Rettet die Neugier! - Salman Ansari - E-Book

Rettet die Neugier! E-Book

Salman Ansari

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Beschreibung

Salman Ansari streitet für kindliche Freiräume und gegen die Bildungshysterie Physikkästen für Zweijährige? Chinesisch im Kindergarten? Salman Ansari, promovierter Naturwissenschaftler und Lernpädagoge, fordert: Weg mit dem Bildungsballast! Dieses Wissen ist nicht nur unnütz und teure Zeitverschwendung , sondern auch extrem gefährlich für Kinder. Sie scheitern an den viel zu komplexen Aufgaben, werden frustriert oder erwerben naive Vorstellungen, die später nur schwer zu korrigieren sind. Für die Kinder ist nicht die Anhäufung von Wissen wichtig, sondern die Fähigkeit, eigenständig und kreativ zu denken! Ansari begibt sich auf Augenhöhe mit den Kindern, geht konsequent von ihrem Denken aus und zeigt, wie sie Schritt für Schritt in ihrem Erkenntnisprozess begleitet werden können. Damit aus klugen Kindern interessierte und aufgeweckte Schüler werden.

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Salman Ansari

Rettet die Neugier!

Gegen die Akademisierung der Kindheit

FISCHER E-Books

Inhalt

Dieses Buch widme ich [...]Das Denken der KinderErstes Kapitel Der Wunsch zu lernen ist der Wunsch nach Bewältigung der WirklichkeitKinder sind die wahren WelterforscherAn das Wissen der Kinder anknüpfenWas ist entdeckendes Lernen?Zweites Kapitel Verhinderung und Unterstützung von ErfahrungsmöglichkeitenDrittes Kapitel Wie können Kinder zur Kreativität ermuntert werden?Der kreative ProzessViertes Kapitel Homo ludens oder die Bedeutung des SpielsFünftes Kapitel Naturerfahrung als Welterfahrung oder Wie viel Natur braucht ein Kind?Sechstes Kapitel Zusammenarbeit mit Kindern – Die ForscherdialogeErster Forscherdialog: »Alle Vögel sind schon da« FrühlingZweiter Forscherdialog: WasserschöpfenDritter Forscherdialog: SandschöpfenVierter Forscherdialog: Kinder als Entdecker und GestalterFünfter Forscherdialog: Kinder, seid stark wie ein Baum! SommerSechster Forscherdialog: Warum ist im Sandkasten Sand und keine Gartenerde?Siebter Forscherdialog: »Liebe Sonne scheine wieder!«Achter Forscherdialog: Bald wird es Blätter regnen HerbstNeunter Forscherdialog: Kann Schnee warm werden? WinterSiebtes Kapitel Wechsel von naiven Vorstellungen zu neuen ErkenntnissenErwerb übertragbarer KompetenzenBildung von eigenständigen KonzeptenSelbständige Vernetzung von erworbenem WissenAchtes Kapitel Lernen ohne AnweisungenWie durch Erkennen von Fehlern neue Erkenntnisse gewonnen werden könnenNeuntes Kapitel Naturerfahrung ist nicht NaturwissenschaftZehntes Kapitel Was heißt Frühförderung und naturwissenschaftliche Bildung?DankBildnachweisLiteraturempfehlungen

Dieses Buch widme ich allen Kindern und Erzieherinnen, die mich bei der Realisierung meiner unterschiedlichen Projekte begeistert unterstützt und mir tatkräftig geholfen haben.

Das Denken der Kinder

Nie zuvor hat man sich über die Frühförderung von Vorschulkindern so viele Gedanken gemacht wie heute: Chemiekästen für Kleinkinder, Chinesisch in Kitas, Kinder-Unis für Grundschüler, um nur einige Beispiele zu nennen. Kaum ein Elternpaar (zumindest nicht im bürgerlichen Milieu), das seinen Nachwuchs nicht an irgendeinem Zeitpunkt in den frühen Jahren für hochbegabt und daher besonders förderungsbedürftig hielte. Eine Generation von innovativen Nachwuchsforschern wächst da heran; die Zukunft und der Wohlstand unserer Gesellschaft müssten gesichert sein.

Doch schon in der Schule scheint die Begeisterung für die unterschiedlichsten Naturphänomene zu erlöschen. Aus wissensbegierigen, aufgeschlossenen Kindern werden desinteressierte, passive Schüler. An manchen Gymnasien kommen keine Leistungskurse in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) mehr zustande. An den Universitäten stagniert das Interesse an diesen Fächern. Mittlerweile fehlen deutschen Unternehmen um die 200000 Mathematiker, Naturwissenschaftler und Techniker. Der steigende Fachkräftemangel bedroht das gesamtwirtschaftliche Wachstum wie nie zuvor. Irgendetwas scheint schiefzulaufen. Die Kinder werden anscheinend nicht mitgenommen bei den ehrgeizigen Frühförderungsprogrammen und Lehrplänen.

Einblick in dieses Phänomen können uns die modernen kognitiven Wissenschaften und die Hirnforschung geben, die sich seit Jahren damit auseinandersetzen, wie die innere Welt von Kindern aussieht, wie es ist, ein Baby oder ein Kleinkind zu sein. Man weiß heute, dass in keiner Phase des Lebens die Fähigkeit zur ungeteilten, nicht zielgerichteten, entdeckenden Aufmerksamkeit so ausgeprägt ist wie in den frühen Jahren, in denen das Kleinkind seine Umwelt schrittweise zu erkunden beginnt. Das erklärt auch, warum man ein Vorschulkind für praktisch alles begeistern kann. Es geht ihm allein um das Verstehen und Begreifen seiner Wirklichkeit, die es sich ja erst erobern muss. Kleinkinder können nicht auswählen, welche Lernarten und Erfahrungsmöglichkeiten ihnen am ehesten dabei helfen, sich wertvolle Kompetenzen anzueignen. Ihre Entwicklung ist abhängig von den Einstellungen, Überzeugungen und Entscheidungen der Erwachsenen, die für sie verantwortlich sind. Damit sich die ungeteilte kindliche Lernbereitschaft und das Vorstellungsvermögen ungehemmt fortentwickeln können, ist es ausschlaggebend, welche alltäglichen Lernumgebungen und Welterfahrungen den Kindern zugänglich sind, und welches Maß an Zuwendung und Verständnis der Erwachsenen ihnen dabei zuteil wird.

Es ist also von großer Bedeutung zu lernen, wie Kinder denken, bevor man – sozusagen als Wissenschaftler – mit den Kindern über einen Sachverhalt spricht und Zusammenhänge erklärt. Aus einer Erwachsenenperspektive konzipierte Projekte schränken die geistige Beweglichkeit unserer Kinder ein und sind deshalb oft nicht nur teure Zeitverschwendung, sondern auch höchst fragwürdig: Es werden dabei sinnstiftende Alltagserfahrungen zugunsten von akademischen Kategorien verdrängt. Also von Lernstrategien, die nur die als wissenschaftlich korrekt geltende Interpretation der Natur gelten lassen, anstatt Lernkonzepte zu entwickeln und anzuwenden, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind und ihnen dabei helfen, selber den Weg zu den Naturgesetzlichkeiten zu beschreiten. Denn Erklärungen erweisen sich stets als Wissen aus zweiter Hand, zumal die Kinder keine Möglichkeit haben, reflektierend über sie nachzudenken, weil ihnen ein Rückgriff auf die Widersprüche ihres Weltverständnisses nicht möglich ist.

Wenn man Kinder ernst nehmen und verstehen will, ist es also unabdingbar und beglückend, die kindlichen Denkmuster nachempfinden zu lernen. Erst dann entdeckt man ihre Logik und ihr Weltbild. Eine solche Wissensvermittlung bedarf des Dialogs auf Augenhöhe, in dem alle Beteiligten wissen möchten, wie die Anderen über ein bestimmtes Phänomen denken. Erst im Dialog kommen unterschiedliche Vorstellungen, Überzeugungen und Bilder zum Ausdruck. Die Abwesenheit von solchen Dialogen bei Lehrprozessen in Kitas und Schulen könnte ein Grund dafür sein, weshalb viele Kinder und Jugendliche in diversen Bildungseinrichtungen scheitern. Anders ausgedrückt: Wenn die Lehrenden versuchen, ihre eigenen Vorstellungen und Schemata auf die Kinder zu übertragen, dann kann eigenständiges Lernen nicht stattfinden. Daher ist es so wichtig, erst die kindlichen Vorstellungen über einen Sachverhalt zu erkunden. Etwas in ein vorhandenes Schema hineinzupressen, scheitert, weil die Passung nicht da ist. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget formuliert diesen Zusammenhang wie folgt:

Das Lernen muss zum Ziel haben, kreatives Denken herauszufordern. Ein Denken also, das darauf gerichtet ist, selber Antworten zu finden und kritisch gegenüber Antworten zu sein, die von Anderen angeboten werden.

Im Rahmen dieses Buches soll über Aspekte einer falsch verstandenen Frühförderung nachgedacht und vor dem Hintergrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse beleuchtet werden, warum derartige Programme für die geistige Entwicklung von Kindern sogar hinderlich sein könnten. Mit Hilfe zahlreicher Beispiele wird gezeigt, dass es Alternativen gibt, die den Kindern dabei helfen können, sich selber und ihre Welt zu entdecken und besser zu verstehen. Alle Beispiele sind für Eltern und für Erwachsene, die mit Kindern zusammen arbeiten, auch ohne naturwissenschaftliche Bildung leicht umsetzbar und hoffentlich geeignet, sich gemeinsam mit den Kindern die Welt neu anzueignen.

Erstes Kapitel Der Wunsch zu lernen ist der Wunsch nach Bewältigung der Wirklichkeit

Teil einer zukunftsfähigen Allgemeinbildung sind (…) Fähigkeiten der Selbstorganisation und Selbstregulation des Lernens einschließlich der Bereitschaft, selbständig weiterzulernen und der Fähigkeit, Durststrecken im Lernprozess zu überstehen. BLK 1997

Begabte und erfolgreiche Menschen bekunden nicht selten, sie verstünden nichts von Naturwissenschaften, diese seien die Angstfächer ihrer Schulzeit gewesen. Andererseits belehren uns die Kognitionswissenschaften, dass Menschen für das Verstehen der naturwissenschaftlichen Zusammenhänge keine spezielle bzw. spezifische Intelligenz benötigen, die sich deutlich von allen anderen Denkformen unterscheidet. Ebenso gäbe es keine genetisch verankerte Veranlagung, um erfolgreich in naturwissenschaftlichen Kategorien denken zu können. Das menschliche Denken und Verstehen bedient sich also derselben Instrumentarien, zum Beispiel des Abstraktionsvermögens und des Kausaldenkens, um ganz unterschiedliche Denkmuster, Systeme und Arbeitsmethoden zu verstehen. Wer beispielsweise philosophische Abhandlungen nachvollziehen kann, kann sich ebenso gut in betriebswirtschaftliche Modelle hineindenken. Darüber hinaus legen wissenschaftliche Befunde es nahe, dass selbst Babys und ganz kleine Kinder eine Art Abstraktionsvermögen besitzen und Ereignisse in ihrer Welt in einem kausalen Kontext einordnen und verstehen können. Woran liegt es also, dass so viele gescheite Menschen den naturwissenschaftlichen Fächern nichts abgewinnen können?

Lernen macht für uns nur dann Sinn, wenn wir dabei die Chance erhalten, unser bereits erworbenes Wissen eigenständig zu vernetzen bzw. zu übertragen, um neue Zusammenhänge zu verstehen. Der Pädagoge Martin Wagenschein (1896–1988) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Schulpädagogik nicht darauf ausgerichtet ist, die »vor-wissenschaftlichen« – heute würden wir sagen die »naiven« – Vorstellungen der Jugendlichen bei der Interpretation von Naturphänomen mit einzubeziehen. Denn nur so könne es gelingen, die Sichtweisen der Jugendlichen in einen kreativen Lernprozess zu integrieren, der ihnen letztlich hilft, Widersprüche ihres Weltverständnisses zu entdecken und selbständig zu korrigieren. Wagenschein geht es darum, dass der Unterrichtsgang ausgehend von vertrauten Phänomen Staunen auslöst, Fragen der Kinder provoziert, Vermutungen weckt und unterstützt, Ausdenken von Experimenten fördert, ja, Kinder und Jugendliche sogar mit Fragen konfrontiert, die frühere Generationen an die Natur gestellt haben. Es geht also nicht um einen Unterricht, der sofort nur die als wissenschaftlich korrekt geltende Interpretation der Natur gelten lässt, sondern Kindern und Jugendlichen dabei hilft, selber den Weg zu den als richtig erachteten Naturgesetzlichkeiten zu beschreiten. Die modernen kognitiven Wissenschaften, die Hirnforschung und die Entwicklungspsychologie sagen nichts anderes, wenn es um das Verstehen und Begreifen der Wirklichkeit geht.

Vermutlich fühlen sich viele Kinder und Jugendliche vom naturwissenschaftlichen Unterricht besonders enttäuscht und frustriert, weil er ihr Weltwissen und ihre potentiellen Möglichkeiten zur Kreativität ausblendet. Doch was bedeutet Weltwissen? Diese Frage möchte ich versuchen, mit einigen Beispielen zu beantworten. Der Philosoph Descartes war davon überzeugt, dass Körper und Geist voneinander vollkommen unabhängig seien;nur der Geist könne denken und sich somit Wissen aneignen, der Körper jedoch nicht, nach dem Motto: Cogito, ergo sum. – Ich denke, also bin ich.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten selber entscheiden, wie Ihr Körper sich beim Gehen, Springen, Rennen, Hüpfen, Schwimmen usw. verhalten soll. Wird es Ihnen dann beispielsweise gelingen, beim Gehen mit den Füßen nach vorn zu stoßen? Werden Sie, gerade stehend, also ohne in die Knie zu gehen, hochspringen können? Werden Sie beim Schwimmen vorwärts kommen können, während Ihre Arme das Wasser nach vorn schieben? Werden Sie ein Boot nach vorn bewegen können, während Sie vorwärts rudern? Werden Sie beim Radfahren eine Kurve nehmen können, ohne das Rad zu neigen? Werden Sie einen Roller vorwärts bewegen können, während Sie mit einem Fuß nach vorne stoßen?

Dabei wissen wir, dass wir im Sand nicht gut hochspringen können. Wir wissen auch, dass wir zum Hochspringen die Hilfe des Bodens brauchen. Diese bekommen wir jedoch nur in befriedigendem Umfang, wenn wir, auf einem festen Boden stehend, ihn kräftig nach unten drücken, damit er uns nach oben schickt. Auf dem Sandboden gehen jedoch Teile der ausgeübten Kräfte durch das Wegbewegen des Sandes verloren. Aus demselben Grund fällt es uns schwer, eine Düne ohne große Anstrengung hochzusteigen. Die Gesetze von Newton kennt unser Körper aus unterschiedlichen Erfahrungen sehr wohl. Newton hat über sein »Weltwissen« reflektiert, Fragen an die Naturgesetze gestellt. Er hat also über das Verhalten seines eigenen Körpers bei Bewegungsabläufen nachgedacht und nach deren Gesetzmäßigkeiten gesucht. Ferner hat ihn interessiert, was man braucht, um einen sich bewegenden Gegenstand, zum Beispiel einen Fußball, zum Stillstand zu bringen. Beides ist ohne die Anwendung von Kraft nicht möglich. Die Antworten auf seine Fragen fand er in den vielen Erscheinungsformen der Natur selbst.

Diesen Aspekt hat Martin Wagenschein unübertrefflich klar wie folgt zusammengefasst: Wir müssen verstehen lehren. Das heißt nicht: es den Kindern nachweisen, so dass sie es zugeben müssen, ob sie es nun glauben oder nicht. Es heißt: sie einsehen lassen, wie die Menschheit auf den Gedanken kommen konnte (und kann), so etwas nachzuweisen, weil die Natur es ihr anbot (und weiter anbietet). Und wie es dann gelang und je neu gelingt.

 

Wir haben offensichtlich keinen »freien Willen«, wenn wir uns mit unseren Sinnen und unserem Körper in der Welt orientieren. Aus dieser Erfahrung, die nicht hinterfragt wird, entwickeln wir unser räumliches Verständnis und die unterschiedlichen Verhaltensformen des Körpers bei verschiedenen Bewegungsarten. Zum Beispiel lernen wir bei diversen Spielarten, dass wir, je besser wir das Spiel beherrschen, umso leichter unerwartete Spielsituationen bewältigen können. Ein Fußballer denkt während des Spiels nicht über jede Bewegung nach. Sein Körper weiß, wie er sich zu verhalten hat. Diese Art des Wissens, das beim schulischen Lernen keine Rolle spielt, möchte ich als »Weltwissen« bezeichnen. In wissenschaftlicher Sprache wird dies auch als »implizites Wissen« genannt. Hier noch einige weitere Beispiele:

Stellen Sie sich vor, Sie sind in der Lage blind zu tippen, haben lange an Ihrem Rechner gearbeitet und werden nun aufgefordert, aus dem Gedächtnis die Reihenfolge der Buchstaben auf der Tastatur aufzuzeichnen. Werden Sie es schaffen? Auch dies ist ein Beispiel dafür, dass der Körper etwas weiß, was uns nicht bewusst ist.

Das Trägheitsgesetz von Newton kann man wie folgt interpretieren: Ein Körper bleibt in Ruhe oder in gleichförmiger geradliniger Bewegung, solange die Summe der auf ihn wirkenden Kräfte null ist.

Auch dies kennt unsere körperliche Erfahrung, z.B. beim Seilziehen. Solange beide Parteien gleich stark am Seil ziehen, herrscht Stillstand, obwohl Kräfte ausgeübt werden.

Solange beide Parteien gleich stark am Seil ziehen, herrscht Stillstand, obwohl Kräfte ausgeübt werden.

Dass wir uns beim Autofahren anschnallen, ist auch eine Folge des Trägheitsgesetzes. Wenn plötzlich gebremst wird, behält der Köper seine Bewegung bei und würde folgerichtig nach vorn fallen oder gar hinausfliegen, wenn der Gurt dem nicht Einhalt gebieten würde.

 

Ein weiteres Beispiel sind die Hebelgesetze:

Die beiden Kinder wiegen unterschiedlich viel. Die Bilderfolge zeigt, dass sie sich dann im Gleichgewicht befinden, wenn das leichtere Kind sich vom Mittelpunkt der Wippe weiter weg bewegt als das Kind mit größerem Gewicht.

Das Gesetz lautet:

Wir gehen jeden Tag ganz selbstverständlich mit vielen Geräten um, deren Wirkungsweise auf Hebelgesetzen beruht. Hier einige Beispiele:

Auch beim Schwimmen weiß unser Körper, welche Kräfte auf ihn wirken. Implizit wissen wir, dass wir mehr Kraft aufwenden müssen, je tiefer wir tauchen. Wir wissen auch, dass beim Springen von einem Sprungbrett der Körper erst einmal tief ins Wasser hineinsinkt, jedoch von selber wieder hochkommt, ohne dass wir dazu Kräfte aufwenden müssen. Wir kennen somit die Kräfte, die im Wasser auf den Körper wirken (Auftrieb). Wir erleben auch, dass wir schwere Gegenstände im Wasser erheblich leichter bewegen können. Und dass sich genau in dem Augenblick, wo wir aus dem Wasser steigen, der Körper auf einmal schwerer anfühlt. Denn ab dem Moment trägt uns die Kraft im Wasser nicht mehr. All dieses Wissen ist da und wird doch nicht herangezogen, um uns die Naturgesetze verständlich zu machen. Begriffe wie »Auftrieb« oder »Verdrängung« würden wir dann besser verstehen und somit begreifen können, wenn wir die Chance der Bewusstwerdung von Phänomenen bekämen, die unser Körper bereits weiß. Das heißt, wenn es den Lehrern oder Eltern gelänge, das »implizite« Wissen »explizit« zu verwandeln. Wenn wir Kindern dabei helfen wollen, die Welt besser zu verstehen, müssen wir nachvollziehen lernen, wie sie sich ihre Welt aneignen.

Kein Kind würde etwas lernen wollen, wenn es das Gelernte nicht nutzbar machen könnte, um sich selber und seine Wirklichkeit zu entdecken. Das kindliche Lernen ist unmittelbar mit der Anwendung des erworbenen Wissens verbunden. Jedes Kind versucht unermüdlich, sich immer neue Fertigkeiten anzueignen, die es dann auch sofort anwenden will. Hier zwei Beispiele: Wenn ein Kind nicht mehr gefüttert werden möchte, versucht es, selbständig zu essen. Das beginnt schon damit, dass es unzählige Male übt, einen Löffel zu ergreifen. Kann es dann den Löffel halten, dann möchte es auch ohne Hilfe essen. Oft habe ich erlebt, wie erbittert Kinder um ihre Selbständigkeit kämpfen. Denn viele Eltern unterstützen diesen unbändigen Drang zur Selbständigkeit nicht, weil sie Angst haben, das Kind könnte sich oder den Esstisch bekleckern.

Befindet sich eine Treppe im Haus, dann möchten Kinder, die gerade das Gehen gelernt haben, diese auch aufrecht hinaufklettern. Jeder Versuch der Erwachsenen, ihnen dabei zu helfen, wird vehement abgewiesen. Fällt das Kind dabei, dann weint es erst, aber dann beginnt ein neuer Versuch. Ähnliche Beispiele gibt es zuhauf.

Das ursprüngliche, also vorschulische Lernen ist auf die sinnliche Erfahrung ausgerichtet, die dem Kind hilft, Zusammenhänge zu begreifen, um sich in seiner Welt zu orientieren. Kinder lernen daher nicht auf Vorrat.

Ein Wissen, das niemals in einen Dialog mit der Wirklichkeit eintreten kann, ist nutzlos. Dieses unnütze Wissen ist eine Beeinträchtigung unserer geistigen Beweglichkeit. Wer könnte leugnen, dass er ein gehöriges Gepäck von diesem nutzlosen Wissen mit sich herumträgt. So lernen wir in unserer Schulzeit in allen Fächern sehr viele Sachverhalte, an die wir uns später weder erinnern, noch diese in der Alltagspraxis zur Anwendung bringen können. Der englische Gelehrte Alfred North Whitehead bezeichnet ein solches Wissen als »inert«. Inert ist etwas, das regungslos da ist, untätig, ohne Reaktionsfähigkeit auf irgendeinen Stimulus.

Wie können wir nun unsere Kinder gegen ein solches Wissen schützen? Und wie können Eltern, Erzieher bzw. Erzieherinnen und andere Erwachsene dazu beitragen, dass Kinder sich selber und ihre Umwelt besser verstehen lernen?

Entwicklungspsychologisch begründete Erkenntnisse, welche Strategien die Wirksamkeit von Lernprozessen günstig beeinflussen, sind dabei von grundsätzlicher Bedeutung. Was wissen wir darüber, welche Bedingungen das Denken der Kinder und ihrer sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten stimulieren und somit die Lerneffizienz und den Erwerb von neuen Kompetenzen ermöglichen?

Im Folgenden möchte ich drei Aspekte vorstellen, die für das Lehren und Lernen von elementarer Bedeutung sind.

Kinder sind die wahren Welterforscher

Kinder haben einen geradezu unbändigen Drang selbständig zu lernen. Sie sind in gewisser Weise Forscher und Erfinder. Denn ähnlich wie diese sind sie in der Lage, mit ungebrochener Unbefangenheit, Begeisterung und Ausdauer Dinge zu lernen und zu erforschen. Sehr junge Kinder besitzen bereits die Fähigkeit kausal zu denken. Sie agieren wie Erfinder, bilden Hypothesen und Theorien. Fähigkeiten, die bei vielen Schülern später oft vermisst werden. Während der Schulzeit scheinen diese bereits vorhandenen Kompetenzen verschüttet zu werden. Wie dies verhindert werden kann und wie die bereits vorhandenen Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten der Kinder entfaltet werden können, das sind die drängenden Fragen, die sich uns stellen. Da Kinder nicht selber entscheiden können, welche Aspekte der Welterfahrung ihre geistigen Fähigkeiten potentiell fördern, müssen Eltern und andere Bezugspersonen eine Lernatmosphäre schaffen, die Kinder dazu ermutigt, ihre Umwelt ungestört zu erforschen. Andererseits muss die Gesellschaft eine Antwort darauf finden, weshalb die meisten Kinder hochmotiviert, mit einem unbändigen Lerneifer in die Schule kommen, aber bereits am Ende der Grundschule, manchmal sogar früher, ihr ursprüngliches Bedürfnis, sich neue Kompetenzen anzueignen, erlahmt und stattdessen ein Gefühl von Enttäuschung und Versagen das Empfinden der Kinder bestimmt. Ein solches Empfinden können Kinder nicht vortäuschen und sich einbilden, sondern es hat tiefer reichende Gründe. Weil Kinder nicht selber die Gründe benennen können, müssen die verantwortlichen Erwachsenen genauer nach den Ursachen forschen. Die Kognitionswissenschaften, die Entwicklungspsychologie und die Hirnforschung haben bedeutende Erkenntnisse über die Prozesse des Lehrens und Lernens gewonnen. Diese Erkenntnisse sind hilfreich, um die Schwachpunkte im Bildungssystem zu erkennen. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse möchte ich auf folgende Zusammenhänge hinweisen:

An das Wissen der Kinder anknüpfen

Bereits das Kindergartenkind hat seine ganz eigene Art und Weise mit Problemen umzugehen und besitzt eigenständige Vorstellungen und Konzepte, um die Wirklichkeit zu verstehen. So können schon zwei- bis dreijährige Kinder kleine Geschichten erzählen und die Handlung einer Erzählung mit verfolgen. Sie können sich besinnen, Fragen stellen, Urteile bilden, argumentieren, streiten, eine Vielzahl von Objekten klassifizieren und schlussfolgern. Sie besitzen somit alle Fähigkeiten, die nötig sind, um weiteres Wissen zu erwerben.

Was ein Kind zu irgendeiner Sache meint und welche Vorstellungen es bereits darüber besitzt, werden wir jedoch nur dann erkennen können, wenn wir uns bewusst und gezielt darum bemühen, seine Meinung zu befragen und seine sprachlichen Äußerungen zu verstehen. Wir müssen versuchen, uns dem Blickwinkel der Kinder anzunähern.

Ein möglicher Weg, das Weltwissen der Kinder auszuloten, und ein zutreffendes Bild von ihrem Weltverständnis zu bekommen, besteht darin, Schritt für Schritt zu lernen, die Fragen, Beschreibungen und Bemerkungen der Kinder in einem Zusammenhang zu begreifen, der auf den Erfahrungsmöglichkeiten der Kinder beruht. Ein Beispiel: Beim Betrachten von Bildern, die Schneckenarten darstellen, ruft ein Kind aus: »Schau diese Schnecke hat ein Haus, diese nicht!« Die Unterschiedlichkeit beschäftigt das Kind. Hier können wir durch Fragen weiterhelfen, wie z.B. »Vielleicht braucht diese das Haus und die andere nicht?« »Vielleicht muss sich manchmal die eine in ihr Haus verkriechen und sich verstecken. Aber warum hat die andere diese Möglichkeit nicht?« »Gibt es noch andere Tiere, die ein Haus mit sich herumtragen?«

Es geht immer darum, Formen der Kommunikation und des praktischen Handelns zu entwickeln, die hilfreich sein könnten, Kindern ihre Welt besser verständlich zu machen.

Dies setzt jedoch voraus, dass die Erwachsenen Klarheit über ihre Vorgehensweisen besitzen; d.h., das Lernziel und die Auswahl der Mittel bzw. Strategien müssen zum Erreichen des Ziels genau überlegt sein.

Von Bedeutung dabei ist, dass Erwachsene ihre eigenen Erfahrungen in die Zusammenarbeit mit den Kindern einbringen, statt eines Fachwissens, das sie möglicherweise selber nicht ganz verstanden haben. Ausgangspunkt kann eine Beobachtung wie die der Schnecke sein, eine Geschichte oder eine Frage, die die Kinder ermuntert, eigene Fragen zu stellen und Antworten zu finden, wobei sie aber immer das Gefühl haben müssen, selbständig und nach ihrem eigenen individuellen Tempo handeln zu können. Zeit geben heißt, Kindern dabei helfen, sich neue Kompetenzen anzueignen.

Auch im Schulunterricht wird versucht, die eigene Erfahrung der Kinder in Zusammenhang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu bringen. Allerdings ist ein solcher Ansatz wenig erfolgreich, wenn ihm eine Voraussetzung fehlt: nämlich die Kenntnis darüber, welche Vorstellungen die Kinder bereits über den jeweiligen Sachverhalt besitzen, der gelernt werden soll.

Ein wirkliches Verstehen der Naturerscheinungen kann nur durch eine Ablösung von falschen und naiven Vorstellungen zugunsten von wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen erreicht werden. Nur durch das Herstellen von Lernsituationen, in denen das eigene Wissen selbständig korrigiert werden kann, wird das Verstehen von Zusammenhängen und die Veränderung des Wirklichkeitsbildes erreicht. Gelingt das nicht, bleiben naive Vorstellungen bis ins Erwachsenenalter haften. Im siebten Kapitel behandle ich diesen Aspekt ausführlich.

Was ist entdeckendes Lernen?

Das Wort »entdecken« könnte folgende Bedeutungen enthalten: herausfinden, aufspüren, ermitteln, herausbekommen usw. Wir können allerdings nur dann etwas herausfinden oder aufspüren, wenn es uns gelingt, auf der Grundlage unseres vorhandenen Wissens und unserer Erfahrung eine Sache gezielt zu erforschen. Dazu werden wir nur dann bereit sein, wenn sie uns bedrängt oder wenn ein Ereignis, das in einem von uns nachvollziehbaren Kontext steht, uns rätselhaft erscheint und zu Fragen anregt. Jedenfalls werden wir nicht als Forschende agieren können, wenn uns die Fragestellung künstlich aufgedrängt oder uns in einer Art und Weise präsentiert wird, die sich unseren Erfahrungsmöglichkeiten, unseren Interpretationsmöglichkeiten entzieht.

Auch im Kindergarten bleiben naturwissenschaftlich orientierte Tätigkeiten oft losgelöst im Raum stehen, ohne dass Zusammenhänge mit Alltagsbeobachtungen der Kinder hergestellt werden. Die Kinder erwerben somit ein Wissen, das sie nicht auf die erlebte Wirklichkeit übertragen können.

Ein Beispiel:

Um zu beweisen, dass Luft Masse hat, wird folgendes Experiment für Kindergartenkinder vorgeschlagen:

Ein leeres Glas, in dem sich ein Stück Papier befindet, wird umgekehrt in eine Wasserwanne getaucht. Das Wasser steigt nicht hoch und das Papier bleibt trocken.

Selbst Grundschulkinder interpretieren diesen Versuch so: »Die Luft im Glas ist so stark, dass sie das Wasser nicht hochsteigen lässt.«

Tatsächlich herrscht jedoch im Glas der gleiche Druck wie außerhalb des Glases, also der jeweilige Luftdruck. Diesen Sachverhalt können Grundschulkinder aber noch nicht verstehen, weil sie noch kein Konzept für den atmosphärischen Druck haben. Dabei soll dieser Versuch den Kindern verdeutlichen, dass Luft tatsächlich eine Substanz bzw. Masse besitzt. Dies wissen die Kinder allerdings implizit ohnehin und werden durch diesen Versuch nur verunsichert bzw. zur Bildung von Fehlvorstellungen animiert.

Wenn wir über das Verhalten von Luft sprechen, dann sprechen wir über den gasförmigen Zustand der Materie. Kinder sind mit dem Begriff »Luft« vertraut, weniger jedoch mit »Gas«. Mit kleinen Kindern kann man also durchaus über Luft sprechen, und man lernt dann, dass sie in der Lage sind, damit unterschiedliche Beobachtungen zu beschreiben. So können sie berichten, dass Luft, bzw. der Wind die Baumblätter zu bewegen vermag. Der Wind kann große Piratenschiffe vorantreiben, und wenn es richtig stürmt, dann können Dächer vom Wind abgedeckt werden. Ähnliches berichtet auch Jean Piaget 1928 in seinem Buch »The Child’s Concept of the World«. Will man den Kindern die Eigenschaften von Luft experimentell näherbringen, dann wird ein Verstehen nur dann erreicht, wenn Kinder mit einigen grundlegenden physikalischen Begriffen vertraut sind. Hierzu zählen beispielsweise: Menge, Volumen, Masse, Druck, Temperatur. Alle Experimente, die zum Thema »Luft« vielerorts in Kitas gezeigt werden, beinhalten all diese Dimensionen der Physik. Können Kindergartenkinder diese Dimension verstehen?

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Kinder unter elf Jahren in der Regel die Luft als etwas begreifen, was da ist, was man nicht sehen und nicht anfassen kann. Ab elf Jahren existiert die Luft als etwas Substantielles. Auf die Frage »Enthält ein offenes Gefäß Luft?«, antworten 83