Die Spurenleserin - Patricia Wiltshire - E-Book

Die Spurenleserin E-Book

Patricia Wiltshire

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Forensikerin Patricia Wiltshire berichtet von wahren Verbrechen und wie die Natur bei deren Aufklärung hilft Bei jedem Kriminalfall werden Spuren in der Natur hinterlassen – aber die Natur hinterlässt auch Spuren an uns. Die biologische Forensikerin Patricia Wiltshire ist eine Meisterin darin, diese Spuren zu lesen und berichtet in dieser True-Crime-Reportage von ihren spektakulärsten Fällen und offenbart, wie ihre Arbeit dazu beiträgt, die Verdächtigen der dunkelsten kriminellen Aktivitäten vor Gericht zu bringen. Es geht um Vergewaltigung, Mord, Entführung und die Suche nach versteckten Überresten. So führen Pollen an einer Jacke zum Täter und Erdspuren im Auto verraten, wo ein Möder seine Leiche vergraben hat. Faszinierend anschaulich erklärt Wiltshire, wie aus den einzelnen Puzzleteilen ganze Bilder in ihrem Kopf entstehen, die die entscheidenden Hinweise für die Aufklärung von Verbrechen geben. Die verräterischen Spuren der Natur: Einblicke in die Arbeit einer Forensikerin Von Schlammspuren auf einer ruhigen Landstraße bis hin zu Schmutz auf den Sohlen von Wanderschuhen - die Forensikerin und Kriminalbiologin Patricia Wiltshire nutzt ihr jahrzehntelanges wissenschaftliches Know-how, um oft übersehene Hinweise zu finden, die bei Verbrechen hinterlassen wurden. Mit wenig mehr als einem Mikroskop entdeckt sie Beweise und kann so den Täter, den Tatort und sogar den genauen Tathergang eines Verbrechens benennen. Wiltshires bemerkenswerte Genauigkeit hat sie zu einer der gefragtesten Polizeiberaterinnen der Welt gemacht. In dieser Sammlung berichtet Sie von den spektakulärsten Fällen, bei denen Sie bei der Aufklärung die entscheidenden Hinweise liefern konnte. True Crime, die spannender ist als jeder Krimi!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 453

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Text copyright © 2019 Patricia Wiltshire

Titel der englischen Originalausgabe:

Traces. The Memoir of a Forensic Scientist and Criminal Investigator

Erschienen bei Blink Publishing, einem Imprint von Bonnier Books UK Limited, London.

The moral rights of the Author have been asserted.

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2023 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Projektleitung: Ellen Venzmer

Lektorat: Dr. Julia M. Nauhaus, Lübeck

Gestaltung und Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München

Bildnachweis:

Cover und Buchrückseite: © posteriori / shutterstock.com

(Löwenzahn, Fliege, Libelle)

Buchrücken: © CarmenKarin / shutterstock.com

Innenteil: © CarmenKarin / shutterstock.com (Blätter),

© Airin.dizain / shutterstock.com (Fliege)

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

ISBN 978-3-95728-784-7

Elektronisch ist folgende Ausgabn erhältlich:

eBook (epub): ISBN 978-3-95728-799-1

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Menü

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Ich widme dieses Buchmeiner geliebten GroßmutterVera May Tiley geb. Gow,die mir viel Liebe gab und michlehrte, widrigen Umständendie Stirn zu bieten.

INHALT

1 Anfänge

2 Suchen und finden

3 Zeugen der Vergangenheit

4 Unter der Oberfläche

5 Konflikt und Auflösung

6 »Ich habe bewiesen, dass Sie dort waren.«

7 Ein Spinnennetz

8 Schönheit im Tode

9 Freund und Feind

10 Der letzte Atemzug

11 Ein leeres Gefäß

12 Gifte

13 Spuren

14 Wie es endet

Dank

1 Anfänge

Stellen Sie sich für einen Moment vor, Sie würden durch einen Winterwald spazieren. Der Boden unter Ihren Füßen ist weich, und plötzlich fällt Ihnen etwas ins Auge – etwas Unpassendes, nicht ganz Normales in einer Mulde unweit des Trampelpfades. Vielleicht sind Sie hier, um Ihren Hund auszuführen (viele Geschichten beginnen so). Vielleicht stürmt der Hund ins Unterholz und beginnt zu winseln. Während Sie sich durchs Brombeergestrüpp zu ihm vorkämpfen, haben Sie eine böse Vorahnung – und bei einem Blick auf den Waldboden begreifen Sie, weshalb … Denn vor Ihnen, an der Stelle, wo der Hund die Erde wie ein Wahnsinniger aufscharrt, ist die leblose Hand eines menschlichen Körpers freigelegt und hebt sich bleich vom dunklen Waldboden ab.

Es ist noch nicht lange her, da hätte man den Schuldigen an einem solchen Verbrechen vielleicht nur durch Zeugenaussagen oder das Geständnis des Angeklagten identifizieren können. Über unzählige Generationen hinweg konnte eine Leiche, die man flach unter der Erde verscharrt auffand, durchaus ein ewiges Rätsel bleiben, wenn es keine Hinweise auf ihre Identität gab und sie sich nicht mit einem potenziellen Verdächtigen in Verbindung bringen ließ. Aber die Zeiten ändern sich. In der Welt der forensischen Ermittlungen haben sich die Fortschritte in den letzten Jahren beschleunigt.

Wir alle sind vertraut mit der Vorstellung von Fingerabdrücken, sogar auf prähistorischen Töpferwaren hat man welche gefunden. Die alten Chinesen und Assyrer nutzten Fingerabdrücke, um das Besitzrecht an Keramik oder später auch an Dokumenten anzuzeigen. Als Sir William Herschel 1858 Verwaltungsbeamter in Indien war, bestand er darauf, dass Verträge nicht nur mit Unterschriften versehen wurden, sondern auch mit Fingerabdrücken. Im späten 19. Jahrhundert hatte sich die Fingerabdruckanalyse schon fest eingebürgert. Im Jahre 1882 sammelte der französische Anthropologe Alphonse Bertillon für seine wissenschaftlichen Studien zur Variabilität beim Menschen routinemäßig Fingerabdrücke, und 1891 begann die argentinische Polizei damit, von Kriminellen Fingerabdrücke abzunehmen. Das Fachgebiet entwickelte sich rasch weiter, und seit 1911 akzeptierten Gerichte in den Vereinigten Staaten Fingerabdrücke als zuverlässige Methode zur Identifikation von Personen. Und dann lassen wir das 20. Jahrhundert im Schnelldurchlauf vorüberziehen – bis ins Jahr 1980, als NAFIS (National Automated Fingerprint Identification System), die erste computergestützte Datenbank für Fingerabdrücke, in Großbritannien und den USA eingeführt wurde.

In den 1990er Jahren kam es mit der Entwicklung der DNA-Analyse zu einem weiteren Quantensprung in den kriminaltechnischen Ermittlungsmethoden. Wie zuvor der Fingerabdruck ermöglichte es auch diese Methode, das einzigartige Gepräge eines Individuums einzufangen, aber nunmehr auf der Grundlage von Blutproben, Samenflüssigkeit, Körperzellen oder Haarwurzeln. Diese Entwicklung veränderte die Welt der Forensik tiefgreifend, indem sie es viel leichter machte, solche unbekannten Opfer wie unsere Leiche im Winterwald zu identifizieren oder eine Person mit einem Tatort in Verbindung zu bringen. Das waren unzweifelhaft epochale Momente in der Geschichte der Forensik. Mörder, die sonst womöglich ungeschoren davongekommen wären, sind dank dieser Fortschritte hinter Gitter gebracht worden. Vergewaltiger, die ihr Treiben sonst fortgesetzt hätten, wurden gefasst und kamen hinter Schloss und Riegel. Auch Unschuldige, die man ungerechtfertigterweise angeklagt hatte, konnten nun von den ihnen zur Last gelegten Verbrechen freigesprochen werden. Schritt für Schritt und mit vielen zeitweiligen Rückschlägen näherte sich die Polizeiarbeit der Wahrheit. Aber Fingerabdrücke sind am Schauplatz eines Verbrechens nicht immer zu finden, besonders dann nicht, wenn dieses Verbrechen von jemandem verübt wurde, der um die Möglichkeiten der Forensik wusste und Handschuhe trug oder seine Spuren verwischte. Und auch DNA-Beweisstücke sind nicht so allmächtig oder allgegenwärtig, wie manch einer denken mag; es kann sein, dass der Täter am Schauplatz des Verbrechens überhaupt keine Spuren hinterlassen hat – weder ein Haar noch Blut oder Sperma und auch keine anderen Körperflüssigkeiten oder Gewebeteile. Dann ist es schlichtweg unmöglich, seinen genetischen Fingerabdruck zu erstellen.

Und trotzdem … Sollte es nicht noch einen anderen Weg geben, um Menschen und Orte miteinander zu verbinden, Unschuldige zu entlasten und die Schuld des Täters aufzuzeigen? Was wäre, wenn es neben Fingerabdrücken und DNA-Indizien noch andere an den Opfern zurückgelassene Spuren gäbe, die eine bestimmte Version der Ereignisse untermauern und andere Versionen unwahrscheinlich machen? Und was, wenn diese Spuren so allgegenwärtig wären, dass kein Krimineller sie jemals verwischen könnte, egal wie sorgsam er darauf achtet, der Forensik keine Angriffsfläche zu bieten?

Malen Sie sich jetzt noch einmal aus, Sie wären in jenem Winterwald. Wenn Sie sich durchs Brombeergerank und die überhängenden Zweige zwängen, um zur Leiche zu gelangen, reibt der Ärmel Ihres Mantels gegen eine Eiche und nimmt dabei die mikroskopisch kleinen Sporen und Pollen auf, die sich in den Rissen der Baumrinde abgelagert haben. Wenn Sie den Hang hinabklettern, nehmen Ihre Stiefel Schlieren und Krümel vom Boden auf, und darin sind die Pollen und Sporen eingeschlossen, die in den letzten Tagen oder auch in vergangenen Jahreszeiten auf dieses Stückchen Wald hinabgeregnet sind. Diese Bodenprobe wird auch eine Vielzahl der Lebewesen enthalten, die den Waldboden zu ihrer Heimat erkoren haben – ebenso wie kleine Überreste von Organismen, die einst hier gelebt haben.

Wenn Sie sich niederkauern, um Gewissheit über Ihren Fund zu erlangen, streifen Ihre Haare durch Gezweig und Laubwerk, das über der Leiche hängt. Dabei bleiben an Ihnen alle möglichen Pollen und Sporen hängen und anderes winziges Material, das auf die Oberfläche der Zweige gefallen ist. Ihre Spuren in der Landschaft – die Fußabdrücke, die Sie hinterlassen, die Haare und Fasern, die Sie verlieren – könnten leicht verdeckt oder übersehen werden. Aber was ist mit dem Abdruck, den die Landschaft an Ihnen zurückgelassen hat? Wenn nun jemand imstande wäre, diese mikroskopisch kleinen Spuren zu erfassen und zu deuten? Wenn er sich ein Bild von diesem oder einem anderen, möglicherweise noch weiter entfernten Ort machen könnte, indem er untersucht, welchen Stempel er auf Ihrem Körper und Ihrer Kleidung hinterlassen hat?

Stellen Sie sich nun vor, Sie wären der Mörder. Welche Spuren der Landschaft, in der Sie Ihr Opfer zurückgelassen haben, tragen Sie auf Schritt und Tritt unwissentlich mit sich?

An dieser Stelle komme ich ins Spiel, und meine eigene Geschichte beginnt sich mit der Geschichte der forensischen Ermittlungen zu verzahnen. 1994 war ich Umweltarchäologin am Londoner University College. Dann wurde alles anders.

Es ist jetzt beinahe fünfzig Jahre her, vielleicht sogar länger, dass ich ganz offiziell damit begann, die Welt der Pflanzen zu studieren. In Wahrheit reicht meine Liebesgeschichte mit der Natur aber viel weiter zurück. Schon als kleines Mädchen wollte ich, egal wie viel ich über Naturdinge gelesen hatte, immer noch mehr wissen. Es gibt immer noch so viel Neues zu erkunden – darin geht es mir heute nicht anders als damals. Es ist frustrierend, weil man den Gipfel niemals erreicht. Niemand erreicht ihn. Der Aufstieg ist verdammt hart und endet nie.

Ich habe einen großen Teil meines Berufslebens damit zugebracht, mich über Mikroskope zu beugen und Probe für Probe zu untersuchen. Ich habe versucht, die Mischung von Palynomorphen zu bestimmen – winzigen Teilchen wie Pollenkörnern und Pilzsporen –, die rot angefärbt, in Glyceringelatine eingeschlossen und auf meine Glasplatten gestrichen wurden. Für einen Laien mag es so aussehen, als würde ich nur auf ein Chaos aus verschieden geformten Tropfen und Klecksen schauen, aber für einen Palynologen – also jemanden, der Pollen und andere Palynomorphe erforscht –, stellen sie Elemente aus der facettenreichen Bandbreite der Natur dar.

Fast jedem, der durch ein Hochleistungsmikroskop auf ein Pollenkorn blickt, wird die merkwürdige und komplexe Schönheit jener winzigen Welt auffallen, die sich da vor ihm enthüllt. Das eine Pollenkorn ist vielleicht eine mit ganz kleinen Löchern überzogene Kugel, ein anderes könnte wie eine Hantel geformt sein und eine Hülle haben, die mit fein abgestuften Öffnungen durchlöchert ist. Nicht nur, dass die Oberfläche eines Pollenkorns verschiedene Arten und Kombinationen von Löchern und Furchen haben kann, die ihrerseits von unterschiedlicher Größe und Gestalt sein können – sie ist manchmal auch mit kompliziert gebauten Kämmen von Wirbeln, Streifen oder Knittern versehen oder mit Netzwerken aus kleinen Säulen, die die Außenhülle markieren. Es finden sich auch einfache Klumpen; die wiederum können Stacheln haben, und selbst die Stacheln können noch einmal mit kleineren Stacheln ausgestattet sein. Die Einfachheit beziehungsweise Komplexität der jeweiligen Form ermöglicht es uns, diese kleinen Hervorbringungen des männlichen Zapfens einer Konifere oder des Staubbeutels einer Blütenpflanze zu identifizieren und zu gruppieren.

Möglicherweise werden Sie diese klitzekleinen und oftmals schönen Körnchen, die für die Erhaltung der Art so wesentlich sind, bestaunen und bewundern. Vielleicht werden Sie sogar von einer romantischen Fantasie erfasst. Ich aber bin ziemlich pragmatisch und nüchtern veranlagt – sehr zum Leidwesen meines romantischen Ehemanns. Ich halte mir zugute, dass ich »die Dinge sehe, wie sie sind«, und danach strebe, alle kognitiven Verzerrungen bei der Deutung des Gesehenen auszuschalten. Das liegt daran, dass in meinem Beruf diese Körner viel mehr sind als ein Stadium im Lebenszyklus einer Pflanze oder eines Pilzes. Für mich sind sie das Fundament jener Geschichten, die ich für die Polizei entwirre. Sie sind verräterische Zeichen, die enthüllen können, dass jemand nicht dort war, wo er gewesen zu sein behauptet. Sie flüstern mir ins Ohr, dass jemand lügt oder die Wahrheit verdreht. Sie sind die Fäden, die, einmal miteinander verwoben, eine vernünftige Erklärung für das Was und Wo, das Wer und Wie liefern können. Wenn ein Verbrechen begangen wurde, besteht meine Rolle darin, die Möglichkeiten, die von den geborgenen Pollenkörnern, Pilzen, Flechten und Mikroorganismen aufgezeigt werden, richtig zu lesen und den anderen darzulegen. Ich muss die Tatsachen aus der Welt der Natur prüfen und die einzelnen Teile zusammenfügen.

Bei einer früheren Gelegenheit habe ich mich als professionelle Puzzlespielerin beschrieben, und diese Analogie ist von der Wahrheit nicht weit entfernt. In diesem Beruf kommt es auf Genauigkeit an, aber es kann ein mühseliges Unterfangen sein, Pollenkörner oder Sporen voneinander zu unterscheiden. Man versucht immer, akkurat zu sein, und wenn es irgendwelche Zweifel gibt, ist es unabdingbar, Referenzmaterial von korrekt identifizierten Pflanzen zu verwenden. Irrtümer könnten dazu beitragen, dass jemand grundlos seine Freiheit verliert oder aber trotz seiner Schuld auf freiem Fuß bleibt. Und so verbringe ich viele lange Stunden meines Lebens damit, das unendlich Kleine zu erforschen und zu versuchen, ein bestimmtes Körnchen von einem ähnlichen zu unterscheiden. Das ist alles andere als unkompliziert.

Eine alte Pflanzenfamilie wie die Rosengewächse (Rosaceae) hat stets Pollenkörner mit drei Furchen, drei Poren und einer Oberfläche mit streifigen Wirbeln. Die Muster der verschiedenen Arten können fast ineinander verschmelzen, sodass es schwierig ist, eindeutig zu sagen, ob man Pollen von Brombeere, Rose oder Weißdorn vor sich hat, während es ziemlich einfach ist, diese Gruppe von einer anderen zu unterscheiden, in der sich Schlehe, Pflaume und Kirsche finden. Dort nämlich sind die streifigen Wirbel markanter und leichter erkennbar. Vielleicht hat sich das Verbrechen in einem Kirschgarten ereignet, aber – Hand aufs Herz – man könnte niemals behaupten, dass die Pollen, die man da unter dem Mikroskop hat, ganz sicher von einem Kirschbaum stammen; es gibt einfach zu wenige unverwechselbare Merkmale, um sie beispielsweise von Schlehenpollen zu unterscheiden. Sporen von »niederen« Pflanzen wie etwa Moosen haben sogar noch weniger charakteristische Unterscheidungsmerkmale, sodass man sie schlecht auseinanderhalten kann. Pflanzen, die sich erdgeschichtlich später herausbildeten, beispielsweise die Farne und ihre Verwandten, haben schon mehr Unterscheidungsmerkmale, wenn auch nicht so viele wie die Nadelbäume. Diese wiederum haben weniger als die Blütenpflanzen. Es ist eine verwirrende Welt mit fast unendlichen Möglichkeiten, und doch müssen wir uns irgendwie den Weg hindurchbahnen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit sind Sie noch nie jemandem aus meinem Beruf begegnet, vielleicht haben Sie sogar noch nie davon gehört. Vor vierzig Jahren hat es ihn noch nicht gegeben. In den meisten Ländern der Erde gibt es ihn noch immer nicht. Obwohl ich bisweilen unter anderen Bezeichnungen bekannt bin – ein Spitzname, der mir sofort einfällt, ist »die Schnodderlady« (nach einer von mir entwickelten Methode, Pollenkörner aus den Nasenhöhlen der Toten zu erlangen) –, sehe ich mich zuallererst als »biologische Forensikerin«, als jemanden, der Aspekte der natürlichen Welt verwendet und interpretiert, um Ermittlern bei der Aufklärung von Verbrechen zu helfen. Wenn Leichen flach im Waldboden verscharrt, in einem Kohlenkeller in der Vorstadt mumifiziert oder mit einem Bagger aus einem Marschlandflüsschen ans Tageslicht gehoben worden sind, werde ich an die Fundstelle gerufen, um die natürliche Umgebung zu untersuchen und Indizien für das zu finden, was an jenen schicksalhaften Tagen geschehen sein könnte. Wenn Mörder ihr Verbrechen gestanden haben, aber keine Leiche vorliegt, beauftragt man mich damit, jene Spuren zu identifizieren, die die Natur an der Kleidung des Täters hinterlassen hat, an seinen Schuhen, seinem Werkzeug, seinem Auto. So lässt sich vielleicht herausfinden, wo ein Opfer vergraben oder auch nur abgeladen und flüchtig den Blicken entzogen wurde. Im Falle von Gewalt- oder Sexualverbrechen bittet man mich zu untersuchen, inwiefern die vielsagenden natürlichen Spuren von Pollen, Pilzsporen, Boden, Mikroorganismen und anderem in Richtung Schuld oder Unschuld weisen können, indem sie das Opfer oder den Angeklagten in einer ganz bestimmten Landschaft verorten. Und obgleich ich nicht die Erste war, die Botanik und Zoologie dazu nutzte, der Polizei bei der sicheren Identifizierung eines Täters zu helfen und eine spätere Verurteilung vorzubereiten, ist es seit jenem denkwürdigen Tag im Jahre 1994 doch mein Lebenswerk gewesen, auf diesem Gebiet in Großbritannien Pionierarbeit zu leisten, es in neue Richtungen zu lenken und für meine Nachfolger die besten Verfahrensweisen zu definieren.

Das also ist mein Terrain: Ich agiere an der Schnittstelle zwischen der Welt des Verbrechens und der Welt der Natur.

Wegen der ermüdenden Häufigkeit von Fernsehsendungen, die sich mit Verbrechen beschäftigen, scheinen sich viele Menschen für das Thema Tod brennend zu interessieren und beträchtliches Wissen auf diesem Gebiet angesammelt zu haben. Sie haben auf dem Bildschirm Hunderte nachgemachte Leichen gesehen und sind, was den Anblick toter Körper betrifft, inzwischen womöglich unempfindlich geworden. Wenn man aber regelmäßig mit dem Tod zu tun hat, wird man niemals wirklich desensibilisiert, und viele TV-Produktionen wirken einfach nur trivial, albern und auf ganz unterschiedliche Weise fehlerhaft.

Meiner Ansicht nach steckt in den Köpfen vieler Menschen die absurde Annahme, der Tod sei nur ein Etappenziel auf der langen Reise, auf der sich alle unsere ewigen Seelen befinden. Ich teile diesen Glauben nicht. Vor gar nicht so langer Zeit, in einer Ära, die mir von meinen kindlichen Kirchgängen noch gut in Erinnerung ist, brauchten die Leute solche Glaubensinhalte, damit sie der größten aller Wahrheiten ins Auge blicken konnten – dass unsere Körper nämlich nichts als Mineralien, Energie und Wasser sind. Dass am Ende der Geschichte die Lebenskraft Energie nicht mehr fließen wird und unsere Körper, die unseren Geist und die Erinnerungen an alles, was wir sind, enthalten, in ihre Bestandteile zerfallen und wieder in die große Rührschüssel der natürlichen Elemente zurückbröseln, aus denen alles Leben hervorgegangen ist. Die meisten von uns geben nicht gern zu (oder haben vielleicht nie einen Gedanken daran verschwendet), dass die Komponenten, aus denen unser Körper und unser Geist gemacht sind – also die grundlegenden Dinge, von denen wir glauben, dass sie uns zu uns selbst machen –, einst zu etwas anderem gehört haben und dass sie, wenn wir nicht mehr da sind, einem anderen Verwendungszweck zugeführt werden. Aber das stört oder bedrückt mich nicht. Für mich ist das die höchste Form von Recycling und damit Reinkarnation, und es wird uns allen widerfahren, egal ob wir religiös sind oder nicht. So ist eben die Natur, und wenn manche es auch kalt und unbarmherzig finden mögen, liegt darin doch mehr Schönheit als in allen fantasiereichen und unmöglich zu beweisenden Geschichten über das ewige Leben im Jenseits.

Das einzige Leben nach dem Tod ist das, welches aus den Bestandteilen unserer Körper hervorgeht, die durch unser Sterben für die Welt freigegeben werden, sodass sie erneut genutzt werden können – immer und immer wieder. Denken Sie sich Ihren Körper als eine Fontäne, die ihr Wasser aus einer Zisterne bezieht. Stellen Sie sich vor, dieses Wasser spritzt in einem bestimmten Muster empor, das vom Druck und von der Beschaffenheit des Mundstücks aufrechterhalten wird. Die Fontäne steht für Ihren Körper, für Ihr Leben selbst, aber wenn man den Druck wegnimmt, wird der Wasserstrahl in sich zusammenfallen und zurück in die Zisterne fließen. Das Wasser entspricht der von Ihnen aufgenommenen Nahrung und Flüssigkeit, die Ihnen Energie liefert und Form verleiht. Diese Form ist vergänglich, und nach ein paar kurzen Augenblicken mit prachtvollen Kaskaden verwirbelt sich der Wasserstrahl vielleicht, oder es tröpfelt nur noch, und am Ende wird das Wasser unweigerlich ins Reservoir zurückkehren. Wird das Mundstück ausgetauscht, entsteht ein Wasserstrahl von anderer Gestalt – ein anderes »Leben« bildet sich. Unsere Körper sind wie die Form der Fontäne – Energie und Material gehen in sie ein und fließen wieder hinaus. Das »Wasser«, das uns zu dem macht, was wir sind, wird stets ins Auffangbecken zurückfließen.

Nein, es gibt kein Leben nach dem Tod – aber immer Leben im Tod. Wenn Sie lebendig sind, ist Ihr Körper eine Unmenge wunderbar ausbalancierter Ökosysteme, und im Tod ist er das auch. Ihr toter Körper ist ein üppiges und pulsierendes Paradies für Mikroben, ein Schlaraffenland für Nahrung suchende Insekten, Vögel, Nager und andere Tiere; manche werden sich Ihrer Leiche nähern, um in Ihren sterblichen Überresten zu schwelgen, andere werden sich einstellen, um sich – ein wenig wie das fahrende Volk und die Händler, die einem Goldrausch hinterherziehen – an den Aasfressern selbst schadlos zu halten. Und auch das ist für einen biologischen Forensiker wichtig: Die spezielle Weise, in der ein Körper zersetzt wird, die Arten von Aasfressern, die sich an ihm einfinden, sowie ihr Tempo und die Häufigkeit ihres Auftretens können nämlich entscheidende Teilchen für das große Puzzle des Wer, Was, Wo und Wie liefern. Maden und Aaskäfer, Fleischfliegen und Wespen, Mäuse und Ratten, aasfressende Vögel wie Raben und Krähen, Füchse und Dachse, Regenwürmer, Nackt- und Gehäuseschnecken. Alle haben sie in der Geschichte meiner Arbeit ihre Rolle zu spielen.

Es ist nun fast an der Zeit, dass wir uns auf den Weg machen. Aber zunächst noch ein Wort zu der Reise, die vor uns liegt.

Dieses Buch ist keine Lebensgeschichte, denn die Geschichten unserer Leben sind von Natur aus zu umfangreich und zu verblüffend, als dass man sie auf die Seiten eines einzigen Bandes zwängen könnte. Es ist auch kein Lehrbuch, das Ihnen beibringen würde, wie man biologischer Forensiker wird. Der Bereich der biologischen Forensik ist sehr ausgedehnt und interdisziplinär. Er beinhaltet Aspekte der Botanik, der Palynologie (das Studium von Pollen, Sporen und anderen mikroskopisch kleinen Gebilden), der Mykologie (das Erforschen von Pilzen), der Bakteriologie, Entomologie (das Insektenstudium) und Parasitologie, der Anatomie von Mensch, Tier und Pflanze, der Wissenschaft vom Boden und den Sedimenten, der Statistik und noch vieler anderer »-logien«. Man muss die Strukturen, die Lebensweisen und die Verbreitung großer und kleiner Organismen begreifen, aber auch ihr Wechselspiel mit der physikalischen und chemischen Umgebung und mit anderen Organismen. Lernen ist eine lebenslange Aufgabe, und das richtige Ergebnis zu finden (oder das wahrscheinlichste, denn auf diesem Gebiet gibt es nie absolute Gewissheit), hat oft mit einer Art von Intuition zu tun, einem Gefühl, das sich auf langer Erfahrung aufbaut, auf der jahrzehntelangen ganzheitlichen Betrachtung der Natur und der Nutzung empirischer Wissenschaften, um Antworten zu erlangen. Aber ein Buch über den Tod ist es auch nicht.

Vor toten Körpern ist mir nicht bange. Leichen haben für mich aufgehört, Menschen zu sein; sie sind ein Depot von Informationen, in dem die Natur Hinweise hinterlegt hat, denen wir nachgehen können. In meiner Laufbahn habe ich nur sehr selten meinen Schutzschirm fortgeschoben und mich von den Toten in den Leichenkammern anrühren lassen. Zum ersten Mal geschah das bei einer 22-jährigen Prostituierten, die man tot in einem Wald aufgefunden hatte. Sie hinterließ drei Kinder. Die junge Frau tat mir unglaublich leid, weil sie so viel durchgemacht hatte. Mit sechzehn war sie von ihren Eltern verstoßen worden, was sie dazu zwang, sich allein durchs Leben zu schlagen. Sie wurde auf hinterhältige Weise von einem Zuhälter kontrolliert; er machte sie absichtlich von Kokain abhängig und ließ sie dann arbeiten, damit sie ihn und ihre eigene Drogensucht finanzierte. Sie brachte drei Kinder zur Welt und wusste bei keinem, wer der Vater war, und doch wollte sie sie nicht fortgeben. Ihr magerer, ungepflegter kleiner Körper zeugte von Vernachlässigung über all die Zeit hinweg, in der sie Männern dienstbar war, um ihre Kinder behalten zu können und mit den Resten ihres Daseins klarzukommen. Ich beweinte diese junge Frau, als sie entblößt und kalt auf dem Edelstahltisch der Leichenhalle lag – nicht, weil sie tot war, sondern wegen all der Kämpfe, die sie in ihrem armseligen Dasein ausgefochten, und wegen all des Elends, das sie durchlitten hatte. Ihre Treue zu den Kindern aber war unerschütterlich geblieben. Dafür bewunderte ich sie zutiefst.

Ein anderer Fall, der mich sehr bewegte, war der Mord an einem 15-jährigen skandinavischen Mädchen. Es wirkte so makellos, wie es dort auf den Fliesen lag, nackt unter den grellen Lampen der Leichenhalle. Es war an einem schönen Sommertag in einem Waldgebiet umgebracht worden, nur wegen der rasenden Begierde eines Mannes und wegen seiner Obsession, es nackt zu sehen, während er im Gras kniete und masturbierte. Seine physische Vollkommenheit machte mich tief betrübt, und ich dachte an das Leben, das vor ihm gelegen hätte. Das Leben, das es hätte haben sollen, nun aber nie bekommen würde.

Ich habe oft auf den Tod geblickt – nicht nur auf den jener Menschen, deren Geschichten ich nachträglich zusammenzupuzzeln versuchte, sondern auch auf den meiner eigenen Angehörigen. Wie jeder von uns habe auch ich meine Eltern verloren, aber schon früher – bevor ich darauf vorbereitet war – verlor ich die Großmutter, die einen großen Anteil an meiner Erziehung hatte. Und als ich selbst noch jung war, erlebte ich mit, wie meine Tochter, noch keine zwei Jahre alt, verstarb. Meine Fantasie sieht sie noch immer als kleines Mädchen in einem Bilderbuch von Margaret Tarrant, wo das Leben als rundum sonnig und perfekt dargestellt ist. Aber meine pragmatische Seite begreift diese Fantasie. Ich bin dem Tod selbst nahe gewesen, und ich sehe ihn als das, was er ist: blind und leidenschaftslos, einer von vielen Prozessen der Natur und genauso unbegreiflich wie der Rest.

Betrachten Sie dieses Buch als eine Reise durch die Welt, in der ich tätig bin, und mich selbst als Ihre Reiseführerin durch jenes faszinierende Grenzland, in dem Natur und Tod miteinander verwoben sind. Unterwegs werde ich Sie zu jener Hecke in der Grafschaft Hertfordshire führen, wo mir zum ersten Mal die Augen geöffnet wurden, was das Potenzial von Pflanzen für eine kriminalistische Ermittlung betraf – ein Augenblick, der meine akademische Sicht auf die Natur veränderte und mir die neuen Chancen aufzeigte, die sich dadurch boten.

Ich habe an Tatorten stundenlang neben madenübersäten Toten gehockt und war in Tennessee an dem als Body Farm bekannten Ort, wo man Leichen zum Verwesen auslegt, damit wir etwas daraus lernen können. Wir werden jene Wohnung in Dundee betreten, in der blutgetränkte Teppiche und Kissen, die von grauem und braunem Schimmel dick überzogen waren, entscheidende Beweisstücke lieferten, um den Todeszeitpunkt eines Mordopfers bestimmen zu können. Wir werden durch dichte Forste und über einsames Heideland gehen, werden auf eine Leiche stoßen, die man auf einem städtischen Kreisverkehr zurückgelassen hat, und dann im Herzen Südenglands schamanischen Ritualen begegnen, bei denen die halluzinogenen Eigenschaften von Giftpflanzen ausgenutzt werden. Weiter führt unser Weg zu den flachen Grabmulden allzu vieler vermisster junger Frauen, deren Angehörige sie nie wieder zu Gesicht bekamen. Unterwegs werde ich Sie zu Streifzügen in meine eigene Geschichte mitnehmen: zu meinen Lieben, meinen Verlusten und dem engen kleinen Tal in Wales, wo meine Aufmerksamkeit für die Wunder und die Vielfalt der Natur erwachte. Und wenn ich bei Ihnen am Ende auch nur einen kleinen Teil des Staunens ausgelöst habe, das mich bei der Betrachtung von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen immer wieder überkommt, und Ihnen vielleicht eine neue Sicht darauf mitgegeben habe, wie wir Menschen innerhalb der Natur operieren und nicht irgendwo neben ihr – dann werde ich meine Arbeit als Erfolg betrachten.

Es ist eine Tatsache, dass zu wenige von uns wirklich begreifen, wie sehr wir mit der Welt der Natur verknüpft sind. Die große Mehrheit von uns lebt inzwischen in Städten und Vororten, doch egal ob wir in der Großstadt wohnen oder in abgelegenen Winkeln des Landes, die Natur ist überall. Wir mögen die invasivste Spezies sein, die je über diesen Planeten spaziert oder gekrabbelt ist, aber wir teilen ihn uns mit mehr als einer Viertelmillion Pflanzenarten, mit 35 000 Arten von Säugetieren, Vögeln, Fischen und Amphibien sowie – den besten neueren Schätzungen zufolge – mit etwa drei Millionen Pilzarten und womöglich der sagenhaften Zahl von dreißig Millionen unterschiedlicher Insektenspezies. Und dabei haben wir die Myriaden unbekannter, mikroskopisch kleiner Arten, auf die sich die biologische Forensik in so breitem Maße stützt, noch nicht einmal erwähnt. Mag es auf diesem Planeten auch sieben Milliarden Menschen geben – auf jeden von uns kommen mehr als 200 Millionen Insekten. Wenn Sie die Dinge auf diese Weise betrachten, ist es für Sie vielleicht keine Überraschung, dass die Natur uns auf Schritt und Tritt prägt.

Heutzutage ist es Mode zu sagen, wir würden in einem Überwachungsstaat leben. Unsere Bewegungen können aber nicht nur mit Kameras nachverfolgt werden. Ich kann Ihnen sagen, an was für einem Ort Sie gewesen sind, indem ich mir die winzigen Partikel an Ihren Schuhen anschaue. Anhand der Pollen auf Ihren Schuhen kann ich sehen, auf welchem Wege Sie nach Hause spaziert sind – ob durch einen Wald voll blühender Hasenglöckchen oder durch einen Garten. Ich könnte Ihnen erzählen, wo Sie mit Ihrer Freundin herumgehangen haben, an welchem Ende eines Feldes Sie warteten, an welcher Wand Sie lehnten, als Sie nach Ihrem Freund Ausschau hielten. Und falls Sie zu den Unglücklichen zählen, die als Leichen zu mir kommen, könnte ich Ihren Angehörigen sagen, wie, wo und wann Sie gestorben sind. Dazu würde ich die Schimmelflecken messen, die auf Ihrer Haut und Ihrer Kleidung wachsen, und die Pollen und Sporen in Ihrem Haar, Ihren Sachen und an Ihren Schuhen untersuchen. Ich kann Ihnen sagen, wer Ihre Liebste entführt hat – und zwar anhand des Pollens, der sich an seine Stiefel heftete, als er sie fortschleppte, um sie notdürftig zu verscharren. Indem ich von den Schleimhäuten, die die Nasenhöhlen auskleiden, Pollen, Sporen und andere winzige Teilchen gewinne, kann ich Ihnen sagen, ob jemand lebendig begraben wurde oder über die Oberfläche des Grabes prustete, während er erwürgt wurde. Die Natur hinterlässt Indizien an unserem ganzen Körper – außen wie innen. Wir alle lassen in der Umgebung Spuren zurück, aber auch die Umgebung hinterlässt ihre Spuren an uns, und obwohl die Natur manchmal dazu gezwungen werden muss, wird sie dem, der an der richtigen Stelle sucht, am Ende doch unweigerlich ihre Geheimnisse preisgeben.

2 Suchen und finden

Es war einmal eine junge Frau, die von der Bildfläche verschwand. Die Welt, in der wir leben, kennt zu viele Geschichten, die so beginnen, aber eine ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Joanne Nelson verschwand am Valentinstag 2005. Nach allem, was man hörte, war sie aufgeweckt und lebhaft. Sie wohnte in Hull, East Yorkshire, und träumte davon, die Welt zu bereisen. Sie hatte rotblondes Haar, das zu einem Bob geschnitten war und fast bis an die Augen reichte. Ihre Kollegen im örtlichen Jobcenter hatten keine Ahnung, wo sie abgeblieben sein konnte. Soweit ihre Eltern wussten, wurde sie von ihrem Freund vergöttert.

Von alledem wusste ich natürlich nichts. Ich hörte zum ersten Mal vom Valentine Girl, als es schon elf Tage vermisst war und die Polizei mich anrief. Sie baten mich, bei der Suche nach Joanne zu helfen.

So beginnt es für mich oft: mit dem unerwarteten Anruf, der mich aus dem Bett reißt und hinaus auf die Autobahn, an irgendeine Stelle, wo die Polizei an einem Tatort wartet. Manchmal stehe ich bei Morgengrauen schon an einem Entwässerungsgraben oder einem einsamen Autobahnparkplatz, schaue mir eine Leiche an und nehme Proben von den sterblichen Überresten. Wenn der Anruf eingeht, kann ich aber genauso gut in meinem häuslichen Arbeitszimmer sitzen, umgeben von Büchern, Fachaufsätzen, Zeitungen und Referenzmaterialien, mit meiner Katze auf dem Schoß und meinen Mikroskopen im Nachbarraum, bereit zum Handeln. Ein andermal bin ich vielleicht gerade im Labor oder lausche auf einer wissenschaftlichen Konferenz einem Vortrag. Dann folgen die vertrauten Fragen rasch aufeinander: »Können Sie uns helfen? Was können Sie uns dazu sagen, Pat? Was können Sie aufzeigen?« Die Polizei versteht oft nur zum Teil, was ich tun kann und welche Fähigkeiten ich mitbringen muss, um die von der Natur zurückgelassenen Spuren aufzufangen und ein Szenario der Möglichkeiten zu schaffen – mit all jenen »so könnte es gewesen sein« und »vermutlich war es so und so«.

Diesmal wusste die Polizei nur eines mit Gewissheit: dass Joanne Nelson tot war. Sie war bereits vor elf Tagen gestorben, erwürgt von ihrem Liebhaber. Ihr Mörder dachte, er wäre schlau und raffiniert genug gewesen, um die Welt zum Narren zu halten. Er erschien vor der Kamera und flehte inständig, seine Freundin möge doch bitte zurückkehren. Er gab den Zeitungen Interviews und stand in Tränen aufgelöst neben Joannes nichs ahnenden Eltern. Aber er beweinte damit seine eigene Zwangslage und nicht Joannes Schicksal.

Mörder können eitel und überheblich sein; oftmals kehren sie an die Stätte ihrer Mordtat zurück. Für viele Außenstehende ist das ein Zeichen von Bösartigkeit: Es treibe den Verbrecher zurück an den Tatort, weil er sich dort noch einmal an seiner Tat weiden möchte. Aber vielleicht geht er auch nur hin, um zu überprüfen, dass er keine handwerklichen Fehler gemacht hat, oder es zieht ihn zwanghaft zu dem zurück, was er getan hat. Joannes Mörder allerdings brauchte kein zweites Mal an den Tatort zu fahren, denn es war in seiner eigenen Wohnung geschehen. Er hatte sie in der Küche ihres gemeinsam bewohnten Hauses erwürgt. Nachdem sie ihm mit lästigen Haushaltspflichten auf den Geist gegangen war, hatte er sie dort mühelos überwältigt. Es hatte ihm einfach gereicht; die Wut war in ihm angeschwollen, und er hatte die Beherrschung verloren. Wenn ein Verbrechen zu Hause passiert, sind die Zugangsmöglichkeiten für einen forensischen Ermittler oftmals begrenzt. Wohnungen sind voll von unseren Fingerabdrücken und unserer DNA, und die Oberflächen darin sind bedeckt von Fasern aus unseren Kleidungsstücken. Joannes Haus war durchkämmt worden, und man hatte nicht viel gefunden, aber zum Glück war die Wahrheit bereits ans Tageslicht gekommen.

Eine Zeitlang war es Joannes Freund gelungen, die Fassade der Unschuld aufrechtzuerhalten. Er erzählte aller Welt, Joanne habe ihn verlassen. Er bat sie flehentlich, ins gemeinsame Zuhause zurückzukehren. Aber das Geheimnis war zu schrecklich, als dass er es für sich hätte behalten können, und als er sich einem Freund anvertraute und dieser Freund es wiederum seiner Mutter erzählte, kam die Wahrheit heraus. Paul Dyson gestand den Mord, für den er die Täterschaft zuvor abgestritten hatte. Die Polizei hatte ihren Mann, und doch gab es ein Problem: Die Leiche fehlte.

Dyson konnte ein Auto lenken, aber den Führerschein hatte er nie gemacht. Die Straßen von Hull kannte er nur so ungefähr, und überhaupt sah dort eine Straße so ziemlich wie die andere aus. In der Nacht, in der er Joanne ermordete, rollte er ihre Leiche in eine Plastikplane ein und schaffte sie mit dem Auto so weit wie möglich fort von seinem vertrauten Territorium. Verstohlen bahnte er sich einen Weg durch die Nacht, über unbekannte schmale Landstraßen, bis er eine einsame Stelle fand, an der er Joanne vergraben konnte. Jetzt, mehr als eine Woche danach, hatte er nur noch vage Erinnerungen an diesen Ort. Es hätte an allen möglichen Ecken der Grafschaft Yorkshire sein können – überall dort, wo er mit weniger als einer halben Tankfüllung hingekommen sein konnte. Das Gebiet, das ich in Betracht ziehen musste, war sehr weiträumig.

»Was können Sie für uns tun, Pat?«, fragte mich der Polizist. Und meine Antwort fiel so aus wie immer: »Nun ja, was genau wollen Sie wissen, und welche Beweisstücke können Sie mir vorlegen, damit ich versuchen kann, Ihnen Antworten zu liefern?«

Meine Arbeit beginnt oft mit Dingen, die Ihnen vielleicht banal vorkommen, und so war es auch hier: Die Polizei stellte mir die Jeans des Mörders zur Verfügung, dazu ein Paar Sportschuhe von Nike und ein anderes von Reebok sowie eine Grabegabel, die man im Haus seiner Eltern gefunden hatte. Paul Dyson hatte Joannes Leiche in ihrem eigenen Vauxhall Estate fortgeschafft, was bedeutete, dass Beweismittel in Gestalt von Pollenkörnern, Sporen oder anderen winzigen Palynomorphen aus dem Fahrzeug geborgen werden konnten. Ich erbat mir die Fußmatten vom Fahrer- und Beifahrersitz, die beiden Pedalgummis, die Matte vom Kofferraum und den Frontspoiler von der Karosserie. Solche Stücke sind mein Kapital – die Schuhe, die jemand anhatte, als er den toten Körper seiner oder seines Geliebten fortschleppte, um ihn irgendwo zu vergraben; das Material, in das eine noch warme Leiche eingehüllt wurde; Hose und Jacke des Täters. All dies ist von den Tatortermittlern vorschriftsgemäß eingesammelt, erfasst, verzeichnet und in Asservatenbeuteln versiegelt worden.

»Was können Sie aus solchen Dingen ablesen?«, fragen Sie jetzt vielleicht, und auch viele Polizisten fragen sich das noch immer. Einerseits ist die Antwort ganz einfach: Edmond Locard (1877–1966), der französische Kriminologe und Pionier der forensischen Wissenschaften, wird mit dem Grundsatz »jeder Kontakt hinterlässt eine Spur« in Verbindung gebracht. Er ist als »Locard’sche Regel« in die forensische Lehre eingegangen. Als Arthur Conan Doyle den Kriminologen einmal in Lyon besuchte, war er sehr beeindruckt. Locard postulierte Folgendes: Jedes Mal, wenn ein Verbrecher einen Tatort betritt, bringt er etwas mit, das er dort zurücklässt, und nimmt auch etwas vom Tatort mit fort. Beides kann als, wie wir es nennen, »Spurenmaterial« verwendet werden, egal ob es sich um DNA, Fingerabdrücke, Haare oder Fasern handelt – oder um die Pollen und Sporen, um die sich meine eigene Arbeit dreht. Diese Dinge helfen uns, eine Beziehung zwischen Menschen, Dingen und Orten herzustellen, und gelegentlich liefern sie einen Kontext für die Tatzeit.

Doch andererseits zeigt ein Fall wie der von Joanne Nelson sehr gut, wie sich die Arbeit des biologischen Forensikers von anderen forensischen Tätigkeiten unterscheidet, etwa von der DNA-Analyse. Natürlich versuche ich, aus den Beweisstücken, die man mir zur Verfügung gestellt hat, Spurenmaterial zu gewinnen, aber das ist nur die Vorstufe zum Eigentlichen, denn in Wahrheit suche ich ein Bild. Das Bild eines Ortes, der halb imaginär ist und halb real. Ich nehme so viele Informationen wie möglich auf und male mir damit das geistige Bild eines Ortes, den ich nie besucht habe und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch nie besuchen werde. Ich nenne dieses Bild den »Schnappschuss von der Örtlichkeit« – ein Konstrukt der Einbildungskraft, dem aber dort draußen in der Wirklichkeit etwas entspricht. Diese Abbildung repräsentiert etwas Wirkliches, einen Ort, den ich ins Leben rufen kann, indem ich die Pollen, Sporen und anderen mikroskopisch kleinen Dinge, die ich aus den Beweisstücken gewinne, sorgfältig untersuche. Es ist der Ort, den ich auf der Innenseite meiner Augenlider sehen kann, sobald ich die Augen schließe. Manche Teile des Bildes sind gestochen scharf, andere sind verschwommen und gleiten hin und her wie Amöben, wenn sich beim Mikroskopieren neue Informationen ansammeln. Der Ort, an dem jemand seine Geliebte verscharrt hat; der Ort, an dem das Opfer nach eigenen Angaben zu Boden gedrückt und vergewaltigt wurde, während der Tatverdächtige behauptet, nie dort gewesen zu sein. Es ist der Ort, an dem sich vielsagende Indizien an den Täter geheftet haben – Spuren, die ihn eines Tages bloßstellen werden. Es geht darum, dass die Natur die einzelnen Geschichten so miteinander verbindet, wie niemand sonst es könnte.

Und so hatten wir nun zwei Paar Sportschuhe, die Fußpedale des Wagens und eine Grabegabel. Dies waren die Gegenstände, die möglicherweise ein Bild von dem Ort ergeben konnten, an dem die arme Joanne Nelson lag.

Mein Job besteht darin, Antworten zu liefern oder zumindest Einsichten, die zu solchen Antworten führen können. Diese Arbeit ist manchmal langwierig, mühsam und lästig. Über viele Stunden hinweg hocke ich über mein Mikroskop gebeugt da, bis ich irgendwann aufstehe und mich strecke. Dann spaziere ich umher und gönne meinem Nacken ein wenig Erholung. Hinterher gehe ich vielleicht gleich wieder ans Mikroskop, weil ich etwas Interessantes gefunden habe und dieser Sache weiter nachgehen will. Oder ich spaziere mit meiner Katze eine Runde durch den Garten oder setze mich vielleicht sogar an das Klavier, das in meinem Arbeitszimmer steht. Meine Arbeit erfordert ein hohes Maß an Konzentration, die über lange Zeit aufrechterhalten werden muss. Fokussiert zu bleiben, ist überhaupt das Wichtigste, denn sonst kann sich alle Hoffnung, das Bild eines Tatorts korrekt zu visualisieren, in Luft auflösen.

Die Stunden können dabei nur so dahinrinnen. Ich habe mich schon bis zur Erschöpfung getrieben, als ich herauszufinden versuchte, ob winzige Elemente auf dem Grat eines Pollenkorns geradlinig oder schräg angeordnet sind und ob das undeutliche Wirbelmuster typisch für Weißdorn ist oder eher für ein anderes Mitglied der Rosenfamilie. Ein solches Urteil kann darüber entscheiden, ob ein Fall gelöst wird oder unaufgeklärt bleibt; von der richtigen Unterscheidung zwischen dem einen Pollenkorn und dem nächstverwandten kann es abhängen, ob ein Mensch in Freiheit bleibt.

Während ich die verschiedenen Körnchen untersuche und zähle, baue ich Bilder von Pflanzen auf und, davon ausgehend, Bilder der Habitate, in denen sie wachsen. Wenn sich auf dem Objektträger schließlich eine Ansammlung verschiedener Pollentypen abzeichnet, vermittelt sie eine Vorstellung von der Vegetation am Tatort und in seiner näheren Umgebung. Das liefert mir zum Beispiel Hinweise auf den Säuregrad des Bodens und seine Feuchtigkeit; es zeigt mir, ob es ein sonniger oder schattiger Platz ist, ob es sich um ein Waldgebiet handelt und wenn ja, welche Art von Wald es ist. Es kann mich Stunden kosten oder auch Tage, es kann Wochen und noch länger dauern. Aber manchmal passt alles wunderbar zusammen, und wenn das geschieht, ist das Gefühl von Zufriedenheit unvergleichlich. Manchmal ist es so, als wenn man in ein Puzzle die letzten Teile einfügt, obwohl mein selbst gefertigtes Bild natürlich auch ein paar falsche Teile und einige Lücken enthalten kann. An den Schuhen könnte es Pollenkörnchen von anderen Orten geben, und manche Pflanzen vom Tatort könnten nicht repräsentiert sein, aber das bereitet mir keine großen Sorgen, denn wenn es genügend richtige Puzzleteile gibt, wird man das Bild erkennen können.

Der Mord an Joanne Nelson zählte zu den seltenen Fällen, in denen sich das Bild schnell und klar aufbaute; ein paar Untersuchungen mit dem Mikroskop, und schon war es in seinen wesentlichen Zügen da. Ich musste gar nicht lange und sorgfältig abwägen. Es lagen Indizien in der Luft, und man konnte sie beinahe schon mit Händen greifen. Paul Dyson wusste vielleicht wirklich nicht, wo er gewesen war in jener Nacht, als er Joanne Nelsons Leiche fortgeschafft hatte, aber seine Siebensachen wiesen uns den Weg.

Ich war mir bald sicher, dass Joanne in einem Forstgebiet lag oder zumindest ganz in der Nähe, aber im Laufe der Jahre hatte ich gelernt, dass ein einziges Puzzleteil so gut wie nie ausreicht. Man muss genauer hinschauen und etwas tiefer bohren. Außerdem ist das an einem Tatort zusammengetragene Material nie völlig makellos und eindeutig. Es kann sein, dass Pollen verschwunden sind oder sich zersetzt haben. Man wird auf andere mikroskopisch kleine pflanzliche und tierische Strukturen stoßen: Reste von Mikropilzen, Algen-, Pflanzen- und Tierfragmente; all dies kann den Anblick, der mir das entscheidende Beweisstück liefern soll, zumüllen und verwirren. Und die Identifikation der Pollenkörner ist ja nur der Anfang. Ein Waldstück mit Hasenglöckchen (den legendären bluebells) in der Grafschaft Surrey kann einem Waldstück mit Hasenglöckchen in Essex ähneln; forstwirtschaftliche Anpflanzungen gibt es im ganzen Land, und es ist gut möglich, dass überall eine ähnliche Mischung von Baumarten gepflanzt worden ist. Schlimmer noch: In einer einzigen Probe könnte eine einzeln stehende Kiefer ein ähnliches Resultat erbringen wie der Saum eines Kiefernwaldes. Nein, was man will – und was man braucht –, ist ein Bild mit all seinen kontrastierenden und widersprüchlichen Schattierungen. Wie ein Parfüm kann es eine dominierende Duftnote haben, aber auch mit anderen Düften durchsetzt sein, die uns helfen, das zu durchsuchende Areal einzugrenzen. Die dominierende Note könnte uns in ein Heidemoor führen, in einen Kiefernforst oder irgendeine Gegend an der Küste. Aber Moore sind wilde, weiträumige Gebiete, Aufforstungen erstrecken sich meilenweit und quer durch unser Land, und vom Meer sind wir in Großbritannien nie wirklich weit entfernt. Nein, was wir suchen, ist eine Kombination, eine spezifische Mischung aus Spurenmaterial, die unseren Tatort unverwechselbar machen kann.

Als ich das Bild der Örtlichkeiten in meinem Geist fixiert hatte, streckte ich den Arm aus und griff nach dem Telefonhörer. Mein Anruf wurde sofort entgegengenommen, und ich war erleichtert, die ruhige Stimme von Ray Higgins zu hören, dem freundlichen Kriminalkommissar. Seine Mitarbeiter hatten nach Informationen gegiert und waren wie Drohnen um eine Bienenkönigin geschwärmt, aber Ray war anders. Seine behutsame Art konnte darüber hinwegtäuschen, dass er durch und durch kompetent war, einen scharfen Intellekt besaß und mit eiserner Entschlossenheit daran arbeitete, den Wunsch der Eltern zu erfüllen und die junge Frau zu finden.

»Pat?«

Ich war froh, dass wir nicht über Skype kommunizierten, denn als ich mit geschlossenen Augen weiterredete, muss ich wie eine verrückte Mystikerin ausgesehen haben. »Ja, Ray, ich sehe den Ort vor mir, an dem sie liegt.«

Ich spürte die Erleichterung am anderen Ende der Leitung. »Sie liegt in einem Nutzwald, der nach den Regeln der Forstwirtschaftsbehörde angelegt wurde.«

Plötzlich wurde Rays Stimme lebhaft: »Ja, Pat, er hat gesagt, dass es dort Weihnachtsbäume gab. Das ergibt wirklich Sinn.«

Im Profil waren einige Fichtenpollen enthalten – Fichte, der Baum, den man alljährlich zum Weihnachtsfest opfert. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass es sich nicht um eine reine Weihnachtsbaumplantage handelte, denn fürs Fest schlägt man nur junge Bäume. Um Pollen hervorzubringen, muss ein Fichtenbaum die Fortpflanzungsreife erlangt haben, was mindestens vierzig Jahre dauert, und ein solcher Baum wäre dann schon richtig hoch. Wenn Dyson Weihnachtsbäume erkannt zu haben glaubte, hatte es dort vielleicht einen beträchtlichen Bestand von ihnen gegeben, möglicherweise gleich an der Waldgrenze. Es scheint rätselhaft zu sein, dass man mitten in einem reinen Fichtenwald oder in seiner nahen Umgebung so wenig Fichtenpollen findet, aber für den Kenner liegt die Antwort auf der Hand: Zum Fällen bevorzugen die Förster Fichten, die ungefähr vierzig Jahre alt sind, also gerade die Fortpflanzungsreife erreicht haben; sie werden in der Blüte ihrer Jahre gefällt, sodass sie in der Landschaft nur wenig Pollenmaterial hinterlassen, das von ihrem früheren reichen Vorkommen zeugen könnte. Wenn Sie Fichtenpollen finden, muss es irgendwo fortpflanzungsreife Bäume gegeben haben.

Ich hielt die Augen noch immer fest geschlossen, um mich von nichts ablenken zu lassen, und fuhr fort: »Wenn ich mir die Ergebnisse aus der Untersuchung des Wagens anschaue, sieht es so aus, als wäre man mit ihm auf einem Forstweg gefahren, der trockenen, sandigen Boden hatte, aber vielleicht auch feuchte Gräben an den Rändern oder Pfützen in den Fahrspuren. Ich kann sehen, dass er ziemlich unbeschattet ist, aber rundherum gibt es eine Menge Wald mit aufgeforsteten Nadelbäumen und einer Mischung aus Laubbäumen, hauptsächlich Eichen, Buchen, Haselnuss, dazu auch ein paar Bergahorne und Ulmen. Es gibt feuchtere Bodenpartien, weil man auch Weiden und Erlen findet. Und es scheinen dort reichlich Efeu und Brombeeren zu wachsen.«

Mein Bild war nur ein vorläufiger Versuch, aber bei Feldstudien und unter dem Mikroskop hatte ich diese Pflanzengesellschaften schon sehr oft gesehen; meine Ergebnisse schrien geradezu: »Staatliche Forstwirtschaft!« Aber obgleich ich diese Pflanzengesellschaften leicht erkennen konnte, hatte ich schon sehr früh in meiner Laufbahn eines gelernt: Man findet niemals zwei Orte mit identischer Vegetation. Jeder ist einzigartig in Verbreitungsmuster und -dichte der verschiedenen Pflanzenarten. Zwar konnte ich beschreiben, was für einen Ort Dyson aufgesucht hatte, aber wenn wir die genaue Stelle finden wollten, brauchte ich etwas Spezielles und Ungewöhnliches.

An Vorläufigem und bislang ziemlich Oberflächlichem konnte ich noch viel mehr sagen, aber die Stelle exakt zu lokalisieren, erforderte eine Menge zusätzliche Arbeit. Bis zu einem gewissen Grad kann ich aus dem Beweismaterial der Pollen einen Ort recht leicht beschreiben, aber nicht ganz so einfach lässt sich herausfinden, wo dieses Bild in der Wirklichkeit seinen Platz hat – vor allem, wenn ich mit den infrage kommenden Landstrichen nicht vertraut bin. Ich kann zwar den Bodentyp vorhersagen und häufig auch die Geologie der darunterliegenden Schichten, aber in so einem Fall ist es gemeinhin effizienter, jemanden zu fragen, der sich mit der örtlichen Botanik auskennt, damit er mithilfe meiner Beschreibung die Basisarbeit vor Ort macht.

Ich fuhr fort: »Ray, Sie müssen einen besonnten Feld- oder Waldweg entlangfahren, bis Sie schließlich, vermutlich ganz in der Nähe des Weges, auf einen Bestand fortpflanzungsreifer Birken stoßen. Dort werden Sie sie finden. Oh, und …« Ich hielt inne, denn mir war klar, dass die folgenden Worte unglaublich klingen würden. Dennoch war ich mir sicher, dass sie stimmten.

»Sie wird gar nicht im Boden vergraben sein.«

Einen Moment lang war es still, und ich spürte ein gewisses Maß an Unglauben, aber Ray hörte mir einfach nur zu, und so redete ich weiter: »Sie liegt in einer Mulde, abseits von Weg, und ist mit Birkenreisig bedeckt.«

Ich ließ diese letzte Idee zu Joannes Ruhestätte noch ein wenig nachklingen, denn dies war das Bild, das ich besonders deutlich gesehen hatte.

»Mit welcher Sicherheit können Sie das sagen?«, fragte Ray.

Das ist eine Frage, die man sich ständig selbst stellen muss, und so ist es auch zu entschuldigen, wenn andere sie aufwerfen – zumindest wenn sie höflich fragen und nicht in jenem beschuldigenden, ungläubigen und zweifelnden Ton, der mir in den ersten Jahren so oft begegnet ist.

»Ich bin mir ziemlich sicher, Ray.«

Es gab eine Zeit, in der ich selbst verblüfft war über die Genauigkeit der Beweisaussagen, die ich hervorbringen konnte, über all die Einzelheiten, die ich aus den Bildern unter meinem Mikroskop erstehen ließ. Heute geht es mir nicht mehr so. Zeugen fabrizieren nachträglich Details oder erinnern sich falsch, sodass sich zwei Berichte über denselben Moment nur in Ausnahmefällen wirklich gleichen. Videos und Standfotografie fangen nur einen Teil der Geschichte ein, wobei sie den breiteren Kontext außen vor lassen und unsere Gedanken unterschwellig in eine bestimmte Richtung lenken. Aber Pollenprofile können von kompetenten Palynologen, die noch dazu umfangreiche Erfahrungen in Feldforschung haben, genau interpretiert werden. Allerdings gibt es auch dabei immer Überraschungen, Dinge, die von den Lehrbüchern nicht abgedeckt werden, und deshalb ist Erfahrung so überaus wichtig.

Aus all den Proben, die ich präpariert hatte, ging deutlich hervor, dass Joannes Freund in einen Wald gefahren war, der außer Fichten noch andere kommerziell bedeutsame Nadelbäume enthielt, darunter Kiefern und einige Westliche Hemlocktannen. Auch Laubbäume kamen dort vor, wobei Birken das Profil klar dominierten. Es war eine interessante Mischung aus Bäumen und anderen Pflanzen, und ihre Verteilung auf den verschiedenen Beweisstücken sprach Bände. Der Ort hatte offensichtlich sauren, trockenen Boden, aber es gab auch feuchtere Stellen. Ich dachte, dass mir der Spoiler des Wagens ein umfassenderes Bild des Schauplatzes liefern würde, denn als das Auto zur Ablagestelle der Leiche gesteuert wurde, musste es auf der ganzen Strecke von der Einfahrt in den Wald bis zu der Stelle, wo Joanne lag, Beweisstücke aufgelesen haben. Dysons Schuhsohlen hatten höchstwahrscheinlich nur Material von dem Platz angenommen, an dem er die Leiche abgelegt hatte, und dieses Material an den Schuhen war sicher auch ins Auto hineingetragen worden.

Birke dominierte das Profil, aber auch Kiefer kam einigermaßen reichlich vor. Eiche, Haselnuss, Buche, Heidekraut, Farne und Gräser waren typisch für Wälder oder Waldränder und fügten dem Puzzlebild weitere Teile hinzu. Ich schaute mir Restmaterial von Pollen und Sporen an; sie waren in der vergangenen Wachstumsperiode produziert worden oder sogar noch früher. Haselsträucher blühen etwa ab Dezember, aber die anderen Pollen im Profil waren im vergangenen Jahr ab dem späten Frühjahr hervorgebracht worden. Mit anderen Worten: Das Beweismaterial hatte seit der vergangenen Wachstumsperiode, vermutlich sogar noch länger, am und im Boden sowie an Vegetation gehaftet. Egal welche Jahreszeit gerade ist – fast immer kann ich Material analysieren und das Bild eines Ortes aufbauen, selbst wenn die Polizei diesen Ort nicht gerade für vielversprechend hält.

Ich suchte auf den Objektträgern weiter.

Von Dysons Jeans konnte ich überhaupt nichts gewinnen und von seinen Nike-Sportschuhen fast nur Gräserpollen. Wie es aussah, hatte er diese Schuhe nicht getragen, als die Straftat begangen wurde. Aber als ich mir die Glasplatten mit dem Material von den Reebok-Schuhen, den Fußpedalen und dem Spoiler des Wagens anschaute, stand mir der Ort sofort vor Augen. Mir war bereits klar, dass wir es mit einem Waldstück zu tun hatten, das von forstwirtschaftlich kultivierten Koniferen beherrscht wurde, aber jetzt, wo ich noch mehr Glasplatten eingehend untersuchte, traten allmählich weitere Pollentypen hervor. Die Mischung der Palynomorphe leuchtete mir völlig ein. Nutzwaldbesitzer fügen am Rand ihrer Aufforstungsflächen oft heimische Laubbäume ein, um die dichte und öde Monokultur der Koniferen zu maskieren. Birken vertragen keinen Schatten; sie wachsen auch auf armen Böden noch gut, und ihre Lebensdauer entspricht ungefähr der Zeit, die Nadelbäume brauchen, um die passende Größe zum Gefälltwerden zu erreichen. Man kann verstehen, dass dieser »Unkrautbaum« bei Waldbesitzern so beliebt ist.

Die Reichhaltigkeit des Materials, das ich aus dem Spoiler gewonnen hatte, war für mich ein Hinweis darauf, dass Dyson den Wagen ein ganzes Stück in den Wald hinein gesteuert hatte, weil er nach einem geeigneten Platz suchte, um Joanne zu begraben. Das Innere des Autos barg ein kleines Geheimnis innerhalb des größeren Rätsels. Obwohl Dysons Reebok-Schuhe dick mit Pollen aus dem Wald behaftet waren, schien nichts davon auf die Fußmatte unter dem Fahrersitz übertragen worden zu sein, denn die war ungewöhnlich sauber und ließ nur ganz wenige Pollenkörner von Kiefern und ein einziges von Heidekraut erkennen. War sich Dyson der Möglichkeiten der Forensik so gut bewusst, dass er die Fußmatte ausgebürstet, abgesaugt oder vielleicht sogar nass abgeschrubbt hatte? Es sah auf jeden Fall danach aus. Und doch wies die Matte auf der Beifahrerseite dieselbe reichhaltige Pollenmischung auf wie seine Sportschuhe, und in meinem Kopf leuchteten blitzartig Bilder auf, die das erklären konnten. Um etwas Großes aus einem Auto heben zu können, müssen Sie manchmal auf eine der Fußmatten treten, um sich abzustützen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Dyson sich anschickte, Joanne aus dem Wagen zu zerren, wie er sich mit dem Gewicht ihres Körpers abmühte und seinen Fuß auf die Beifahrermatte stemmte, um eine bessere Hebelwirkung zu erzielen.

Ich hatte bereits festgestellt, dass wir nach einem Forst suchen mussten, aber nun brauchte ich etwas, um ihn genau zu lokalisieren und auch die Beschaffenheit der Stelle im Wald zu bestimmen, an der Joanne abgelegt worden war.

Die Erleuchtung kam mir dank der Grabegabel.

An Dysons Schuhen und den Bereichen der Fußmatte, die er mit den Sohlen berührt hatte, hatte es bereits eine Menge Birkenpollen gegeben. Als ich jedoch die Proben von der Grabegabel untersuchte, war ich erstaunt. Ich fand Birkenpollen am Stiel, Birkenpollen am Griff, und die Zinken waren dermaßen dick von Birkenpollen übersät, dass es dort fast nichts anderes mehr gab, von ein paar Pollenkörnern typischer Gartenpflanzen einmal abgesehen.

Das Bild von einem Schauplatz formt sich plötzlich in meinem Kopf. Das ist nicht so magisch, wie es den Anschein haben mag. Es ist eine Intuition, die sich auf all die Jahre gründet, in denen ich mich durch das Einmaleins des Faches kämpfte, umherreiste, vor Ort arbeitete und dabei fortlaufend große Mengen Wissen in mir anhäufte. Gespeichert und verarbeitet wird all dies in einem bemerkenswerten Supercomputer, dem menschlichen Gehirn.

Diesmal sah ich es ganz deutlich: Wie Dyson den Vauxhall Estate seiner Partnerin über einen Forstweg mit trockenem, sandigem Boden gesteuert hatte; wie die angepflanzten Nadelbäume links und rechts von ihm starr aufragten, bis er eine Stelle fand, wo der Wald nicht so dicht war. Und schließlich kam er an einen Birkenbestand. Dies schien der perfekte Ort zu sein. Ein Grab auszuheben, ist harte Arbeit, und es mit der Grabegabel auszuheben, ist schlichtweg unmöglich. Eine Grabegabel ist kein gutes Werkzeug zum Ausheben eines Grabes, aber zum Scharren und Kratzen eignet sie sich ganz bestimmt.

Wenn Sie durch Wälder und Forstflächen wandern, die oft am Rande von Heideland und Mooren liegen, dann wird Ihnen am Boden die dicke Schicht aus trockenen kleinen Zweigen auffallen. Dieses Material sammelt sich in Mulden, und man kann eine böse Überraschung erleben, wenn man denkt, dort hätte man festen Grund unter den Füßen, und stattdessen in ein Loch taumelt. In Aufforstungsgebieten gibt es zahlreiche Bodenwellen; die Waldarbeiter haben dort mit ihren Maschinen grobe Furchen eingegraben, die Aushöhlungen oder Erhebungen bilden und an vergangene Pflanz- und Baumfällarbeiten erinnern. Warum sollte man einen Toten vergraben, wenn man eine passende Mulde finden kann und einfach nur trockene Zweige darüberscharren muss, um seine Anwesenheit zu verbergen?

Ich vermutete, dass er Joannes schlaffen Körper vom Auto weggetragen und in eine passende Mulde gelegt hatte, die nicht mehr als hundert Meter vom Waldweg entfernt war. Verhaltensprofile haben herausgearbeitet, dass bei etwa hundert Metern die Grenze liegt, bis zu der jemand willens und fähig ist, die Leiche eines Erwachsenen zu schleppen. Ich malte mir aus, wie er strauchelte, wie seine Reebok-Schuhe im Mulch einsanken. Er musste in Panik geraten sein, als er feststellte, dass es zu schwierig war, Joanne zu vergraben. Aber verstecken konnte er sie. Ich dachte, er könnte sie in eine dieser Vertiefungen gerollt und den Mulch aus Birkenzweigen mit der Grabegabel über sie gebreitet haben, sodass man sie nicht mehr sah. Natürlich musste sie in einer Mulde liegen, damit die Zweige sie hinreichend bedeckten. Wäre sie auf flachem Boden zurückgelassen worden, hätte es einen Mulchhügel in Körperform gegeben, und das wäre auffällig und vielsagend gewesen.