17,99 €
Hinreißend komisch: der neue Fantasy-Roman von Marc-Uwe Kling Nachdem der Spurenfinder Elos von Bergen zusammen mit seinen Kindern Ada und Naru den schrecklichen Mord am Dorfvorsteher aufgeklärt hat, ist Ruhe eingekehrt in Friedhofen. Die Zwillinge beginnen sich schon wieder zu zoffen, so langweilig ist ihnen, da klopft zum Glück ein Bote König Fredlaffs an die Tür. Das legendäre Zepter der Ahnen wurde unter unerklärlichen Umständen aus der königlichen Schatzkammer entwendet – und das keine drei Tage vor der Unabhängigkeitsfeier, bei der Fredlaff samt Zepter vor sein Volk treten muss. Ist es nur ein Diebstahl oder verbirgt sich mehr dahinter? Gar eine politische Intrige? Elos und die Zwillinge eilen in die Hauptstadt, um den mysteriösen Fall unters Glotzoskop zu nehmen ... »Magisch!« DIE ZEIT
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Spurenfinder und das Drachenzepter
Marc-Uwe Kling singt Lieder und erzählt Geschichten. Seine Känguru-Geschichten wurden 2010 mit dem Deutschen Radiopreis und 2013 mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. Im Kino waren das Känguru und der Kleinkünstler bereits mit zwei Blockbustern vertreten ("Die Känguru-Chroniken", 2020 & "Die Känguru-Verschwörung" 2022). Die satirischen Dystopien QUALITYLAND (2017) und QUALITYLAND 2.0 (2020) eroberten die SPIEGEL-Bestsellerliste und werden derzeit verfilmt. Das Vorlesebuch DAS NEINHORN verkaufte sich fast eine Million mal.
Nachdem Elos von Bergen mit seinen Kindern Ada und Naru den schrecklichen Mord von Friedhofen aufgeklärt hat, ist dort wieder Ruhe eingekehrt. Als sich die Zwillinge schon vor Langeweile zoffen, klopft ein Bote des Königs an die Tür. Das legendäre Drachenzepter wurde auf mysteriöse Weise aus der Schatzkammer entwendet – und das keine drei Tage vor der Unabhängigkeitsfeier. Dort muss König Fredlaff samt Zepter vor sein Volk treten. Ist es nur ein Diebstahl? Oder gar eine politische Intrige? Elos und die Zwillinge eilen in die Hauptstadt, um den rätselhaften Fall unters Glotzoskop zu nehmen ...
Luise Kling, Johanna Kling, Marc-Uwe Kling und Elisabeth Kling
Roman
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
© Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin 2025Umschlaggestaltung: zeromedia.net, München unter Verwendung einer Vorlage von Bernd Kissel Alle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vorAutorenfoto Marc-Uwe Kling: © Sven Hagolani
E-Book Konvertierierung powered by pepyrus
ISBN: 978-3-8437-3551-3
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Ein Jahr später
Die Spurenfinderin
Ein verkleideter Befehl
Iriandria
Das Verlies
Ein Tag für die Geschichtsbücher
Sieben mal sieben Sekunden
Lohenstiens Methoden
Der Steinflüsterer
Rosenwasser-Wackelpudding
Alte Freunde, neue Probleme
Aus heiterem Himmel
Ein Babydrache
Zwei, zehn, zwanzig, vier
Echte Geheimnisse
Der Albtraum
Der Traummörder von Altschwanenberg
Hoch oben
Nekrans Schatten
Ein wirklich hervorragendes Versteck
Dunkles Vermächtnis
Mehr Neugier als Schamgefühl
Mittelmäßige Pläne
Kein Oben, kein Unten
Die Nacht der Träume
Im Dunkeln
Eine wichtige Information
Improvisationen
Kein Entkommen
Ein Viertel Wahrheit
Keine gute Tat bleibt ungestraft
Epilog
Karten
Über die Autorinnen und Autoren
Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
»Am Vorabend der Schlacht von Sonkurria war die Verzweiflung so dick, man hätte sie schneiden und sich aufs Brot legen können. Zwist herrschte im Lager der Aufständischen. Fliehen, verhandeln oder kämpfen bis zum Tod? Wer hatte das Recht, für die Unabhängigkeitsbewegung zu sprechen, wer, sie zu führen? Der Aufstand war nicht nur von der imperialen Übermacht bedroht, er war drauf und dran, an seinen inneren Widersprüchen zu zerbrechen. Doch in dieser dunklen Stunde trat Iria, Tapferste der Tapferen, in die nächtliche Ratsversammlung, und in ihrer Hand hielt sie das Drachenzepter.«
Chronik des Königreichs Dreibrückenvon Deidra Harfner
Für einen kurzen Augenblick war es völlig still im Haus am Schönen See. Als hätte der Schock über das, was die Zwillinge gerade erfahren hatten, die Zeit genau zur Mittagsstunde eingefroren. Ada fürchtete, dass selbst ein Blinzeln ohrenbetäubenden Lärm machen würde.
Naru blickte wieder auf das Notizbuch, das auf dem Küchentisch lag. Er musste den letzten Absatz ein zweites Mal lesen. Was da in den Memoiren seines Vaters stand, war doch kaum zu fassen.
Die Zwillinge sind mein einziger ungelöster Fall – und mir dennoch der liebste. Ihre Anwesenheit in meinem Leben ist ein vollkommenes Rätsel, dem des Obelisken von Tarnok ebenbürtig. Ich beschloss, sie als meine eigenen Kinder auszugeben, denn zumindest eines war mir sonnenklar: Wenn jemand so verzweifelt war, seine Kinder nachts vor meiner Tür zurückzulassen, dann nur, weil sie in großer Gefahr schwebten.
Naru schlug das in Leder eingebundene Buch mit der großen Dreizehn darauf zu und starrte seinen Vater an. Oder vielmehr den Mann, den er zwölf Jahre lang für seinen Vater gehalten hatte: Elos von Bergen, den berühmtesten Spurenfinder der Verlorenen Provinzen. Dann blickte er zu seiner Zwillingsschwester. Adas Mund stand offen. Das sah ein bisschen dumm aus, fand Naru. Er schob seinen noch vollen Teller Kartoffelsuppe von sich. Der Hunger war ihm vergangen. Und das wollte was heißen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal freiwillig ein Mittagessen hatte sausen lassen. Auf einmal hatte Naru den dringenden Wunsch, aus der Küche zu rennen und im kalten Wasser des Schönen Sees unterzutauchen. Nur, um einen klaren Kopf zu bekommen. Und danach würde er sich für zwei, drei Wochen irgendwo in Friedhofen oder im Wilden Wald verstecken. Bis jetzt war der Herbst ja sehr sonnig gewesen. Er könnte sich bestimmt von dem ernähren, was ihm Büsche und Bäume anboten. Oder er zog einfach bei Ilda ein. Oh ja, das war ein deutlich besserer Plan.
Ada hatte zu viele Gefühle auf einmal. Ihr Verstand kam nicht hinterher. Sie war überrascht und irgendwie sauer, gleichzeitig fragte sie sich, ob sie immer noch in Gefahr waren, dann wieder konnte sie es gar nicht glauben. War das ein schlechter Scherz? Aber als sie Elos in die Augen sah, erkannte sie, dass es die reine Wahrheit war. Der Spurenfinder blickte die Zwillinge unsicher an. Was war das in seiner Miene, fragte sich Ada. Sorge? Angst? Fürchtete er sich davor, wie die Kinder reagieren würden? Hatte er ihnen deshalb ihre Herkunft so lange verschwiegen? Ada wollte etwas sagen, sie war ja tatsächlich wütend, aber gleichzeitig wollte sie ihren Vater trösten, denn das war er doch immer noch, oder nicht? Ihr Vater? Nur wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
Auch Elos schien um Worte zu ringen. Nichts war zu hören als das Knistern des Feuers im Ofen. Es war Naru, der das Schweigen schließlich brach. »Hat einer von euch eigentlich schon den Esel gefüttert?«, fragte er.
Ada blickte ihren Bruder fassungslos an.
»Ich … ich geb ihm lieber mal was«, sagte Naru. »Ihr könnt mir ja dann … also … ähm …« Er stand auf und ging zur Tür.
»Spinnst du?«, fragte Ada. »Du bleibst schön hier, Junge!«
Ihr Bruder atmete tief ein und seufzte. »Ich möchte lieber nicht …«. Verdammte Neugier, dachte er. Es gibt eben doch Sachen, die man lieber nicht gewusst hätte. Trotzdem ging er zurück zu seinem Platz und setzte sich.
»Ich weiß, ich hätte euch das längst erzählen müssen«, begann Elos. »Doch es gab nie den richtigen Moment. Anfangs hatte ich Angst, dass ihr euch verplappert und dadurch selbst in Gefahr bringt. Später fürchtete ich, dass ihr es mir übel nehmen könntet, dass ich es euch nicht schon früher erzählt habe, und ich weiß nicht …«
Elos unterbrach sich, als Ada ihn umarmte. Tränen rannen ihre Wangen hinunter.
»Du bist immer noch unser Vater«, schluchzte sie.
»Das … das hoffe ich doch.«
»Wir haben ja auch keinen anderen«, sagte Naru. Er kratzte sich nachdenklich an der Nase. »Aber wenn ich ganz viel Glück habe, dann ist Ada gar nicht wirklich meine Schwester.«
»Du bist so doof!«, rief Ada und boxte ihren Bruder gegen den Oberarm. Doch sie verstand natürlich, dass er nur versuchte, die angespannte Situation durch seine schlechten Witze zu entschärfen.
»Fein«, sagte Naru zu Elos. »Du bist immer noch unser Vater. Aber Tatsache bleibt, dass du uns angelogen hast. Und lügen darf man nicht. Das hast du selbst uns beigebracht.«
»Bitte was?«, fragte Elos erstaunt. »Solch einen Unsinn habe ich gewiss nie verbreitet.«
»Das stimmt«, pflichtete Ada bei. »Du hast immer gesagt, dass wir nicht ohne guten Grund lügen sollen.«
»Das ist ein gewaltiger Unterschied!«, ergänzte Elos.
»Vater selbst lügt ja auch ständig«, sagte Ada.
»Also ständig würde ich nicht sagen.«
»Aber sehr häufig.«
»Manchmal.«
»Einigen wir uns auf oft.«
»Einigen wir uns auf, wenn ich einen guten Grund habe«, sagte Elos.
»Aber jedenfalls hat Vater noch nie behauptet, dass man gar nicht lügen soll«, bilanzierte Ada.
»Wieso fällst du mir eigentlich in den Rücken?«, meckerte Naru seine Schwester an. »Merkst du nicht, dass wir gerade in einer starken Position sind? Ich versuche hier, Zugeständnisse für uns auszuhandeln!«
»Was denn für Zugeständnisse?«, fragte Ada.
»Was weiß ich«, sagte Naru. »Zum Beispiel, dass wir nicht mehr in die Schule müssen.«
»Aber ich gehe gerne in die Schule!«
»Ich finde es anhand der neuesten Enthüllungen wirklich zweifelhaft, dass wir Geschwister sein sollen.«
Ada ignorierte ihren Bruder. »Was ist eigentlich mit unserer Mutter?«, fragte sie.
Elos lächelte schwermütig.
»Wenn du von ihr erzählt hast«, sagte Naru. »Das klang so echt. Hast du dir das alles nur ausgedacht?«
»Wenn man lügt …«, begann Elos.
»… aus gutem Grund …«, warf Ada ein.
Elos schüttelte den Kopf. »Egal wie gut der Grund ist … Eine Lüge funktioniert dann am besten, wenn sie von so viel Wahrheit wie möglich umschlossen ist.« Der Spurenfinder kratzte sich an seinem markanten Backenbart. »Die Lüge muss der Schnürsenkel sein, nicht der Schuh. Sonst merkt man gleich, dass es nicht passt.« An seltsamen Sprüchen wie diesem erkannte man noch heute, dass Elos’ Vater Schuster gewesen war.
»Was soll das denn heißen?«, fragte Naru. »Was für Schnürsenkel?«
»Kurz bevor ihr mir zugeflogen seid, war ich auf Tarnok«, erzählte der Spurenfinder. »Dort traf ich eine Frau. Sie hat mir geholfen, das Rätsel des Obelisken zu lösen.« Ein versonnenes Lächeln schlich sich auf Elos’ Gesicht. »Vivian war der schlaueste Mensch, den ich je getroffen habe. Und vorlaut war sie auch. Ihr hättet wirklich ihre Kinder sein können …«
»Also zumindest ich«, sagte Ada.
»Aber natürlich seid ihr nicht ihre Kinder.«
»Und du warst in sie verliebt?«, fragte Naru.
Elos seufzte nur, antwortete aber nicht. Stattdessen sagte er: »Als ich mir eure Mutter ausdenken musste, da nahm ich mir Vivian zum Vorbild.«
»Wenn du sie so toll fandest«, fragte Naru, »warum hast du sie dann nicht einfach geheiratet?«
»Ich war nur ein verwaister Schusterjunge und Vivian die Tochter des Fürsten von Tarnok. Sie war bereits einem anderen versprochen.«
»Vielleicht sind wir wirklich ihre Kinder«, überlegte Naru. »Vielleicht war sie es, die in Gefahr war? Und natürlich schickte sie ihre Kinder zu dir.«
Elos schüttelte den Kopf. »Es vergingen kaum zwei Wochen zwischen dem Moment, in dem ich Vivian zurücklassen musste, und dem Augenblick, als ich euch in dem Korb vor meiner Tür fand. Es wäre eine sehr kurze Schwangerschaft gewesen.«
»Warte mal!«, rief Naru plötzlich. Ihm war soeben etwas furchtbar Wichtiges eingefallen. »Jedes Jahr hast du mit uns Geburtstag gefeiert. Woher weißt du eigentlich, wann wir Geburtstag haben?«
»Hm«, machte sein Vater. »Also das weiß ich natürlich nicht wirklich.«
»Das heißt, du hast dir unseren Geburtstag nur ausgedacht?«, fragte Ada.
»Nun, möglicherweise …«, sagte Elos.
»Also ja?«
»Ich konnte schlecht zugeben, dass ich den Geburtstag meiner Kinder nicht kenne.«
»Und unsere Namen hast du dir auch einfach ausgedacht?«, fragte Naru.
»Ja«, antwortete Elos. »Allerdings sollte euch das nicht zu sehr schockieren, seid ihr doch bisher auch davon ausgegangen, dass ich mir eure Namen nur ausgedacht habe. Genau genommen machen das ja alle Eltern.«
Naru zuckte mit den Schultern. Das stimmte. Er nahm die Kartoffelsuppe wieder an sich und begann zu essen. Anscheinend hatte er seinen Schock bereits überwunden.
»Ich fasse es nicht«, sagte er. »Wir beide sind dein einziger ungelöster Fall …«
»Nun ja«, sagte Elos. »Wo wir schon dabei sind, reinen Tisch zu machen … Vielleicht seid ihr nicht der einzige ungelöste Fall …«
»Wie bitte?«, fragte Ada. »Du hast mehr als einen ungelösten Fall?«
»Ja, natürlich. Aber das ist nichts, womit man hausieren geht, wenn ihr versteht, was ich meine … Ich laufe ja nicht durchs ganze Königreich Dreibrücken und sage, ich habe übrigens siebenundzwanzig ungelöste Fälle.«
»Du hast siebenundzwanzig ungelöste Fälle?«, fragte Naru fassungslos.
»Nein. Selbstverständlich nicht.«
»Gut. Das hätte mich fast noch mehr geschockt als unsere unklare Herkunft.«
»Ich kenne die genaue Zahl nicht. Es sind auch nicht wirklich meine ungelösten Fälle, weil mich niemand beauftragt hat, Spuren zu finden.«
»Hä?«, fragte Naru.
»Seit einigen Jahren, schon vor unserer Flucht aus Iriandria, häufen sich scheinbar spurlose Verbrechen in der Hauptstadt. Diebstähle, Erpressungen, Brandanschläge. Die Stadtwache schreibt sie alle einem angeblich genialen Täter zu, den nie jemand gesehen hat und den keiner zu kennen scheint. Obwohl mich niemand bat, die Nachforschungen zu übernehmen, widmete ich diesen Untaten meine freien Stunden. So kam ich einem Feuerflüsterer auf die Spur, einem – wie ich vermute – ehemaligen Mitglied der Nachtmagier.«
»Du sprichst von dem Mistkerl, der damals unser Haus in Iriandria angezündet hat?«, fragte Naru.
Elos nickte.
»Wie konnte er dir entwischen?«
»Nun, ich habe seine feurige Botschaft verstanden und entschieden, dass mir eure Leben mehr wert sind als die Aufklärung seiner Verbrechen.«
»Aber jetzt hast du ja uns als Verstärkung«, sagte Naru.
»Genau«, bestätigte Ada. »Gleich morgen fahren wir nach Iriandria und schnappen uns diesen Schurken!«
»Oder«, sagte Elos, »ihr geht morgen wieder in die Schule.«
Naru öffnete erneut das Buch mit der Nummer Dreizehn.
»Und es waren wirklich nicht mal Spuren im Schnee?«, fragte er. »Der Korb, in dem wir lagen, stand einfach so vor deiner Tür?«
»Ja.«
»Und du hast all die Jahre nie Hinweise über unsere Herkunft gefunden?«, fragte Ada.
»Nur gesucht«, sagte Elos. »Nie gefunden. Wer auch immer euch gebracht hat, muss sich äußerst schlau angestellt haben. Und er oder sie hat sich nie wieder bei mir gemeldet.«
»Aber du bist doch der berühmteste Spurenfinder der Verlorenen Provinzen!«, wandte Naru ein. »Wie kann es sein, dass du keine Spuren gefunden hast?«
»Ich war bei meinen Nachforschungen sehr vorsichtig. Ich konnte ja kaum herumlaufen und fragen, ob jemand gesehen hat, wie die beiden Kinder, die ich als die meinen ausgebe, vor meiner Tür abgelegt worden sind. Ich wollte, kurz gesagt, keine schlafenden Höllenhunde wecken, um euch nicht in Gefahr zu bringen. Und irgendwann, das muss ich zugeben, mochte ein Teil von mir das Rätsel gar nicht mehr lösen. Denn das hätte vielleicht bedeutet, dass ihr mich verlassen müsst.«
»Aber warum haben sich unsere leiblichen Eltern nie bei dir gemeldet?«, fragte Ada. »Glaubst du, sie sind tot?«
»Hm. Entweder das«, antwortete Elos. »Oder ihr seid immer noch in Gefahr.«
Ada hatte ihr Ziel fest im Visier. Sie hoffte nur, dass der Schurke nicht mitbekam, dass sie ihn beschattete. Der leichte Nebel, der aufgrund der sehr frühen Stunde über Weg und Wiesen lag, erleichterte ihre Arbeit. Doch wenn der Übeltäter sie erwischte, würde er ihr nach dem Leben trachten. Das war klar. Wie würde ihr Vater vorgehen? Ada wusste es nicht. Sie wusste nur, was er tatsächlich aktuell tat: nicht viel. Er arbeitete wieder an seinen endlosen Memoiren. Vielleicht schrieb er sogar schon nieder, wie sie vor fast einem Jahr den Mord am Dorfvorsteher von Friedhofen aufgeklärt hatten. Aber nur weil Elos bereit war, dem Verbrechen seinen Lauf zu lassen, war Ada das noch lange nicht. Barfuß schlich sie dem Schurken hinterher. Ihre Stiefel und Strümpfe trug sie in der Hand. Sie hatte kalte Füße, doch sie wollte so leise wie möglich sein, und die ersten Blätter, die der Herbst von den Bäumen stahl, hätten unter ihren Stiefeln zu laut geraschelt. Natürlich blieb sie immer im Schutz der Brombeersträucher, die in der Nähe des Feldwegs wuchsen. Plötzlich bog eine zweite Person um die Kurve. War das womöglich die Komplizin? Ada machte sich ganz klein, wagte kaum zu atmen und spitzte die Ohren.
»In einer halben Stunde?«, fragte der Schurke.
Die Komplizin – und dass es sich um seine Komplizin handeln musste, dessen war sich Ada inzwischen sicher – nickte und sagte: »Am üblichen Ort.«
Macht es mir doch nicht so einfach, dachte Ada. Was der übliche Ort war, wusste sie schon längst. Wenn die beiden wenigstens eine Geheimsprache verwenden würden … Eine kleine Herausforderung wäre nett. Aber mit Ausnahme des letztjährigen Mordes waren die Verbrechen in Friedhofen enttäuschend provinziell. Natürlich hatten Ada und Naru lange darüber gesprochen, wie sie vielleicht selbst eine Spur zu ihren leiblichen Eltern finden könnten. Aber bald hatten sie einsehen müssen, dass ein Fall, der Elos von Bergen an seine Grenzen gebracht hatte, sich nicht einfach von zwei Jugendlichen aufklären ließ, völlig egal, wie motiviert sie waren.
Der Schurke schlenderte weiter. Ada zog sich leise ihre Stiefel an und ließ den Kerl laufen. Sie wusste ja, wo sie ihn finden würde … Dort musste sie ihn nur noch auf frischer Tat ertappen, dann konnte sie ihrem Auftraggeber Bericht erstatten und ihre Belohnung einfordern.
Naru kletterte in einem der toten Bäume herum und hielt Ausschau nach dem schönsten Mädchen von ganz Friedhofen. Ach was, dem schönsten Mädchen der ganzen Welt. Ein Maushörnchen kam aus seinem Kobel, den es in einem Loch des toten Baums erbaut hatte, und schimpfte Naru an. »Ist ja gut«, sagte Naru. »Ich tu dir nichts.« Das kleine Wesen sah niedlich aus, mit seiner spitzen Nase, den Mauseohren und dem buschigen Schwanz. Aber man musste vorsichtig sein. Wenn man ihnen zu nahe kam, wurden sie bissig. Ada war mal von einem artverwandten Tier, einem Eichhörnchen, gebissen worden und hatte heute noch Angst vor den kleinen Rackern. Dann sah Naru endlich Ilda Arden über die großen Steine im Flotbach springen. Er winkte ihr zu, und Ilda winkte zurück. Wenn sie das tat, machte sein Herz jedes Mal einen kleinen Hüpfer. Naru kletterte zur Zufriedenheit des Maushörnchens vom Baum, und zusammen mit Ilda spazierte er in Richtung des Wilden Walds.
»Ich habe Mutter zwei Stück Apfelkuchen von gestern abgeschwatzt«, berichtete Ilda.
»Ausgezeichnet!«, lobte Naru. Obwohl er den Apfelkuchen absolut zweitrangig fand, und das wollte echt was heißen, denn Naru liebte Apfelkuchen. Essen fand er generell prima. Solange es nicht die Kartoffelsuppe seines Vaters war. Narus Magen grummelte auch gleich, denn er hatte heute früh noch nichts bekommen. Ach! War Apfelkuchen von gestern nicht das bestmögliche Frühstück?
Sie setzten sich am Rand des Wilden Walds unter ihren Lieblingsbaum, eine große Rotbuche. Ilda packte den Kuchen aus. Dann mussten beide kichern und blickten sich grinsend an. Naru wusste nicht recht, was er sagen sollte.
»Erzähl mir von den Flüsterern«, bat Ilda schließlich.
Seit sie letztes Jahr das Spektakel auf dem Jahrmarkt in Rabenfurt gesehen hatten, war Naru wie besessen von den Flüsterern und ihrer Magie. Die Meister der Naturgewalten, Wandelwesen, Sensas. Alles Übernatürliche faszinierte ihn. Ada hatte ihn sogar dabei erwischt, wie er heimlich ein Buch darüber las. Ein Buch! Er!
»Also manche Menschen, wir nennen sie Flüsterer, sind magisch begabt«, erzählte Naru. »Sie können Steine verformen, Wind erschaffen, Pflanzen wachsen lassen, Gefühle erspüren oder unbeschadet durchs Feuer laufen. Es gibt ganz viele Talente. Ich kenne längst nicht alle. Überhaupt wissen wir nur noch erschreckend wenig über ihre Magie. Ganz viel Wissen ist während der großen Flüstererverfolgungen nach der Unabhängigkeit verloren gegangen. Heutige Flüsterer taugen gerade so als Jahrmarktsattraktion. Früher waren sie hingegen mächtige Krieger, Baumeister oder Seefahrer. Vater hat mir erzählt, dass in Iriandria vor ein paar Jahren eine Akademie für Flüsterer eröffnet worden ist. Dort versuchen sie, all die verlorenen Kenntnisse wieder zusammenzutragen.«
»Wenn ich eine Flüsterin wäre«, fragte Ilda neckisch, »was wäre mein Talent?«
»Ganz klar«, sagte Naru. »Du wärst eine Kopfverdreherin.«
Ilda lachte.
»Aber vielleicht bist du ja wirklich eine Flüsterin«, sagte Naru. »Viele wissen es gar nicht. Man wird nämlich nicht als Flüsterer geboren. Die Gabe wird nicht vererbt oder so.«
»Sondern?«
»Selbst die Seelenhüter sind sich nicht einig, aber die meisten glauben an den Funken.«
»Welchen Funken?«
»Wenn ein Flüsterer stirbt, dann springt der Funke, seine Gabe, auf einen anderen Menschen über. Ich kann dir nicht genau erklären, wie das funktioniert. Aber als gesichert gilt, dass der Funke sehr oft auf kleine Kinder überspringt, die sich in dem Moment, in dem ein Flüsterer stirbt, in der Nähe befinden. Die Nachtmagier …« Naru unterbrach sich. »Hast du schon mal von den Nachtmagiern gehört?«
Ilda schüttelte den Kopf.
»Sie waren so etwas wie die geheime Garde des Kaisers«, erzählte Naru. »Allesamt Flüsterer. Die mächtigsten und skrupellosesten ihrer Art.«
»Warum hießen sie Nachtmagier?«
»Sie agierten meist heimlich. Im Schutz der Nacht. Und am Morgen war derjenige, der es gewagt hatte, Kritik am Kaiser zu üben, verschwunden. Als einzige Spur blieb oft nur das Zeichen der Nachtmagier zurück: ein schwarzer Dolch.«
Ilda schüttelte sich. Dann fragte sie: »Warum haben sie ihre Waffe am Ort des Verbrechens zurückgelassen?«
»Weil diese schwarzen Dolche mehr waren als Waffen«, sagte Naru. »Sie waren ihr Zeichen. Es ging den Nachtmagiern nicht nur um die Tat an sich. Sie wollten, dass die Leute Angst hatten. Angst vor ihnen. Angst vor dem Imperium. Der Kaiser herrschte durch Furcht. Manche Leute behaupten sogar, dass die Nachtmagier nur jene Dolche zurückließen, die schon mal Blut gekostet, schon ein Leben genommen hatten.«
»Du erzählst mir doch nur Gruselgeschichten!«
»Nein, nein! Die Nachtmagier gab es wirklich. Es gibt sie immer noch! Ihr Bund hat das Ende des Imperiums überdauert. Vater hat mal einen gejagt. Einen Feuerflüsterer. Vor zweieinhalb Jahren. Und er war ihm auch schon dicht auf den Fersen. Aber dann hat der Schurke sich gerächt und eines Nachts unser Haus in Iriandria angezündet. Und tatsächlich muss ich dem Kerl fast dankbar sein, denn hätte er das nicht getan, wäre Vater wohl nie nach Friedhofen geflüchtet. Und ich hätte dich nicht kennengelernt.«
Ilda grinste. »Darf ich dir auch mal was ins Ohr … flüstern?«, fragte sie.
Naru nickte.
»Schließ die Augen«, flüsterte Ilda.
Naru folgte ihrer Anweisung, obwohl er ein wenig Angst hatte, dass Ilda ihm gleich einen vergammelten Apfel gegen die Lippen drücken würde. Denn vor solchen Scherzen war man bei ihr nie sicher. Ein Grund, warum er sie so toll fand. Ein bisschen mehr als toll sogar. Toller als Apfelkuchen. Toller womöglich als Zimtbrötchen. Und als ihre Lippen auf seine trafen … da krachte es plötzlich im Baum über ihm. Erschrocken fuhren Ilda und Naru auseinander. Ada purzelte aus der Rotbuche und landete direkt zwischen ihnen.
»Hab ich euch erwischt!«, rief sie. »Der Schurke und seine Komplizin!« Dann stöhnte sie. »Aua.«
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, rief Ilda.
Narus Kopf war hochrot. Ihm fehlten die Worte. Er würde seine Schwester umbringen.
»Ihr habt gedingst!«, sagte Ada. Ihrem Auftraggeber war es zuwider gewesen, das Wort »küssen« auch nur auszusprechen, und sie hatte diese Schrulle übernommen.
»Ist das eigentlich dein Hobby, aus Bäumen zu fallen?«, fragte Naru.
»Und hast du nichts Besseres zu tun, als deinen Bruder zu verfolgen?«, zischte Ilda.
Ada rappelte sich auf. »Wenn du’s genau wissen willst, nein«, sagte sie. »Das angeblich geklaute Buch der Götter, das unser Seelenhüter als vermisst gemeldet hatte, entpuppte sich nämlich schlicht als verlegt. Bezahlt hat er mich darum auch nicht, obwohl ich es war, die es wiedergefunden hat. Dann gab es noch den mysteriösen Fall von Jorgens Schafen, die mitten in der Nacht von einem Unbekannten geschoren worden waren. Meine Nachforschungen ergaben allerdings, dass dieser Unbekannte niemand anderer als Jorgen Jorgenson höchstpersönlich war, der einfach nur zu betrunken gewesen war, um sich daran zu erinnern. Schließlich gab es da noch die spektakuläre Untat, die sich in der Schule ereignet hat. Möglicherweise habt ihr davon gehört. Da hat doch tatsächlich jemand dem armen Tarlan heimlich Kartoffelsuppe in seine Schulmappe gekippt, aber ich musste mich aus familiären Befangenheitsgründen von diesem Fall zurückziehen.«
»Du meinst wirklich, Vater hat das getan?«, fragte Naru scheinheilig.
»Ich würde Vater ja vieles zutrauen, aber hier glaube ich doch, dass …«
»Mit anderen Worten«, warf Ilda ein, »du fühlst dich beruflich unterfordert, und deswegen schnüffelst du aus purer Langeweile deinem Bruder hinterher?«
»Nein, wo denkst du hin! Ich bin nicht privat hier«, verteidigte sich Ada. »Privat ist mir ja völlig egal, was ihr zwei so treibt. Aber ich trage die große Bürde, die einzige aktive Spurenfinderin von ganz Friedhofen zu sein.«
»Sucherin …«, warf ihr Bruder ein.
»Und mein Auftraggeber wollte nun mal wissen, ob ihr beide schon gedingst habt, und das kann ich ihm nun bestätigen und meine Belohnung einstreichen.«
»Von mir kriegst du auch gleich eine Belohnung«, murrte Naru und stand auf.
»Äh … also, tschüs dann«, rief Ada und rannte unvermittelt los.
Naru lief ihr schreiend hinterher.
Ilda schüttelte nur den Kopf.
Glücklicherweise, dachte Naru, war auch sie mit Geschwistern geschlagen. Ihre Brüder Raffa und Timu konnten ebenfalls ganz schöne Trottel sein. Ilda wusste also, wie das war. Vermutlich war sogar einer der beiden Adas Auftraggeber. Leider war sich Naru nicht darüber im Klaren, welchem der beiden Tunichtgute er die Ohren lang ziehen sollte. Im Zweifel einfach beiden. Sicher war sicher. Sie rannten am Flotbach entlang und vorbei an den toten Bäumen.
»Na, Freundchen? Wohin so eilig?«, fragte Tarlan, an dem Naru vorbeihastete. Als Antwort bekam er nur ein Grummeln. Naru konnte Tarlan nicht leiden. Und er war ganz sicher nicht sein Freundchen. Der Sohn des neuen Dorfvorstehers war ein arroganter Schönling. Tarlans Vater, da war sich Naru sicher, hatte das Amt nur bekommen, weil er der Cousin des Statthalters von Rabenfurt war. Dieser hatte den Tod des vorigen Dorfvorstehers genutzt, um seinem Verwandten ein bequemes, aber einträgliches Amt zu verschaffen.
Ada war verdammt schnell, das musste man ihr lassen. Als sie über die kleine Brücke hastete, die den Flotbach querte, stoppte Naru. Er würde sie nicht einholen, bevor sie sich hinter ihrem Vater verstecken konnte. Aber sie würde ihm auf lange Sicht nicht entkommen.
»Ich weiß, wo du wohnst!«, rief er seiner Schwester hinterher.
Dann kam ihm ein Gedanke. War er nicht gerade an Tarlan vorbeigerannt? Was, wenn der widerliche Schönling Narus Abwesenheit ausnutzte, um sich zu Ilda zu setzen. Dass der Schleimer ein Auge auf sie geworfen hatte, wusste das ganze Dorf, also zumindest die ganze Schule. Darum machte Naru kehrt und rannte zurück zu Ilda. Aber Ilda war nicht mehr da. Und auch der Apfelkuchen hatte sich verkrümelt. Dafür würde seine Schwester bezahlen.
Als Ada merkte, dass ihr Bruder die Verfolgung abgebrochen hatte, lief sie geradewegs an dem zweistöckigen Backsteinhaus vorbei, in dem sie nun schon seit zweieinhalb Jahren lebten. Ihr Vater saß auf dem Steg vor dem Haus und guckte auf den Schönen See. Ada verstand nicht, was daran so toll sein sollte, aber Elos konnte das stundenlang machen. Sie winkte ihm kurz, doch er reagierte nicht. Wahrscheinlich dachte er über irgendetwas nach. Vielleicht schlief er auch mit offenen Augen. Er hatte wieder bis in die Nacht hinein an seinen Memoiren gesessen.
Ada lief weiter und nahm den Trampelpfad in Richtung Dorf. Dann bog sie am Maisfeld links ab zum Hof der Ardens. Dort angekommen, sah sie Timu neben dem leicht windschiefen alten Holzschuppen stehen. Timu war vor Kurzem sieben Jahre alt geworden, benahm sich aber oft noch wie ein Fünfjähriger. Seine Mutter hatte heute früh offensichtlich noch keine Zeit gefunden, seine Haare zu kämmen, denn sie standen in diverse Richtungen ab. Er war damit beschäftigt, mit einer Zange Nägel aus der Rückwand des Schuppens zu ziehen. Zwei Bretter hatte er bereits gelöst. Ada erschloss sich nicht ganz, warum er das tat. Es war ihr aber schon immer rätselhaft gewesen, warum kleine Jungs machten, was sie eben machten. Naru war früher auch ganz schön seltsam gewesen. Genau genommen war er immer noch seltsam. Ada tippte Timu auf die Schulter. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte sie.
Timu schien zum ersten Mal darüber nachzudenken. »Nein«, sagte er dann. »Ganz sicher bin ich mir nicht. Aber ich habe diese neue Zange, und ich musste sie doch mal ausprobieren.«
»Weißt du übrigens, wobei ich mir ganz sicher bin?«, fragte Ada.
»Dass du eine Streberin bist?«
»Pff«, machte Ada. »Du schuldest mir die versprochene Belohnung.«
»Oha!«, machte Timu.
»Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Ilda und Naru, also wie deine Schwester und mein Bruder …«, Ada machte eine dramatische Pause.
»Sie haben gedingst?!«, rief Timu, würgte und spuckte danach auf den Boden.
»Hab sie auf frischer Tat ertappt«, berichtete Ada. »Und jetzt will ich die versprochene Belohnung, Herr Arden.«
Timu nickte. »Nur recht und billig, Frau von Bergen. Meinen wertvollsten Besitz sollen Sie für Ihre Dienste bekommen.«
»Das hört sich gut an.«
»Folgen Sie mir.«
Timu führte Ada über den Steinplattenweg durch die Gemüsebeete in das hübsche Fachwerkhaus und dann durch den auffällig ordentlichen Flur mit seinen Mänteln und Stiefeln in Reih und Glied in das auffällig unordentliche Kinderzimmer. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte Ada dieses Zimmer noch nie aufgeräumt gesehen. Schnitzereien lagen ebenso herum wie Kastanientiere und mehr oder weniger hübsche Steine. Timus großer Bruder Raffa döste noch im Bett. Zuerst sah Ada nur seine wilden Locken, doch dann warf er die Decke von sich und setzte sich gähnend auf. Als er Ada entdeckte, fragte er sofort: »Und?«
»Sie haben gedingst!«, rief Timu mit einer Mischung aus Abscheu und dem Triumph, recht gehabt zu haben.
Er zog eine Kiste unter seinem Bett hervor, nahm etwas heraus und reichte Ada mit feierlicher Geste den Holzhut, den Naru vor ziemlich genau zwölf Monaten beim Jahrmarkt erstanden hatte.
Ada verdrehte die Augen. »Das ist dein wertvollster Besitz? Den kannst du behalten. Hast du nicht was besseres?«
Timu überlegte. Er schaute sich im Zimmer um. Dann blickte er auf das Werkzeug in seiner Hand. »Du kannst diese schöne Zange haben!«
»Warum nicht? Besser als der Hut!«
Doch als Ada danach greifen wollte, hatte Raffa seinem Bruder die Zange schon aus der Hand gerissen.
»Das ist meine, du Holzkopf!«, rief er. »Du kannst doch nicht einfach meine Sachen verschenken. Die hab ich mir selber durch Hilfsarbeiten beim neuen Schmied verdient.«
Timu streckte seinem Bruder die Zunge raus. Raffa tat das Gleiche. Auf seiner Zunge sah man immer noch das Zungenzeichen, das er vor einem Jahr auf dem Jahrmarkt in Rabenfurt bekommen hatte. Einen schönen Kackhaufen. Aber Raffa hatte sich inzwischen damit abgefunden. Er hatte nämlich dadurch eine Möglichkeit, seine Geschwister zu beleidigen, ohne verbotene Worte benutzen zu müssen. Er deutete zuerst auf seinen Bruder und dann auf den Kackhaufen.
Die Tür zum Kinderzimmer öffnete sich. Rebecca Arden kam herein. Selbst morgens, mit verwuschelten Haaren und in einem unförmigen Nachthemd, fand Ada sie wunderschön.
»Raffa!«, rief Rebecca. »Wenn du deine neue Zange dafür benutzt, die Bretter von der Rückwand des Schuppens zu lösen, dann nehme ich sie dir weg!«
Raffa guckte blöd auf die Zange in seiner Hand. »Ich war das nicht!«, sagte er, schien sich aber darüber im Klaren, dass die Situation gegen ihn sprach. Er deutete auf seinen Bruder.
»Äh … Ich muss weg«, sagte Timu und kletterte aus dem offenen Fenster.
»Na warte!«, rief Rebecca. »Wenn ich dich erwische. Außerdem sollt ihr nicht durchs Fenster klettern!« Dann kletterte sie ihrem kleinen Sohn durchs Fenster hinterher. Als sie schon draußen war, drehte sie sich noch mal um und sagte: »Grüß deinen Vater, Ada.«
»Mach ich!«, erwiderte Ada, aber Rebecca rannte bereits ihrem Sohn hinterher.
Seufzend legte Ada den Holzhut zurück in die Kiste. Es war wirklich nicht einfach, in Friedhofen als Spurenfinderin einen Lebensunterhalt zu verdienen.
Kurz darauf, beim Frühstück im Haus am See, war Naru immer noch sauer. Aber er tat so, als habe er gute Laune. Nicht nur, weil Elos dabei war, vermutete Ada, sondern auch, weil er sie in falscher Sicherheit wiegen wollte. Ihr Vater wuchtete einen großen Topf vom Herd auf den Tisch.
Ada blickte hinein. »Kartoffelsuppe zum Frühstück?«, fragte sie enttäuscht.
»Ist noch übrig von gestern«, brummte ihr Vater.
»Ist das ein Trick, durch den du uns zwingen willst, kochen zu lernen?«, fragte Ada.
»Verflixt!«, sagte Elos. »Das Kind hat mich durchschaut.«
»Also mir kommt die Kartoffelsuppe zwar schon zu den Ohren raus«, sagte Naru, »aber bevor ich selber koche, nehme ich mir gerne eine Portion.« Er schöpfte sich etwas auf den Teller.
»Nächstes Mal werde ich sie auch noch versalzen müssen«, murmelte Elos.
»Versalzen ist sie schon«, informierte ihn Naru. »Du wirst dir einen anderen Trick ausdenken müssen.«
»Ich hab mir gestern beim Bäcker Schokoladenkekse gekauft«, sagte Ada. »Ich glaube, ich werde einfach die essen. Und vielleicht hol ich mir nachher noch ein Zimtbrötchen.«
»Es ist so traurig«, murrte Naru, »dass bald der letzte Tag ist, an dem der Bäcker uns welche umsonst geben muss, weil wir ihn laufen ließen. Wir hätten gleich zwei Jahre kostenlose Zimtbrötchen aushandeln sollen.«
»Er müsste mal wieder was anstellen«, sagte Ada, »bei dem wir ihn auf frischer Tat ertappen könnten.«
»Du bist doch hier die Spurenfinderin«, meinte Elos.
»Ja, überwach lieber mal den Bäcker statt mich«, sagte Naru.
»Oder des Bäckers Schwester«, ergänzte Elos.
Ada nahm sich doch eine kleine Portion Kartoffelsuppe. »Seine Schwester?«, fragte sie.
»Nur so ein Tipp«, sagte Elos, »ich glaube, sie ist ihrem Mann nicht ganz treu. Jedenfalls zieht sie sich immer dann besonders hübsch an, wenn dieser verreist, um anderswo seine Felle zu verkaufen.«
»Und auch noch ein Tipp von mir«, warf Naru ein, »falls du sie beschatten willst, klettere nicht auf einen Baum. Das ist nicht so deine Stärke.«
Ada streckte ihrem Bruder die Zunge raus.
»Ilda und Naru haben sich geküsst«, sagte sie danach.
Naru guckte böse.
»Erzähl mir was Neues«, erwiderte Elos.
»Woher weißt du das schon wieder?«, fragte Ada.
»Dein Bruder war vor sieben aus dem Haus. Gewiss nicht, um Feuerholz zu machen.«
»Nein, ganz sicher nicht«, bestätigte Naru.
»Aber Naru, könntest du bitte heute noch …?«, begann Elos, da klopfte jemand an die Tür.
Naru freute sich darüber, denn Sätze, die mit »Naru, könntest du bitte heute noch …?« begannen, nahmen nie ein gutes Ende. Nie.
Wieder klopfte es.
»Junge, geh du öffnen«, sagte Elos lächelnd. »Vielleicht ist es Ilda und will Nachschlag.«
Sein Sohn wurde ganz rot im Gesicht.
»Beruhige dich«, sagte Ada. »Wenn dein Gesicht so rot wie ein Erdaffenpo ist, will sie dich vielleicht gar nicht mehr küssen.«
Naru rollte mit den Augen, ging zur Tür und grummelte: »Da ich in diesem Haus anscheinend der einzige Erwachsene bin, mache ich wohl auf.«
Er öffnete und stand einem Mann in einer staubigen roten Uniform gegenüber. Der Mann sprach nicht, als erwarte er, dass allein seine Erscheinung Ehrfurcht auslösen müsste. Tat sie aber nicht.
»Ja, bitte?«, fragte Naru.
»Der Esel«, sagte der Mann und deutete auf Narus Freund, der vor dem Haus graste. »Er trägt eine Mütze!«
»Das ist korrekt«, sagte Naru, denn in der Tat trug der Esel eine alte löchrige Mütze mit einem Schleifchen.
»Aber warum?«
»Ist sein gutes Recht, finden Sie nicht? Sie tragen doch auch eine Mütze.«
»Ich, äh …«, fing der Mann an, »ich bin ein Bote …«
»Es steht ein Bote vor der Tür«, rief Naru ins Haus.
»Sag, ich bin nicht da!«, rief Elos zurück.
»Er ist nicht da«, sagte Naru.
»Wer ist nicht da?«, fragte der Bote.
»Wen suchen Sie denn?«, fragte Naru.
»Ich suche den Meister, der das Rätsel des Obelisken von Tarnok löste. Den Fährtenleser, der der Gräfin von Oberlinden ihren Greifen zurückbrachte. Den Schattenfänger, der den Traummörder von Altschwanenberg zur Strecke brachte. Ich suche den legendären Spurensucher Elos von Bergen.«
»Na, sehen Sie«, sagte Naru. »Und ebender ist nicht da.«
»Nicht?«, fragte der Bote verwirrt.
»Haben Sie ihn nicht gehört?«
»Ich bin ein Bote unseres hochwohlgeborenen Königs Fredlaffs des Zweiten.«
»Er ist ein Bote des Königs«, rief Naru ins Haus hinein.
»Dann bin ich erst recht nicht da«, rief sein Vater.
Naru wandte sich wieder an den Boten. »Mein Vater ist erst recht nicht da.«
»Ich bin die ganze Nacht geritten!«, berichtete der Bote.
»Er sagt, er sei die ganze Nacht geritten«, wiederholte Naru.
»Augen auf bei der Berufswahl«, brummte Elos.
»Ich muss sagen, ich wurde vor seinem Betragen gewarnt, aber das ist doch höchst befremdlich«, murrte der Bote.
Naru rief wieder ins Haus hinein: »Der Bote sagt, du seist befremdlich. Dabei hat er noch nicht einmal deine Frühstückssuppe probiert.« Er wandte sich an den Boten. »Mögen Sie versalzene Kartoffeln?«
Nun hatte der Bote genug. »Wie kann man es wagen, mit einem Abgesandten der Herrschaft …« Er unterbrach sich aber, als Elos zur Tür kam.
»Man kann es wagen, wenn man in der besonderen Gunst Seiner Majestät steht«, sagte der Spurenfinder.
Wenn man einst die Königstochter aus den Klauen Herzog Harlings gerettet hat, dachte Naru, aber das sagte sein Vater natürlich nicht, denn es war geheim.
Der Bote nickte und sprach: »Es freut mich jedenfalls, dass Sie doch anwesend sind.«
»Woraus schließen Sie das?«, fragte Elos.
Nun war der Mann völlig perplex. Ada, die ebenfalls zur Tür gekommen war, hatte fast ein wenig Mitleid mit ihm.
»Was verschafft mir denn die Ehre?«, wollte der Spurenfinder wissen.
»Kann ich Sie unter vier Augen sprechen?«, erwiderte der Bote.
»Wenn Sie darauf bestehen. Aber da meine Kinder sowieso eine Möglichkeit finden werden, uns zu belauschen, können wir uns den Weg auch sparen. Sagen Sie einfach, worum es geht. Ein Ball? Eine Festivität? Eine große Jagdgesellschaft? Wobei ist meine Anwesenheit gewünscht?«
»Leider nichts dergleichen.«
»Das habe ich befürchtet. Nie kommt jemand zu mir, um mich zu einer Feier einzuladen.«
»Du würdest doch eh Nein sagen«, meinte Ada.
»Ich scheine für meine Kinder eine traurige Figur abzugeben«, sagte Elos. »Dabei war ich in meinen jungen Jahren ein hervorragender Tänzer.«
»Als ob«, erwiderte Ada und glaubte kein Wort.
Elos blickte den Boten seufzend an. »Nun gut. Sprechen Sie! Was wünscht der König von mir?«
Der Mann räusperte sich, überreichte Elos einen versiegelten Brief und sagte dann: »Ein Diebstahl.«
Ada fand, dass ihr Vater fast etwas enttäuscht aussah. »Ein einfacher Diebstahl?«, fragte er.
»Ein Diebstahl«, sagte der Bote und räusperte sich, »der das Königreich in seinen Grundfesten erschüttern könnte.«
Nachdem der Bote seine Nachricht überbracht hatte, war er nach Rabenfurt geritten, um beim dortigen Statthalter Rast und Ruhe für sich und sein Pferd zu finden.
Elos hingegen machte sich reisefertig. Er wollte sofort los, um noch vor der Abenddämmerung beim Palast des Königs in Iriandria anzukommen. Er kramte unter der Treppe in der verstaubten Truhe. Dort hatte er seine Utensilien eingelagert.
»Ich dachte, du willst nicht mehr als Spurenfinder arbeiten«, sagte Ada, während sie den Frühstückstisch abräumte.
»Manche Bitte, Kindchen«, erwiderte Elos, »ist nur ein verkleideter Befehl.« Er lächelte. »So hat es mir einst Prinzessin Henrietta persönlich erklärt.«
»Solche Bitten kenne ich«, meinte sein Sohn. »Naru, würdest du bitte Frühstück machen? Naru, würdest du bitte Holz hacken? Naru, würdest du bitte deine Hausaufgaben erledigen? Das sind auch verkleidete Befehle.«
»Gut erkannt«, sagte sein Vater. »Und würdest du jetzt bitte die Klappe halten?«