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Der blutige Weg zum Erfolg – er fordert seine Opfer. Der Schauspieler und Schönling Klaus Scheitan wird grausam ermordet. Ein Stich ins Herz, außerdem wurde er entmannt. Für die Kripo München steht zunächst fest, dass nur ein Motiv in Frage kommt: die Rache einer enttäuschten Liebe. Doch dieser Mord ist nur der Auftakt zu einer Reihe mysteriöser Todesfälle in der Filmschickeria. Die taffe, burschikose Hauptkommissarin Barbara Tischler muss sich bei ihren Ermittlungen nicht nur mit überdrehten Filmsternchen und ehrgeizigen Produzenten herumschlagen, sondern auch noch mit ihrem Single-Dasein, mit Kollegen und Vorgesetzten. Für diese steht der Mörder nämlich bald fest. Doch Tischler stößt auf einen rätselhaften Todesfall, der Jahre zurück liegt, auf eine Wasserleiche, die nie gefunden wurde… Ein hochspannender Krimi, der mit mildsatirischem Blick die Medienwelt als Panoptikum menschlicher Eitelkeiten zeichnet.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Impressum
Werner Gerl
Eine Art Serienmörder
Kommissarin Tischlers erster Fall
Werner Gerl : Eine Art Serienmörder
Kommissarin Tischlers erster Fall
Am letzten Tag seines kurzen Lebens genehmigte sich Klaus Scheitan ein Entspannungsbad, wie er es immer tat nach einem anstrengenden Tag am Set. Es zählte zu seinen täglichen Ritualen, er hasste es, wenn der Arbeitsschweiß an ihm klebte, wenn er das verschmierte Make-up riechen konnte. Das Bad reinigte seinen Körper und seinen Geist. Er gab Salzkristalle mit rotem Mohn in die grüne Marmorwanne, die das Wasser wie Johannisbeersaft färbten. Nur sein Inneres vermochte kein Entspannungsbad dieser Welt zu reinigen.
Klaus Scheitan war bestens gelaunt, fast schon in romantischer Stimmung, zumindest in erotischer Vorfreude. Er dimmte das Licht, zündete ein paar Kerzen an und legte Musik auf. Dann glitt er langsam in die Wanne. Er genoss das Bad, die Wärme, das Prickeln der Solekristalle auf der Haut. Er schloss die Augen und ließ sich von den sanften Tönen umwehen.
Seit knapp drei Wochen hatte Scheitan keinen Sex mehr gehabt, eine ungewöhnlich lange Durststrecke für einen Mann seines Kalibers. Denn die Natur hatte ihn mit allen Vorzügen ausgestattet. Er war die teutonische Ausgabe eines Latin Lovers. Lockiges, schwarzes Haar, ein breites, männliches Kinn, auf dem immer, auch nach der intensivsten Rasur, der dunkle Bartansatz schimmerte. Dafür besaß er schmale Wangenknochen und undurchdringliche Augen, geheimnisvoll und tief wie ein Moorsee, Augen, in denen sich Frauenherzen verlieren konnten, in denen sie ertranken und untergingen. Dazu besaß er einen sportlichen Körper, der im Fitnessstudio aufgepumpt, also mit der nötigen Muskelmasse versehen worden war. Klaus Scheitan war ein Schönling, der von Kritikern als deutscher Johnny Depp bezeichnet wurde, allerdings nur des Aussehens wegen, denn schauspielerisch war er eher ein Kandidat für die Goldene Himbeere. Freilich interessieren sich die amerikanischen Spötter, die diesen gefürchteten Preis verliehen, nicht für deutsche Bildschirm-Heroen, die Soaps und Telenovelas bevölkern.
Die lange Enthaltsamkeit war jedoch nicht nur wegen Scheitans außerordentlicher Attraktivität erstaunlich, der Beau war auch mit einem sexuellen Appetit ausgestattet, der fast schon nicht mehr gesund war, zumindest nicht für Beziehungen. Sein Rekord waren zwei Jahre, aber nur weil seine damalige Freundin viel auf Reisen war und seine Seitensprünge nicht wahrnahm, sie vielleicht auch nicht wahrnehmen wollte, denn sie war ihm mit Leib und Seele verfallen. Für feste Bindungen, für eine Ehe gar war er nicht geschaffen, das wusste er. Seine Frauen wussten es nur bedingt, das Heucheln von der Liebe auf den ersten Blick gehörte zu seinem Balzrepertoire wie das smarte Lächeln und das Umschmeicheln mit Komplimenten. Die Zahl seiner Frauen war Legion, die Zahl der emotionalen Leichen, die er hinterließ, ebenso. Viele waren enttäuscht, schmorten lange in der Hölle des Liebesschmerzes, manche auch waren wütend, wünschten ihm die Pest an den Hals, trugen sich mit Mordgelüsten. Eine von dieser Sorte hatte ihm heute eine SMS geschrieben.
Mein Hengst, sehne mich nach Deinem Körper. Lösche meine Glut. Nur diese eine Nacht, der alten Zeiten willen. Und ich werde Deinem Prachtgerät eine unvergessliche Überraschung bereiten. Komme um 20 Uhr.
Die SMS kam zur richtigen Zeit, denn Scheitans bestes Stück war seit drei Tagen schmerz- und tropfenfrei. Die Gonorrhoe war dank Antibiotika verheilt. In erotischer Vorfreude spielte er ein wenig mit seinem männlichsten Teil herum und spürte, wie schnell die Erektion kam. Die letzte, zumindest die letzte verwertbare, hatte ihm den Tripper eingebracht. Die Nacht mit der Bedienung bei einem Thailänder in Schwabing hatte er teuer bezahlt. Einmal unvorsichtig gewesen, schon hatte man sich angesteckt und musste eine kurze mönchische Phase einlegen.
Und nun hatte sich eine Frau gemeldet, mit der er nie im Leben mehr gerechnet hätte, wenn er daran dachte, welchen Psychoterror sie nach der Trennung veranstaltet hatte. Aber er hatte sie nicht mehr ertragen, ihr neurotisches Wesen, ihre Ausfälle, ihre Wodkaeskapaden. Doch der Sex mit ihr, der war immer gut. Ausgehungert wie er war, freute er sich auf eine Nacht mit seiner Ex, einer heißen Frau mit samtenen Lippen, in denen man versinken konnte wie der Pascha in seinem Meer orientalischer Kissen. Ihre Brüste, lebende Monumente künstlicher Schönheit, die jeden Kritiker der plastischen Chirurgie verstummen ließen.
Vielleicht lag es an der Erektion, die ihn betörte und seine Konzentration typischerweise auf eine Stelle fokussierte. Vielleicht lag es aber auch an der wohligen Wärme des mohnhaltigen Entspannungsbades oder an den sphärischen Klängen der Musik, dass Klaus Scheitan, entrückt von dieser Welt, nicht bemerkte, wie jemand in seine Wohnung eindrang.
Leise schlich die Gestalt durch das Wohnzimmer. Sie hatte das Appartement beobachtet, länger schon. Selbst durch das Milchglas des Badezimmerfensters konnte man eine Silhouette wahrnehmen, die einem verriet, dass sich Scheitan nun sein Bad genehmigte. Wer den Schauspieler kannte, der wusste von seinen Gepflogenheiten. Und diesen Moment wollte die Gestalt abwarten.
Leise öffnete sie die angelehnte Badezimmertür. Scheitan lag mit geschlossenen Augen in der Wanne und genoss das Leben. Genau genommen die letzten Sekunden seines Lebens.
„Hallo Klaus“, hauchte eine sanfte Stimme.
Scheitan schreckte hoch. Überrascht, mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Eindringling an. In seinem Gesicht paarten sich Überraschung und Entsetzen, im Prinzip leinwandreif, nur hätte er es vor der Kamera nicht so hinbekommen. Der Anblick der Gestalt ließ ihn schaudern, vor allem aber das Metzgermesser, das sie in der Hand hielt. Mehr als einen gestammelten Laut, der sich nicht einmal zum Schrei auswachsen konnte, brachte er jedoch nicht mehr hervor, zu schnell rammte sich der kalte Stahl in sein Fleisch und durchbohrte sein Herz, jenes Organ, das er selbst so oft gebrochen hatte. Schnell änderte das Badewasser seine Farbe von Johannisbeere zu mörderischem Rot, derart schnell quoll das Blut aus der Wunde. Schlaff lag der Schönling in der Wanne. Wenigstens spürte er so nicht mehr, was die Gestalt noch alles mit seinem Körper vorhatte, besonders mit seiner Erektion. Die SMS hatte nicht gelogen. Klaus Scheitans Prachtgerät wurde eine unvergessliche Überraschung bereitet.
„Speed-Dating?“
„Ja, soll total wild sein.“
Kommissar Ralf Mangel kümmerte sich nicht nur um das leibliche Wohl seiner Chefin, als er ihr das Mittagessen, Hühnchen in rotem Curry mit Kokosmilch, in der für Lieferservices typischen Styroporbox brachte. Auch ihr darbendes Liebesleben war ihm, dem glücklich verheirateten Familienvater, ein Herzensanliegen.
„Wild? Ralf, da bröckelt mal wieder die Münchner Fassade, und der niederbayerische Aborigine bricht durch.“ Hauptkommissarin Barbara Tischler warf ihm während des ersten Bissens einen leicht spöttischen Blick zu.
„Toll halt dann. Mein Freund, der Macki ...“
„Der mit der Ganzkörperrasur?“
„Genau der. Also, der Macki hat bei so einem Speed-Dating fünf Keulen abgeschleppt.“ Mangel schaute seine Chefin erwartungsvoll an und packte sein Chop Suey aus.
„Der Neandertaler und seine Keulen. Das sind fünf Gründe mehr, diesen Zirkus nicht mitzumachen.“ Barbara Tischler genoss die wunderbare Melange aus scharfem Curry und milder Kokosmilch und hatte wenig Lust, über Auswüchse des Singlebusiness zu reden.
„Sei nicht so gschleckig, man muss alles ausprobieren.“
„Stimmt. Ich muss immer alles ausprobieren“, sagte Tischler, stand auf und blickte Mangel entschlossen an. „Ich probier dich.“
„Was willst du?“ fragte Mangel überrascht. Dann steckte die Hauptkommissarin ihre Gabel in seine Schüssel und fischte sich einen Happen Chop Suey heraus. „Auch nicht schlecht.“
„Und genau so musst du bei den Männern rangehen.“
„Indem ich beim ersten Date von ihrem Teller nasche? Dann verklagen sie mich noch wegen Mundraubs.“
„Da brauchst du dir nichts denken, das Verfahren würde wegen Geringfügigkeit eingestellt.“
Barbara Tischler wusste manchmal nicht, ob ihr fleißiger Mitarbeiter solche Kommentare wirklich ernst meinte, aber Ironie war meist nicht sein Ding. Eine gewisse Naivität war dem Polizisten in die niederbayerische Wiege gelegt, da konnten auch ein langjähriges Studium und mittlerweile sechs Jahre München wenig ausrichten.
„Ihr Singles seid zu wählerisch, das ist euer Problem“, meinte Mangel, an einem zähen Fleischbrocken kauend.
„Im Gegensatz zu deinem keulenschwingenden Freund mit dem Baby-popo? Ich bin gern wählerisch. In Begleitung falscher Männer krieg ich außerdem immer Lippenherpes. Dauert keine fünf Minuten, schon bläht sich die Unterlippe auf.“
„Ich kenn da eine super Salbe. Wenn ich was an der Lippe spüre, dann ...“
In diesem Moment läutete das Telefon. Obwohl sie normalerweise ein Mittagessen in Ruhe schätzte – hatte sie doch selten genug die Gelegenheit dazu –, war Barbara Tischler nicht unfroh über die Störung.
In Gedanken versunken, verschlang die Hauptkommissarin die letzten Reste des Currys. Sie achtete kaum auf das Telefonat. War sie tatsächlich zu wählerisch? Musste man als einundvierzigjähriger Dauer-Single nicht wirklich alle Möglichkeiten ausschöpfen? Wann habe ich überhaupt das letzte Mal einen potentiellen Kandidaten, einen Single einigermaßen in meinem Alter kennengelernt, überlegte sie. Das war schon Monate her. Bei Irinas Silvesterparty. Der Abend war in eine amouröse Katastrophe gemündet, die sie aus ihrem internen Speicher gelöscht hatte. Beschickert ließ sie sich auf einen One-Night-Stand ein, das heißt, sie wollte sich auf einen einlassen, aber das männliche Objekt der Begierde, ein Programmierer bei Siemens, schlief beim Vorspiel ein. Sein alkoholbedingter Absturz habe wohl auch zu einem Absturz der Hard- und Software geführt, versuchte er am nächsten Tag zu witzeln, aber Barbara fand diesen Scherz so lustig wie Fußpilz. Das war Silvester. Und heute war der 9. März.
„Lucius Feuerbach ist tot“, sagte Mangel mit schwacher Stimme und riss seine Chefin aus ihren Erinnerungen.
„Sollte ich den kennen?“ fragte sie stirnrunzelnd.
„Ja freilich, den kennt doch jede. Lucius Feuerbach, der Traum aller Frauen.“
„Ehrlich, Ralf, ich träume manchmal von Männern, die will ich gar nicht kennenlernen.“ Dann packte sie ihre Arbeitstasche und stand auf. „Wo liegt die traumhafte Leiche?“
„Schwabing, Tristanstraße.“
Nur wenige Meter abseits der lärmenden Leopoldstraße mit ihren schicken Kneipen und Geschäften, mit den Straßencafés, in denen es im Sommer tobt und sprudelt, und mit dem Zentrum, der Münchener Freiheit, wo man den herumtollenden Kindern, aber auch den Schachspielern mit den kniehohen Figuren oder den Pennern mit den Bierdosen zuschauen kann, liegt die Tristanstraße. Sie befindet sich in guter Nachbarschaft. Es wagnert in dem Viertel, denn auch die untreue Isolde und ihr gehörnter Mann, König Marke, sind Namenspatronen für Straßen.
Das Schönste an dem Viertel aber ist die Ruhe. Man taucht nach dem Parzivalplatz ein in ein Geflecht stiller, enger Straßen, die von Bäumen gesäumt und von Gärten begrünt und verschönert werden. Vor solch einem kleinen Großstadtidyll hielten die beiden Polizisten. Es standen bereits ein Notarztwagen und ein Streifenwagen der Schutzpolizei davor. Angelehnt an den Zaun, einen Eisenzaun aus Kaisers Zeiten, lehnte ein junger Mann. Er rauchte eine Zigarette und blies den Rauch langsam und bedächtig wieder aus.
„Scheint der Knabe zu sein, der auf der Wache angerufen hat“, meinte Tischler. „Macht nicht gerade einen schockierten Eindruck.“
„Täusch dich nicht, es hat mal einen Fall gegeben, da hat eine Frau monatelang ganz normal mit ihrem Mann gelebt, der sich im Wohnzimmer aufgehängt hatte, weil ...“
„Ist schon gut, Ralf, das verschieben wir auf den Nachmittagskaffee“, bremste Barbara Tischler ihren Kollegen.
Nachdem sie ausgestiegen waren, gingen sie auf den Mann zu. Dieser begrüßte sie erst einmal damit, heftig zu niesen.
„Entschuldigen Sie“, meinte er und griff zu einem Taschentuch.
„Erkältet? Kein Wunder bei diesem Schmuddelfrühling“, meinte die Kommissarin.
„Nein. Ganz normaler Heuschnupfen. Bin auf irgendeinen Baum allergisch.“
„Haselnuss oder Erle, das wäre typisch für den März“, warf Mangel, der Naturbursche, ein.
„Danke. Ich werde die Bäume bei Gelegenheit interviewen.“ Dann nieste er noch einmal kräftig. „Benside. Mario Benside“, stellte er sich vor. „Ich hoffe, Sie halten mich nicht für unhöflich, aber ich denke, ich gebe Ihnen besser nicht die Hand.“
„Haben Sie die Leiche gefunden?“ fragte die Kommissarin, die sich ein wenig über Bensides Ausdrucksweise amüsierte.
Der junge Mann schüttelte bedächtig den Kopf. Er hatte ein angenehmes Wesen, blitzende Augen und ebenmäßige Gesichtszüge. Dunkle, kurze Haare und ein dünnes Bärtchen. Gekleidet war er nicht unbedingt wie ein Fernsehschaffender, er trug T-Shirt und ein offenes graues Flanell-Hemd darüber, dazu Jeans und Sneakers.
„Pina hat ihn gefunden“, sagte Benside lakonisch.
„Pina Beerens, die Schauspielerin? Die ist da?“ Mangels Augen leuchteten.
„Wer ist das? Muss ich die kennen?“ fragte seine Chefin.
„Pina Beerens ist der weibliche Star in ‚Eine Frage des Herzens‘.“
„Das heißt, ich muss sie nicht kennen“, erwiderte Tischler trocken.
„Doch, ‚Eine Frage des Herzens‘ ist super, das ist meine Lieblingssoap.“
„Das ist eine Telenovela“, korrigierte ihn Benside. „Ich bin der Produktionsassistent, so eine Art Mädchen für alles.“
„Und wo ist Frau Beerens jetzt?“ wollte Tischler wissen.
Benside neigte mit dem Kopf und zeigte zum Innenhof des dreistöckigen Hauses. „Sie sitzt da hinten, Nervenzusammenbruch.“
„Und warum helfen Sie ihr nicht?“ fragte Mangel.
Benside zuckte mit den Schultern. „Ich hab alles getan, was ich tun konnte. Außerdem ist mittlerweile ja auch der Notarzt gekommen. Er wartet jedoch noch auf den Krankenwagen. Der hat wohl Verspätung. Wenn Sie aber wollen, probieren Sie Ihr Glück!“
„Gut, bleiben Sie bitte hier“, ermahnte ihn Tischler. Dann gingen sie die nördliche Hauswand entlang, bis sie an einen kleinen Innenhof kamen. Die Tür war sperrangelweit offen. Darin stand ein Schutzpolizist, der die beiden Kommissare höflich grüßte. Davor war bereits ein gelbes Sperrband zur Abriegelung eines Tatorts gespannt.
Auf den Stufen vor der Tür saß eine Frau, zusammengekauert, die Augen tränengefüllt und rot, die Haare wirr. Das wirklich Ausgefallene an ihr war, dass sie sich in die Hände biss, richtig biss, als wollte sie sich selbst fressen.
„Frau Beerens“, sagte Mangel. Der Anblick seines Mattscheibenidols schockierte ihn. „Kann ich Ihnen helfen? Ich bin ...“
Die weiteren Worte des jungen Kommissars gingen im Geschrei von Pina Beerens unter. Sie legte los wie eine Kreissäge, laut, schrill, hysterisch.
Jetzt weiß ich auch, was Benside damit gemeint hat, er habe alles versucht, dachte sich Tischler. Lang hielten das auch die stärksten Trommelfelle nicht aus.
Alarmiert durch die Schreie kam der Notarzt aus der Wohnung. Er sprach beruhigend auf Pina Beerens ein, während er seinen Koffer öffnete, eine Spritze entnahm und aufzog. In diesem Moment war das Martinshorn des Roten Kreuzes zu hören.
„Na endlich“, schimpfte Dr. Bertram, der Notarzt, dann wandte er sich wieder der Schauspielerin zu. „Ganz ruhig“, meinte er mit sonorer Stimme, um jedoch sofort wieder ungehalten zu werden. „Hier gibt es nichts zu gaffen“, blaffte er die beiden Kriminalpolizisten an. Es nützte wenig, dass sie sich auswiesen und als Kommissare zu erkennen gaben. „Dann gehen Sie doch da rein und schauen Sie, was da liegt.“ In diesem Moment kamen die beiden Sanitäter mit einer Trage, hinter ihnen schlenderte Benside, die Hände in den Hosentaschen. „Na endlich. Sagt mal, seid ihr über Nürnberg gefahren?“ Der Notarzt war krebsrot im Gesicht
„Was soll das? Wir sind sofort los, als der Notruf kam“, brummte der ältere Sanitäter zurück. Es war offensichtlich, dass der Notarzt unter Hochspannung stand. Oder unter Schock.
Die beiden Sanitäter packten die schreiende, schon fast bizarr verkrampfte Schauspielerin, so dass der Arzt die Spritze ansetzen konnte. Schnell verstummten daraufhin die Schreie, und Pina Beerens sank zusammen. Die Sanitäter hoben sie auf die Trage und brachten sie in ihren Wagen. Das Haar wirkte immer noch wirr, die Hände waren übersät mit Bissspuren, die Finger blau und rot angelaufen, teils sogar wund, aber ihre Gesichtszüge waren entspannt. Sie sah wieder aus wie der blonde Engel aus dem Fernsehen, das Mädchen mit dem reinen Gesicht, das nicht zu altern schien, die fleischgewordene Unschuld.
„Wir bringen sie jetzt ins Schwabinger Krankenhaus. Die Frau muss einen schweren Schock erlitten haben“, meinte der Arzt zu den Polizisten.
„Wann ist sie vernehmbar?“ fragte Tischler.
Der Arzt zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte, heute nicht mehr.“ Die Zornesröte war mittlerweile aus seinem Gesicht gewichen und hatte einer ungesunden Blässe Platz gemacht. „Ich zeige Ihnen dann erst einmal die Leiche“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. Da mittlerweile aber das gesamte Polizeiteam angekommen war, schickte Tischler den Arzt vor. Sie sprach kurz mit Georg Barth, dem Leiter der Spurensicherung.
„Hallo Barbara“, begrüßte er freudig seine Kollegin. „Was gibt’s?“
„Eine Leiche, mehr weiß ich auch nicht. Wir waren noch nicht drinnen.“
„Wunderbar, das heißt, ihr habt ausnahmsweise noch keine Spuren vernichtet.“ Barth grinste sie an. Die beiden mochten sich. Mit einer Handbewegung zitierte er seine Männer in das Haus.
Tischler wollte noch mit Benside reden, bevor sie die Leiche begutachtete. „Wie haben Sie bemerkt, dass Feuerbach tot ist?“
Benside zog eine Augenbraue hoch und lächelte. „Machen Sie Scherze? Wenn nur Feuerbach tot wäre, dann wären Sie nicht hier. Dann hätte nur ich einen Job zu erledigen.“
Fragend blickte Tischler ihren Kollegen an. „Du hast gesagt, ein gewisser Lucius Feuerbach sei ermordet worden.“
„Ja, schon, also ...“, stotterte Mangel leicht verlegen, „der tote Schauspieler heißt Klaus Scheitan. Er spielte in ‚Eine Frage des Herzens‘ die Rolle des Lucius Feuerbach. Eine fiese Figur, also, was der mit seinem Bruder macht ...“
„Ist gut, Ralf. Herr Benside, was war los?“
„Es ist ganz einfach. Wir hatten heute Morgen eigentlich einen Dreh, aber Klaus kam nicht. Gut, kleinere Verspätungen sind bei ihm immer wieder mal drin, bei seinem Lebenswandel.“
„Und wie ist dieser Lebenswandel denn so?“
Benside grinste verschmitzt. „Na, Klaus ist – oder war – schon ein ziemlicher Womanizer.“ Er hob die Hände, als wollte er sich ergeben. „Ich meine, ich kannte ihn privat kaum, aber was man so hörte, hatte er eine enorme Frequenz in seinem Bett. Wenn er das Laken nach jeder Frau gewechselt hat, war die Waschmaschine ganz schön oft voll. Und alles Topfrauen. Models, Schauspielerinnen, die ganzen aufgetakelten Discomiezen vom Pacha und solchen Läden.“
„Und da dauerte manchmal der One-Night-Stand bis zum Frühstück, was die kleineren Verspätungen erklärt“, schloss Tischler ab.
„Exakt. Aber mehr als eine Stunde kam er nie zu spät. Also haben wir es bei ihm zu Hause versucht und auf dem Handy, das übrigens nicht ausgeschaltet war. Aber nichts. Das hat uns stutzig gemacht, dann sind wir hierher gefahren, Pina und ich.“
„Wie sind Sie in die Wohnung gekommen?“ fragte Tischler.
„Mit dem Schlüssel, ganz einfach“, sagte Benside lakonisch.
„Mensch Barbara, die Beerens und der Scheitan waren doch zusammen, das Traumpaar des deutschen Fernsehens. Aber vor so drei Monaten hat’s gekracht, und dann sind sie auseinander gegangen“, erklärte Mangel. „Und wie. War ein richtiger Rosenkrieg, hast du bestimmt gelesen.“
„Ganz sicher nicht. Ehrlich, was die Stars und Sternchen so treiben, , interessiert mich so viel, wie wenn in Athen eine Eule schwanger ist.“
„Eulen werden doch nicht schwanger, Barbara“, korrigierte sie Mangel, „die legen Eier.“
Tischler seufzte und verdrehte die Augen. „Dann interessiert es mich halt so viel, wie wenn in Athen ein Eulenei herunterfällt.“
„Ihr Kollege hat aber recht“, wandte Benside ein, der die Diskussion über die Fortpflanzung griechischer Nachtvögel offensichtlich unerquicklich fand und das Gespräch lieber wieder auf das Thema zurücklenken wollte. „War eine brutale Schlammschlacht.“
„Die Beerens hat ihm in einer Talkshow damit gedroht, die Eier abzuschneiden“, ergänzte Mangel.
„Und zu Demonstrationszwecken hat sie sogar ein Metzgerbeil geschwungen.“
„Genau. Damit hat sie auf so, na, Plastikgenitalien eingeschlagen. Wo hat sie denn die hergehabt?“
„Aus dem Sexshop, nichts Besonderes.“
Mangel und Benside warfen sich gegenseitig die Bälle zu, offensichtlich amüsiert über den öffentlichen Rosenkrieg und seine geschmacklosen Auswüchse.
„Gut, damit beschäftigen wir uns später“, bremste Tischler die beiden aus, „aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hatte Pina Beerens immer noch einen Schlüssel?“
Benside hob wieder die Hände, was sagen sollte, er wisse selbst, wie seltsam das alles klinge. „Ja, so war es. Klaus wollte ihn auch zurück haben, aber Pina hat ihn einfach behalten. Sie kann ziemlich stur sein, die Kleine.“
„Und warum hat Scheitan nicht das Schloss ausgewechselt? Wäre doch das Einfachste gewesen“, warf Tischler ein.
Benside zuckte nur mit den Schultern. „Ist mir auch ein Mysterium, ehrlich.“
„Gut, das prüfen wir nach. Sie und Frau Beerens sind also mit dem Schlüssel rein in die Wohnung, und dann?“
„Wir haben ihn erst einmal gerufen, aber keine Antwort bekommen. Dann haben wir ihn gesucht. Ich bin ins Schlafzimmer. Da wollte Pina nicht hin.“
„Weil sie keine böse Überraschung erleben wollte: der Ex-Lover mit einer drallen Blondine im Bett“, ergänzte Tischler.
„Genau, dafür fand sie ihn dann im Bad. Sie fing an hysterisch zu schreien. Ich lief sofort zu ihr, aber sie kam schon heraus und brüllte weiter. Erst wollte ich sie beruhigen und in den Arm nehmen, aber da schrie sie nur noch lauter. Und dann sagte sie plötzlich ‚Er ist tot, er ist tot‘ und brach völlig zusammen. Ich habe sie ins Freie getragen und hier in den Rasen gelegt. Dann habe ich die Polizei angerufen.“
„Sie haben die Leiche gar nicht gesehen?“ fragte Tischler überrascht.
Benside schüttelte leicht den Kopf und verzog das Gesicht. „Die muss ich nicht sehen.“
„Und Frau Beerens?“
„Die war ja ohnmächtig, ist aber nach kurzer Zeit wieder aufgewacht. Sogleich hat sie wieder gekreischt und sich auf die Stufen gesetzt. Den Rest kennen Sie.“
„Dann wollen wir uns mal den Grund für die Schreie anschauen“, meinte Tischler und wandte sich dem Haus zu.
„Kann ich gehen? Ich meine, hier brauchen Sie mich nicht mehr, oder? Und in der Firma brennt die Hütte. Der Hauptdarsteller ist tot und die Hauptdarstellerin im Krankenhaus. Und wir sind mitten in den Dreharbeiten zur zweiten Staffel.“
Tischler ließ sich noch die Visitenkarte von Benside geben, bestellte ihn zum Protokollieren der Aussage ein und entließ ihn dann.
„Sonderlich betrübten Eindruck macht der Knabe nicht“, meinte die Kommissarin.
„Der steht unter Schock. Das muss so ein Jungspund erst verkraften, dass einem der Star wegstirbt.“
„Schockiert, meinst du. Ich fand ihn unterkühlt. The show must go on, egal, wer gerade seine letzte Rolle gespielt hat.“
Die Wohnung war modern eingerichtet. Das Mobiliar bestand nahezu ausschließlich aus schwarzen und weißen Gegenständen. Schwarze Ledercouch, weißer Tisch, schwarze Stehlampe. Keine billigen Möbel, aber auch keine ausgefallenen Designerstücke, die Unsummen verschlungen hätten. Pflanzen fehlten vollkommen. Auch die spärlichen Bilder an den Wänden waren wenig farbintensiv, zumeist Reproduktionen von klassischen Fotografien wie Man Rays Violine von Ingres, aber auch zwei mit Symbolen und Zeichen, darunter ein stilisiertes schwarzes Kreuz. Insgesamt hatte sich Scheitan eine Wohnung eingerichtet, die eine Handschrift verriet und durchaus von Geschmack zeugte, aber die Herzlichkeit und Wärme eines Kühlschranks ausstrahlte.
Zumindest was die Gesichtsfarbe anbelangte, hatte sich Walter Rohrmann der Einrichtung angepasst. Der junge Beamte, der erst seit kurzem bei der Spurensicherung arbeitete, war leichenblass. Er machte einen verstörten Eindruck und stierte vor sich hin. Als er Tischler und Mangel hereinkommen sah, blickte er kurz auf.
„Alles in Ordnung, Walter?“ fragte Tischler.
Rohrmann schüttelte den Kopf.
„So was ... so was habe ich noch nicht gesehen“, stammelte er leise.
Mangel und Tischler blickten sich kurz an, dann gingen sie ins Bad. Zwei weitere Experten von der Spurensicherung sowie der Arzt waren bei der Arbeit, drei ausgebuffte Profis, die schon viel in ihrer Laufbahn erlebt hatten. Abgehackte Hände, nach einem Unfall verstümmelte Leichen, aufgeplatzte Köpfe, doch dieser Anblick war für alle eine Herausforderung.
„Oh Scheiße“, murmelte Mangel.
Klaus Scheitans Leiche war ausgeblutet wie ein geschächtetes Stück Vieh, aber nicht nur von dem Stich ins Herz. Der Mörder hatte ihm die Genitalien abgeschnitten. Doch diese Schändung hatte ihm offensichtlich nicht gereicht. Mit aufgerissenen Augen lag der Schauspieler in der Wanne, den Kopf zur Seite geneigt, aus seinem Mund, der so viele Frauen geküsst, ja verzaubert hatte, hingen schlaff sein Penis und seine Hoden. Dafür war das Gesicht geschminkt. Sinnlich rot glänzten die Lippen, die Augen waren mit Kajal und Lidschatten verschönert, die Wangen mit dezentem Rouge getönt.
Die Beine hatte Scheitan weit gespreizt. Von dort führte eine Blutspur, ein getrocknetes Rinnsal, zum Ablauf. Aber da, wo einst seine Männlichkeit war, hingen grüne Fäden heraus.
Dr. Bertram ging auf die beiden Polizisten zu. „Entschuldigen Sie, dass ich vorhin so ausfallend wurde. Aber das ... das hier nimmt mich mit. Schlimme Sache“, sagte er leise.
„Können Sie schon etwas Genaueres sagen?“ fragte Tischler.
„Der Mörder war ein Monster, wenn Sie mich fragen. Er hat Scheitan ...“
„Das glaube ich nicht“, fiel ihm Georg Barth, der Chef der Spurensicherung, ins Wort.
„Darf ich bitte ausreden“, giftete Bertram zurück. Die beiden hatten schon bei einigen Einsätzen das Vergnügen miteinander gehabt. Man mochte sich nicht, musste aber irgendwie auf dem gleichen Areal miteinander zurechtkommen. „Scheitan wurde mit einem Stich ins Herz getötet. Breite Klinge, vermutlich ein Metzgermesser. Dann hat der Mörder das Wasser ablaufen lassen und die nasse Leiche abgetrocknet. Man sieht Partikeln von Handtuchfasern auf der Haut.“
„Das Handtuch selbst haben wir auch gefunden“, ergänzte Barth. „Ist schon eingetütet.“
„Aber was hängt da aus der Wunde zwischen den Beinen heraus?“ fragte Tischler, die eine böse Ahnung beschlich.
„Tampons, neun Stück an der Zahl.“
„Tampons?“ wiederholte Tischler ungläubig. „Wieso zum Teufel stopft der Mörder ihm Tampons in die Wunde?“
„Keine Ahnung“, gab Dr. Bertram zu. „Vielleicht um die Blutung zu stoppen.“
„Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Mag sein. Aber das Rätsel zu knacken ist Ihr Job. Sie entschuldigen mich jetzt. Den genauen Bericht haben Sie heute Abend auf dem Schreibtisch.“ Damit verabschiedete sich Dr. Bertram.
„Warum haben Sie dem Doktor vorhin widersprochen, Barth? Glauben Sie nicht, dass der Mörder ein Monster war?“
„Ach, Frau Tischler, mit solchen Attributen kann ich nichts anfangen. Monster! Der Mörder war ein Mensch. Ich kann’s nicht ausstehen, wenn man solche Killer entmenschlicht. Dann muss man sich nicht mehr damit auseinandersetzen, wozu Menschen fähig sind.“
„Das sag ich auch immer. Der Mensch ist dem Menschen Wolf“, warf Mangel ein.
„Gut, Widerspruch akzeptiert“, meinte Tischler.
„Ich habe dem Bertram aber nicht deswegen widersprochen.“
„Sondern?“
„Weil ich glaube, dass wir es nicht mit einem Mörder zu tun haben.“
„Wie?“ fragte Mangel ungläubig. „Sie glauben, der hat sich selbst umgebracht?“ Dr. Bertram lachte über die absurde Bemerkung.
„Nein. Wir haben es nicht mit einem Mörder zu tun, sondern mit einer Mörderin.“
„Wie kommen Sie darauf?“ fragte Tischler überrascht.
„Wir haben Spuren von Stöckelschuhen gefunden, die eindeutig der Täter hinterlassen hat. Hier im Bad und auch im Wohnzimmer. Ich kann mir schwerlich vorstellen, dass ein Mann für einen Mord in Damenschuhe schlüpft und auf Zehenspitzen herumstolziert, und das bei Schuhgröße 38, höchstens 39. Außerdem, schauen Sie sich die Schminke an.“
Tischler beugte sich zum Gesicht des Toten. Es war ein grotesker Anblick. Der geschminkte Schönling mit den Genitalien im Mund.
„Saubere Arbeit. Der Lippenstift ist nicht verschmiert, der Kajal und der Lidschatten millimetergenau aufgetragen. Respekt. Das schaff ich nicht mal bei mir selbst.“
„Das meine ich auch. Also: eine Täterin.“
Tischler nickte. „Höchstwahrscheinlich. Gibt es weitere Spuren?“
„Keine Fingerabdrücke, die Täterin trug definitiv Handschuhe und war auch ansonsten vorsichtig. Bislang haben wir nichts gefunden, was DNS-Spuren liefern könnte.“
„Haben wir Hinweise auf einen Einbruch? Wie kam der Täter überhaupt herein?“ fragte Tischler.
„Die Täterin“, korrigierte Barth.
„Sorry, ich bin einfach Männer als Mörder gewöhnt. Dabei hätten wir Frauen oft mehr Grund, euch das Licht auszublasen.“
„Barbara, sei nicht so männerfeindlich. Du bist ja eine richtige Kratzbürste“, meinte Mangel.
„Nichts. Wir haben keinerlei Einbruchspuren“, fuhr Barth fort. „Die Täterin hatte einen Schlüssel, vermute ich.“
„Oder Scheitan hat sie hereingelassen“, ergänzte Tischler. „Wie sieht’s mit der Mordwaffe aus? Schon gefunden?“
„Nein, ich vermute, dass sie die Täterin mitgenommen hat. Und nicht nur das. Kommen Sie mal mit.“
Die Küche passte zum Wohnzimmer: schwarze Hängeschränke, schwarzes Ceran-Kochfeld, schwere Granitplatten, die nur von wenigen Gegenständen bevölkert waren, darunter eine Figur wie von Keith Haring, ein Strichmännchen, das aber von fünf Küchenmessern durchbohrt war, ein moderner Messerblock aus Hartkunststoff.
„Ein Voodoo-Messerblock, heißt wirklich so“, erläuterte Barth. „Alle Messer stecken, und in den Schubläden gibt es keine größeren Messer.“
„Das heißt, der Täter ...“, hob Mangel an.
„Oder die Täterin“, ergänzte Barth.
„Gut, dann hat halt die Täterin das Messer mitgenommen, um den Scheitan abzustechen wie eine gemästete Sau“, fuhr Mangel fort.
„Ein sauber geplanter Mord“, fügte Tischler hinzu.
Nachdem die Wohnung von der Spurensicherung freigegeben worden war, wurde sie von Tischler und Mangel durchsucht. Das Büro, so man ein Zimmer mit Schreibtisch und Computer so nennen kann, war erstaunlich sauber und aufgeräumt. An einem Regal an der Wand reihten sich jede Menge Drehbücher sowie diverse Ordner, die Tischler sogleich durchblätterte. In einem fanden sich die üblichen Papiere, Versicherungen, Kreditkartenabrechnungen, Telefonverträge, in einem anderen seine Geschäftsunterlagen.
Besonders interessierten sie jedoch zwei Ordner, auf deren Rücken „Fanpost“ stand, ein dicker Ordner und ein dünner, auf dem ein Totenkopf gezeichnet war. Tischler durchblätterte zunächst den voluminösen. Es handelte sich zum Großteil um ausgedruckte E-Mails von weiblichen Fans. Einige hatten auch parfümierte Briefe geschrieben, auf geblümtes Papier, hatten Fotos von sich beigelegt. Die Posen entsprachen dem Inhalt der Briefe. Meist räkelten sich die Frauen auf dem Bett oder auf einem flauschigen Teppich, viele waren nackt und wollten gleich zeigen, was sie zu bieten hatten.
Wie viele er von denen wohl flachgelegt hat, dachte sich Tischler. Kurz schwappte eine Welle sexueller Frustration in ihr hoch, aber sie unterdrückte ihre eigenen Gefühle. Sie musste professionell sein und einen kühlen Kopf bewahren. Auf jeden Fall war es notwendig nachzuforschen, mit wem Klaus Scheitan sich in letzter Zeit getroffen hatte, ob er dabei besonders rücksichtslos war und vor allem ob eine seiner fallengelassenen Gespielinnen ihn deshalb mit einem Stich ins Herz getötet hatte. Mordmotiv verschmähte Liebe – es wäre nicht das erste und nicht das letzte Mal.
Die Fanpost war chronologisch geordnet, was die Recherche erleichterte, zumal alle weiblichen Fans irgendeinen Kontakt, eine E-Mailadresse, eine Handynummer, manchmal sogar die komplette Anschrift hinterlassen hatten. Die wenigen Briefe von männlichen Fans waren belanglos, meist ging es um die Serie, mal wurde seine schauspielerische Leistung gelobt oder getadelt, aus manchen Briefen sprach der typische Neid auf einen erfolgreichen Schönling. Aber von einigen garstigen Ausdrücken abgesehen waren die Briefe harmlos, belanglos, so dass sich Tischler wunderte, warum Scheitan sie aufgehoben hatte.
Was war der Tote für ein Mensch gewesen? Penibel, sauber, aufgeräumt einerseits, auf der anderen Seite der oberflächliche Schürzenjäger, der Hormonsklave, bindungsunfähig und skrupellos, wenn es um die Befriedigung seines sexuellen Appetits ging. War es Eitelkeit, die ihn dazu trieb, all diese Fanpost zu archivieren? Eine Art Trophäensammlung, ein Kompendium liebestrunkener Mädchen, die um eine Nacht mit ihrem Star bettelten? Das ergab Sinn. Und Scheitans offensichtlicher Ordnungsfimmel erklärte, warum er keinen Brief wegwarf.
Tischler steckte den Ordner in einen Korb. Sie wollte ihn im Büro in Ruhe noch einmal ansehen, um vielleicht den einen, den verrückten Fan, der aus enttäuschter Liebe mordet, zu finden.
Als sie den Ordner mit dem Totenkopf öffnete, war sie wie elektrisiert. Die Verfasserin der Briefe, mit Sicherheit eine Frau, hatte eine gleichmäßige, geschwungene Handschrift. Sie benutzte Recyclingpapier mit Bildmotiv am unteren Rand, Elefanten in der afrikanischen Steppe. Ein kindliches Gemüt, dachte sich Tischler angesichts der Tiere. Doch der Inhalt war keineswegs infantil.
Lieber Lucius, lassen Sie endlich Konrad in Ruhe. Ich liebe ihn – von ganzem Herzen. Und ich beschütze ihn. Geben Sie ihm, was ihm zusteht, und schwärzen Sie ihn nicht dauernd bei Ihrem Vater an. Das ist höchst unanständig.
Eine Grußformel fehlte ebenso wie eine Unterschrift. Der drohende Unterton war kaum zu übersehen. Aber wer war Konrad? Scheitans Bruder? Und der Schauspieler mobbte ihn beim Vater? Wenn diese Frau aber die Freundin des Bruders war, warum siezte sie ihn dann? Und warum redete sie ihn mit Lucius an?
Tischler blätterte weiter. Es waren insgesamt achtzehn Briefe. Der Absender fehlte, aber das Datum war rechts oben eingetragen. Die Briefe waren wöchentlich gekommen. Tischler rechnete kurz nach – sie waren immer sonntags geschrieben worden.
Der Ton wurde von Brief zu Brief rauer, die Drohungen stärker.
Lucius, Sie Schwein, Sie Ausgeburt der Hölle – diesen Ausdruck hatte Scheitan unterstrichen – Sie waren wieder so gemein zu meinem armen Konrad, so fies und hinterhältig. Sie widerwärtiger Kerl! Aber Ihnen wird noch Hören und Sehen vergehen. Gott wird Sie strafen. Auch das Wort Gott hatte Scheitan unterstrichen, hierbei aber auch noch ein umgedrehtes Kreuz an den Briefrand gemalt.
In den beiden letzten Briefen wollte diese Frau aber offensichtlich Gottes Aufgabe übernehmen.
Lucius, Sie Dreckskerl, Sie Bastard. Ich habe Sie gewarnt. Ich sage es Ihnen zum letzten Mal: Sie müssen Konrad sein Erbe geben. Sonst bringe ich Sie um. Mariella, diese Hure, können Sie ruhig behalten. Aus dem gleichen Holz war der letzte Brief, der auf den 13. Dezember datiert war. Allerdings bedrohte sie ihn nicht mehr mit dem Tod. Sie werden nie mehr sicher sein. Ich bin, wo Sie sind. Und wenn Sie so weitermachen, werde ich zuschlagen. Gott ist auf meiner Seite.
Das war vor knapp drei Monaten. Warum hatte sie plötzlich aufgehört, Briefe zu schreiben? Und wer war Mariella?
„Natürlich kenne ich Mariella, das ist das Ex-Gspusi von Konrad. Die hat ihm der Lucius sauber ausgespannt“, sagte Mangel mit heiligem Eifer. „Es war nämlich so, der Vater von den beiden, der alte Feuerbach, ein Großkopferter ...“
„Moment mal“, unterbrach ihn Tischler. „Du willst mir doch nicht weismachen, dass das alles nur Fernsehfiguren sind?“
„Logisch. Darum hat diese Frau den Scheitan auch konsequent mit Lucius angeredet.“
„Ich fasse es nicht. Dann haben wir es mit einem verrückten Fan zu tun.“
„Freilich. Also, der alte Feuerbach hat jede Menge Kohle und zwei Kinder. Der Konrad ist ein ehrlicher, gutherziger Bursch, der gern Gedichte schreibt und durch die Wälder reitet, aber er ist kein Geschäftsmann. Und der andere Bub ...“
„Lass mich raten“, ergänzte Tischler, „der andere ist Lucius, ein verschlagener, hintertriebener Gauner, eiskalt und berechnend, der auf den ganzen Schotter vom Papi aus ist und mit einer Intrige sein Bruderherz aus dem Haus treibt und ihm auch noch das Erbe abspenstig macht.“
„Du solltest Drehbuchautorin werden“, lobte Mangel. „Und dann hat der Lucius dem lieben Konrad auch noch die Frau ausgespannt, die Mariella. Aber damit nicht genug. Er versucht ständig, seinen Bruder, der eh schon unter der Wittelsbacher Brücke gelandet ist, noch mehr in die Scheiße zu reiten.“
„Klingt irgendwie nach ‚Dallas‘ für Arme. Und diesen Aufguss einer schmierigen Familienoperette schauen sich die Leute an? Unglaublich.“
„Komm, ‚Eine Frage des Herzens‘ ist echt stark. Ich hab auch keine Folge davon verpasst. Ich freu mich schon auf die zweite Staffel. Die wird ja gerade gedreht, wie wir gehört haben.“
„Na, da müssen sie wohl eine Drehpause einlegen“, entgegnete Tischler trocken.
„Ach, die werden den Scheitan mit dem Computer animieren. Der ist dann so was wie der Gollum.“
„Nur ein kleines bisschen schöner. Aber sag mal, wenn tatsächlich gerade gedreht wird, dann läuft die Serie ja momentan gar nicht.“
„Genau“, bestätigte Mangel.
„Und jetzt lass mich raten, die letzte Folge der ersten Staffel lief am 13. Dezember.“
„Müsste hinkommen“, nickte Mangel. „War kurz vor Weihnachten.“
„Darum hat unser verrückter Fan eine Briefpause eingelegt. Und die Serie lief immer sonntags?“
„Genau. Aber woher weißt du das alles?“ fragte Mangel, dem die Kombinationen seiner Chefin gelegentlich mysteriös vorkamen.
„Weil ich eins und eins zusammenzähle. Es ist klar, unser irrer Fan hat Klaus Scheitan jedes Mal nach einer neuen Folge geschrieben. Aber sie hat damit gedroht, ihn zu beschatten. Was meinst du, sollten wir sie ausfindig machen? Viele Anhaltspunkte haben wir nicht.“
„Ich weiß nicht. Warum sollte dieser Fan Scheitan in der Sendepause umbringen?“
Tischler schaute ihren Kollegen achselzuckend an. „Ist wenig einleuchtend, du hast recht. Eher eine kalte Spur.“
„Ich hab da eine heiße“, sagte Mangel und zog Scheitans Handy hervor. „Schau dir das mal an. Die letzte SMS von gestern 13:23 Uhr: Mein Hengst, sehne mich nach deinem Körper. Lösche meine Glut. Nur diese eine Nacht, der alten Zeiten willen. Und ich werde deinem Prachtgerät eine unvergessliche Überraschung bereiten. Komme um 20 Uhr.“
„Was? Der hatte ein Date?“
„Und jetzt rate mal, mit wem“, grinste Mangel süffisant. „Er war mit Pina Beerens verabredet.“
Fast unerwartet durchbrach die Frühlingssonne den grauen Wolkenteppich am Himmel und sorgte für ein paar Strahlen, die nicht unbedingt die Haut wärmten – dazu waren sie zu kraftlos und der Wind zu frisch –, aber ein bisschen die Seele. So glitzerte die träge dahinfließende Isar in ihrem begradigten Bett, als würden auf ihr Splitter eines großen Spiegels treiben.
Barbara Tischler fühlte sich an die Blitze der Fotografen vor Scheitans Haus erinnert, als sie die Isarbrücke des Föhringer Rings überquerte. Die ganze Meute war angereist, belagerte das Haus des Schauspielers wie einst die Griechen Troja. Die versammelte Münchener Boulevardpresse, die AZ, die TZ und die BILD, aber auch die Klatschblätter, die aus jeder Blähung eines B-Promis noch ein Geschichtchen zimmerten, waren schon auf den Plan gerufen. Jeder Geier wollte ein Stück von der Leiche abhaben. Am schlimmsten aber waren die Fernsehteams, Leute, die ihren schönsten Orgasmus haben, wenn sich jemand vor laufender Kamera ein Hochhaus hinunterstürzt.
Barbara Tischler hatte einmal einem Reporter das Nasenbein gebrochen. Er ließ sich nicht abwimmeln, verschaffte sich mit mittelgroßen Scheinen Eintritt, wo die Türen geschlossen waren, und belästigte sie auch privat, nur um einige Informationen über einen aufsehenerregenden Fall zu erhalten. Ein Politiker hatte eine Biergartenbedienung bedrängt und versucht, sie zu vergewaltigen. Und als der Reporter Tischler vor ihrer Wohnung in Forstenried auflauerte, schlug sie zu. Es war ein Reflex, aber gleichzeitig ein gekonnter Schlag. Nicht umsonst machte sie seit über fünfundzwanzig Jahren Karate. Doch der Schlag kam sie teuer zu stehen. Es war weniger das Schmerzensgeld, es war die Publicity, es waren die Schlagzeilen, in denen sie als „Prügel-Polizistin“ und „Karate-Kommissarin“ verunglimpft wurde. Der Vorfall hätte sie fast die Marke gekostet. Und heute hatte sie diesen Widerling Arnold Pfeifer wiedergesehen. Die größten Schweine stechen auch in der Herde hervor.
„Da müssen wir raus, Unterföhring.“ Ralf Mangel riss seine Vorgesetzte aus ihren Träumen. Die Begegnung mit Pfeifer, der ein hämisches, provozierendes Gesicht aufgesetzt hatte, machte ihr zu schaffen. Mangel war während der Fahrt damit beschäftigt, mit seinem iPhone im Internet zu surfen und Wissenswertes über MaraScope, die Firma, die „Eine Frage des Herzens“ produzierte, zu recherchieren.
„Und, was sagt dein kleiner Apparat?“ fragte Tischler.
„Der sagt mir, dass sich Ilona Mara und ihr Lebensgefährte Stefan Soden in ein gemachtes Nest gesetzt haben.“
„Die beiden sind also die Geschäftsführer, wenn ich dich richtig verstehe.“
„So ist es“, bestätigte Mangel. „Ilona Mara hat die Firma vor eineinhalb Jahren von ihrem Vater geerbt, Michael Alwin Mara, den man offensichtlich Pranken-Michi nannte.“
„Netter Spitzname. Ein echter bayerischer Löwe, wie?“ grinste Tischler.
„Was weiß ich. Wahrscheinlich hat er Hände wie Klodeckel gehabt. Auf jeden Fall müsste ‚Eine Frage des Herzens‘ damals schon in Planung gewesen sein, als die beiden die Firma übernahmen.“
„Das lässt sich nachprüfen, wenn es uns denn weiterbringt.“
Sie hielten vor einem großen Haus etwas abseits der Münchener Straße, die Unterföhring durchschnitt. Es war ein wuchtiges, repräsentatives Haus, vor dem auf einem großen Schild „MaraScope“ stand.
„Nette Hütte“, meinte Tischler. „Produzent müsste man sein. Wenn ich da an meine Drei-Zimmer-Bude denke ... Nach jedem Gewitter bin ich froh, dass mir die Decke nicht auf den Kopf gefallen ist.“
Eine adrett gekleidete Dame in den besten Jahren öffnete ihnen die Tür. Sie hatte die Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden und trug eine schwarze Kunststoffbrille von Dior.
Sie stellte sich als Helene Weiß vor, die persönliche Sekretärin von Ilona Mara.
„Ach, wie furchtbar, diese Sache mit Klaus. Und er war so ein charmanter Mann. Der konnte die Frauenherzen zum Schmelzen bringen, ich sag es Ihnen ...“, schwärmte sie theatralisch. Offensichtlich war das Schauspielern ansteckend.
Das Foyer war fast eine kleine Halle. Den Steinboden zierten Mosaike. Helene Weiß führte die beiden Polizisten eine schwere Holztreppe hinauf, die bei jedem Schritt ächzte und damit ein gewisses Alter verriet.
„Wie lange arbeiten Sie schon für MaraScope?“ fragte Tischler die Sekretärin.
„Seit sechzehn Jahren, fast auf den Tag genau. Meine Güte, was haben wir nicht für tolle Sachen hier gedreht. Kennen Sie ‚Ein mörderischer Winter‘?“
„Den habt ihr gedreht? Wahnsinn. Bei dem Film haut’s dir echt den Fuß weg“, meinte Mangel begeistert.
„Der Frühling kann aber auch blutig sein. Und vor allem die Realität, nicht nur die Fiktion. Dieser Mord wird wohl das schlimmste Erlebnis in Ihrer Zeit bei MaraScope sein, oder?“ fragte Tischler.
Sie waren im ersten Stock angekommen und standen vor der Tür, auf dem Ilona Maras Name stand.
„Oh nein, der Tod von Klausi ist tragisch, aber nicht der größte Unglückfall, bei weitem nicht. Denn, wissen Sie“, Helene Weiß begann plötzlich zu flüstern, „einen Schauspieler kann man ersetzen ...“
„... aber einen Produzenten nicht“, ergänzte die Polizistin mit ebenso gedämpfter Stimme.
Die Sekretärin nickte und klopfte dann an. Eine forsche, weibliche Stimme forderte sie zum Eintreten auf. Sie gehörte einer Frau, die hinter ihrem Schreibtisch auf einem mächtigen Holzstuhl mit Lederpolstern thronte, die Arme gediegen auf den Lehnen ausgebreitet. Und doch schien sie dahinter zu verschwinden, so groß und wuchtig war das massive Möbelstück aus Kirschholz, auf dem eine Rosenthal-Kaffeetasse stand, so zierlich dagegen die Person, an der sogar der Escada-Hosenanzug Größe vierunddreißig noch schlaff hing wie an einem Besenstiel.
Ilona Mara war chic gekleidet, zumindest teuer. Ihr Haar, ein etwas aus der Mode gekommener Bob, war exakt in Form gebracht, jede Strähne millimetergenau an ihrem Platz. Lippenstift und Schminke waren dezent, aber wirkungsvoll aufgetragen, aber auch das beste Make-up konnte die Müdigkeit in diesem Gesicht nicht verbergen, nicht vertuschen, dass es früh gealtert war. Ilona Mara sah mit ihren dreiundvierzig Jahren wie eine welke Blume aus, die nie eine samtene Rose war, aber immer eine sein wollte.
Hinter ihr stand ein Bulle von einem Mann, der seinen hellbraunen Anzug zu sprengen drohte. Er wirkte jedoch mehr wie ein Tanzbär, ein tapsiger Mensch, der nicht wusste, wohin mit seiner Kraft. Sein Gesicht hatte etwas Babyhaftes und zugleich Rohes, Ungeschlachtes. Er legte seine schwere Hand auf Ilona Maras Schultern.
Stefan Soden hatte eine volle Stimme, die gern auch einmal zu laut werden konnte, bei seiner Begrüßung war sie jedoch dezent, dem traurigen Anlass angepasst. Seine Freundin hatte die Lippen zusammengepresst.
„Der arme Klaus“, sagte sie mit zitternder Stimme und feuchten Augen, „wir sind alle völlig schockiert.“ Mit zittrigen Fingern nahm sie die Kaffeetasse. Dabei hielt sie den Henkel mit Daumen und Zeigefinger und spreizte den kleinen Finger ab.
Die Trauer und Bestürzung waren echt, keine Leinwandprodukte, keine Heuchelei. Die Polizisten boten an, zu einem späteren Zeitpunkt zu kommen, aber Ilona Mara fasste sich wieder.
„Wie gut kannten Sie Klaus Scheitan?“ fragte Tischler.
„Gut. Sehr gut. Er war wie ein Sohn.“ Ein paar jähe Tränen unterbrachen Maras Antwort. „Entschuldigen Sie, aber Klaus war wirklich mein Ziehkind. Wir haben ihn entdeckt, damals. Stefan und ich, wir haben ihn in einer Cocktailbar kennengelernt. Er war Barkeeper. Ich sage Ihnen, er mixte die lausigsten Daiquiris in ganz München, aber er sah so verdammt gut aus, so zum Anbeißen, dass wir ihn unter Vertrag nahmen.“
„Vom Barkeeper zum Fernsehstar, das ist der Bavarian Dream“, meinte Stefan Soden und plusterte dabei leicht seine Backen, wobei Tischler nicht genau wusste, ob dieses Bonmot als Scherz oder ernst gemeint war.
„Aber Produktionsfirmen nehmen doch keine Schauspieler unter Vertrag“, wandte Mangel ein, der mit dem Business deutlich vertrauter war als seine Chefin.
„Natürlich nicht. Stefan und ich haben vor sieben Jahren ...“, erklärte Mara, wurde aber von Soden unterbrochen.
„Vor acht Jahren, mein Hase, es war vor über acht Jahren, als ich die Idee zu der Schauspielagentur hatte.“
„Du hast Recht, mein Schatz. Aber wir langweilen die Frau Inspektor doch nur.“
„Polizeihauptkommissarin, wenn’s Ihnen nichts ausmacht“, korrigierte sie Tischler. „Aber fahren Sie doch fort.“
„Klaus war ehrgeizig. Er wollte etwas werden, und wir wollten etwas aus ihm machen, einen Schauspieler, einen Star“, sagte Soden. „Und er hatte das Zeug dazu, das habe ich sofort gesehen, da habe ich den Blick dafür, wissen Sie?“ Zur Unterstreichung seines Selbstlobs zeigte er mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Augen.
„Und Scheitan ist wie eine Apollo-Rakete in den deutschen Fernsehhimmel gesaust?“ fragte Tischler nach.
„Nein“, schüttelte Mara den Kopf. „Das hat Jahre gedauert, bis Klaus richtig Erfolg hatte. Erst einmal bekam er nur Kleinrollen, ein paar Sätze hier, ein paar da, das ist ganz normal für einen Quereinsteiger, der keine Schauspielschule absolviert hat. Der richtige Durchbruch kam freilich erst mit der Serie.“
„Ach Schatzilein, du bist zu bescheiden. Ilona kennt Gott und die Welt im Fernsehbusiness. Wir mussten nur unsere Connections spielen lassen, und es hat bumm gemacht.“ Soden schnippte mit den Fingern. „Klaus hat allein in vier großen Kinoproduktionen mitgespielt.“
„Ja, wo er jeweils einen Text hatte, der auf einen Bierdeckel passt.“
„Er war ein Star – und wir haben ihn dazu gemacht. So einfach ist das. Wir haben ihn gepusht, gepusht, gepusht und zu dem gemacht, was er jetzt ist.“
Zur entmannten Leiche? Die Kommissarin musste innerlich schmunzeln.
„Hatte Scheitan Feinde?“ fragte Tischler geradeaus.
„Feinde? Nie im Leben“, ereiferte sich Soden und blähte die Backen. „Ich meine, ein schöner und erfolgreicher Mann hat Neider, ja, das schon, aber keine Feinde. Klaus war ausgesprochen beliebt, auch am Set. Er hatte für alles und jeden ein offenes Ohr und immer einen Scherz auf den Lippen.“
„Aber es war ja wohl nicht nur sein Ohr allzeit offen, sondern auch sein Hosenstall, wenn ich recht informiert bin. Und ein notorischer Schürzenjäger wie er hinterlässt doch zwangsläufig gebrochene Frauenherzen und gehörnte Männer, die nicht unbedingt gut auf ihn zu sprechen sind, auch wenn er noch so lustig ist“, wandte Tischler ein.
„Natürlich, da haben Sie recht“, gab Mara zu, die ihrem Freund eine Hand auf den Arm legte. „Aber wir wissen auch nicht, mit wem er sich eingelassen hat und wer einen solchen Hass auf ihn hegte, dass er ihn auf so brutale Weise ...“ Der restliche Satz ging in Tränen unter. Soden tröstete mit tapsigen Bewegungen und hölzernen Worten seine Freundin.
„Wie war das Verhältnis zu Pina Beerens?“ fragte Tischler nach.
„Gut, wirklich.“ Nun war wieder der Schönfärber an der Reihe. „Wenn man bedenkt, wie sich die beiden nach der Trennung bekriegt haben. Aber schauen Sie, das ist doch alles ganz normal. Man liebt sich, ist zusammen, der Himmel hängt voller Geigen, dann zofft man sich, geht auseinander und es fällt halt mal das eine oder andere böse Wort.