Die Spur vom Trappenküken - Salman Ansari - E-Book

Die Spur vom Trappenküken E-Book

Salman Ansari

0,0

Beschreibung

Usman, der Protagonist der Erzählung, wird 1941 in einem kleinen Ort Nordindiens geboren. Ins Deutsche übersetzt, bedeutet sein Name: Trappenküken. Wenige Menschen, Tiere und Pflanzen teilen mit ihm das Leben in einer für ihn unerschütterlichen Geborgenheit. 1947 erfährt Usmans Mikrokosmos tiefgreifende Risse. Sein jüngerer Bruder Fahim stirbt, der Subkontinent wird geteilt. Der Teilung folgt die Vertreibung seiner Familie. Die traumatische Flucht nach Lahore prägt fortan seine Wahrnehmungen. Während in Lahore die Rufe "Allah hu Akbar" die Luft erschüttern, erlebt er Bilder der Entwürdigung von Menschen und Tieren. Seine Verstörtheit wird immer offensichtlicher. Die Eltern entscheiden, Usman nach Deutschland zu schicken. Dort soll er studieren, möglichst Frieden finden. 1958 kommt er in Deutschland an. Er wohnt bei Frau Schüler. Sie vermittelt ihm ein Gefühl, als wäre er zurück im Garten seiner Kindheit. Usman besucht ein Abendgymnasium. Er beginnt, die europäische Kultur und die deutsche Sprache als eine Heimat zu entdecken. Doch auch diese Heimat gerät ins Wanken. Sein Geschichtslehrer zeigt eines Tages einen Schwarzweiß-Film: Ein Bulldozer schiebt die bis auf die Knochen abgemagerten Körper toter Menschen vor sich her. Im Wörterbuch findet er eine Übersetzung für Auschwitz nicht. Er beendet das Studium. Die Perspektive, lebenslang als Chemiker zu arbeiten, ängstigt ihn. In einer Wochenzeitung entdeckt er eine Stellenanzeige. Eine Privatschule mit Internat sucht einen Chemielehrer. Die Schule nennt sich Reformpädagogisch, verspricht eine Erziehung zur Humanität. Über Nacht wird er Pädagoge und Heimerzieher. Die Zusammenarbeit mit Kindern erlebt er als eine Herausforderung. Endlich fühlt er sich in der Welt angekommen. Doch der Schein trügt. Bald entdeckt er, dass die Schulwirklichkeit von Regellosigkeit geprägt ist. Dennoch wähnt er sich in einer wundersamen Welt aufgehoben. Wird ihm endlich im Odenwald Einwurzelung gelingen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 204

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Salman Ansari

Die Spur vom Trappenküken

Prosa

Inhaltsverzeichnis

Ankunft

Ströme, die nicht vergehen

Zwei Mädchenaugen sahen ihn an

Nicht der Schmerz liegt begraben

Allah – Allgegenwärtigkeit hält alles aus

Herr Schuhmacher, Lehrer und Vorbild

Wer kann noch träumen?

Jahre der Verwirrung

Studium – Die Abwesenheit eines Dialogs mit der Wirklichkeit

Schicksalsschlag

Wenn die Liebe fällt

Das Opferfest

Amma willkommen in Deutschland

Im Griff der Wirklichkeit

Die Schule im Zauberwald

Probezeit

Heimerzieher im Zauberwald

Eyes wide shut

Die Lüge bleibt ein Meister aus dem Zauberwald

Denn sie wissen, was sie tun

Der Lack geht nicht ab

Ein immerwährender Fleck

Ankunft

Ende August kommt Usman in Deutschland an. Es ist früh am Morgen. Jörn ist schon auf. Er hat sein Bett gemacht. Hier ist Jörns Bett, hier sind seine Hausschuhe, und hier ist sein Pyjama und das Nachthemd. Hier ist sein Geigenkasten, seine Hefte mit den Noten. Usman hört, wie er in der Küche einen Stuhl bewegt. Er hört Wasser aus dem Wasserhahn laufen, hört, wie das Wasser in einen metallischen Topf gefüllt wird. Wieder hört er wie ein Stuhl auf dem Steinboden bewegt wird. Er hört das Geräusch von Seiten, die umgeblättert werden, hört, wie Jörn summt. Sekundenlang hört er den Dampf, der durch eine enge Öffnung strömt, gefolgt von einem unmittelbar pfeifenden Alarm. Er hört eilig zur Seite geschobene Stühle. Und sehr bald dringt der Duft von Kaffee in seine Nase, der ihn einlädt, zu Jörn herüber zu kommen. Er bleibt jedoch im Bett liegen. Er hört Jörns Mutter. Sie sagt, dass sie jetzt bereit ist. Jörn öffnet leise die Zimmertür, greift eilig nach seiner Geige und dem Metronom. Er hat jetzt sein Zimmer verlassen und die Tür wieder hinter sich geschlossen. Usman hört, wie Jörn die Geige stimmt. Während seine Mutter die Tasten des Klaviers drückt, räuspert sich Jörn, als würde er sich aufs Singen vorbereiten. Ein paar Sekunden lang herrscht Stille, dann die geschmeidige erste Berührung des Bogens auf den Saiten. Das Klavier, anscheinend fragend und antwortend, begleitet die klingenden Saiten ermutigend, oder reagiert es vielmehr auf Jörns inneres Singen?

Die Moleküle der Luft beginnen im Gefolge der Melodien zu schwingen und zu rotieren, Usman meint, sie körperlich zu spüren und er sehnt sich nach einem Platz auf dem Bett seiner Eltern, genau zwischen seiner Mutter und dem Vater. Aber wie sehen diese Moleküle aus? Vielleicht sind sie rund und gefüllt mit bangem Verlangen. Möglicherweise hat Usman das Gefühl, dass sie rund sind, weil sie jetzt so offensichtlich in die Mikrokosmen vordringen, die er von zu Hause mitgebracht hat und ihn nun erzittern lassen, während er in diesem weichen und warmen Bett liegt.

Hier ist Usmans Vater; hier ist das Grammophon auf seinem Nachttisch, hier die kleine Metallschachtel mit den Nadeln, hier die Schallplatten, hier das gelbe Stück Stoff, um den Staub abzuwischen. Usman sieht seinen Vater, wie er eine Schallplattenhülle betrachtet. Er studiert die Buchstaben. Der deutsche Titel auf der Hülle bleibt für ihn bedeutungslos. Er weiß, dass Franz Schubert die Musik komponiert hat. Usman hält den Atem an. Eine Baritonstimme, begleitet von Klavier, ertönt aus dem Trichter, lässt Vaters Musik erklingen: „Schöne Welt, wo bist du.“ Usmans Vater versteht die gesungenen Wörter nicht, doch Usman hört ihn ab und zu seufzen.

Der Klang dieses Seufzen liegt noch immer in der Luft, obwohl weiterhin Tausende von Kilometern zwischen dem Schlafzimmer seiner Eltern und seinem Bett liegen. Manchmal, wenn er sich in einer dieser hier so seltenen warmen und dunklen Nächten nach seinem Vater sehnt, schlüpft er aus seinem Bett und schleicht sich in die untere Etage des Hauses, wo es einen Zugang zum Balkon gibt. Eingehüllt in schwarzer Nacht hört er in die West- und Ostwinde hinein. Hin und wieder vermeint er, Vaters Seufzen zu hören.

Jetzt herrscht Stille. Jörn hat sein Spiel vorläufig beendet, das Pianoforte schweigt. „Schöne Welt, wo bist du?“

Es ist das Jahr 1958. Seit September lebt er in Deutschland. Noch vor wenigen Tagen stand er im Bahnhof von Genua. Der Zug hatte Verspätung. Die Lautsprecheransagen wurden auf Italienisch durchgegeben. Er war sich nicht sicher, ob er auf dem richtigen Bahnsteig stand. Doch dann fuhr ein Zug ein. An den Waggons wurden die Zielorte angezeigt. Er stieg ein. Unbegreiflich, wie gut Abba für ihn die Reise geplant hatte. Alles stimmte vollkommen mit seinen Reisepapieren überein.

Bisher hatte er nicht einmal ein Foto von irgendeinem Ort in Deutschland gesehen. Die Sitze im Zug waren genau so bequem wie die Sessel in der Bibliothek des Schiffes, das ihn von Karachi nach Genua Heimat gewesen war. Die Fahrgeschwindigkeit des Zuges war so schnell, dass ihm bange wurde. Usman weiß, dass er den Zug in Köln verlassen muss.

„Wenn du dort angekommen bist, suche das Studentenwerk der Universität auf“, stand auf einem Zettel in Abbas Handschrift.

Er sieht immer noch die freundlichen Gesichter junger Menschen, die sich über sein Erscheinen sichtlich freuen. Usman erhält einige Adressen; übernachtet erst einmal in einem Hotel. Innerhalb von zwei Tagen findet er eine Bleibe bei Frau Schüler. Sie versteht Englisch im Gegensatz zu den Menschen, die er bisher angesprochen hat. „Ich möchte jungen Menschen helfen, und auch meine Wohnung nicht leer stehen lassen. Mein Sohn Jörn wird in zwei Wochen nach England verreisen, dort hat er als Geiger eine Stelle gefunden“, sagt sie. Ihr erklärt er, weshalb der Vater ihn ermutigt hat, nach Deutschland zu reisen.

Frau Schülers Wohnung hat mehrere Zimmer, die von einer geräumigen Diele aus betreten werden können. Eine Zimmertür wird von Frau Schüler geöffnet: „Das ist Ihr Zimmer, das Sie vorläufig mit Jörn teilen werden.“ Zwei Betten mit grauem Bettüberwurf stehen an den Wänden, der Raum dazwischen ist mit einem Wollteppich ausgestattet. Am Kopfende der Betten befinden sich jeweils eine Kommode, darauf je eine elektrische Lampe. Die Wand neben der Eingangstür sieht man kaum, davor steht ein Regal und daneben ein hölzerner Kleiderschrank. Das Zimmer ist hell erleuchtet, durch ein großes Fenster scheint die Sonne. Unterhalb des Fensters steht ein schmaler Schreibtisch und wirft das Tageslicht dunkelbraun zurück. Das Mobiliar kommt Usman bis auf die verzierten Kommoden nicht fremd vor.

„Das Badezimmer teilen wir. An der Wand neben dem Waschbecken habe ich für Sie zwei gelbe Waschlappen und ein Handtuch gehängt. Einmal die Woche können Sie die Badewanne nutzen“, erklärt ihm Frau Schüler. „Nun kommen Sie bitte mit in die Küche, es wird Zeit, dass Sie eine Kleinigkeit essen.“ Usman geht mit Frau Schüler weiter. “Hier ist die Küche“, zeigt ihm Frau Schüler. Der Raum sieht aber nicht wie die Küche von Ismail, dem Koch in Lahore aus. Sie ist versehen mit einem Holzschrank dessen Türen teilweise wie holzgerahmte Fenster aussehen. Auf dem Steinboden stehen ein großer Tisch und mehrere Stühle. An einer Wand erkennt er Wasserhähne, darunter ein graues Becken aus Stein. Er sieht keine Holzscheite, auch nicht einen Ofen aus Lehm. Unweit der Küchentür erhebt sich ein Objekt, es scheint mit Marmorstein ausgekleidet zu sein. Um dieses Objekt herum, befinden sich bodennah Holzbänke. „Das ist ein Kachelofen“, sagt Frau Schüler. Gegenüber steht ein Herd mit zwei Kochflächen.

Das Wohnzimmer erinnert ihn an zuhause. Auch dort steht ein Sofa gegenüber mehreren Sesseln und dazwischen ein ovaler Holztisch.

Frau Schüler merkt wohl, dass er einen großen, schwarzglänzenden Gegenstand bestaunt, der im Wohnzimmer steht. „Das ist ein Flügel“, sagt sie. „Ein Flügel?“

Einen länglichen Deckel hebt Frau Schüler hoch, ihre Finger gleiten über schwarze und weiße Tasten. In der Luft vibrieren Töne, deren Klang ihn an die Musik erinnern, die durch das Schlafzimmer des Vaters ungestört in sein Zimmer gelangten und ihn in Welten zu tragen schienen, wo niemand zuvor gewesen war.

„Vor vier Tagen wäre einer meiner Söhne 35 Jahre geworden“, sagt Frau Schüler. Usman versteht sie nicht, traut sich nicht, Fragen zu stellen. Bei der weiteren Führung durch die Wohnung öffnet Frau Schüler zwei Türen nicht.

Am nächsten Tag begleitet sie ihn zur Polizeibehörde. Sie spricht mit einem Mann in Uniform, und während sie mit ihm spricht, schaut der Mann Usman freundlich an. Als sie die Behörde verlassen, ist eine Seite seines Passes mit einem Stempel versehen: „Aufenthaltserlaubnis.“

Bald findet Frau Schüler heraus, dass es für ihn besser wäre, auf einem Abendgymnasium das Abitur abzulegen. „Tagsüber hätten Sie dann Zeit, die Sprache zu erlernen. Ich werde Ihnen dabei helfen.“

Frau Schüler findet es selbstverständlich, dem jungen Mann aus einem fernen Land zu helfen. Seit er bei ihr wohnt, ist die Atmosphäre in ihrer Wohnung für sie etwas behaglicher. Merkwürdigerweise erinnern sie all die Möbelstücke nicht mehr ständig an die Aura, die diese ausstrahlten, als sie den Alltag mit ihrem Mann und den beiden Söhnen teilte, auch seit der Abreise von Jörn, ist der Abschiedsschmerz nicht mehr so quälend.

Der Leiter des Abendgymnasiums begrüßt Usman herzlich. Er spricht Englisch. „Ich freue mich sehr, dass ein junger Mensch aus Indien die Reifeprüfung zu absolvieren gedenkt. Es gibt dabei eine Hürde, die werden wir aber überwinden. Englisch beherrschen Sie ja sicher bereits. Deutsch geht nicht als Fremdsprache. Eine zweite Fremdsprache muss aber Gegenstand der Prüfung sein. Wir haben jedoch Schüler deutscher Herkunft, die in Polen und Russland aufgewachsen sind. Ihnen wird Polnisch bzw. Russisch als zweite Fremdsprache zuerkannt. Nach dem Gleichheitsprinzip müsste man Ihnen erlauben, ihre Muttersprache als zweite Fremdsprache geltend zu machen. Ich werde mich darum bemühen. Seien Sie unbesorgt.“ Herr Benz, so heißt der Direktor, begleitet ihn bis zur Ausgangstür.

Was meinte er mit „Principal of equality?“ Das Wort hört Usman zum ersten Mal.

An seinen Vater schreibt er: „Es ist unbegreiflich, wie ich hier von allen Menschen unterstützt werde.“ Dieses Gefühl war ihm all die Jahre in Pakistan fremd.

Tatsächlich findet Herr Benz an einem Orientalischen Institut einer Universität einen Professor, der ihn in Urdu prüfen kann. Das Oberschulamt hat keine Einwände.

Frau Schüler legt nun Wert darauf, mit ihm nur noch Deutsch zu sprechen. Immer wenn sie spricht, schweigt das Heimweh.

Nach ihrem morgendlichen Klavierspiel, hört Frau Schüler gespannt zu, wenn Usman Deutsch übt.

Unter den Schwingungen des Schlagstocks konnte er Fremdsprachen erlernen. Das stimmt ihn zuversichtlich. Doch keine von ihnen folgte grammatischen Regeln, so wie im Deutschen. Hört er Kinder Deutsch sprechen, staunt er ergriffen, dass sie sich so ganz und gar mühelos auszudrücken wissen.

Die Zeit rast. Es fällt ihm schwer, sich vorzustellen, dass es gerade fünf Wochen her ist, als er das Zimmer bei Frau Schüler bezogen hat. Jetzt nimmt Usman das Grammatikbuch in seine Hände, liest einige Regeln und versucht den Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ zu verstehen. Wieso heißt es: Ich bin in der Stadt und nicht in die Stadt? Schließlich ist das Substantiv, Stadt, Femininum? Während er darüber grübelt, ertönen im Flur die Stimme eines Mannes und die von Frau Schüler. Er hört wie eine Tür geöffnet wird. Die Stimmen werden leiser. Es bleibt lange still, doch dann ruft Frau Schüler ihn, sie möchte, dass er ins Wohnzimmer kommt. Als er das Zimmer betritt, steht ein älterer Herr von seinem Stuhl auf. Er begrüßt Usman, als würde er ihn bereits kennen. „Mein Freund, Jürgen“, sagt Frau Schüler.

Herr Jürgen spricht fließend Englisch: „Ich höre, du bist fleißig. Erstaunlich, dass dein Vater dich hierhergeschickt hat. Aber nun bist du bei uns. Ich war Pfarrer. Gepredigt habe ich nicht. Erlaube mir, dir zu sagen: Glaube niemandem, wenn er sagt, wir haben nichts gewusst.“

Usman versteht nicht, was der alte Herr damit sagen will, wagt es nicht, nachzufragen.

„Ich hatte den Wunsch, dich zu begrüßen“, spricht der Mann und macht sich bereit zum Aufbruch. Usman verabschiedet sich.

Nach jedem Abendessen begleitet er Frau Schüler ins Wohnzimmer. Dort stehen das Radio und der Schallplattenspieler. An diesem Herbstabend legt Frau Schüler eine Platte auf. „Die Winterreise“ ,flüstert Frau Schüler. Usman kann die gesungen Wörter jetzt verstehen: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh, ich wieder aus.“

Oft meint Usman, was er sieht und hört sei unwirklich. Dies geschieht in der Regel, wenn er nicht in seinem Zimmer ist. Manchmal muss er die Wände der Häuser, an denen er vorbeigeht, berühren, um sich zu vergewissern, dass sie aus wirklichem Material bestehen. Oder er läuft die gleiche Strecke mehrmals ab und ist dann beruhigt, dass sie unverändert bleibt. Auch die Bäume geben keinen Millimeter nach, wenn er seinen Rücken gegen ihren Stamm drückt.

Niemand erinnert ihn hier an den Nachbarn, Herrn Khan, an seine Lehrer und Mitschüler. Niemand beschimpft ihn „Hindustani.“ Er sieht keine Esel, keine Kamele, auch die Pferdewagen und Rikschas nicht. Die Hunde ziehen ihre Schwänze nicht ein, wenn er sich ihnen annähert. Keine Frau verschwindet unter einer Burka. Die Mädchen senken ihren Blick nicht, wenn sie ihm auf dem Gehweg entgegenkommen. Kein Kind bettelt.

Als neulich ein Kind merkt, dass er es anlächelt, hört es auf, an der Milchflasche zu saugen, streckt ihm seinen Arm entgegen. Eindeutig bietet ihm das Kind seine Milchflasche an. Er muss sich beherrschen, um nicht daran zu nuckeln.

Fünfmal am Tag schweigt „Allah hu Akbar.“

Polizisten stehen an den Kreuzungen auf einem Podest. Die Bewegungen ihrer Arme und Hände werden verstanden. Menschen und Fahrzeuge verändern ihren Ort geordnet. Für die Fußgänger gibt es erhöhte Gehwege neben den Fahrbahnen. Die Läden haben Schaufenster. Auf den Tischen in den Restaurants lassen sich keine Fliegen nieder.

Laufen kann er lange, ohne dass es ihm schwindelig wird. Die Erde unter seinen Füßen bleibt hart.

Sieht er wirklich, was er sieht, zweifelt Usman. Kann die Wirklichkeit sich so schnell ändern? Ist sie so einfach da? Er hat doch nur eine Strecke auf dem Wasser zurückgelegt und dabei nicht einmal die Länge der Strecke verspürt! Solche Gedanken werden jedoch mit dem Vergehen der Zeit seltener. Als er beginnt, die Realität als Selbstverständlichkeit wahrzunehmen, erinnert er sich eines Tages an die Worte seines Hauslehrer, Herrn Puri: „Was wir lernen zu sehen, zu erleben, zu erfahren, das sind unsere Wurzeln, und das Weiterwachsen aus ihnen hört nicht auf, solange wir leben.“

Ströme, die nicht vergehen

Doch oft, wenn er sich am Ende des Tages schlafen legt, die Dunkelheit das Zimmer irgendwohin entschwinden lässt, sieht er sich durch eine dunkle Gasse gehen. Sie führt zu seiner Schule. Er folgt dem schmalen Gehweg. Rikschas, Pferdewagen, Autos und Fahrräder bilden ein Durcheinander und lösen sich dann wieder voneinander. Die Luft ist voll von übel-riechenden Staub. Hin und wieder überholen ihn Menschen, die auf einer Bahre eine Leiche tragen. Auf einem Podest sitzt ein Mann mit blutbeflecktem Hemd. Neben ihm steht ein mit Hühnern vollgestopfter großer Käfig. Immer wieder langt er mit der linken Hand in den Käfig, holt ein Huhn heraus und trennt ihm messerscharf den Kopf ab. Das kopflose Huhn zappelt einige Herzschläge lang, bevor es gerupft seinem Käufer überreicht wird. Die anderen Hühner sind Zeugen des Geschehens, ihr Gegacker klagt unerhört den Himmel an. Unter dem Podest des Schlachters lauern abgemagerte Katzen. Blutstropfen fallen, sickern durch die Ritzen. Schwärme von Fliegen steigen kurz auf und setzen sich immer wieder auf die herumhängenden Fleischstücke. Kinder laufen barfüßig hinter verschleierten Frauen her. Sie sind wackelig auf den Beinen. Manchmal fallen sie hin. Die Frauen richten sie wortlos auf, lassen sie solange weinen bis sie von selbst verstummen. Menschen, deren Körper sich aufzulösen scheinen, strecken bettelnd ihre zitternde Hand aus. Frauen, ihr hungriges Baby umklammernd, laufen wohlgenährten Menschen hinterher, bitten um Almosen und versichern ihnen Allahs unendliche Güte und Barmherzigkeit. Eine alte Frau schaut zum Himmel, ruft „Allah, Allah“ und löst ihr weißes Haar.

Er sitzt auf dem Bodens des Klassenzimmers, hört den Lehrer für Arabisch. Er sagt, es sei eine schwere Sünde, Allahs Sprache nicht korrekt auszusprechen. Mehrstimmig erklingen Koranverse. Im Takt des schwingenden Stockes hört Allah zu. Immer wieder saust der Stock des Lehrers willkürlich auf die sich bewegenden Köpfe hernieder.

Heute hat er seinen Kopf erwischt. Die Schulglocke klingelt. Er rennt aus dem Schulgebäude hinaus.Die restlichen Unterrichtsstunden will er nicht mehr besuchen. Draußen kocht die Luft, verflüchtigt sich nicht. Ein Vogel fällt vom Himmel, bleibt liegen. Oben auf einer Mauer haben sich etliche Geier aufgereiht. Ein Schlangenbeschwörer lässt seine Rohrflöte erklingen. Geblendet lugt eine Kobra aus dem runden Korb. Die Geier schauen zu. Die Schreie der Krähen verstummen nicht. Tränen und Schweißtropfen benetzen seine Augen, seine Füße schwitzen.

„Weinst du Junge“, fragt ihn ein alter Mann, der auf einmal aufgetaucht ist. Usman kann nicht sprechen.

„Hast du dir weh getan?“ „Hat man dich geschlagen?“ Usman streicht über seine Augen.

„Mein Junge, ich weiß Bescheid. Diese Schulzeit! Manchmal öffnet sich eine verschlossene Wunde, um noch einmal zu bluten. Sag deinem Vater nichts. Verschwiegenheit bleibt der Lohn der Ungerechtigkeit. Das Versagen bekommt man bescheinigt. Geduld, mein Junge. Noch ist das Urteil nicht gesprochen. Auch ich dachte, der Himmel wird sich nicht mehr erhellen. Auch du wirst es schaffen, die Zeit vergeht, der Schmerz bleibt. Schau, ich bin nicht verloren gegangen. Hier nimm das!“ Der Mann hält ihm eine Banknote entgegen. Usman schüttelt heftig seinen Kopf. „Wir sind hier, um uns zusammenzunehmen.“ Lerne, mein Kind, nicht aufzuschreien. Wir sind im Land der Reinen, tiefer können wir nicht fallen. Merke dir mein Kind: Die Mächtigen sind unter uns. Allein Allahs Wille sei allgegenwärtig, verkünden sie. Im Leben bekäme man nichts umsonst, sagen sie. Die Furcht lähmt den Verstand. Schau nicht hin, mein Kind. Es sind Unzählige. Sie leben ein Leben umsonst. Höre nicht hin! Hüter des Hauses nennen sich jene, die es verwüsten. Verdunkelt sind die Hütten im Glanz der Paläste. Denke nicht daran, mein Kind. Da drüben ist ein Laden. Ich hole Wasser damit du nicht erstickst. Sieh nicht hin, mein Kind!“

Der Mann geht in einen Laden. Usman möchte auf der Stelle verschwinden. Seine Beine gehorchen ihm nicht. Mit aller Kraft bleibt er aufrecht stehen. Warum redet dieser Mann mit ihm? Was geht es ihn an, dass er da ist? Warum gibt es ihn überhaupt? Was bewegt ihn dazu, ihm den Durst stillen zu wollen? Er sieht ihn aus dem Laden hinaustreten. Zum Weglaufen ist es ihm zu schwindelig.

„Hier, mein Kind, trink Schluck für Schluck aus, doch den Durst wirst du nimmer loswerden. Ich sehe es. Mir geht es nicht anders.“

Usman verneigt sich, braucht lange, bis er wieder sprechen kann.

„Haben Sie die Kinder gesehen?“

„Welche Kinder?“

„Kinder, die hinter den bettelnden Frauen laufen.“

„Es sind unzählige!“

„Die Mütter lassen sie weinen.“

„Du denkst an sie? Das darfst du nicht.“

„Sie sind aber irgendwo.“

„Möchtest du immer wieder verletzt werden? Die Unterwerfung üben wir nicht nur fünf Mal am Tag. Sie sagen, Allah denkt für uns. Keiner fragt nach den Schmerzen. Ein rettender Schlaf im Dunkeln, mehr bleibt uns nicht. Frage nicht, sei tapfer, mein Junge. Wage es nicht, dir vorzustellen, was wir alle hätten sein können“.

„Warum sprechen Sie so zu mir“, fragt Usman.

„Dein Anblick hat mir auf einmal die Zunge gelöst. Oft rede ich laut, auch ohne ein Gegenüber. Ein Tollhaus wird wohl letztlich meine Bleibe sein. Verstehst du mich? An den Widersprüchen zerbricht man.Sprich nicht aus, was du siehst!“

„Was würde geschehen?“

„Die Unterwerfung würde fragwürdig werden. Ich muss jetzt fort. Bleib tapfer mein Junge!“

Der Mann entfernt sich, doch dann bleibt er jäh stehen und kehrt zu ihm zurück.

„Es gibt Menschen, die streben das Nichts an.“

„Nichts?“

„Im Nichts ersehnen sie die Vollkommenheit. Andere besitzen alles und meinen, sie hätten nichts.“

„Wo ist das Nichts.“

„In uns, mein Kind.“

„In uns?“

Usman sieht dem Mann hinterher. Aus der Ferne winkt er, bevor er entschwindet. Usman muss nun weiter nach Hause, kann nicht mehr weiter radeln und schiebt das Fahrrad. Es ist heiß. Die Pferdewagen rasen knatternd an ihm vorbei. Wimmernde Hunde, geschlagen, verjagt, schleppen sich irgendwohin fort. Abgemagerte Katzen schreien klagend. Die kleinwüchsigen Esel, schwer beladen, heulen nicht auf. Es riecht nach Aas und Urin. Er schiebt das Fahrrad weiter. Auf der anderen Straßenseite gehen zwei Kinder tief gebückt unter der Last von prallen Säcken. Schweißtropfen leuchten auf ihrer Stirn, fallen herab. Manchmal fangen sie diese mit der ausgestreckten Zunge auf. Er beschleunigt seinen Schritt. Sein Schweiß schmeckt salzig bitter. Auch die Fliegen mögen das Salz.

Amma steht auf, als er das Esszimmer betritt. Sie umarmt ihn, seine Stirn berührt ihren Bauch. Sie fährt ihm übers Haar. „Oh, da ist eine Beule!“ Fragend sieht sie ihn an. „Ich bin gefallen“, antworte er. „Das ist unmöglich, ein Stein muss deinen Kopf getroffen haben.“ Sie küsst die wunde Stelle und auf einmal muss er bitterlich weinen. Eine Träne fällt auf die Bettdecke, gefriert nicht. Er hört Frau Schüler. „Schlaf gut, mein Lieber.“ Die Zimmertür steht leicht geöffnet. Er berührt seinen Kopf. Nein eine Beule ist nicht zu spüren. Er schwitzt auch nicht. Draußen schweigt die Nacht. Kein Gequake der Frösche, der Kröten, der Gesang der Insekten bewegt die Luft.

„Sie schreien oft im Schlaf“, bemerkt Frau Schüler beim Frühstück.

Amma hat ihm einen Pullover aus Schafwolle eingepackt, einen Mantel besitzt er nicht. Im Oktober bleibt die Luft hier nicht mehr warm bis in die Nacht hinein. Wenn es noch kälter wird muss er sich feste Schuhe und einen Mantel kaufen. Schwarze Kohlenhaufen säumen jetzt die Gehwege. Nebelschleier breiten sich über die Wiesen aus.

Seit einigen Tagen geht er jeden Morgen im Auftrag von Frau Schüler hinaus. Um die Ecke ist eine Bäckerei, drei Stufen führen zur Eingangstür hinauf. Der Geruch im Laden lähmt ihm die Zunge. Erleichtert atmet er auf, wenn mehrere Kunden bereits Schlange stehen, und Usman in Ruhe die Backwaren bewundern kann. Sie verströmen den Duft einer namenlosen Geborgenheit.

Eines Morgens auf dem Gehweg zur Bäckerei liegen die Blätter der Bäume auf dem Boden verstreut. Erstaunt schaut er zu den Baumkronen hinauf und sieht, dass an den Zweigen gelbe und rote Blätter hängen. Dass die Blätter eine solche Verwandlung durchlaufen, hat er sich nicht vorstellen können. Erstaunlich, dass sich nicht alle auf einmal von den Zweigen lösen, schlagartig gen Boden taumeln. In jedem Blatt steckt ein Eigenleben, ein Eigensterben. Als ein Windstoß durch die Zweige fegt, horcht er auf. Ein Klang! Bisher ungehört. Diese Blätter lassen den Wind anders rauschen, erinnern ihn an das Rieseln von Kies und Sand. In ihren Bewegungen vibriert die Luft, als würden sie etwas flüstern. Was sind das für Botschaften? Für wen sind sie bestimmt? Er senkt seinen Kopf, hört die Stimme von Amina.

Mit zitternder Hand hebt er ein Blatt auf. Es hatte ein Leben. Er hält das Blättchen fest, und auf einmal ergreift ihn ein Schütteln. Halt suchend lehnt er sich gegen den Baumstamm, spürt die Rinde, schließt die Augen. Verstummt sind all die Geräusche der Außenwelt. Die Stimme von Herrn Khan kommt immer näher. Er sitzt in einem Stuhl mit Lehne, die anderen auf einer hölzernen Sitzbank. Seine Stimme donnert, als wären die Anwesenden taub. Frau Khan schweigt, ihr Kopf ist geneigt, die Augen auf die Erde gerichtet. Alle sitzen im Garten, Usman steht, starrt auf den Rasen.

„Begrüße Amina und Mustafa, so heißen die Kinder“, flüstert Amma in sein Ohr. Usman stammelt ein undeutliches „Salam“ und setzt sich ihnen gegenüber. Das Gras fühlt sich feucht an.

Zwei Mädchenaugen sahen ihn an

Amina schält einen Apfel. Die schmalen Streifen der Schale winden sich zu einer Spirale. Das Messer hat einen gelben Holzgriff. Der Apfel ist schnell geschält. Amina teilt das Fruchtfleisch in vier Stücke. Gelb liegen die Streifen, rot die Kerne auf dem Grün des Grases. Ein Apfelstück überreicht sie ihrem Bruder und flüstert etwas in sein Ohr. Mustafa nickt und kommt zu Usman, bietet ihm das Stückchen an. Genau in diesem Augenblick schauen Aminas lächelnde Augen ihn an. Mit einem Nicken deutet sie an, er möge es essen. Und während der Geschmack des Apfels sich süß in seinem Mund ausbreitet, spürt er diesen wundersamen Blick des Mädchens auf sich ruhen. Verwirrt senkt er seinen Blick und hofft, so sitzen bleiben zu können. Doch die laute Stimme von Herrn Khan ist nicht zu überhören.

„So, so, der Sohn heißt Usman. Ein Trappenküken also. Ist der stumm, er macht ja den Mund nicht einmal auf.“

„Usman trauert sehr. Nicht nur meine Kinder haben ihr Geburtshaus verloren“, spricht Amma.

„Er sollte sich glücklich schätzen, frei zu sein, fern von diesen Ungläubigen. Hier haben wir die Kuhanbeter weggejagt, fort zu ihrem Hindustan“, ruft Herr Khan aus.

„Wir haben viele Verwandte und Hindu-Freunde in Indien; hier müssen wir erst heimisch werden“, antwortet Amma.

„Verstehe, verstehe, jetzt seid ihr im Land der Reinen. Allah sei gedankt!“

Frau Khan ergreift die Hand der Mutter. Schweigend begleitet sie Usman und die Mutter zur Haustür.

Abba ist von einer Reise zurückkehrt. Die Sprüche von Herrn Khan hat Usman immer noch im Ohr. Er muss mit dem Vater darüber sprechen.

„Abba, neulich war ich mit Amma bei Herrn Kahn.“