Die Spur des Terroristen - Werner Gerl - E-Book

Die Spur des Terroristen E-Book

Werner Gerl

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Beschreibung

Deutschland wird von einer Anschlagserie heimgesucht. Alle Welt hält den konvertierten Muslim Karl Hausner, der sich zu den Taten bekennt, für den Schuldigen. Nur nicht Marc Bourée, ein Detektiv, der sich darauf spezialisiert hat, Menschen verschwinden zu lassen, und dessen letzter Klient eben jener Hausner war. Bourée glaubt, dass der biedere Familienvater nur als Strohmann dient und etwas ganz anderes hinter der Geschichte steckt. Bei der Suche nach dem wirklichen Attentäter gerät der Detektiv zwischen alle Fronten – und nur seine Exfreundin, die geradlinige Polizistin Julia Wehdau kann ihm helfen. Doch die will mit Bourée nichts mehr zu tun haben …

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Veröffentlichungsjahr: 2014

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Der AutorWerner Gerl, geboren 1966 im niederbayerischen Mainburg, studierte Germanistik und Geschichte in Regensburg und lebt mit seiner Frau als Lehrer, Autor und Kabarettist in München. Er veröffentlichte als freier Journalist und Buchautor bereits zahlreiche Texte, hat sich in den letzten Jahren aber mehr auf Krimis verlegt und satirische bayerische Kurzkrimis (Mordsgaudi) sowie die Roman-Reihe um die Münchner Kommissarin Tischler geschrieben (Eine Art Serienmörder, Der Goldvogel). Ferner ist er mit Kurzkrimis in diversen Anthologien vertreten und schreibt Theaterstücke. Werner Gerl ist Mitglied im Syndikat und Mitorganisator des Münchner Krimitags.

Das BuchDeutschland wird von einer Anschlagserie heimgesucht. Alle Welt hält den konvertierten Muslim Karl Hausner, der sich zu den Taten bekennt, für den Schuldigen. Nur nicht Marc Bourée, ein Detektiv, der sich darauf spezialisiert hat, Menschen verschwinden zu lassen, und dessen letzter Klient eben jener Hausner war. Bourée glaubt, dass der biedere Familienvater nur als Strohmann dient und etwas ganz anderes hinter der Geschichte steckt. Bei der Suche nach dem wirklichen Attentäter gerät der Detektiv zwischen alle Fronten – und nur seine Exfreundin, die geradlinige Polizistin Julia Wehdau kann ihm helfen. Doch die will mit Bourée nichts mehr zu tun haben ...

Werner Gerl

Die Spur des Terroristen

Kriminalroman

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

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Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juli 2014 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014 Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95819-004-7

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1

Karl Hausner würde heute verschwinden. Für immer. Verschwinden wie der blaue Dunst einer handgerollten Zigarre und nicht einmal die Asche und der abgeleckte, zerbissene Stummel würden übrig bleiben, nur noch der kalte Rauch, der zäh in den alten Möbeln hängt. Ein letztes Mal würde er seine Frau sehen, seinem achtjährigen Sohn übers dichte schwarze Haar streichen und ihm eine Gutenacht-Geschichte erzählen. Ein letztes Mal würde er aus seinem geleasten 3-er BMW steigen, den er jeden Samstag auf Hochglanz polierte. Ein letztes Mal würde er Red Neck, seinen geliebten Golden Retriever, kraulen, ihm Bälle zuwerfen und ihn mit saftigen Fleischstücken füttern. Denn Karl Hausner würde sein bisheriges Leben ablegen wie einen alten Mantel und verschwinden. Er hatte es so gewollt. Und deshalb den richtigen Mann aufgesucht.

Dieser war jedoch an diesem so wichtigen Tag noch gezeichnet von der letzten Nacht. Der Alkohol brannte in seinen Adern und pulsierte in seinem Kopf, brodelte in seinen Gedärmen und vergiftete seinen Atem. Aber Marc Bourée brauchte diese Abstürze, zumindest hin und wieder. Sie kamen jäh und er konnte sich nicht dagegen wehren. Seit dem Entzug hatte er dem regelmäßigen Trinken abgeschworen, doch gelegentlich meldete sich die Sucht und verlangte Befriedigung.

Das Schlimmste an diesem Absturz waren aber nicht die Schmerzen, das Gefühl, im falschen Körper zu stecken. Das Schlimmste war, dass der Detektiv wieder einmal nach einer ausschweifenden, nachgerade dionysischen Nacht in einem fremden Bett aufgewacht war. Sibylle war wesentlich älter als er und alles andere als eine Heidi Klum, aber sie war kommunikativ und vor allem eindeutig nur auf ein Abenteuer aus, keine also, die ihn mit Anrufen terrorisieren oder ihm vorheulen würde, wie sehr sie in ihn verliebt sei. Die richtige Frau am richtigen Ort, einer einschlägigen Cocktail-Bar, die ausschließlich von Menschen aufgesucht wurde, die auf schnellen, unverbindlichen Sex aus waren, denen Swinger Clubs aber zu beliebig und prollig waren.

Bourée wachte also nach einem Auswärtsspiel auf und hatte keine Zeit, sich umzuziehen, schließlich hatte Hausner angekündigt, er würde um Punkt 8 Uhr bei ihm aufkreuzen. Und den besten Klienten konnte man nicht warten lassen, zumal er derzeit auch der einzige war. Mit zerzausten Haaren, unrasiert und vor allem mit verschwitzten Klamotten, in denen sich der Alkoholdunst hing, schlich sich Bourée in sein Büro.

Der Gang war noch finster. Erst in seinem Büro sah man, wie eine zaghafte Januarsonne die Nacht vertrieb und den Horizont in winterliches Grau tauchte. Marc atmete tief durch, um klarer im Kopf zu werden und das Gift aus dem Leib zu vertreiben. Dann ging er zu dem Wandschrank, nahm ein Aspirin, das zweite an diesem Morgen, warf es in ein Glas und löste es in frischem Leitungswasser auf.

Das Büro war angenehm still. Nur von der Straße drang etwas Motorenlärm herein. Susi Rebner war noch nicht da, was freilich ihren Gepflogenheiten entsprach, schließlich tauchte sie selten vor zehn Uhr auf. Sie und Marc teilten sich aus Kostengründen das Büro in der Nähe des Hohenzollernplatzes. Allerdings bedienten sie nicht dieselbe Klientel. Susi war Graphikerin und Illustratorin. Sie hatte sich auf Fantasy- und Gothic-Motive spezialisiert, was man ihr auch ansah. Ihre Businesskleidung bestand aus fingerlosen Spitzenhandschuhen und schwarzen Tüllröcken. Es gab auch Tage, an denen man glaubte, sie sei direkt einem Twilight-Film entstiegen.

Marc schaltete die Espresso-Maschine an. Sie würde sein bester Verbündeter an diesem Vormittag sein. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und öffnete den Ordner »Hausner«. Bourée versuchte, die Stecknadeln aus seinem Kopf zu bekommen und sich auf das Treffen vorzubereiten. Also überflog er noch einmal alle Details, alle Absprachen und den bisherigen Verlauf der Geschäftsbeziehung.

Er erinnerte sich an das erste Mal, als Hausner in Marcs Detektei gekommen war. Die Plätze und Fußgängerzonen Münchens begannen gerade, nach Glühwein und heißen Maronen zu duften. Weihnachtsmusik verpestete die vollgestopften Kaufhäuser. An jenem Tag bestäubten die ersten Schneeflocken die Dächer Münchens, ohne liegen zu bleiben.

So kam auch Hausner mit einem Mantel in die Detektei, an dem zäh Wassertropfen in den Fasern hingen. Auf den ersten Blick war er kein außergewöhnlicher Klient. Sein Kopfhaar war bereits etwas licht, das saftige Schwarz wurde unweigerlich vom Grau des Alters überrollt. Seine Oberlippe zierte ein kurzgeschnittener, gepflegter Schnurrbart, wie man ihn heute nicht mehr allzu oft sieht. Er trug einen dicken Wintermantel und darunter einen Anzug von der Stange für maximal 200 Euro. Sein Hemd war um den Nabel herum straff gespannt von einem Wohlstandsbäuchlein. Sport schien Hausners Sache nicht zu sein, denn er schnaufte vom Treppensteigen wie ein Walross. Er wirkte blass und kränklich. Der Eindruck verflog auch nicht, als sich Hausner von der Strapaze des Treppensteigens erholt hatte.

»Das haben Sie inseriert, oder?« Der neue Klient legte ihm die Wochenendausgabe der Süddeutschen auf den Schreibtisch und deutete auf eine gelb markierte Anzeige. »Sie wollen verschwinden? Ein neues Leben beginnen? Weil Sie ein Stalker verfolgt oder die Mafia oder der Ex-Mann? Detektei Vanish.« Marc hatte lange über einen Namen für seine besondere Detektei nachgedacht und schon an lateinische Begriffe wie »Evanescunt« gedacht, was ihm dann aber zu behäbig und bildungsbürgerlich erschien. Modern klingendes, werbewirksames Englisch, das so ziemlich jeder verstand, der nicht die Schule nach der achten Klasse abgebrochen hatte, fand er passender, zumal das Vorbild für seine Dienstleistung aus Amerika stammte.

»Das habe ich inseriert«, bejahte Marc. »Sie wollen verschwinden?«

»Ja. Das heißt, ich will eigentlich nicht, aber ich muss«, sagte Hausner und wischte sich die schweißglänzende Stirn. »Ich halte es nicht mehr aus.«

»Was halten Sie nicht mehr aus? Oder wen?«

»Meine Frau.« Hausner hielt inne und blickte Bourée zögerlich an. Die Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen. »Ich bitte Sie, nicht zu lachen und mich ernst zu nehmen.«

»Versprochen. Diskretion und Ernst sind mein zweiter und dritter Vorname.«

»Meine Frau«, Hausner zierte sich immer noch, »meine Frau schlägt mich.« Beschämt blickte er zu Boden, nachdem er endlich sein Problem gebeichtet hatte.

»Das ist in keiner Weise ehrenrührig«, sagte Bourée mit unbewegter Miene. Übertriebenes Verständnis oder gar Mitleid hielt er nicht für angebracht. Das brauchte sein Klient genauso wenig wie Spott, dachte er. »Sie sind keine Ausnahme. Auch wenn bei häuslicher Gewalt meist Männer die Täter sind, so gibt es ebenfalls rabiate Ehefrauen und Freundinnen. Einen ähnlichen Fall hatte ich letztes Jahr. Ich kann Ihnen aber versichern: Dem Mann konnte geholfen werden. Er führt jetzt ein neues Leben in Freiheit. Und niemand weiß, wo er sich befindet, nicht einmal ich.«

Das war zwar bestenfalls die halbe Wahrheit, doch Marc wollte gleich den Eindruck erwecken, er könne alle Probleme Hausners lösen. Tatsächlich hatte er im Jahr zuvor einem Mann beim Verschwinden geholfen, der von seiner verschwenderischen Frau die Nase voll hatte, eine Scheidung jedoch ablehnte, weil ihn die berechtigte Angst plagte, diese würde ihn ruinieren. Aber es gab keine Kinder, keine Schulden, keine Verpflichtungen, eine saubere Angelegenheit und absolut legal.

»Wieso lassen Sie sich nicht scheiden?«, fragte Bourée nach. »Das wäre doch die einfachere Lösung.«

»Meine Frau, sie heißt Seda, würde nicht zustimmen.«

»Das muss sie nicht unbedingt, vor allem wenn häusliche Gewalt nachweisbar ist.«

»Sie ist ja auch nicht das eigentliche Problem. Wissen Sie, Seda ist Kurdin. Und ihre Brüder jagen mir Angst ein. Gökhan und Mustafa sind gewalttätig. Richtig gewalttätig. Ich habe sie einmal erlebt, als sie einen Mann krankenhausreif geprügelt haben, nur weil sich der über das Kopftuch einer Türkin lustig gemacht hatte.«

Marc Bourée nickte. Viele seiner Klienten wollten verschwinden, weil sie Angst vor Gewalt hatten. Die brutalen Brüder waren allerdings eine Variante, die er noch nicht kennengelernt hatte.

»Und sie haben diesen steinzeitlichen Ehrbegriff!«, fuhr Hausner fort. »Familienehre! Würde ich mich scheiden lassen, würde ich die Ehre der Schwester beschmutzen. Und das könnte nur durch Blut abgewaschen werden.«

»Das klingt ein wenig überzogen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, wandte Bourée ein.

»Es ist aber die Wahrheit!«, beschwor Hausner und beugte sich weiter nach vorne. »Sie müssen mir glauben!«

Der Detektiv stand auf und ging zu seinem kleinen Kühlschrank. Er entnahm eine Flasche stilles Wasser, holte zwei frische Gläser und setzte sich wieder. Dann schenkte er schweigend ein, ohne Hausner zu fragen, ob er durstig sei.

»Ich muss vieles, aber genau das nicht: Ihnen glauben!« Dann nahm er sein Glas und prostete Hausner zu, obwohl es nur Wasser war.

»Ich verstehe nicht«, stammelte Hausner und trank sein Glas in einem Zug leer. »Sie müssen doch auf der Seite Ihres Klienten stehen.«

»Das tue ich, aber ich muss mir sicher sein, dass ich ihm vertrauen kann. Und da werde ich bei Ihnen keine Ausnahme machen. Ich muss sowieso in Ihrem Privatleben stöbern, wenn ich Ihnen helfen soll, also werde ich auch einige Angaben nachprüfen. Das steht außer Diskussion.«

»Auf keinen Fall«, empörte sich Hausner.

»Dann suchen Sie sich einen anderen Mann, der Ihnen zu einer zweiten Existenz verhilft. Sie werden nur vermutlich keinen finden.« Bourée kannte diese inneren Widerstände, diesen paradoxen Reflex, jenes Privatleben zu schützen, das man hinter sich lassen wollte. Dann öffnete er eine Schublade und zog ein Papier hervor.

»Schauen Sie, meine Tätigkeit findet in einem Graubereich des Rechtswesens statt. Es ist ein Drahtseilakt und ich muss dafür sorgen, dass Sie nicht abstürzen – und dass ich keine Bauchlandung erlebe. Und dafür muss ich einiges wissen.«

Hausner nickte. »Ich verstehe.«

»Ich habe einige Prinzipien, die ich Ihnen erläutern möchte. Das sind in Stahl gegossene Prinzipien und damit unveränderbar. Ich übernehme keine Klienten, die etwas ausgefressen haben, also keine Kriminellen. Und ich übernehme keine Spinner.«

»Soll das eine Provokation sein?« Hausner verzog säuerlich die Mundwinkel.

»Keinesfalls. Es ist ja nicht als Unterstellung gemeint. Ich habe hier einen Fragebogen, den wir gemeinsam durchgehen und den Sie mir dann unterschreiben. Sie garantieren mir die Wahrhaftigkeit Ihrer Angaben. Das ist die Voraussetzung für eine Zusammenarbeit – und meine Absicherung.«

Hausner wippte leicht auf seinem Stuhl hin und her. »Ist in Ordnung«, sagte er schließlich nach seiner Denkpause.

»Gut. Erste Frage: Werden Sie polizeilich gesucht?«

»Nein.«

»Sind Sie vorbestraft?«

»Nein.«

Bourée fuhr mit seinem ausgefeilten Fragebogen fort. Er wollte wissen, ob sein Klient schon einmal in psychiatrischer Behandlung war oder ob es in der Familie Fälle klinischen Wahnsinns gäbe. Das reichte natürlich nicht aus, um jemanden als Spinner zu identifizieren, war aber ein wichtiger Punkt. Seine Nachforschungen sowie sein Bauchgefühl würden ihm schon verraten, ob Hausner ein Verrückter war oder nicht. Allerdings machte er den Eindruck eines eher spießigen Vertreters der Mittelschicht, der ein angepasstes Leben führte.

»Besonders wichtig ist folgender Punkt: Haben Sie Schulden?«

Wieder verneinte Hausner, fragte aber nach »Warum ist das von Bedeutung?«

»Weil Sie sich strafbar machen, wenn Sie einen Berg von Schulden hinterlassen. Und ich mich ebenso, wenn ich Ihnen helfe. So einfach ist das.«

»Also keine Kriminellen, keine Spinner, keine Schuldner.«

»Sie haben’s erfasst«, entgegnete Bourée trocken.

Nach einer Viertelstunde hatten sie den Fragebogen durch, den Hausner bereitwillig unterschrieb. Bourée überflog ihn noch einmal kurz und legte ihn dann in eine Mappe.

»Dann hätten wir den ersten Teil der Formalitäten schon einmal erledigt«, sagte Bourée. »Bevor wir zu einem Vertragsabschluss kommen, möchte ich Sie ein bisschen aufklären über das, was Ihnen bevorsteht.«

Der dickliche Mann nickte und heftete seinen Blick auf den Detektiv.

»Es ist keineswegs einfach zu verschwinden. Sie müssen sich eins vor Augen halten: Sie lassen Ihr altes Leben hinter sich und müssen damit rechnen, Freunde und Verwandte nie wieder zu sehen. Sind Sie dazu bereit?«

»Deshalb bin ich hier«, antwortete Hausner ohne das geringste Zögern.

»Es gibt auch Menschen, die nur temporär verschwinden wollen. Die einen hoffen, dass irgendwann Gras über die Sache gewachsen ist, die ihnen Sorgen bereitet, die anderen warten schlichtweg darauf, dass eine bestimmte problematische Person stirbt: der Stalker, der reiche Erbonkel, der Ex-Mann.«

Hausner schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich werde für immer verschwinden. Ganz sicher.«

»Gut. Ihre Entscheidung. Haben Sie Kinder?«

»Ja, einen achtjährigen Sohn. Sebastian Mohammed, ich habe mich wenigstens beim ersten Vornamen behaupten können.«

»Da haben wir das nächste Problem: Sie sind unterhaltspflichtig. Das müssen wir regeln. Sie sollten wenigstens das Geld für zwei Jahre auf einem Konto deponieren.«

»Kein Problem.«

»Ich möchte nicht indiskret sein, aber ich will Sie so gut wie möglich auf das vorbereiten, was Ihnen bevorsteht. Deshalb muss ich Ihnen diese Frage stellen: Lieben Sie Ihren Sohn?«

Hausner kniff die Augen zusammen und senkte dann den Kopf. Bourée hatte den Eindruck, als kämpfe sein Klient mit den Tränen.

»Das spielt hier keine Rolle. Machen Sie weiter.«

»Gut. Dann sprechen wir noch etwas über Ihr Problem. Sind Sie sich sicher, dass es keine andere Lösung gibt?«

»Ja«, seufzte Hausner. »Mir bleibt nur diese Möglichkeit.« Bei diesen Worten sackte Hausner fast in sich zusammen. Er wirkte resigniert, kraftlos, ausgezehrt. »Wir hatten eine glückliche Zeit, damals, als wir uns kennenlernten. Es war übrigens auf dem Oktoberfest. Seda feierte mit ihren Arbeitskolleginnen und ich setzte mich mit zweien meiner Freunde dazu. Sie wissen ja, wie es auf der Wiesn zugeht. Wir waren froh, endlich einen Platz zu haben. Schnell lernte man sich kennen. Wir tanzten auf den Bänken, sangen ‚Skandal um Rosi‘ und tranken eine Maß nach der anderen. Seda trug ein hochgeschürztes Dirndl und war ein echter Blickfang. Ich glaube, ich habe mich sofort in sie verliebt. Und ich gefiel ihr auch. Natürlich hat es lange gedauert, bis wir zum ersten Mal intim wurden. Ihre Familie war erst gegen die Verbindung, hat dann aber zugestimmt.

Die ersten Monate, nein, die ersten Jahre waren ein Traum. Wir liebten uns innig und waren beide glücklich, endlich einen Partner zu haben, mit dem man harmonierte. Ich lernte sogar Türkisch.«

»Respekt«, sagte Bourée, »soll ja nicht die leichteste Sprache sein.«

»Ist sie auch nicht. Ich will Sie aber nicht langweilen mit meinen romantischen Erinnerungen. Fakt ist, bald nach der Geburt von Sebastian Mohammed veränderte sich Seda. Warum, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Die Hormonumstellung oder vielleicht sind Frauen als Mütter einfach anders. Auf jeden Fall wurde sie plötzlich furchtbar gereizt und launisch, dann immer ungeduldiger und cholerischer. Als ich einmal ein Bayernspiel anschauen wollte, hat sie mir den Fernseher ausgeschaltet, weil ihr das Fangegröle auf den Geist ging. Als ich mich erdreistete, wieder einzuschalten, packte sie meine Bierflasche und schlug sie mir auf den Kopf. Ich kam mit einer klaffenden Platzwunde ins Krankenhaus. Keiner wollte mir glauben, was passiert war. Anfänglich zumindest. Aber die Fälle häuften sich. Schließlich hat es mir gereicht und ich schlug zurück.«

Hausner stockte. Er drehte den Kopf, als hätte er einen steifen Nacken. Dann vergrub er sein Gesicht in seinen Händen und atmete laut, fast rasselnd. Es schien ihn eine ungeheure Überwindung zu kosten, von seiner gescheiterten Ehe und seiner Pein zu sprechen.

»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte Marc, der die Stille durchbrechen wollte.

»Gern« seufzte Hausner und nahm die Hände vom Gesicht. »Mit Milch und Zucker, bitte.«

Marc stellte ihm einen doppelten Espresso mit viel hellbrauner Crema hin, dazu ein schickes Edelstahlset mit Milchkännchen und Zuckerdose. Er selbst bevorzugte seinen Kaffee schwarz.

»Und, hat es etwas gebracht?«, fragte Marc.

Fast höhnisch schüttelte Hausner den Kopf. Dann streckte er sein Kinn in die Höhe und deutete auf eine Narbe am Kehlkopf.

»Das hat es gebracht. Gökhan und Mustafa haben mich nicht nur grün und blau geschlagen, sie haben mir ein Messer an den Hals gehalten und gedroht, mir den Kopf abzuschneiden, wenn ich ihrer Schwester noch einmal wehtun würde.«

»Sympathische Zeitgenossen«, sagte Bourée spitz.

»Und in dieser Hölle lebe ich nun seit acht Jahren. Verstehen Sie jetzt, warum ich verschwinden will?«

»Ja, das ist nachvollziehbar«, pflichtete Bourée bei, den allerdings etwas an seinem neuen Klienten störte, er war sich nur nicht im Klaren darüber, was es war. »Ich würde Ihren Fall übernehmen. Wenn Sie mit meinen Konditionen einverstanden sind.«

»Geld spielt keine Rolle.«

»Das höre ich gern. Ich verlange 15.000 Euro – vorab natürlich, nicht erst, wenn Sie verschwunden sind. Dazu kommen noch Spesen, die wir peu à peu abrechnen.«

Normalerweise verlangte Bourée je nach Schwierigkeitsgrad und Aufwand zwischen 10.000 und 15.000 Euro, aber wenn jemand Geld offensichtlich nicht ernst nahm, musste sich dieser nicht wundern, wenn er ein wenig ausgenommen wurde.

»Kein Problem. Ich zahle bei unserem nächsten Treffen in bar.«

»Aber bitte nicht in Münzen. Zu viele Cent-Stücke beulen mir so das Portemonnaie aus. Und das trägt so auf«, sagte Marc, der es zwar lästig fand, eine so hohe Summe in Scheinen zu bekommen, aber das war er durchaus gewohnt. Viele zahlten sein Salär aus schwarzen oder zumindest geheimen Kassen, was ihm letztlich egal war. Auch wenn der Detektiv Wert auf ein hohes Maß an Legalität legte, musste er es nicht übertreiben. So es sich nicht um nummerierte Scheine aus einem Banküberfall handelte, fragte er nicht weiter nach.

»Ich werde mich auf große Scheine beschränken«, antwortete Hausner humorlos. »Noch eins: Ich habe eine exakte Vorstellung, was die Terminplanung anbelangt. Ich möchte Ende Januar verschwinden, um genau zu sein: am letzten Montag im Januar.«

Bourée zog seine Augenbrauen hoch und pfiff durch die Zähne. »Das wird knapp.«

»Für 15.000 Euro dürfen Sie auch etwas tun.«

»Das ist nicht der Punkt, die Frage ist, ob man die Vorbereitungen in so kurzer Zeit gründlich hinbekommt. Wir wollen doch nicht schlampen, so dass Ihre kurdischen Bluthunde Sie nach kurzer Zeit aufgespürt haben.«

»Das ist Ihr Job. Sie werden gut entlohnt, also machen Sie Ihre Arbeit«, sagte Hausner barsch. Dann stand er auf, nahm seinen Mantel und zog sich an. »Ich komme übermorgen zur selben Zeit wieder, wenn es Ihnen passt. Dann besprechen wir die weitere Vorgehensweise.«

Bourée geleitete seinen neuen Klienten noch bis zur Bürotür und verabschiedete sich. Hausner hatte einen schlaffen Händedruck. Das passte zu einem Mann, der von seiner Frau verprügelt und tyrannisiert wurde. Dennoch spürte Bourée, dass etwas faul war mit Hausner. Allein der Wunsch, an einem bestimmten Tag zu verschwinden, war suspekt. Und die Geschichte mit den brutalen Brüdern, die den Schwager im Falle einer Scheidung abstechen würden wie ein Mastschwein, schluckte Bourée auch nicht. Er war gespannt darauf, was ihm das Netz alles über Hausner zu erzählen hatte.

2

Er blickte wie immer nach links und rechts, bevor er die Klingel von Jasmin drückte. Schließlich wollte er vermeiden, von einem Bekannten gesehen und erkannt zu werden. Im Winter war es leichter. Da konnte er seinen Hut tief ins Gesicht ziehen und den Mantelkragen als Sichtschutz aufstellen. Kurt Pfaller wollte um jeden Preis vermeiden, dass jemand erfuhr, wie er seit geraumer Zeit mittwochs seine Mittagspause verbrachte.

Diskretion, das wusste Jasmin, war für jeden ihrer Kunden eminent wichtig. Deshalb summte der Türöffner normalerweise wenige Sekunden, nachdem der Freier geklingelt hatte. Doch diesmal blieb die Tür stumm und verschlossen. Ungeduldig läutete Pfaller Sturm. Er hatte nicht viel Zeit, es blieben ihm genau 35 Minuten. Dann musste er das Haus in der Blumenstraße wieder verlassen und über den Viktualienmarkt in sein Büro zurückkehren. In dieser kurzen Zeitspanne hatte er eine Menge vor.

Noch vor einem Jahr hätte er, der zweifache Familienvater, es sich nicht vorstellen können, zu einer Prostituierten zu gehen. Er fand selbst den Gedanken daran ekelerregend. Außerdem liebte er seine Frau. Doch unsere Überzeugungen verhindern selten etwas, auch wenn wir uns noch so oft einreden, wir wären ehrlich, treu oder friedliebend. Meist rechtfertigen sie nur im Nachhinein unsere Handlungen, auch wenn die wahren Gründe von weitaus niederer Natur sind.

Als Pfaller bei einer dieser anrüchigen Feiern für besonders verdiente Mitarbeiter Jasmin das erste Mal getroffen hatte, war es schnell um ihn geschehen. Jasmin musste nur mit den Wimpern schlagen und ihre tiefbraunen Augen aufblitzen lassen, und schon ertrank der aufstrebende Banker mit Haut und Haar darin. Pfaller besaß eine teure Schweizer Uhr, die er auf einer Börse im Arabella Park einem tätowierten ehemaligen Boxer, der sich auf Antiquitäten- und Goldhandel spezialisiert hatte, abgekauft hatte. Doch brauchte er normalerweise kein Instrument zum Zeitmessen. Denn seine innere Uhr ging präzise wie die Braunschweiger Atomuhr. Bei seinem ersten Liebesakt mit Jasmin verließ Pfaller allerdings jegliches Zeitgefühl und er hätte danach nicht zu sagen vermocht, wie lange sein Abstecher in das fleischliche Elysium gedauert hatte.

Jasmins samtener Körper, ihre weichen Lippen, die jedes Ohr mit ihrem heißen Stöhnen verzauberten, und ihre üppigen Brüste wirkten auf den Banker wie ein Strudel, der ihn in die Tiefe zog und ihm ein einmaliges Erlebnis bescherte. Mit dieser Einmaligkeit wollte er sich jedoch nicht abfinden. Deshalb suchte er die Edelhure von jenem Tag an wöchentlich auf. Und immer hatte sie sofort nach dem Klingeln die Tür geöffnet. Nach mehreren Versuchen rief Pfaller sie von seinem Handy an, doch er erwischte nur die Mailbox und den Anrufbeantworter.

Fluchend wollte er sich gerade abwenden, als ein Mann um die fünfzig aus der Tür kam. Mit einem diebischen Grinsen grüßte er Pfaller und ging. War das ein anderer Hausbewohner, der mich schon des Öfteren gesehen hat, dachte sich der Banker. Oder etwa mein Vorgänger, der einfach länger brauchte und wusste, dass ein ungeduldig klingelnder Kunde unten wartete?

Kurzentschlossen hielt Pfaller die Tür auf, bevor sie ins Schloss fiel. Er blickte sich um und ging dann die Holztreppe hinauf in den zweiten Stock. Das Ächzen und Knarzen der altersschwachen Stufen hatte ihn schon immer gestört, an diesem Mittwoch hatte er allerdings das Gefühl, sie würden im ganzen Viertel zu hören sein. Als Pfaller vor der Wohnungstür stand, atmete er einmal tief durch und klingelte dann noch einmal. Doch nichts rührte sich. Kein Ton drang aus dem Liebesnest. Ohne zu überlegen, aus einem spontanen Impuls heraus fasste er an den altmodischen Türknauf und drehte ihn. Zu seiner Überraschung war nicht verschlossen.

Mit klopfendem Herzen betrat er den Ort, der ihm schon so viele süße Stunden beschert hatte. Der Duft von Jasmins Parfum hing in der Luft. Pfaller merkte, wie er trotz seines Unbehagens und seiner Anspannung erregt wurde. Diese Wohnung war sein erotischer Hain. Hier regierten ihn nichts als seine Triebe und niederen Instinkte. Vorsichtig und zaghaft rief er Jasmins Namen. Doch es kam keine Antwort. Eine Stimme in ihm sagte, er solle verschwinden, er habe hier nichts verloren und würde sich nur Ärger einhandeln. Aber eine Kraft in ihm war stärker, die Kraft, die ihn wöchentlich zu Jasmin trieb.

Leise und ängstlich schlich er über den Flur in das Wohnzimmer. Es war in warmen Tönen gestaltet, in der Mitte standen ein großes Plüschsofa, davor ein großer Tisch und ein noch größerer Plasma-Fernseher. Jasmin trank hier gern mit den Freiern ein Glas Sekt und schaute einen Porno, um die Männer zu stimulieren. Pfaller hatte das nicht nötig. Der Anblick von Jasmins draller Gestalt, die aus jeder Pore Sex verströmte, genügte, um ihm das Gehirn von einer Sekunde auf die andere für längere Zeit auszuschalten.

Das Wohnzimmer sah aus wie immer. Pfaller bemerkte keine Veränderung, es zeigte aber keine Spuren, dass sich hier jemand aufgehalten hätte. Wieder verspürte er den Impuls zu gehen. Doch als er sah, dass die Schlafzimmertür halb offen stand, konnte er nicht widerstehen.

Sein Herz pochte bis zum Hals, als er sich Schritt für Schritt der Liebeshöhle näherte. Das Bett wurde durch die Tür verdeckt. Er sah auf dem Boden Kleidung liegen. Es war eine Art Blaumann, Arbeitskleidung auf jeden Fall. Daneben befand sich ein großer schwarzer Werkzeugkoffer. Pfaller hatte solche Behältnisse schon des Öfteren bei verschiedenen Handwerkern gesehen. Hatte Jasmin vor ihm also einen Monteur oder Elektriker bedient? Konnte sich dieser eine Prostituierte von Jasmins Preisklasse leisten?

Kein Laut drang aus dem Schlafzimmer. Waren die beiden einfach eingeschlafen nach dem Sex? Das war möglich, die postkoitale Müdigkeit konnte auch eine Professionelle befallen. Langsam und vorsichtig näherte sich Pfaller der Zimmertür. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde laut und dumpf schlagen wie eine Basstrommel und seinen ganzen Oberkörper zum Vibrieren bringen. Er sah das große leuchtende Bett, in dem er schon so viele Momente selbstvergessener Liebe erlebt hatte. Es leuchtete rot. Kissen, Decken, Betttuch, alles war mit feinster Satinwäsche bezogen, und das in einer Farbe, die den Freier aufheizen sollte, so er noch nicht in erotischer Hochstimmung war. An der Bettkante sah er einen Fuß, einen weiblichen Fuß.

»Jasmin«, sagte Pfaller vorsichtig, doch er erhielt keine Antwort.

Der Freier atmete tief durch und ging in das Schlafzimmer, diese Lusthöhle, in der er die glücklichsten Stunden des letzten Jahres verbracht hatte. Der Anblick übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Er spürte einen jähen Brechreiz, den er jedoch zu unterdrücken versuchte.

Seine geliebte Jasmin lag nackt ausgestreckt auf dem Bett. Ihre starren Augen fixierten den Spiegel an der Decke. Ihr ganzer Körper war blass-blau und steif. Jegliches Leben war aus ihm gewichen. Von der blühenden Schönheit und der weichen Wärme dieser Perle weiblicher Erotik war nichts mehr übrig. Das Gesicht war eine Totenmaske, der Hals übersät mit dunklen Punkten. An ihrer Hüfte und ihrem Oberschenkel befanden sich halbkreisförmig angeordnete Blutspritzer.

Diese stammten von dem Mann, der neben ihr lag. Es war ein grobschlächtiger Mensch mit einem Schnurrbart wie ein Eichhörnchenschweif und fettigen, strähnigen Haaren. An seinen Fuß- und Handgelenken trug er Handschellen, Sexspielzeug für Erwachsene. Seine Beine berührten den Boden, sein Oberkörper lag auf dem Bett. In seinem Kopf klaffte ein großes Loch. Hirn und Blut waren über das Bett gespritzt und bereits getrocknet. Auch sein Gesicht war zur Totenmaske erstarrt, jedoch war der Ausdruck grotesker, verzerrter als der von Jasmin.

Pfaller stand reglos da. Er war paralysiert und konnte sich dem Grauen des Augenblicks nicht entziehen. Wie ferngesteuert ging er auf Jasmin zu, schloss ihre Augen, küsste sie auf ihre Vagina, ein letzter Gruß an die schöne Tote, und deckte sie zu. Dann begann er hemmungslos zu weinen.

Sein unbestechliches Zeitgefühl hatte ihn ein letztes Mal in dieser Wohnung im Stich gelassen. Er wusste nicht, wie lange er schon hier war und vor allem, wie lange sein Hirn durch den Schock regelrecht ausgeschaltet war. Doch es nahm seinen Betrieb wieder auf und Pfaller begann zu überlegen. Was sollte er tun? Die Polizei informieren? Dann würde er riskieren, als Stammkunde von Jasmin enttarnt zu werden. Er sah schon die Schlagzeilen der Boulevard-Blätter vor sich: Banker findet tote Edelnutte. Womöglich verdächtigte man ihn sogar noch des Mordes. Auf jeden Fall würden seine Frau, seine ganze Familie, seine Freunde alles erfahren und ihn als Hurenbock geißeln. Seine Karriere stand nicht auf dem Spiel, aber sein Privatleben. Belinda würde ihm nie verzeihen und vermutlich sogar die Scheidung verlangen.

Hatte er eine Wahl? Sollte er die Toten liegen lassen und darauf warten, dass sie ein anderer fände? Damit würde er riskieren, dass sich die Leichen noch länger in diesem unwürdigen Zustand befänden. Aber würde das die Toten stören? Egal, er musste weg. Er hatte etwas zu verlieren, nicht mehr die beiden Leichen. Er bereute nun seinen spontanen Kuss auf die Vagina. Sicher konnte man seine DNS sicherstellen. Deshalb nahm er ein Papiertaschentuch und wischte sowohl die Augenlider als auch die Vagina ab. Dann ging er vorsichtig zum Ausgang. Dort säuberte er die Türklinken und ging hinaus. Leise und vorsichtig verschloss er die Tür. In diesem Moment hörte er, wie sich die Haustür öffnete. Schnellen Schrittes ging er die knarzende Treppe hinunter und schlug den Mantelkragen auf. Auf halber Höhe kam ihm der Mann entgegen, der ihm vor einigen Minuten die Tür geöffnet hatte.

»Na, heute schon fertig?«, fragte dieser grinsend.

Pfaller wurde heiß. Er wusste, er hatte verloren.

3

Bis zu ihrem zweiten Treffen hatte Bourée seine Hausaufgaben erledigt. Er hatte das Netz ausgeforscht und alles zusammengetragen, was es über Karl Hausner wusste. Das fing an bei seinen persönlichen Daten wie Adresse und Telefonnummer, die noch das geringste Problem waren, schließlich würde er das ja hinter sich lassen. Weitaus schwieriger war es, in den endlosen Weiten des Webs kursierende Fotos zu eliminieren. Die Anzahl war überschaubar, aber eine potentielle Gefahr. Marc musste sie löschen, möglichst alle. Er sollte an seinem neuen Wohnort nicht als Karl Hausner aus einem Münchner Vorort erkannt werden.

Von enormem Vorteil war, dass Hausner keinen Facebook-Account besaß. Es gab also keine Legion von »Freunden«, die ungefragt Nichtigkeiten, Peinlichkeiten und nichtssagende Fotos von langweiligen Grillfeiern posteten, auf denen Hausner markiert wurde. Diese digitalen Spuren konnte man nur sehr schwer ausradieren. Hausner hätte ihre Eliminierung selbst übernehmen müssen, indem er seine Freunde überredete, alles über ihn zu löschen. Das aber freilich hätte ihn verdächtig gemacht. Natürlich hätte sich Marc in jeden Account einhacken können – das war eine seiner leichtesten Übungen – und die Löscharbeit selbst übernehmen, doch er versuchte, seine Arbeit so legal wie möglich zu erledigen.

Außerdem war Hausner kein Mann von öffentlichem Interesse. Er spielte in keiner Band, war in keinem Stadtrat vertreten und stand auch nicht dem lokalen Fußballverein vor. Alles, was Bourée fand, war die Mitgliedschaft in dem deutsch-türkischen Kulturverein »Handschlag«, der sich um eine Verständigung zwischen Christen und Moslems bemühte. Hier trafen sich viele gemischt-religiöse Paare, aber auch einige Gutmenschen und Integrationswillige.

Hausner war offensichtlich zum Islam konvertiert. Das hatte Bourée erstaunt, schließlich dürfte ein Religionswechsel eine eher seltene Erscheinung sein. Möglicherweise war es aber auch ein Hinweis darauf, dass Hausner unter dem Pantoffel stand und sich dem Diktat seiner angeheirateten Familie beugen musste. Ob Zwangs-Moslem oder nicht, für Hausners neues Leben war es unabdingbar, dass er sich von Moscheen fernhielt und entweder seinen neuen Glauben im Stillen auslebte oder wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehrte. Denn als gebürtiger Deutscher war er so auffällig wie ein gekochter Riesenhummer auf einer Sahnetorte. Jeder Spürhund würde ihn mit Leichtigkeit finden. Und genau das galt es zu verhindern. Hausner müsste also dafür sorgen, dass er aus der Homepage des Kulturvereins getilgt würde. Vermutlich blieb dieser Job jedoch an Bourée hängen.

Außerdem war Hausner vor drei Jahren auf einem Jubiläum seines Realschul-Jahrgangs. Bourée hatte ihn nur auf zwei Fotos entdeckt und diese sofort gelöscht, genauso seinen Namen und seine Adresse. Je weniger das Netz wusste, umso besser. Auch einige andere Bilder und namentliche Erwähnungen tilgte der Detektiv auf der Stelle. Karl Hausner musste im Web möglichst radikal ausradiert werden. Das war der erste Schritt, wenn man verschwinden wollte.

Auch Hausners unspektakulärer Job erleichterte diese Arbeit. Er war Buchhalter in einem größeren Kfz-Betrieb, nichts also, was einem einen Platz in den Medien bescherte. Die Werkstatt hatte sich wohl auf die Reparatur von Lastwagen aller Art spezialisiert. Hausner hatte also einen ganz gewöhnlichen, eher langweiligen Arbeitsplatz, der es ihm ermöglichte, jederzeit anderswo eine Stelle zu finden. Das war für den Neuanfang wichtig.

»Kündigen Sie so spät wie möglich«, hatte Bourée seinem Klienten bei ihrem zweiten Treffen geraten, »am besten erst am Stichtag. Wir müssen dafür sorgen, dass so wenig Leute wie möglich davon Wind bekommen. Am besten wäre es, wenn nur Ihr Vorgesetzter davon weiß. Und dieser sollte die Kündigung so diskret wie möglich behandeln.«

Hausner nickte. »Das ist nachvollziehbar, ja.«

»Und das Zeugnis sollte er persönlich schreiben.«

»Welches Zeugnis?« Hausner blickte Bourée überrascht an.

»Na, wenn Sie sich an Ihrem neuen Wohnort bewerben, müssen Sie ein Zeugnis vorlegen. Oder wollen Sie vom Ersparten leben?«

»Nein, natürlich nicht. Ich denke nur noch nicht an Arbeit und die Zukunft.«

»Dann holen Sie das nach. Am besten sofort. Außer Sie wollen irgendwann ins Grüne ziehen und unter einer Brücke nächtigen.«

Hausner hatte auf Marc gelegentlich einen verwirrten Eindruck gemacht. Das war nicht unnormal für einen Menschen, der sich danach sehnte, sein altes Leben zu begraben, um ein neues zu beginnen. Die Zukunft war für jeden, der verschwinden wollte, voller Unwägbarkeiten und Risiken. Dennoch wirkte Hausner manchmal seltsam abwesend. Sich keine Gedanken über sein späteres Berufsleben zu machen, passte nicht zu einem rationalen Buchhalter, der es gewohnt war, exakt zu sein und genau aufzupassen.

In vielerlei Hinsicht wusste Hausner jedoch sehr genau, was er wollte. Beispielsweise bei den falschen Fährten. Das war der zweite große Schritt nach dem Verwischen der Spuren. Mögliche Verfolger mussten in die Irre geführt werden. Deshalb war es nötig, so viele falsche Informationen wie möglich auszustreuen. Hausner hatte aufwändige Wünsche, deren Notwendigkeit sich für Bourée nicht unbedingt erschloss, doch hier war der Kunde König.

So wollte Hausner unbedingt zur Tarnung ein abgelegenes Haus in den einsamen Weiten des Bayerischen Waldes anmieten, das am besten im Niemandsland zwischen Tschechien und Deutschland lag. Marc versuchte, Hausner kurz davon zu überzeugen, dass diese falsche Fährte unnötig wäre und zudem unterm Strich zu teuer, auch wenn das Objekt verglichen mit Münchner Preisen spottbillig war. Dennoch musste man für mehrere Monatsmieten sowie die Kaution aufkommen. Aber wie Hausner gleich anfangs erwähnt hatte, spielte Geld bei ihm keine Rolle. Also durchforstete Marc das Internet nach Angeboten. Schnell konnte er seinem Klienten eine kleine Liste unterbreiten. Die Palette reichte vom verfallenen Bauernhaus bis zur rustikalen Villa am Dorfrand.

Hausner ließ sich Zeit für seine Entscheidung. Erst in der Woche, nachdem er die Angebote bekommen hatte, teilte er Marc seine Wahl mit. Sie fiel auf einen alten Hof, der seit knapp zwei Jahrzehnten nicht mehr bewirtschaftet worden war. Die Ställe waren teils verfallen, aber das Wohnhaus war noch halbwegs in Schuss, da es noch eine Zeitlang als Zweitwohnsitz von den Kindern des Bauern genutzt worden war. Marc fuhr dorthin, inspizierte die Gebäude und unterschrieb schließlich im Auftrag seines Klienten einen Mietvertrag.

»Sag’n Sie mal, es geht mich ja nix an, aber was will’n dieser Hausner da? Urlaub macha?«, fragte ihn der ältere Sohn, der nach Passau gezogen war, um eine Stelle als Kaufmann bei der BayWa anzutreten.

Marc freilich hatte ganz andere Vorstellungen von dem, was man gemeinhin Urlaub nannte. Er hielt es nicht allzu lange an einem Ort aus, an touristischen Hot Spots gleich dreimal nicht. Wenn er reiste, wollte er in die Fremde und das hieß in der Regel, dass er Europa verließ. Urlaub auf dem Bauernhof in der niederbayerischen Diaspora wäre für ihn aber eine Art Vorhölle gewesen.

»Nein, der geht Wildsau jagen«, antwortete Marc und schob sein Exemplar des Mietvertrages ein. Man hatte sich auf die üblichen drei Monate Kündigungsfrist geeinigt. Hausner würde diese falsche Fährte also eine Stange Geld kosten. Um die pünktliche Überweisung gewährleisten zu können, eröffnete Marc noch ein Konto bei der Sparkasse in Zwiesel.

Dieser Teil des Auftrags war erledigt. Ungewöhnlich war aber, dass der konkrete Vorschlag für die falsche Fährte von Hausner kam. Normalerweise war das Marcs Job. So unterbreitete der Detektiv seinem Klienten einige andere bewährte Vorschläge. »Was ich Ihnen noch anbieten kann, ist ein besonderer Service, der jeden Spürhund verrückt macht. Ihr altes Handy gebe ich einer Bekannten, die als Chefeinkäuferin eines internationalen Textilunternehmens immens viel unterwegs ist. Wer Ihr Telefon ortet, wird sich wundern, wie reisefreudig Sie sind.«

»Das interessiert mich nicht«, winkte Hausner ab.

»Gut«, fuhr Marc fort. »Dann überlassen Sie dieser Frau Ihre Kreditkarte. Sie kauft in Wien ein paar Schuhe und geht in Paris damit essen. Die Ausgaben sind überschaubar, dafür verbürge ich mich, aber der Effekt ist gewaltig. Und glauben Sie mir eins, Ihre Kreditkarte ist eine der heißesten Spuren, die Sie hinterlassen können. Jeder Spürhund wird mit ein paar gezielten Anrufen unter falschem Namen Ihre Kreditkartenabrechnung überprüfen.«

»Lassen Sie’s gut sein«, wiederholte sich Hausner.

»Aber Ihnen ist klar, dass Sie Ihr altes Handy und Ihre Kreditkarte nicht weiter benutzen können, wenn Sie ein neues Leben beginnen?«

»Klarer, als Sie meinen.«

Mit traurigen Augen blickte Hausner den Detektiv an. Nein, dieser Mensch war nicht glücklich, sein altes Leben zu verlassen. Bourée hatte hier ganz andere Fälle gehabt. Kevin Berthold beispielsweise, ein Loser, der in seinem Leben nichts auf die Reihe bekommen hatte und seiner Scheidung entgegensah. Und just in diesem Moment hinterließ ihm sein kinderloser Onkel, der Einzige in der ganzen nichtsnutzigen Sippe, der es zu etwas gebracht hatte, eine Summe, die für ein Geldbad á la Dagobert Duck gereicht hätte. Und natürlich wollte nicht nur die Noch-Ehefrau ein großes Stück vom Kuchen, sondern auch bei den Verwandten und Papa Staat weckte das Geld Begehrlichkeiten. Einen Tag vor dem Scheidungstermin löste sich Kevin Berthold in Luft auf – und mit ihm seine Millionen. Ungeduldig hatte er auf diesen Tag gewartet, ihn fieberhaft herbeigesehnt. Er war kaum noch zu bremsen. Bourée musste ihm regelrecht einen Maulkorb verpassen, damit er sich nicht verplapperte. Als ihn Marc allerdings das letzte Mal sah, strahlte Berthold wie eine Supernova. Er bestieg einen Zug, dessen Karte bar bezahlt wurde, und ließ sich über das europäische Schienennetz treiben, um in Lissabon ein Flugzeug in die Karibik zu besteigen. Bei seinen regelmäßigen Kontrollen hatte ihn Marc bislang nicht gefunden, also ging er davon aus, dass sein Klient ein sorgenfreies Dolce Vita unter Palmen führte.

Hausner hatte kein Paradies vor Augen und keine Millionen, die er retten musste, bevor man sie ihm aus den Händen riss. Er floh aus seinem Leben, weil er musste, nicht weil er wollte. Das war Marc klar. Solche Fälle hatte er auch schon gehabt. Da gab es ein Stalking-Opfer, das jedes Vertrauen in die Polizei verloren hatte und nur noch diesen radikalen Ausweg sah, oder einen Mann, der sich von der Mafia verfolgt fühlte. Bis zuletzt war sich Marc nicht sicher, ob die Bedrohung real oder eingebildet war, aber das konnte ihm schließlich egal sein. Alle hingen an ihrem alten Leben, sahen aber nur noch diese ultimative Lösung.

Und Hausner verspürte die Notwendigkeit, vor seiner gewalttätigen Frau und deren noch brutaleren Brüdern zu fliehen. Er hatte auch etwas von einer gepeinigten Gestalt. Bourée glaubte, in seinen leeren Augen all den Schmerz und die Erniedrigung zu erkennen, die sein Klient erlitten hatte. Hausners Seele war vergiftet, seine Stimmung von einer tief hängenden Gewitterfront verfinstert. Er war ein Mensch, der sein Selbstwertgefühl scheibchenweise verloren hatte und damit auch seine Selbstachtung und seinen Stolz.

Die Aussicht auf ein baldiges Verschwinden schien sich nicht positiv auf Hausners Gemüt auszuwirken. Ganz im Gegenteil. Bei ihren wöchentlichen Treffen hatte er das Gefühl, der Buchhalter wäre eher noch depressiver und bisweilen sogar übellaunig. So blockte er alle Gespräche über seine Zukunft ab, obwohl es für Marc zu seinen heiligsten Pflichten zählte, den Weg ins Ungewisse so gut wie möglich zu bereiten. Doch offenbar wollte Hausner nichts davon wissen.

»Ihr Job ist es, die Spuren zu verwischen und Fehlinformationen zu lancieren«, sagte Hausner bestimmt, »was ich später mache, ist mein Ding.«

»Ich will Ihnen nicht in Ihre Zukunftsplanung reinreden, aber wenn Sie vermeiden wollen, gefunden zu werden, dann müssen wir einige elementare Punkte besprechen.«

Hausner nickte und forderte Bourée mit einer Handbewegung auf, ihm seine Ratschläge zu unterbreiten.

»Benutzen Sie ausschließlich Prepaid-Kreditkarten. Die sind nicht zurückzuverfolgen. Dasselbe gilt für Handys.«

»Das haben Sie mir schon zu verstehen gegeben«, sagte Hausner unwirsch.

»Wenn Sie zu Ihrem Sohn Kontakt halten wollen...«