Markgrafen mussten alte Pfennige gegen neue eingetauscht werden. Doch für vier alte gab es nur drei neue Münzen; die vierte ging an den Markgrafen. Nur noch vierzehn Tage länger durfte das alte Geld verwendet werden. Wer also zwei Wochen nach Lichtmess altes Bargeld besaß, büßte ein Viertel davon ein. Es war zwar erlaubt, diese Münzen zu behalten und aufzubewahren; ihr Silberwert blieb erhalten, doch sie in Umlauf zu bringen wurde bestraft. Also sah jeder zu, seine Pfennige noch kurz vor oder nach Lichtmess gegen Waren einzutauschen. Wenn der Bader dem Weinhändler ausgerechnet am letzten Tag der Frist einen Haufen Pfennige aufgedrängt hatte, roch das nach Boshaftigkeit. Andererseits hätte der ja auf den Handel nicht eingehen müssen.