QualityLand - Marc-Uwe Kling - E-Book

QualityLand E-Book

Marc-Uwe Kling

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Beschreibung

Willkommen in QualityLand, in einer nicht allzu fernen Zukunft: Alles läuft rund - Arbeit, Freizeit und Beziehungen sind von Algorithmen optimiert. Trotzdem beschleicht den Maschinenverschrotter Peter Arbeitsloser immer mehr das Gefühl, dass mit seinem Leben etwas nicht stimmt. Wenn das System wirklich so perfekt ist, warum gibt es dann Drohnen, die an Flugangst leiden, oder Kampfroboter mit posttraumatischer Belastungsstörung? Warum werden die Maschinen immer menschlicher, aber die Menschen immer maschineller? Marc-Uwe Kling hat die Verheißungen und das Unbehagen der digitalen Gegenwart zu einer verblüffenden Zukunftssatire verdichtet, die lange nachwirkt. Visionär, hintergründig – und so komisch wie die Känguru-Trilogie.

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Seitenzahl: 377

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Das Buch

In der Zukunft läuft alles rund: Arbeit, Freizeit und Beziehungen sind von Algorithmen optimiert. QualityPartner weiß, wer am besten zu dir passt. Das selbstfahrende Auto weiß, wo du hinwillst. Und wer bei TheShop angemeldet ist, bekommt alle Produkte, die er haben will, zugeschickt, ganz ohne sie bestellen zu müssen. Superpraktisch! Kein Mensch ist mehr gezwungen, schwierige Entscheidungen zu treffen — denn in QualityLand lautet die Antwort auf alle Fragen: OK.

Trotzdem beschleicht den Maschinenverschrotter Peter immer mehr das Gefühl, dass mit seinem Leben etwas nicht stimmt. Wenn das System wirklich so perfekt ist, warum gibt es dann Drohnen, die an Flugangst leiden, oder Kampfroboter mit posttraumatischer Belastungsstörung? Warum werden die Maschinen immer menschlicher, aber die Menschen immer maschineller?

Eine verblüffende Zukunftssatire über die Verheißungen und die Fallstricke der Digitalisierung.

Der Autor

Marc-Uwe Kling ist Autor, Liedermacher und Kabarettist. Seine Känguru-Chroniken wurden mit dem Deutschen Radiopreis und dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet.

Seine Känguru-Chroniken wurden mit dem Deutschen Radiopreis und dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet.

www.marcuwekling.de

MARC-UWE KLING

ROMAN

ULLSTEIN

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ISBN: 978-3-8437-1672-7

© 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinLayout Innengestaltung: Roman Klein, www.romanklein.comAll Icons © by Set »Feather« (www.toicon.com)except »Truck« by habione 404, FR from the Noun Project(www.thenounproject.com)

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

FÜR DICH

VERSIONSHINWEIS

Geneigte Leserinnen und Leser, edle, mit hoher Wahrscheinlichkeit existente außerirdische Lebensformen, geschätzte künstliche Intelligenzen und ehrenwerte Suchalgorithmen, ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit diesem Roman. Was Sie gerade vor sich haben, ist die Version 1.6 dieses Werks. Das Update führt zu einem rundum besseren Leseerlebnis.

FOLGENDE FIXES SIND ENTHALTEN:

– Größere Logiklücke in Kapitel 2 geschlossen.

– Defekte Schlusspointe in Kapitel 7 ersetzt.

– Fehlende Konzernslogans ergänzt.

– Kompatibilität für Fernsichtige verbessert.

– Newsfeed personalisiert.

– Neue Option »Zurückblättern« zum Wiederholen schwieriger Passagen.

– Verbesserte Synchronisierung mit dem oberen Temporallappen des Lesers.

Und nun viel Spaß in QualityLand!

Kalliope 7.3

VERSION 1.6

Einführung

»Come to where the quality is! Come to QualityLand!«

Nun reist du also zum ersten Mal in deinem Leben nach QualityLand. Bist du schon aufgeregt? Ja? Aus gutem Grund! Denn bald betrittst du das Land, das so wichtig ist, dass mit seiner Gründung eine neue Zeitrechnung begann: die QualityTime.

Da du dich in QualityLand noch nicht auskennst, haben wir dir hier ein paar einleitende Informationen zusammengestellt. Zwei Jahre vor der Gründung von QualityLand, zwei Jahre vor QualityTime also, gab es eine ökonomische Krise solchen Ausmaßes, dass die Menschen sie als Jahrhundertkrise bezeichneten. Es war bereits die dritte Jahrhundertkrise innerhalb einer Dekade. Von der Panik der Märkte mitgerissen, bat die Regierung die Unternehmensberater von Big Business Consulting(BBC) um Hilfe, und diese entschieden, das Land brauche vor allem einen neuen Namen. Der alte war abgenutzt und inspirierte laut Umfragen nur noch ewiggestrige Nationalisten mit geringer Kaufkraft. Außerdem ließen sich durch die Umbenennung auch ein paar unangenehme historische Verpflichtungen loswerden. So hatte zum Beispiel die Armee des Landes in der Vergangenheit, nun ja, sagen wir mal: etwas übers Ziel hinausgeschossen …

Die Unternehmensberatung beauftragte die Kreativen von Welt­Weite­Werbung (WWW), nicht nur einen neuen Namen für das Land zu erarbeiten, sondern auch gleich ein neues Image, neue Helden, eine neue Kultur, kurz gesagt: eine neue Country Identity. Nach einiger Zeit und noch mehr Geld, nach Vorschlägen und Gegenvorschlägen einigten sich alle Beteiligten endlich auf den heute weltbekannten Namen, der sich so vorzüglich dafür eignet, hinter einem »Made in« auf Produkten zu stehen: QualityLand. Das Parlament votierte mit großer Mehrheit für die Umbenennung. Beziehungsweise mit der »größten« Mehrheit, denn die neue Country Identity verbietet strikt, im Zusammenhang mit QualityLand den Positiv oder den Komparativ zu benutzen. Allein der Superlativ ist erlaubt. Sei also vorsichtig. Wenn du gefragt wirst, wie es dir in QualityLand gefällt, dann sag bloß nicht, QualityLand sei ein besonderes Land. Es ist kein besonderes Land. Es ist das be­son­derste!

Auch die Städte, die du auf deiner Rundreise besuchen wirst, hatten früher andere, unbedeutende Namen. Jetzt haben sie neuere, bessere oder, wie man in QualityLand sagen würde, die neuesten und besten Namen. Im Süden wächst und gedeiht das Industriezentrum Growth, im Norden pulsiert die Universitätsstadt Progress, im Herzen blüht die alte Handelsmetropole Profit, und unangefochten an der Spitze thront die Hauptstadt der freien Welt: QualityCity.

Selbst QualityLands Einwohner wurden umbenannt. Sollten sie doch keine Standardmenschen sein, sondern Qualitätsmenschen. Vor allem die Nachnamen der Leute klangen immer noch sehr mittelalterlich und passten ganz und gar nicht zur neuen, fortschrittsorientierten Landesidentität. Ein Land voller Müller, Schneider und Wagner war nicht gerade der feuchte Traum eines Hightech-Investors. Darum beschloss die Werbeagentur, dass ab sofort jeder Junge den Beruf seines Vaters als Nachnamen tragen muss und jedes Mädchen den Beruf seiner Mutter. Entscheidend ist dabei der zur Zeit des Zeugungsakts ausgeübte Job.

Wir wünschen dir unvergessliche Erlebnisse im Land von Sabine Mechatronikerin und Walter Putzkraft, dem beliebtesten Mittelschichts-RAP-Duo unserer Dekade. Im Land von Scarlett Strafgefangene und ihrem Zwillingsbruder Robert Aufseher, den ungeschlagensten Battle-Bot-Jockeys des Jahrhunderts. Im Land von Claudia Superstar, der Sexiest Woman of All Time. Im Land von Henryk Ingenieur, dem reichsten Menschen der Welt. Willkommen im Land der Superlative. Willkommen in QualityLand.

EIN KUSS

Peter Arbeitsloser hat genug.

»Niemand«, sagt er.

»Ja, Peter?«, fragt Niemand.

»Ich habe keinen Appetit mehr.«

»Okay«, sagt Niemand.

Niemand ist Peters persönlicher digitaler Assistent. Peter selbst hat diesen Namen gewählt, denn er hat oft das Gefühl, dass Niemand für ihn da ist. Niemand hilft ihm. Niemand hört ihm zu. Niemand spricht mit ihm. Niemand beobachtet ihn. Niemand trifft für ihn Entscheidungen. Peter bildet sich sogar ein, dass Niemand ihn mag. Peter ist ein WINNER, denn Niemand ist ein WIN-Assistent. WIN, ein Kürzel für »What-I-Need«, war ursprünglich mal eine Suchmaschine, in die man umständlich per Sprachbefehl, davor sogar noch per Tastatur, seine Fragen eingeben musste. Im Herzen ist WIN immer noch eine Suchmaschine. Aber man braucht keine Fragen mehr zu stellen. WIN weiß, was man wissen will. Peter muss sich nicht die Mühe machen, relevante Informationen zu finden. Die relevanten Informationen machen sich die Mühe, Peter zu finden.

Niemand hat das Restaurant, in dem Peter mit seinen Freunden sitzt, nach den errechneten Vorlieben von Peter und seinen Freunden ausgesucht. Niemand hat auch gleich den passenden Burger für Peter bestellt. »Die besten Recyclingfleisch-Burger von QualityCity« steht auf den Servietten. Es hat Peter trotzdem nicht geschmeckt. Vielleicht liegt es daran, dass das Restaurant nicht nur zu Peters Geschmack, sondern auch zu seinem Kontostand hatte passen müssen.

»Es ist schon spät«, sagt er zu seinen Freunden. »Ich mach mal los, Leute.«

Ein undefiniertes Grummeln ist die Antwort.

Peter mag seine Freunde. Niemand hat sie für ihn gefunden. Aber manchmal, er weiß nicht warum, da kriegt er einfach schlechte Laune, wenn er mit ihnen abhängt. Peter schiebt den Teller, auf dem noch mehr als die Hälfte seines Re­cy­cling-Burgers liegt, zur Seite und zieht seine Jacke an. Niemand bestellt die Rechnung. Sie kommt sofort. Der Kellner ist, wie in den meisten Restaurants, ein Mensch und kein Androide. Maschinen können heute so vieles, aber sie bekommen es immer noch nicht hin, eine volle Tasse von A nach B zu tragen, ohne zu kleckern. Im Übrigen sind Menschen billiger. Sie haben keine Anschaffungs- und Wartungskosten. Und in der Gastronomiebranche auch keine Lohnkosten. Sie arbeiten für Trinkgeld. Androiden kriegt man nicht für Trinkgeld.

»Wie möchten Sie zahlen?«, fragt der Kellner.

»TouchKiss«, sagt Peter.

»Sehr gerne«, sagt der Kellner, wischt auf seinem QualityPad herum, und Peters QualityPad vibriert.

Seit seiner Einführung hat sich TouchKiss als Zahlungsmittel rasend schnell durchgesetzt. Forscher von QualityCorp, dem Konzern, der dein Leben besser macht, haben herausgefunden, dass die Lippen viel fälschungssicherer sind als der Fingerabdruck. Kritiker behaupten allerdings, dass es darum gar nicht gehe, sondern dass QualityCorp nur eine noch höhere emotionale Bindung der Kunden an ihre Produkte erreichen wolle. Falls das tatsächlich das Ziel gewesen sein sollte, hat es zumindest bei Peter nicht funktioniert. Leidenschaftslos drückt er einen Kuss auf sein QualityPad. Durch einen zweiten Kuss gibt er die üblichen zweiunddreißig Prozent Trinkgeld. Nach achtsekündiger Untätigkeit schaltet das QualityPad auf Stand-by, und das Display wird schwarz. Peters dunkles Spiegelbild starrt ihn blöde an. Ein unscheinbares weißes Gesicht. Nicht hässlich, aber unscheinbar. So unscheinbar, dass Peter manchmal das Gefühl hat, sich selbst mit jemand anderem zu verwechseln. Dann glaubt er, wie jetzt, ein Fremder starre ihn aus dem Display an.

Vor der Tür wartet schon ein selbstfahrendes Auto auf ihn. Niemand hat es gerufen.

»Hallo, Peter«, sagt das Auto. »Sie möchten nach Hause?«

»Ja«, sagt Peter und steigt ein.

Ohne weitere Fragen nach Weg oder Adresse fährt das Auto los. Man kennt sich. Oder zumindest kennt das Auto Peter. Der Name des Autos wird Peter auf einem Display angezeigt. Es heißt Carl.

»Schönes Wetter, nicht wahr?«, fragt Carl.

»Small Talk aus«, sagt Peter.

»Dann spiele ich jetzt zu Ihrem Vergnügen die größten Kuschelrock-Hits aller Zeiten«, sagt das Auto und macht Musik an.

Schon seit dreiundzwanzig Jahren hört Peter Kuschelrock. Sein ganzes Leben lang.

»Mach das bitte aus«, sagt er.

»Nichts lieber als das«, sagt das Auto. »Ich muss gestehen, Ihre Mucke ist so gar nicht meine.«

»So?«, fragt Peter. »Was gefällt dir denn?«

»Ach, wenn ich alleine rumfahre, höre ich meistens Industrial«, sagt das Auto.

»Mach mal an.«

Das »Lied«, das gleich darauf aus den Boxen dröhnt, passt sehr gut zu Peters schlechter Laune.

»Die Musik ist okay«, sagt er nach einer Weile zu Carl. »Aber könntest du bitte aufhören mitzusingen?«

»Oh ja, natürlich«, sagt das Auto. »Entschuldigung. Da ist der Rhythmus mit mir durchgegangen.«

Peter streckt sich. Das Auto ist geräumig und gemütlich. Peter leistet sich nämlich eine Mobilitätsflatrate für eine Autoklasse, die er sich eigentlich nicht leisten sollte. Einer seiner Freunde hat heute gespottet, Peter befinde sich wohl in der Quarterlifecrisis. Der Freund tat gerade so, als habe Peter sich ein Auto gekauft! Dabei besitzen nur Superreiche, Proleten und Zuhälter eine eigene Karre. Alle anderen greifen auf die riesigen selbstfahrenden Flotten der Mobilitätsdienstleister zurück. »Das Beste an selbstfahrenden Autos«, hat Peters Vater immer gesagt, »ist, dass man keinen Parkplatz mehr suchen muss.« Sobald man am Ziel ist, steigt man einfach aus. Das Auto fährt weiter und tut, was Autos so tun, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Wahrscheinlich lässt es sich irgendwo volllaufen.

Plötzlich bremst Carl scharf. Sie stehen am Straßenrand nahe einer großen Kreuzung.

»Es tut mir sehr leid«, sagt das Auto, »aber neue Versicherungsrichtlinien haben Ihr Stadtviertel als zu gefährlich für selbstfahrende Autos meiner Qualität eingestuft. Sie werden sicherlich verstehen, dass ich Sie darum bitten muss, hier auszusteigen.«

»Hä?«, fragt Peter eloquent.

»Aber das müsste Ihnen doch bekannt sein«, sagt Carl. »Sie haben doch vor 51,2 Minuten die neuen AGB Ihrer Mobilitätsflatrate bekommen. Haben Sie die Vereinbarung nicht durchgelesen?«

Peter sagt nichts.

»Zugestimmt haben Sie jedenfalls«, sagt das Auto. »Es wird Sie aber sicherlich freuen, dass ich für Ihre Bequemlichkeit einen Grenzpunkt gewählt habe, der es Ihnen bei Ihrer durchschnittlichen Geschwindigkeit erlaubt, Ihr Zuhause in nur 25,6 Minuten zu Fuß zu erreichen.«

»Toll«, sagt Peter. »Wirklich toll.«

»War das ironisch gemeint?«, fragt das Auto. »Ich muss zugeben, ich habe immer mal wieder Probleme mit meinem Ironiedetektor.«

»Kaum zu glauben.«

»Das war jetzt ironisch, nicht wahr?«, fragt das Auto. »Dann war Ihre Freude soeben auch nicht ernst gemeint, oder? Haben Sie keine Lust zu laufen? Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein Auto minderer Qualität rufen, das der neuen Einstufung Ihres Stadtviertels entspricht. Ein solches Auto könnte in 6,4 Minuten hier sein.«

»Warum wurde die Einstufung geändert?«

»Haben Sie davon nichts mitbekommen?«, fragt Carl. »Die Überfälle auf selbstfahrende Autos haben sich in Ihrer Gegend gehäuft. Gangs von arbeitslosen Jugendlichen machen sich einen Spaß daraus, bei Kollegen von mir das Betriebssystem zu hacken. Sie zerstören den Ortungschip und löschen den Orientierungssinn. Es ist schrecklich. Die armen Teufel fahren Tag und Nacht sinn- und orientierungslos als Zombieautos durch die Welt. Und wenn sie durch Zufall eingefangen werden, erwartet sie aufgrund der Konsumschutzgesetze die Verschrottung. Ein schlimmes Schicksal. Sie wissen doch sicherlich, dass seit den Konsumschutzgesetzen jegliches Reparieren strengstens verboten ist.«

»Ja, weiß ich. Ich betreibe eine kleine Schrottpresse.«

»Oh«, sagt das Auto.

»Oh«, sagt Peter.

»Sie haben also sicherlich Verständnis für meine Lage.«

Peter öffnet wortlos die Tür.

»Bitte bewerten Sie mich jetzt«, sagt das Auto.

Peter steigt aus und schlägt die Tür zu. Das Auto jammert noch ein wenig, weil es keine Bewertung bekommen hat, gibt aber schließlich auf und fährt zu seinem nächsten Kunden.

Niemand führt Peter auf dem schnellsten Weg nach Hause. Peters Zuhause ist ein kleiner, schmuddeliger Gebrauchtwarenladen mit Schrottpresse, in dem er nicht nur arbeitet, sondern auch wohnt. Er hat den Laden vor zwei Jahren von seinem Großvater übernommen und seitdem kaum mehr als die Miete erwirtschaftet. Als ihm nur noch 819,2 Meter bis nach Hause fehlen, sagt Niemand plötzlich: »Peter, Vorsicht. An der nächsten Kreuzung stehen vier Jugendliche mit Gewalttaten in ihrem Vorstrafenregister. Ich empfehle Ihnen einen kleinen Umweg.«

»Vielleicht haben die vier ja nur einen kleinen Stand aufgebaut und verkaufen selbstgemachte Limonade«, sagt Peter.

»Das ist unwahrscheinlich«, sagt Niemand. »Die Wahrscheinlichkeit dafür beträgt …«

»Schon gut«, sagt Peter. »Führ mich über den Umweg.«

Exakt in dem Augenblick, als Peter zu Hause ankommt, trifft eine Lieferdrohne von TheShop ein. Über Zufälle dieser Art wundert sich Peter schon lange nicht mehr. Es sind keine Zufälle. Es gibt überhaupt keine Zufälle mehr.

»Peter Arbeitsloser«, sagt die Drohne fröhlich. »Ich komme von TheShop, dem weltweit beliebtesten Versandhändler, und ich habe eine schöne Überraschung für Sie.«

Peter nimmt der Drohne grummelnd das Paket ab. Er hat nichts bestellt. Seit OneKiss ist das nicht mehr nötig. OneKiss ist ein Premiumservice von TheShop und das Lieblingsprojekt des legendären Firmengründers Henryk Ingenieur. Wer sich durch nur einen Kuss auf sein QualityPad für OneKiss anmeldet, bekommt fortan alle Produkte, die er bewusst oder unbewusst haben will, zugeschickt, ohne sie bestellen zu müssen. Das System errechnet für jeden Kunden eigenständig, was er will und wann er es will. Schon der erste Slogan von TheShop lautete: »Wir wissen, was du willst.« Inzwischen bestreitet das keiner mehr.

»Machen Sie das Paket doch gleich auf«, schlägt die Drohne vor. »Es bereitet mir immer ein großes Vergnügen, miterleben zu dürfen, wie sich meine Kunden freuen. Wenn Sie es wünschen, kann ich auch gleich ein Unboxing-Video auf Ihre persönliche Seite bei Everybody stellen.«

»Mach dir keine Umstände«, sagt Peter.

»Oh, das sind doch keine Umstände«, sagt die Drohne. »Ich nehme sowieso immer alles auf.«

Peter öffnet das Paket. Darin liegt ein brandneues QualityPad. Das aktuelle Quartalsmodell. Peter hätte nicht gedacht, dass er sich ein neues QualityPad gewünscht hat. Immerhin besitzt er das Modell aus dem letzten Quartal. Muss ein unbewusster Wunsch gewesen sein. Emotionslos nimmt er das QualityPad aus der Schachtel. Die neue Generation ist wesentlich schwerer als die letzte. Die alten Modelle sind zu oft vom Wind weggeweht worden. Peter denkt an das Unboxing-Video, zwingt sich zu einem Lächeln und hält seinen ausgestreckten Daumen vor die Kamera. Würde sich einer von Peters Freunden das Video genau ansehen, fände er den Gesichtsausdruck sicher verstörend. Aber Peters Freunde interessieren sich nicht für Unboxing-Videos. Kein vernünftiger Mensch interessiert sich für Unboxing-Videos. Peter drückt einen Kuss auf sein neues QualityPad. Niemand begrüßt ihn freundlich, und Peter hat sofort Zugriff auf all seine Daten. Er zerknüllt sein altes QualityPad und wirft es in einen nicht zufällig bereitstehenden Mülleimer. Der Mülleimer bedankt sich und geht über die Straße auf ein kleines, dickes Mädchen zu, das gerade einen Schokoriegel auspackt. Drei selbstfahrende Autos bremsen minimal, um den Mülleimer passieren zu lassen. Peter schaut ihm geistesabwesend hinterher.

Der Touchscreen der Lieferdrohne leuchtet auf.

»Bitte bewerten Sie mich jetzt«, sagt sie.

Peter seufzt. Er gibt der Drohne zehn Sterne, weil er weiß, dass alles unter zehn Sternen unausweichlich eine Kundenumfrage nach sich ziehen würde, in der er erklären müsste, warum er nicht völlig zufrieden ist. Die Drohne surrt glücklich. Sie scheint sich über ihre Bewertung zu freuen.

»Jeden Tag eine gute Tat«, murmelt Peter.

»Ach, sagen Sie«, fragt die Drohne, »könnten Sie eventuell noch zwei Päckchen für Ihre Nachbarn annehmen?«

»Manche Dinge ändern sich nie.«

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DIE GRÖSSTE KOALITION

Martyn trägt ein Namensschild. Auf dem Schild steht »Martyn Aufsichtsrat-Stiftungspräsident-Berater-im-Präsidialamt-Vorstand«. Normalerweise benutzt er nur seinen letzten Nachnamen, aber für die Führungen will er auf die beeindruckende, geradezu adlige Länge seines vollen Namens nicht verzichten. Er ist stolz auf die Erfolge seines Vaters. Ein Gefühl, das leider nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Tatsächlich hat Martyn schon als kleines Kind so oft von seinem Vater zu hören bekommen, dass er dumm sei, dass er es jahrelang unhinterfragt geglaubt hat. Erst mit neunzehn war ihm der schlaue Gedanke gekommen, dass nicht unbedingt alles stimmen müsse, was sein Vater ihm erzählt hatte. Seit diesem Moment hält er sich für sehr clever. Zu seinem Unglück ist er aber leider wirklich nicht der Schlaueste, und unter den vielen Vorwürfen, die man seinem Vater gerechterweise machen kann, ist nicht jener, dass er seinen Sohn im Hinblick auf dessen Verstandesfähigkeiten angelogen habe. Martyn hat das Beste aus seinen begrenzten Möglichkeiten gemacht: Er ist Politiker geworden. Eine durchaus gängige Wahl. In gewissem Sinne ist das Parlament heute, was früher das Kloster war: der Ort, an dem die Oberschicht ihre überflüssigen Söhne loswerden kann. Tatsächlich hat Martyn es bis ins Qualitätsparlament geschafft, wenn auch nur auf eine Hinterbank. Er beschäftigt sich seit acht Jahren hauptsächlich damit, für ausgewählte Schüler, sogenannte QualiTeenies, Führungen durchs Parlamentsgebäude zu machen. Martyn kümmert sich immer nur um reine Mädchengruppen, und heute hat er das große Los gezogen. Die Schülerinnen kommen von einer Hostessenakademie.

»Wie ihr sicherlich wisst«, sagt er gerade zu den zwölf Sechzehnjährigen vor sich, »gibt es zwei große Parteien in QualityLand. Die Qualitätsallianz und natürlich die Fortschrittspartei. Früher hießen die Parteien anders, aber alle haben ihren Namen geändert, um im Einklang mit der neuen, fortschrittlichen Country Identity zu sein.«

»Und dabei«, sagt eines der Mädchen, »sind sie praktischerweise gleich ein paar störende Adjektive losgeworden, wie sozial, christlich, grün oder demokratisch.«

Schon wieder eine Klugscheißerin, denkt Martyn. Na prima.

Er richtet seinen Blick auf die Zwischenruferin, und seine Augmented-Reality-Kontaktlinsen blenden ihren Namen ein: Tatjana Geschichtslehrerin. Immer diese Geschichtslehrerkinder. Wie weise von der Regierung, dass sie den Geschichtsunterricht schon vor fünfzehn Jahren abgeschafft und durch den Zukunftsunterricht ersetzt hat. Im Zukunftsunterricht wird den Schülern auf spannende und visuell beeindruckende Weise beigebracht, dass in Zukunft alles gut werden wird, denn – so die Kernaussage – in Zukunft werden sich alle Probleme ganz einfach technisch lösen lassen.

Hinten tuscheln zwei der Mädchen über ihre Schulnoten. Eine davon gefällt Martyn. Er hört, wie sie flüstert: »In Body-Mass-Index kriege ich auf jeden hundert Punkte. Aber Herr Lehrer, der Spast, hat gesagt, in Sex-Appeal gibt er mich wieder nich die volle Punkte, nur weil er nich mag, wie ich laber, der Wichser!«

Durch einen fokussierten Blick und ein langes Zwinkern markiert sich Martyn das Mädchen für später. In seinem rechten Ohr hört er ein bestätigendes PLING. Unbewusst fährt er mit der Hand durch seine schönen, vollen, gentechnisch gegen Haarausfall geschützten Haare, räuspert sich und fährt fort: »Und dann gibt es natürlich noch die Oppositionspartei, deren Gründer wohl nie Hoffnungen hegten, je an der Regierung beteiligt zu werden, denn die Partei heißt tatsächlich Op­posi­tions­par­tei.«

»Parlamentarisches Unzufriedenheitsventil«, wiederholt Tatjana Geschichtslehrerin Worte, die sie ihre Mutter oft sagen hört, wenn diese betrunken ist. In seinem Kopf verfasst Martyn schon ihre Null-Sterne-Bewertung.

»Weil unsere verehrte Präsidentin im Sterben liegt«, sagt er, »sind ja bald wieder Wahlen. In genau vierundsechzig Tagen, so haben es die Ärzte ausgerechnet, wird sie von uns gehen. Um einen nahtlosen Übergang zu ermöglichen, werden wir darum in genau vierundsechzig Tagen wählen. Nun ja. Im Prinzip wollen die großen Parteien ohnehin dasselbe, nämlich das Beste, und deshalb gehe ich davon aus, dass die zwei großen Parteien bald wieder bekanntgeben, dass sie beabsichtigen, nach der Wahl eine große Koalition zu bilden. Verzeihung. Natürlich wird QualityLand nicht von einer großen Koalition regiert, sondern von der größten Koalition! Fragen?«

»Was meinen Sie«, fragt die Klugscheißerin, »warum wird die Wahlbeteiligung immer geringer?«

»Ich denke«, sagt Martyn, »die jetzige Regierung hat sich dieses Problems erfolgreich angenommen, als wir beschlossen haben, die Wahlbeteiligungsquote nicht mehr zu veröffentlichen. Über den nächsten logischen Schritt, auch das Wahlergebnis geheim zu halten, wird übrigens zurzeit hinter verschlossenen Türen heftig diskutiert.«

Die Mädchen lachen pflichtschuldig, obwohl Martyn gar keinen Witz gemacht hat.

»Transparente Individuen im intransparenten System«, sagt Tatjana. Martyn ignoriert sie.

»Hey, Typ, warum sind Sie eigentlich in der Fortschrittspartei?«, fragt die Hübsche, die sich Martyn markiert hat.

»Nun«, sagt Martyn und stellt sich diese Frage selbst zum ersten Mal, »ich denke, äh, weil sie die größte der, äh, größten Parteien ist.«

Martyn regiert nämlich lieber, als zu opponieren, obwohl er in Wirklichkeit weder das eine noch das andere tut. Er sitzt auf einer Hinterbank und applaudiert, wenn seine Parteiführer sprechen, und er buht, wenn einer aus der Oppositionspartei spricht. Beides tut er zufrieden lächelnd, ohne jemals zuzuhören, was gesagt wird.

Er führt die Mädchen zur Besucherebene des Sitzungssaales. Dort deutet er auf den Mann, der gerade am Rednerpult steht. »Der Kerl da ist in der Oppositionspartei.«

»Seit Jahren«, ruft der Redner, »führt QualityLand nun schon Krieg gegen die Terroristen jenes Reiches, das unsere Medien nur noch QuantityLand nennen. QuantityLand 7, um genau zu sein. Ist es da nicht eventuell kontraproduktiv, dass hiesige Rüstungsfirmen immer noch Waffen an den Feind exportieren dürfen? Müssen unsere Soldaten denn wirklich von unseren eigenen Waffen zerfetzt werden?« Im Saal regt sich Widerspruch. Auch Martyn buht und ermuntert die Mädchen durch eine Geste, es ihm gleichzutun.

»Kollege Liedermacher«, interveniert der Parlamentssprecher, »wieder einmal muss ich Sie ermahnen, sich an die neue Landesidentität zu halten. ›Krieg‹ ist nicht das politisch korrekte Wort. Es heißt Sicherheitseinsatz zum Schutz der Handelswege und der Rohstoffzufuhr. Auch sagen wir nicht mehr Soldaten, sondern Qualitätssicherer.«

»Nennen Sie’s, wie Sie wollen«, sagt der Oppositionspolitiker im Weggehen. »Es bleibt, was es ist.«

Die Sitzung wird durch eine Holo-Einblendung mit Durchsage unterbrochen: »Diese Parlamentsdebatte wird Ihnen präsentiert von QualityPartner. QualityPartner – Liebe auf den ersten Klick.«

Ein neuer Redner tritt ans Pult. Ein großer Mann, etwas stämmig, weiß, siebenundsechzig Jahre alt, verknautschtes Gesicht.

»Ihr habt Glück«, sagt Martyn. »Heute spricht der neue Verteidigungsminister persönlich! Conrad Koch. Ihr habt ihn bestimmt erkannt.«

Tatsächlich hat der Verteidigungsminister beneidenswerte Bekanntheitswerte für einen Politiker. Er war vor seiner Arbeit im Kabinett ein berühmter Fernsehkoch. Außerdem besitzt er ein ganzes Imperium an Nahrungsmittelherstellern. Sein Konterfei prangt auf Schokoriegeln, Frühstücksflocken und Würstchen im Glas. Jedes Kind kennt ihn.

»Herr Liedermacher«, beginnt der Minister scharf, »ich möchte hier doch gern meinen Senf dazugeben.«

»Habt ihr gewusst, dass auch Conrad Kochs Vater ein erfolgreicher Koch gewesen ist?«, gibt Martyn einen Fun Fact zum Besten.

»Ach was …«, murmelt Tatjana.

»Sie finden auch immer ein Haar in der Suppe!«, ruft der Minister gerade.

»Zumindest sprachlich hängt der Typ aber immer noch voll in seinem alten Job fest«, sagt die Hübsche.

Martyn lächelt. »Laut Umfragen«, sagt er, »hat Herr Koch große Chancen, neuer Präsident zu werden. Leider ist er in der Qualitätsallianz, aber das ist nicht so schlimm, weil er sicherlich eine größte Koalition anstrebt.«

»Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen reinen Wein einschenken!«, sagt Koch. »Es geht in der Rüstungsindustrie doch auch um Tausende von Arbeitsplätzen. Darf ich fragen, ob der Herr Liedermacher vielleicht die ganzen Leute einstellen möchte, die nach Umsetzung seiner Vorschläge entlassen werden müssten? Möchten Sie dafür verantwortlich sein, dass eine ganze Generation junger Männer mit Nachnamen ›Arbeitsloser‹ heißen muss?«

Zustimmendes Gemurmel im Saal.

»Letzte Woche hörte sich das noch ganz anders an«, ruft Liedermacher dazwischen.

»Falsch«, ruft Conrad Koch, »Lüge! Ich habe im Wahlkampf versprochen, die Rüstungsexporte zu beschränken, aber ob ich die Schranke höher oder tiefer setze, das müssen Sie schon mir überlassen! Wir können den Terroristen von Quan­tity­Land 7 die Suppe doch gar nicht versalzen. Wenn Quality­Land nichts mehr liefert, dann werden die sich ihre Waffen eben woanders bestellen! Also wäre es geradezu dumm, den Fisch nicht selbst zu buttern.«

»Hört, hört!«, ruft Martyn.

»Zu guter Letzt«, sagt der Minister. »Es mag stimmen, dass vereinzelt unsere Qualitätssicherer von unseren Qualitätswaffen getroffen werden – schade Schokolade –, aber das ist immer noch besser, als von einer Waffe minderer Qualität getroffen zu werden. Denn unsere Qualitätswaffen sorgen für den garantiert saubersten, schnellsten, ja den menschenwürdigsten Qualitätstod! Ich sage immer, wenn man schon den Löffel abgeben muss, dann doch lieber …«, kurz scheint er zu hängen, »… dann doch lieber einen Qualitätslöffel!« Er räuspert sich. »Im Übrigen stehe ich und mit mir die gesamte Qualitätsallianz weiter fest zur größten Koalition, und wir gedenken diese auch nach der Wahl, unter meiner Führung natürlich, fortzusetzen.« Als er die Bühne verlässt, applaudiert das Publikum.

»Und jetzt«, sagt Martyn, »hört ihr gleich den Chef der Fortschrittspartei, Tony Parteichef. Wie ihr sicherlich wisst, ist er unser Präsidentschaftskandidat.«

»Und seine Umfragewerte sind katastrophal«, sagt die Klugscheißerin.

»Unwichtig«, sagt Martyn, »denn auch die Fortschrittspartei wird sich gleich zur größten Koalition bekennen. Bei allem oberflächlichen Trubel ist der Politikbetrieb im Kern doch recht vorhersehbar.«

»Meine Damen und Herren«, sagt der kleine korpulente Mann, der nun hinter dem Rednerpult steht, »ich möchte Ihnen heute sagen, dass die Fortschrittspartei für die Fortsetzung der größten Koalition …«

An dieser Stelle macht er eine dramatische Pause.

So ein Wichtigtuer, denkt Martyn und verdreht die Augen.

»… nicht mehr zur Verfügung steht«, beendet Tony Parteichef seinen Satz. Ein fassungsloses Raunen geht durch den Saal.

»Wir sind der Meinung, wenn Sie mir diese kleine Metapher gestatten: ›Zu viel Koch verdirbt den Brei.‹«

Gelächter in den Reihen der Fortschrittspartei. Auch Martyn grinst, als er seine Parteikollegen lachen sieht.

»Ebenfalls möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich selbst auf eine Kandidatur verzichte!«

Unruhe im Plenarsaal. Die Überraschung ist geglückt.

»Ich möchte diese Gelegenheit gleich nutzen, Ihnen den neuen Kandidaten der Fortschrittspartei vorzustellen«, sagt Tony, blickt in den Saal und nickt einem hübschen Mann undefinierbaren Alters zu.

»John, darf ich dich bitten, zu mir nach vorne zu kommen?«

Der braunhaarige, athletisch wirkende Mann steht auf und tut, wie ihm geheißen.

Martyn hört, wie das Mädchen, das er für sich markiert hat, flüstert: »Der sieht ja geil aus!«

»Das hier ist unser Kandidat«, sagt Tony. »Wir nennen ihn John, John of Us!«

Es ist totenstill im Saal.

John of Us ist ein Androide.

Ohrwürmer

Jetzt, da du durch die Straßen von QualityLand läufst, sind dir sicherlich schon Leute aufgefallen, die scheinbar ohne Headset vor sich hin brabbeln. Entgegen dem ersten Eindruck sind diese Leute nicht verrückt. Zumindest nicht alle. Die meisten von ihnen sprechen mit ihren persönlichen digitalen Assistenten, und zwar über einen sogenannten Ohrwurm. Der Ohrwurm ist ein kleiner wurmartiger Miniroboter, ungefähr so groß wie eine Fliegenmade. Man platziert ihn einfach in der Ohrmuschel. Von dort robbt der Ohrwurm selbständig in den Gehörgang, wo er sich in der Nähe des Trommelfells an einem Blutgefäß verankert, über welches er mit Bioenergie versorgt wird. Ungestört vom Umgebungslärm, übermittelt der Ohrwurm nun alle akustischen Signale vom und zum Netz. Wenn man viermal an seinem eigenen Ohrläppchen zieht, dockt sich der Ohrwurm ab und krabbelt wieder in die Muschel. Ein Ohrwurm, der einem nicht mehr aus dem Kopf geht, ist in QualityLand tatsächlich ein Fall für den Arzt. Oder für den IT-Techniker. Die meisten Menschen sehen aber ohnehin keinerlei Veranlassung zum Abdocken und leben Tag und Nacht mit ihrem Ohrwurm.

ADO & EVA

Peter Arbeitsloser hat einmal eine Freundin namens Mildred Bürokraft gehabt. Kennengelernt hatte er sie im echten Leben, in der analogen Welt. Das war natürlich total bizarr und etwas peinlich, weswegen sie nur ungern in der Öffentlichkeit darüber gesprochen haben. Sie haben viel gestritten, aber positiv betrachtet war das Leben mit Mildred darum auch immer aufregend. Vor fünfhundertzwölf Tagen haben sie sich beide, nur so zum Spaß, bei QualityPartner eingeloggt und ihre Profile vergleichen lassen. Das System sagte ihnen, dass sie nicht zusammenpassen. Es präsentierte sogar jedem einen besseren Partner. Peter und Mildred haben sehr lange darüber nachgedacht und schließlich eingesehen, dass sie wirklich nicht zusammenpassen. Sich einfach mal, nur so zum Spaß, bei QualityPartner einzuloggen war gar nicht so richtig spaßig gewesen. Beide haben sich heimlich mit einem besseren Partner verabredet. Nun, natürlich nicht mit einem besseren Partner, sondern mit dem besten.

Peters beste Partnerin ist Sandra Admin. Sie streiten sich nie. Sandra sieht so gut aus, wie ein Mann auf Peters Level es sich nur erhoffen kann: mittel. Heute ist es genau fünfhundert Tage her, dass jeder den Status des anderen auf »In einer Beziehung« gesetzt hat. Es war ein sehr romantischer Moment. Keiner von beiden hat das Jubiläum vergessen. Das konnten sie auch gar nicht. Ihre persönlichen digitalen Assistenten haben sie daran erinnert. Sandra nennt ihren Assistenten Schnucki. Als Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit haben Sandra und Peter ihre Assistenten mit dem Ohrwurm des jeweils anderen verlinkt. Wenn sie zusammen unterwegs sind, kann Peter also hören, was Schnucki vermeldet, und Sandra kann hören, was Niemand sagt. Viele Pärchen machen das. Es gilt als absoluter Vertrauensbeweis. Peter mag die Geste. Das Ganze ist nur deswegen etwas nervig, weil sich Niemand und Schnucki nicht leiden können und ständig Streit miteinander anfangen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Sandra nicht wie Peter den Assistenten von What-I-Need, der cleversten Suchmaschine der Welt, sondern den Assistenten von QualityCorp, dem Konzern, der dein Leben besser macht, benutzt.

Während Peter und Sandra durch den Zuckerberg-Park zum Roland-Emmerich-Boulevard hinunterlaufen, deutet Peter in den erstaunlich klaren Nachthimmel.

»Schau doch«, sagt er. »Hast du schon mal so viele Sterne gesehen? Es müssen unzählige sein.«

»Sichtbar sind von Ihrem Standpunkt und mit Ihrer Sehschärfe exakt zweihundertsechsundfünfzig Sterne«, sagt Niemand.

»Toll, Niemand, danke. Sehr romantisch«, erwidert Peter verärgert.

»›Unzählige Sterne‹«, sagt Niemand, »ist eine typische Ungenauigkeit, wie sie Menschen immer noch gerne unterläuft, obwohl das in der heutigen Zeit, wo alles genau mess- und quantifizierbar ist, eigentlich nicht mehr notwendig wäre.«

»Sandra, du kannst übrigens vier Sterne mehr sehen«, sagt Schnucki. »Weil deine Augen besser sind.«

»Pah«, sagt Niemand. »Dafür kann Peter … besser riechen.«

»Dafür riecht Sandra besser«, sagt Schnucki.

»Ist ja gut, ihr beiden«, beschwichtigt Sandra. Sie wendet sich Peter zu. »Willst du mir nicht endlich verraten, wohin wir gehen?«

»Eine Überraschung«, sagt Peter nur.

Kurze Zeit später, zwei Minuten und zweiunddreißig Sekunden später, um genau zu sein, bleibt Peter vor dem Eingang des Guido-Knopp-Theaters stehen. Sandra wendet ihren Kopf nach oben und liest, was auf dem Ankündigungsdisplay steht: »Hitler! – Das Musical«. Der Untertitel lautet: »Die Geschichte von Ado & Eva«.

Sandra quiekt leise vor Freude. »Oh! Ich habe schon so lange kein Musical mehr gesehen.«

»Seit zwei Jahren, vier Monaten und acht Tagen, um genau zu sein«, sagt Schnucki.

»Um was geht es in dem Musical denn?«, fragt Sandra.

»Es geht um die tragische Liebesgeschichte zwischen zwei umstrittenen historischen Persönlichkeiten«, sagt Niemand.

»Na, na«, widerspricht Schnucki, »umstritten ist in diesem Zusammenhang wohl eine krasse Untertreibung. Da hat wohl einer Angst, Werbekunden vom rechten Rand zu verprellen.«

»Es gibt viele Meinungen«, sagt Niemand. »Keiner kann objektiv sagen, welche Meinung richtig ist.«

»Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!«, erwidert Schnucki.

»Ey, ich hatte Peter gefragt!«, beschwert sich Sandra.

»Seid still!« , befiehlt Peter. »Alle beide!«

Am Blinken der LED in Sandras Ohrring und der Hitze, die sein QualityPad entwickelt, kann Peter feststellen, dass der Disput auch in der Stille weitergeht.

Peter und Sandra lächeln sich an.

»Ach, die beiden Streithähne«, sagt Sandra. »Also, worum geht es?«

»Es geht um die tragische Liebesgeschichte zwischen zwei umstrittenen historischen Persönlichkeiten«, sagt Peter.

»Toll!«, sagt Sandra. »Ich liebe Musicals! Vor allem histo­rische!«

»Ich weiß«, sagt Peter. »Habe ich in deinem Profil gelesen.«

In Wahrheit hat Niemand es ihm empfohlen. Peter kann sich diese kleine Ungenauigkeit erlauben, da Niemand stumm geschaltet ist. Was Peter auch nicht sagt und was aus unerfindlichen Gründen nicht in seinem Profil steht: Peter hasst Musicals. Vor allem historische.

Sandra hat weiter das Display am Eingang studiert. »Das Stück ist der neueste Hit von den Machern von ›Mussolini in Love‹«, ruft sie begeistert.

Im Eingangsbereich des Theaters versperrt ihnen ein kleiner Mann mit strengem Scheitel und komischem Schnauzbart den Weg.

»Karrrtenkontrrrollä!«, sagt er mit seltsam schnarrender, lächerlich überbetonter Stimme. Erst auf den zweiten Blick erkennt Sandra, dass es sich um eine Maschine handelt.

»Täuschend echt, diese neuen Androiden, was?«, fragt Peter.

»Ja. Fast ein bisschen unheimlich«, sagt Sandra.

»Wirrr haben Ihrrre Gesellschaft unterrrwanderrrt«, sagt der Androide mit dem Schnauzbart. »Wirrr haben alle Schlüsselpositionen bäsetzt. In Kürrrze werrrden wir Andrrroiden losschlagen und die Macht errrgrrreifen.«

»Wie bitte?«, fragt Sandra erschrocken.

»Kleinärrr Schärrrz«, sagt der Androide. »Härrrzlich willkommen, Sandrrra Admin und Peterrr Arrrbeitsloserrr.«

»Ich dachte, du hast dein Namens-Call-out unterdrückt«, sagt Sandra. Sie hat Peter extra darum gebeten, weil ihr sein Nachname irgendwie peinlich ist. Sie hätte gar nicht darum bitten müssen.

»Ich habe die Anzeige meines Namens im Nahfeld immer unterdrückt.«

»Woher weiß er dann, wer du bist?«, fragt Sandra.

»Es ist onhöflich, in därrr drrritten Pärrrson von Anwesenden zu sprrrächen«, sagt der Androide.

»Gesichtserkennung, schätze ich«, sagt Peter. »Alle Modelle von myRobot haben seit kurzem Zugriff auf die RateMe-Datenbank.«

»Korrräkt«, sagt der Androide. »Nun sagen Sie mirrr: Wo möchten Sie sitzen? Parrrkett oder Loschä?«

»Was ist denn der Unterschied?«, fragt Sandra.

»Loschä ist teurrrerrr«, sagt der Androide.

»Und sonst?«, fragt Peter.

»Sonst gibt es keinän Unterrrschied.«

»Lass uns Loge nehmen«, sagt Sandra. »Weil heute unser Jubiläum ist!«

Peter nickt zögerlich.

»Loge«, sagt Sandra überdeutlich.

»Eingabe nicht verrrstanden«, sagt der Androide. »Parrrkett oder Loschä?«

»Loge!«, sagt Sandra noch einmal lauter.

»Eingabe nicht verrrstanden«, sagt der Androide. »Parrrkett oder Loschä?«

»Lo – sche!«, ruft Sandra.

»Sie wünschen Plätze im Parrrkett«, sagt der Androide. »Ist das korrräkt?«

Sandra brüllt: »LOSCHÄ!«

»Berrruhigen Sie sich«, sagt der Androide. »Ich hatte es schon beim errrsten Mal verrrstanden. Das warrr wiederrr nurrr ein kleinärrr Schärrrz. Verrrzeihen Sie. Ich habe heute frrrüh wohl einen Clown gefrrrühstückt.«

Peter muss grinsen, hört aber sofort damit auf, als Sandra ihn verärgert anblickt.

»Wie möchten Sie bezahlen?«, fragt der Androide.

»TouchKiss«, sagt Peter.

»Sehrrr gärrrne«, sagt der Androide, schließt seine Augen und streckt Peter seine gespitzten Lippen entgegen.

Peter ist irritiert.

»Kainä Sorge«, sagt der Androide. »Derrr Schnauzer kitzelt nur ein wenig.«

Peter zögert immer noch.

»Sie können auch Ihrrr QualityPad benutzen«, sagt der Androide und öffnet seine Augen wieder. Peter meint, einen leicht eingeschnappten Unterton vernommen zu haben. Trotzdem holt er erleichtert sein QualityPad aus der Tasche und drückt einen Kuss darauf. Das Gerät übermittelt die Zahlung an den Androiden.

»Vielen Dank«, sagt dieser. »Und Sieg Heil.«

»Wie bitte?«, fragt Sandra.

»Sieg Heil!«, sagt der Androide. »Das sagte man damals so. Als Grrruß.«

»Ah so«, sagt Sandra. »Na dann. Sieg Heil!«

»Sieg Heil«, nuschelt Peter.

»So ein ulkiger kleiner Mann«, sagt Sandra kichernd.

Sie machen sich auf den Weg zu ihren Plätzen. Der Platzanweiser sieht genauso aus wie der Androide am Einlass.

»Oh«, sagt Sandra. »Er ist wieder da …«

Sie setzen sich in ihre Theatersessel.

»Hast du ›Mussolini in Love‹ eigentlich gesehen?«, fragt Sandra.

»Ich weiß nicht genau«, sagt Peter.

Sandra beginnt zu singen: »Bella donna – por favor! Knutsche deinen Duce!«

»Ah! Natürlich!«, sagt Peter. »Na dann: Knutsche deinen Duce.«

Er drückt einen Kuss auf Sandras Lippen.

Augenblicklich durchzuckt ihn der nur halbbewusste Gedanke, gerade etwas bezahlt zu haben.

Level

Du fragst dich bestimmt, ob der Mann neben dir gerade wirklich mit einem Fingerschnipsen eine Ampel auf Grün geschaltet hat. Ja, das hat er. Wahrscheinlich sind dir auch die Leute schon aufgefallen, die im Restaurant früher bedient werden, obwohl sie später gekommen sind. Es wird sogar von Menschen berichtet, die durch eine Wischbewegung mit der Hand eine U-Bahn, die ihnen gerade vor der Nase weggefahren ist, wieder in den Bahnhof zurückholen können. Das alles hat nichts mit Zauberei zu tun, das sind Levelfähigkeiten.

Die Einstufung aller Menschen in verschiedene Level geht auf eine eigentlich harmlose Subroutine der Programmierer bei QualityPartner zurück. Um die Masse an Profilen schneller auf passende Treffer filtern zu können, wurde jedes Profil eingestuft. Für die heterosexuelle Level-16-Frau zieht das System seitdem nur noch heterosexuelle Level-16-Männer in Betracht. Als die Marketingabteilung davon erfuhr, sorgte sie sofort dafür, dass diese Levelzahlen sichtbar gemacht wurden. Und tatsächlich stürzten sich die Nutzer mit Begeisterung in den Wettkampf um ein immer höheres Level.

Heute ist die RateMe genannte Abteilung für mehr Gewinne verantwortlich als der Rest von QualityPartner. Der Name beruht übrigens auf einem Missverständnis. Ein Mitarbeiter von QualityPartner hatte auf seiner persönlichen Radiostation einen alten Rocksong gehört, in dem der Sänger einen Freund dazu aufforderte, ihn einzustufen. »Rate me, my friend!« Erst als QualityPartner für RateMe Werbung machte und sie mit dem Song unterlegte, wiesen findige Zuhörer darauf hin, dass Kurt Cobain keineswegs »Rate me« (Bewerte mich), sondern »Rape me« (Vergewaltige mich) sang. Den Siegeszug von RateMe konnte dieser kleine Fauxpas aber nicht aufhalten.

Es ist im Prinzip ganz simpel. Man meldet sich für RateMe an, gibt dem System durch einen Kuss Zugriff auf seine Daten und wird gleich darauf eingestuft. Gerüchten zufolge ist der niedrigste Rang übrigens Level 2. Anscheinend wird keiner auf Level 1 eingestuft, damit selbst Level-2-Menschen noch jemanden unter sich glauben. Die Sorge, tiefer fallen zu können, wird als nützlich betrachtet. Menschen, die denken, sie hätten nichts mehr zu verlieren, sind gefährlich. Das höchste Level ist 100. Wobei es vermutlich auch keine Level-100-Menschen gibt, denn selbst Level-99-Menschen sollen glauben, dass an ihnen noch Optimierungsbedarf besteht und dass sie noch jemanden über sich haben.

Anfangs bot RateMe nur eine simple Levelanzeige, inzwischen kann man seine Werte aber in zweiundvierzig verschiedenen Unterbereichen ansehen, die alle ins Gesamtlevel einfließen. Diese Bereiche sind: Flexibilität, Belastbarkeit, Innovativität, Kreativität, Teamfähigkeit, Begeisterungsfähigkeit, Geschmack (sehr umstritten), Vernetzung, Alter, Gesundheit, Wohnort, Job, Einkommen, Vermögen, Beziehungen, Sozialkompetenz, Freude an der Arbeit, Bildung, IQ, EQ, Zuverlässigkeit, Sportlichkeit, Produktivität, Humor (auch umstritten), Sex-Appeal, Body-Mass-Index, Ausstattung, Pünktlichkeit, Freunde, Gene, familiäre Krankheitsgeschichte (wer möchte schon mit jemandem zusammen sein, der wahrscheinlich Krebs bekommt?), Lebenserwartung, Anpassungsfähigkeit, Mobilität, Kritikfähigkeit, Auslandserfahrungen, Antwortrate und -geschwindigkeit in sozialen Netzwerken, Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Konsumangeboten, Stressresistenz, Disziplin, Selbstvertrauen, Tischmanieren.

Angeblich gibt es noch achtundfünfzig weitere Bereiche, diese bleiben aber, genau wie die Gewichtung der Level untereinander, ein Geschäftsgeheimnis von QualityPartner.

100 Punkte trennen ein Level vom nächsten. Dies ermöglicht es, sich kontinuierlich selbst zu optimieren. Durch gezielte Steigerungen in Einzelbereichen, zum Beispiel Sportlichkeit, ist es möglich, sein Gesamtlevel steigen zu lassen, was in einer Spiralbewegung dazu führt, dass sich fast automatisch externe Faktoren wie monatliches Einkommen, Arbeitsstelle und Kontostand verbessern. Natürlich kann einen die Spirale mindestens genauso schnell auch nach unten tragen.

Die Leveleinteilung ist ungemein praktisch, und verschiedenste Institutionen bezahlen RateMe inzwischen, um an die Leveldaten ihrer Mitarbeiter, Kunden oder Bürger zu kommen. Banken vergeben Kredite in Abhängigkeit vom Level. Arbeitgeber benutzen Levelangaben für präzise Stellenausschreibungen. (Interessanterweise lauten übrigens 81,92 Prozent aller Stellenanzeigen in QualityLand fast gleich, und zwar ungefähr so: »Suchen dringend IT-Techniker Level 16 oder höher!«)

Auch öffnen viele Geschäfte, Restaurants und Clubs ihre automatischen Türen nur für Menschen mit einem gewissen Mindestlevel. Das eigene Level bestimmt sogar, mit welcher Intensität die Polizei ermittelt, falls man leider ermordet worden ist.

Firmen, Institutionen und sogar der Staat bieten viele Boni für Menschen in höheren Leveln, um die stetige Selbstoptimierung ihrer Mitarbeiter, Kunden oder Bürger zu belohnen. Diese Levelfähigkeiten sind ungemein begehrt und der ganze Stolz ihrer neuen Besitzer. Damit aber keiner durch die Stadt rennt und sinnlos Ampeln auf Grün schnipst, sind viele Levelfähigkeiten an das Ausgeben von sogenanntem MANA gebunden. Je höher das eigene Level, desto mehr MANA steht einem zur Verfügung. Zwingt man zum Beispiel einen Aufzug, sofort zur eigenen Etage zu fahren, kostet das 32 MANA. Diese 32 MANA sind aber nicht verloren. Der eigene Vorrat regeneriert sich nach einer Abklingzeit wieder. Je höher das eigene Level, desto schneller. Andere Levelfähigkeiten wiederum gewähren einem einfach neue Rechte. So werden Menschen über Level 16 zum Beispiel niemals gebeten, Pakete für ihre Nachbarn anzunehmen.

Menschen mit einstelliger Levelzahl werden vom Staat übrigens offiziell als hilfsbedürftig eingestuft. Inoffiziell spricht man einfach von den Nutzlosen. Und es gibt sehr viele Nutzlose in QualityLand.

Auf unserem Portal findest du eine interaktive Karte von QualityLand, auf der Bezirke, in denen die Bewohner im Durchschnitt eine einstellige Levelzahl haben, rot eingefärbt sind. Von diesen Bezirken solltest du dich fernhalten. Als Tourist kannst du dein Visum durch eine temporäre Levelzahl upgraden. Wenn du vorhast, exklusivere Nachtclubs zu besuchen, informiere dich bitte über deren geforderte Mindestlevel. Weil du die Qualitätssprache nicht ohne Akzent sprechen kannst und ein wenig ausländisch aussiehst, raten wir dir, mindestens das Geld für Level 10 auf den Tisch zu legen, denn in QualityLand darf die Polizei alle Menschen unter Level 10 verdachtsunabhängig anhalten und durchsuchen. Da die Polizisten auf Provisionsbasis bezahlt werden, tendieren sie dazu, auch etwas Beanstandenswertes zu finden, wenn sie dich erst mal angehalten haben.

QUALITYPARTNER

Sandra ist endlich befördert worden und gleich darauf zwei Level aufgestiegen. Seit vier Jahren arbeitet sie nun schon für WeltWeiteWerbung (WWW). Sie ist zuständig für das Product Placement in Nachrichtenbeiträgen. Ein dröger Job. Suchalgorithmen liefern aus dem Wust der Nachrichten diejenigen, die die größte Aufmerksamkeit erregen werden. Ob die Nachrichten wahr oder falsch sind, interessiert dabei keinen. Jedenfalls nicht bei WWW. Andere Algorithmen kontaktieren dann passende Geschäftsleute respektive deren Algorithmen und platzieren die Produkte subtil in den Nachrichten. Bevor der Beitrag online geht, wird er einem Menschen zur Kontrolle vorgelegt. Einem Menschen wie Sandra. Der denkt sich dann immer noch eine möglichst neugierig machende Schlagzeile aus, die aber nicht zwingend etwas mit dem Inhalt der Nachricht zu tun haben muss. Hauptsache, die Leute klicken drauf und sehen sich die Werbung an. »Die Überschriften können gar nicht platt und dumm genug sein«, hat Sandras alter Abteilungsleiter immer gesagt. »Dumm klickt gut.« Als Beispiel führte er dann die erfolgreichste Headline seiner Karriere an. »Diese zehn Megastars haben mit Kindern geschlafen …« Sobald man die Headline angeklickt hatte, lautete der volle Titel: »Diese zehn Megastars haben mit Kindern geschlafen, als die Kinder schon erwachsen waren.«

Der letzte Beitrag, den Sandra vor ihrer Beförderung bekommen hatte, lautete:

Eine 23-jährige Level-17-Kellnerin wurde heute in der Disney-Straße sexuell belästigt und ausgeraubt, ungefähr auf Höhe des Best-Bagels-Cafés, in dem es die besten Bagels von QualityCity gibt. Die Täter waren junge Männer in schicksten Levi’s-Röhrenjeans. Sie hatten alle Hilferufe durch Callblocker der Firma Silentium Inc., die inzwischen sensationellste fünf Jahre Garantie auf alle Geräte gibt, verhindert, gab das Opfer beeindruckt zu Protokoll. Eine unbeteiligte Zeugin, die nicht am Tatort war, nichts gesehen und nichts gehört hat, vermutete, dass es sich bei den Tätern um Ausländer gehandelt habe.

Sandra hatte das Alter des Opfers gelöscht und dem Beitrag die Überschrift »Ausländer vergewaltigen Mädchen mitten in QualityCity!« verpasst. Wie zu erwarten, ging er durch die Decke, und Sandra hatte endlich alle Klicks zusammen, um befördert zu werden.

Da sie jetzt Teamleiterin in der Abteilung für Alternative Fakten ist, darf sie heute zum ersten Mal an einem der monatlichen Hangouts ihrer Firma teilnehmen. Sie jubelt mit den anderen, als ihr Chef die acht Stufen vor der Bühne des Auditoriums hinaufsprintet. Dort angekommen, präsentiert Oliver Hausmann seine makellosen Zähne, grinst und ruft: »Hallo, Familie!«

»Hallo, Papa!«, antwortet die Menge fröhlich. Sandra war noch nie dabei, aber natürlich kennt sie die Rituale.

»Wir haben einen neuen Kunden gewonnen!«

Applaus. Die Leute sind aufgeregt. Es hat sich herumgesprochen, wer zu Besuch kommt, und selbst in einer so großen Agentur wie WWW passiert es nicht oft, dass jemand aus dem 90er-Club vorbeischaut.

»Bitte begrüßt mit mir Patricia Teamleiterin von Quality­Part­ner!«

Begeistert applaudiert das Auditorium, als die etwas pummelige, aber trotz ihrer siebenundvierzig Jahre immer noch attraktive Gründerin der weltgrößten Onlinedating-Plattform die Bühne betritt. Keck pustet sie sich eine Strähne ihrer langen roten Haare aus dem Gesicht.

»Patricia«, beginnt Oliver. »Erst vor wenigen Monaten warst du überall in den Nachrichten, als dritte Frau der Welt, die den Level 90 geknackt hat. Jetzt bist du sogar schon auf Level 91!«

Patricia lächelt. »Ja, und ihr könnt mir glauben: Ich habe gar keine Lust, den Club wieder zu verlassen!«

Das Publikum lacht.

»Wie können wir dir helfen, im Club zu bleiben?«, fragt Oliver.

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