Die Stärke der Frauen - Denis Mukwege - E-Book
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Denis Mukwege

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Beschreibung

Die ergreifenden Schilderungen eines Arztes, der sein Leben dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch verschrieben hat

Denis Mukwege, weltbekannter kongolesischer Gynäkologe und Menschenrechtsaktivist, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Opfern sexueller Gewalt zu helfen. Als Gründer des Panzi-Hospitals in Bukavu erhielt er 2018 den Friedensnobelpreis für seinen Einsatz für die Gesundheit und Rechte von Frauen in der Demokratischen Republik Kongo. In seinem Buch verwebt er seine eigene dramatische Lebensgeschichte mit den Schilderungen einzelner Frauenschicksale. Auf das Drängen seiner Patientinnen hin, macht der Chirurg deren Leiden öffentlich und betont dabei die Willensstärke, mit der die Frauen sich ins Leben zurückkämpfen. Er fordert eine systemische Veränderung im Rollenverständnis, eine »positive Männlichkeit« für eine gleichberechtigte Gesellschaft, und belegt die Gewinne, die es bringt, wenn Frauen als Entscheidungsträgerinnen in wirtschaftliche und politische Prozesse eingebunden sind.

Die Stärke der Frauen ist der Bericht eines beeindruckenden Menschen, der sich nicht von seinem Weg abbringen lässt. Ein Bericht, der die Kraft der Frauen in den Vordergrund stellt und beweist, was das Engagement von Einzelnen bewirken kann.

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Seitenzahl: 618

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Die ergreifenden Schilderungen eines Arztes, der sein Leben dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch verschrieben hat

Denis Mukwege, weltbekannter kongolesischer Gynäkologe und Menschenrechtsaktivist, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Opfern sexueller Gewalt zu helfen. Als Gründer des Panzi-Hospitals in Bukavu erhielt er 2018 den Friedensnobelpreis für seinen Einsatz für die Gesundheit und Rechte von Frauen in der Demokratischen Republik Kongo. In seinem Buch verwebt er seine eigene dramatische Lebensgeschichte mit den Schilderungen einzelner Frauenschicksale. Auf das Drängen seiner Patientinnen hin macht der Chirurg deren Leiden öffentlich und betont dabei die Willensstärke, mit der die Frauen sich ins Leben zurückkämpfen. Er fordert eine systemische Veränderung im Rollenverständnis, eine »positive Männlichkeit« für eine gleichberechtigte Gesellschaft und belegt die Gewinne, die es bringt, wenn Frauen als Entscheidungsträgerinnen in wirtschaftliche und politische Prozesse eingebunden sind. Die Stärke der Frauen ist der Bericht eines beeindruckenden Menschen, der sich nicht von seinem Weg abbringen lässt. Ein Bericht, der die Kraft der Frauen in den Vordergrund stellt und beweist, was das Engagement von Einzelnen bewirken kann.

Autor

Dr. Denis Mukwege wurde 1955 in Belgisch-Kongo geboren. Der Chirurg ist weltweit bekannt als der führende Experte in der operativen Behandlung von Vergewaltigungsopfern. Dieser Tätigkeit und dem unermüdlichen Einsatz für die Rechte seiner Patientinnen hat er sein Leben verschrieben, wofür er 2018 den Friedensnobelpreis erhielt – gemeinsam mit der jesidischen Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad.

»Für viele ist Denis Mukwege die letzte Hoffnung.« Stern

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DR. DENIS MUKWEGE

DIE STÄRKE DER FRAUEN

Wie weibliche Widerstandskraft mich lehrte, an eine bessere Welt zu glauben

Aus dem Englischen von Sabine Reinhardus und Cornelia Stoll

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Power of Women. A Doctor’s Journey of Hope and Healing bei Macmillan Publishers, Flatiron Books.Die Namen der Patient*innen wurden in den meisten Fällen geändert. Ausnahmen bilden diejenigen, die auf ihr Recht auf Anonymität verzichten oder im Text als Aktivist*innen vorgestellt werden.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2021 Denis Mukwege

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenKarte: © Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung/Autorenfoto: © Nobel Media AB – Foto: A. Mahmoud

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29014-6V001

www.cbertelsmann.de

Meiner Mutter, meiner Frau und meinen Schwestern gewidmetFür alle Opfer sexueller Gewalt

INHALT

Karte

Einleitung

1 TAPFERE MÜTTER

2 DIE KRISE DER FRAUENGESUNDHEIT

3 KRISE UND WIDERSTANDSKRAFT

4 SCHMERZ UND STÄRKE

5 MIT SEINEN EIGENEN WORTEN

6 DIE STIMME ERHEBEN

7 DER KAMPF FÜR GERECHTIGKEIT

8 ANERKENNUNG UND GEDENKEN

9 MÄNNER UND MÄNNLICHKEIT

10 FÜHRUNG

Schlussfolgerung

Dank

Anmerkungen

Über den Autor

EINLEITUNG

Es ist ungewöhnlich, wenn ein Mann für die Rechte der Frauen kämpft. Das weiß ich. Ich habe es häufig bemerkt, wenn ich mich mit Freunden unterhalten habe, bei gesellschaftlichen Anlässen und mitunter auch bei professionellen Zusammenkünften. Die verständnislosen Blicke und die skeptischen Mienen sind mir nicht entgangen. Hin und wieder ist mir sogar, offen oder unausgesprochen, eine gewisse Feindseligkeit begegnet. Manche finden meine Entscheidungen verdächtig oder sogar bedrohlich.

Ich erinnere mich gut an Abendgesellschaften im Kongo und in Europa zu Beginn meiner Karriere: Wenn ich an der Reihe war, über meine Arbeit zu sprechen, erklärte ich meist, ich sei Gynäkologe und leitete ein Krankenhaus, das insbesondere Verletzungen behandele, die durch Vergewaltigungen verursacht worden seien. Und dass ich mich außerdem für die Rechte von Frauen engagierte. Danach wurde die Runde am Tisch im Allgemeinen recht still. Vielleicht stellte noch jemand höflichkeitshalber eine Frage, aber dann wechselte man rasch das Gesprächsthema.

In diesen Augenblicken betretenen Schweigens nahm ich jedoch auch Mitgefühl in den Augen der anderen Gäste wahr und stellte mir vor, was sie wohl über mich denken mochten: Was für einen schrecklichen Beruf ich hatte, und wie furchtbar das für mich sein musste. Ich entwickelte daher eine Art Gegenstrategie und betonte immer ausdrücklich, dass ich glücklich verheiratet sei und selbst Kinder hätte, als würde ich dadurch »normaler« wirken oder es den anderen leichter machen, meine Entscheidung nachzuvollziehen.

Wenn ich dann abends im Hotelzimmer oder zu Hause auf dem Bett lag, ärgerte ich mich jedes Mal über mich selbst. Warum empfand ich immer dieses Bedürfnis, mein Tun zu rechtfertigen? Jeder, der das Gefühl kennt, dass er »nicht so richtig dazupasst«, sei es aufgrund seiner Herkunft, Identität oder Erfahrung, wird wissen, was ich meine.

Aber nicht jeder hielt mit seiner Meinung hinter dem Berg. Ich erinnere mich an die Unterhaltung mit einem alten Freund, einem Klassenkameraden aus der Schulzeit, der in meiner Provinz Politiker geworden war. Noch jetzt, Jahre später, habe ich seine Worte nicht vergessen: »Seit du dich mit sexueller Gewalt beschäftigst, denkst du wie eine Frau«, sagte er. Das könnte man auch als Kompliment auffassen, aber so war es keineswegs gemeint.

Ich weiß auch noch genau, wie sehr ich mich bestätigt fühlte, als ich das Schreiben und die Arbeit von Stephen Lewis kennenlernte, kanadischer Diplomat, Aktivist und unermüdlicher Streiter für AIDS/HIV-Opfer in Afrika und Frauenrechte im Allgemeinen. Endlich hatte ich eine verwandte Seele gefunden. Durch Stephen habe ich begriffen, dass auch andere Männer so denken wie ich, und inzwischen ist er mir ein lieber Freund.

Ich betreue und behandele mittlerweile seit zwei Jahrzehnten Opfer sexueller Gewalt. Man könnte also meinen, ich müsste meine Entscheidung nicht mehr erklären. Das ist jedoch ein Irrtum. Nicht nur Männer haben Mühe, meine Entscheidung zu verstehen.

Vor einigen Jahren nahm ich an einem Treffen mit einer hochrangigen Vertreterin der Vereinten Nationen in New York City teil. Sie erklärte sich einverstanden, mich gemeinsam mit Mitstreitern zu treffen, die ebenfalls für Frauenrechte und Konfliktlösungen in meiner Heimat, der Demokratischen Republik Kongo, kämpften. Wir begaben uns in eines der oberen Stockwerke und wurden in ihr Büro gebeten, in dem ein langer Konferenztisch stand. Die Aussicht über den East River nach Queens und Brooklyn war atemberaubend.

Ihre aggressive Frage erwischte mich kalt. »Warum sind Sie hier, um über Frauenrechte im Kongo zu reden, und keine Frau aus Ihrem Land?«, fuhr sie mich an. »Sind die Frauen im Kongo nicht in der Lage, für sich selbst zu sprechen?«

Nun war ich ja gerade angereist, um die Unterstützung der Vereinten Nationen für Initiativen zu fördern, die der Stimme der Frauen im Kongo mehr Gehör verschaffen wollten. Mein Krankenhaus und meine Stiftung hatten Überlebenden geholfen, in der Gemeinschaft Stärke zu finden, und wir unterstützten Frauen dabei, ihre Fähigkeit zum Reden in der Öffentlichkeit zu entwickeln und eigene Interessen besser zu vertreten. In diesem Buch werden Sie viele dieser inspirierenden Frauen kennenlernen.

Man könnte jetzt einwenden, dass die Beamtin zu Recht auf der Hut vor einem Mann war, der den Platz auf einer Bühne einnahm, die doch den Frauen zustehen sollte. Diese berechtigte Frage spreche ich immer gern an.

Was mich selbst betrifft, so verweise ich, sobald mir diese Frage auf Dinner-Partys oder in den Büros der Vereinten Nationen gestellt wird, auf meine Grundüberzeugungen. Ich setze mich für Frauen ein, weil wir Gleichgestellte sind. Frauenrechte sind Menschenrechte, und es empört mich zutiefst, welche Gewalt meinen Mitmenschen angetan wird. Wir müssen gemeinsam für Frauen kämpfen.

Meine Rolle besteht seit jeher darin, denjenigen eine Stimme zu verleihen, die aufgrund ihrer marginalisierten Lebensbedingungen keine Möglichkeit haben, ihre Geschichten mitzuteilen. Ich stehe neben, aber niemals vor ihnen.

Wie Sie lesen werden, bin ich mehr oder weniger zufällig zum Feministen und Aktivisten geworden. Dieser Weg war mir keinesfalls in die Wiege gelegt. Ursprünglich wollte ich einfach Arzt werden, und auch das war schon ein recht hochfliegender Plan für jemanden, der in einer Baracke zur Welt kam, als der Kongo noch belgische Kolonie war. Aber Ereignisse, auf die ich keinen Einfluss hatte, haben mein Leben geprägt. Das gilt insbesondere für die Kriege, die seit 1996 den Kongo verwüsteten und gerade für Frauen fatale Folgen hatten – unter den meist gleichgültigen Blicken der restlichen Welt.

Die Umstände haben mir keine andere Wahl gelassen, als mich auf die Behandlung von Misshandlungsopfern zu spezialisieren. Und die Geschichten meiner Patientinnen gaben letztlich den Ausschlag dafür, dass ich mich dem noch größeren Kampf gegen Unrecht und Grausamkeit, die Frauen erleiden, anschloss. Die Anerkennung meiner aktivistischen Arbeit hat dazu geführt, dass ich mich auf diesen Seiten an Sie wende.

Mein Leben ist eng mit meiner vom Krieg zerrissenen Heimat verflochten. Die stürmische Geschichte des Kongo, geprägt von Ausbeutung und Konflikten, bedarf dringend eines breiteren Verständnisses. Die Unruhen der vergangenen 25 Jahre, der tödlichste Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg mit über 25 Millionen Toten oder Vermissten, metastasieren seit dem Jahr 1996 ungehindert. Ich schreibe von der Tragödie des Kongo in der Hoffnung, Politiker in der westlichen Welt und anderswo zu ermutigen, sich für dieses Land, für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen, die das kongolesische Volk so verzweifelt herbeisehnt. Doch dies ist keine Autobiografie und noch weniger ein Buch, das die Kriege im Kongo umfassend zu erklären sucht.

Das Buch ist vielmehr eine Hommage an die Stärke aller Frauen und insbesondere an diejenigen, die mich großgezogen, erzogen und inspiriert haben. Wie Sie in den ersten Kapiteln erfahren werden, fange ich ganz am Anfang an, mit jener Frau, die sich der Gefahr und Unsicherheit stellte, mich zur Welt zu bringen – und die nur wenige Tage später die Aufgabe meisterte, mich vor einer lebensbedrohlichen Erkrankung zu retten. Die Zähigkeit und Tapferkeit, die meine Mutter während meiner Geburt bewies, wurde nur durch ihren lebenslangen Einsatz für mich und alle ihre Kinder übertroffen. Sie hatte maßgeblichen Einfluss auf meine Einstellungen als Heranwachsender und junger Mann und sie war es auch, die, unter gelegentlicher Zuhilfenahme mütterlicher Manipulation, entscheidend dazu beitrug, dass ich trotz aller Widerstände meinen Wunsch, Arzt zu werden, verwirklichte. Sie war meine erste Heldin.

Viele andere Frauen werden sich auf diesen Seiten zu ihr gesellen. Sie alle haben mich mit ihrem Mut, ihrer Freundlichkeit, ihrer Widerstandskraft und Energie beeindruckt. Es sind Aktivistinnen, Anwältinnen oder Akademikerinnen, aber auch meine Patientinnen oder Überlebende sexueller Gewalt, denen ich während meiner jahrelangen Arbeit im Kongo und auf meinen Reisen nach Korea, in den Kosovo, in den Irak, nach Kolumbien, in die Vereinigten Staaten oder an andere Orte begegnet bin.

Vielleicht mag dieser Hintergrund etwas düster erscheinen, denn die Leben vieler Frauen in diesem Buch sind, genau wie mein eigenes, von Gewalt überschattet. Dennoch ist jede dieser Frauen ein Zeichen des Lichts und der Inspiration, und sie haben mir gezeigt, dass die besten Instinkte des Menschen – zu lieben, zu teilen und andere zu beschützen – auch unter den denkbar schlimmsten Umständen triumphieren. Sie sind der Grund dafür, dass ich so lange durchgehalten habe. Nur ihretwegen habe ich niemals meinen Glauben und meinen Verstand verloren, selbst dann nicht, als meine Arbeit, die sich mit den Folgen des Bösen auseinandersetzt, mich manchmal zu überwältigen drohte.

Bevor ich fortfahre, noch ein kurzes Wort zu meinem Sprachgebrauch. Das ist ein heikles Thema, denn die Begriffe und Bezeichnungen, mit denen wir Menschen beschreiben, die sexuelle Gewalt erlebt haben, sind ebenso bedeutsam wie unvollkommen. Sie werden feststellen, dass ich die Begriffe »Patientin«, »Opfer« und »Überlebende« verwende, um viele der Frauen in diesem Buch zu beschreiben.

»Patientin« ist neutral und muss nicht eigens erklärt werden. Jede Frau, die ich behandelt habe, ist meine Patientin.

Das Wort »Opfer« (engl.: victim) ist schon schwieriger, denn es wird grundsätzlich mit Schwäche verbunden und begünstigt eine mitleidige Haltung. Das Subjekt erscheint schnell als passiv oder fragil, und victim hat die gegenteilige Bedeutung des Wortes »Sieger« (engl.: victor), mit dem es die lateinische Wurzel teilt.

Der Begriff »Überlebende« hat eine gewisse Popularität erlangt bei der Beschreibung einer Person, die sexuelle Gewalt erlebt hat. Er klingt aktiver, mutiger und dynamischer. Dennoch finden einige feministische Autorinnen die Bezeichnung problematisch, weil sie hier eine Gleichstellung von Vergewaltigung und traumatischen, lebensverändernden Ereignissen wie etwa einem Mordversuch oder einem Flugzeugabsturz wahrnehmen. Der Begriff kann auch die Erwartungshaltung bestärken, dass die Betroffenen diese Erfahrung und ihre Verletzungen überwunden haben, obgleich sie selbst das nicht so empfinden.

Ich versuche, diese unterschiedlichen Begriffe jeweils dann zu verwenden, wenn sie mir angemessen erscheinen. Viele meiner Patientinnen kommen als Opfer zu mir und sehen sich selbst auch so. Sie waren den schlimmsten Formen sexueller Gewalt oder sogar Mordversuchen ausgesetzt. In diesem ersten Augenblick gibt es kein anderes angemessenes Wort für Frauen, die zusammengeschlagen, von Gruppen vergewaltigt, angeschossen, schwer verletzt wurden oder beinahe verhungerten.

Indem wir uns auf die innere Stärke und Kraft dieser Frauen beziehen, möchten wir sie gern zu Überlebenden machen, und zwar im wortwörtlichen Sinne. Wir möchten ihnen das Gefühl vermitteln, sie hätten ihre Qualen überwunden. Vielleicht versuchten die Angreifer, ihnen das Leben oder ihre Würde zu nehmen, aber wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um diese Frauen physisch und mental zu heilen. Wenn eine Patientin zu uns kommt und sich als Opfer fühlt, möchten wir, dass sie uns in dem Gefühl verlässt, eine Überlebende zu sein. In diesem Prozess besteht unsere wesentliche Arbeit im Panzi-Krankenhaus, das ich 1999 gegründet habe.

Ich spreche seit Jahren zu Überlebenden. Sie bringen mir großes Vertrauen entgegen, wenn sie mir sehr persönliche Einzelheiten über ihre Erfahrungen, ihre Gefühle, Ängste und Hoffnungen mitteilen. Die Arbeit ist häufig schmerzlich, aber mich als Aktivisten beflügelt der feste Glaube daran, dass aus diesem Elend letztlich doch etwas Positives erwächst: dass ich dazu beitragen kann, für diese Überlebenden die Welt zu einem Ort zu machen, der mehr Sicherheit bietet.

Die letzten Kapitel des Buches zeigen Wege auf, wie man Gewalt gegen Frauen bekämpfen könnte, und zwar aus meiner Perspektive als Arzt, der seit jeher in Kriegsgebieten arbeitet, und als Aktivist, der auf vielen Reisen Frauen auf der ganzen Welt zugehört hat. Ich möchte Sie alle dazu ermutigen, den Kongo, der gelegentlich als »Vergewaltigungszentrum der Welt« bezeichnet wird, auch als ein Fenster zu sehen, durch das man die globale Geißel der sexuellen Gewalt wahrnehmen kann. Sexuelle Gewalt ist ein universales Problem und wird überall auf der Welt verübt, in den eigenen vier Wänden, im Beruf, bei militärischen Konflikten und im öffentlichen Raum.

Aufgrund meiner Erfahrung weiß ich inzwischen, dass die Wurzeln der sexuellen Gewalt und deren Folgen sich überall gleichen. Wie so oft sind die Unterschiede zwischen uns Menschen in Bezug auf ethnische Herkunft, Nationalität, Sprache und Kultur längst nicht so entscheidend wie unsere Gemeinsamkeiten.

Der Kampf gegen sexuelle Gewalt fängt damit an, dass Frauen und Männer darüber reden. Laut der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen (UN Women) hat jede dritte Frau auf der Welt irgendwann in ihrem Leben physische oder sexuelle Gewalt erlebt. Und laut den Centers for Disease Control and Prevention (einer Behörde des amerikanischen Gesundheitsministeriums) wurde beinahe jede fünfte Frau in den Vereinigten Staaten zum Opfer einer versuchten oder vollzogenen Vergewaltigung. Wir können das Problem jedoch nur angehen, wenn wir öffentlich zugeben, wie gravierend es ist.

Glücklicherweise, dank jahrzehntelanger Arbeit feministischer Aktivistinnen und der richtungsweisenden #MeToo-Bewegung in jüngster Zeit, brechen mittlerweile mehr und mehr betroffene Frauen ihr Schweigen und erzählen ihre Geschichte.

Viele von ihnen lässt das Strafrechtssystem jedoch im Stich. Wenn man bedenkt, dass Vergewaltiger selbst in Ländern mit gut ausgestatteten und korruptionsfreien Rechtssystemen meist nicht verurteilt werden, zählt Vergewaltigung nach wie vor und weltweit zu den ungeahndeten Verbrechen. In Kriegsgebieten setzen Soldaten Vergewaltigungen gezielt als Kriegswaffe ein und müssen kaum befürchten, zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Fortschritte wurden erzielt, aber meist nur auf dem Papier: Es gibt strenge nationale Gesetze oder internationale Rechtsvorschriften zum Schutz von Frauen in Konflikten. Doch nach wie vor fürchten sich überall auf der Welt Frauen davor, eine Vergewaltigung polizeilich anzuzeigen, oder halten es sogar für reine Zeitverschwendung. Ich werde Möglichkeiten erörtern, wie Strafverfolgungsbehörden und politische Entscheidungsträger*innen Frauen Sicherheit geben und Vergewaltiger von vornherein abschrecken können.

Obgleich dies in erster Linie ein Buch über Frauen ist, richtet es sich nicht nur an sie. Ich hoffe inständig, dass Menschen aller Geschlechter es lesen, um mehr über dieses Thema zu erfahren. In unserem Kampf für Geschlechtergleichheit brauchen wir mehr Mitstreiter. Männer sollten keine Angst vor Unverständnis haben oder sich rechtfertigen müssen, so wie ich es früher tat, wenn sie sich für ihre Schwestern, Töchter, Frauen, Mütter, Freundinnen und Mitmenschen einsetzen.

Allein werden Frauen das Problem der sexuellen Gewalt nicht lösen können; Männer müssen sich diesem Kampf ebenfalls anschließen.

Nach wie vor haben Männer in vielen Teilen der Welt großen Einfluss auf politischer Ebene, und zwar nicht allein in Präsidentschaften, in Premierministerämtern und Parlamenten, die unsere Gesetze festlegen. Ihr Einfluss reicht in die Spitze von kirchlichen Organisationen oder Organisationen auf Gemeindeebene hinein, die nicht selten das persönliche Verhalten und Haltungen weitreichender prägen und beeinflussen als distanziertere, nationale Führungsfiguren.

Wir müssen handeln und uns dafür engagieren, dass sexuelle Gewalt abnimmt, und zwar durch die gesamte Machtpyramide unserer Gesellschaft hindurch, von ganz oben bis ganz nach unten. Ich werde daher nicht nur die Rolle der Führungsfiguren in den Blick nehmen, sondern mich in einem der späteren Kapitel auch über die Bedeutung dessen äußern, was ich als »positive Männlichkeit« bezeichnen möchte. Außerdem werde ich über Elternschaft sprechen und erläutern, was wir an der Erziehung von Jungen ändern müssen, um den zerstörerischen Kreislauf der Geschlechterbeziehungen zu durchbrechen, der Frauen zu Bürgerinnen zweiter Klasse herabstuft.

Meine Arbeit ist eine langfristige, und mitunter geht es nur frustrierend mühsam voran. Als Arzt kann ich eine Patientin untersuchen, eine Diagnose stellen und das Problem anschließend durch Behandlung oder Operation beseitigen. Als Aktivist geht es vielmehr darum, Meinungen, Haltungen und Verhaltensweisen zu ändern. Hier kämpfe ich nicht gegen Krankheiten oder anatomisches Versagen, sondern habe hartnäckigere Gegner: Diskriminierung, Ignoranz und Gleichgültigkeit.

Zufriedenheit stellt sich in den seltenen, aber aufmunternden Augenblicken des Fortschritts ein: Alle diese Augenblicke zusammengenommen, haben in den fünfzehn Jahren meines Aktivismus dazu beitragen können, dass sich unser Verständnis von sexueller Gewalt deutlich gewandelt hat.

Ich hoffe, dieses Buch kann auch eines der bedeutendsten Anliegen der Moderne voranbringen: den Kampf für Frauenrechte. Gemeinsam können wir das 21. Jahrhundert zu einem gleicheren, gerechteren und sichereren Jahrhundert für die Menschheit machen.

1 TAPFERE MÜTTER

Bevor ich geboren wurde, hatte meine Mutter bereits zwei Kinder zur Welt gebracht und die Schmerzen ebenso wie die darauffolgende überwältigende Freude bei der Geburt erfahren. Als die Wehen ein drittes Mal – meinetwegen – Besitz von ihrem Körper ergriffen, wusste sie genau, was auf sie zukam, ohne die Sache dabei auf die leichte Schulter zu nehmen. Während sie bei uns zu Hause auf und ab ging, schienen die Wehen nach dem üblichen Muster zu verlaufen, auch wenn das Ergebnis noch ungewiss war. Würde das gleichgültige, grausame Schicksal ihr eine schwere Geburt oder eine der Geburtskomplikationen aufbürden, die ich später selbst so gut kennenlernen sollte?

Falls ja, bestand nur wenig Hoffnung auf einen guten Ausgang. Meine Mutter war ohne ärztlichen Beistand, und als die Fruchtblase platzte, war nur eine Nachbarin gekommen, um ihr zu helfen. Meine Schwestern hatte man zu Freunden geschickt, und mein Vater war auf einer Fortbildung im Süden der Provinz.

Die Nachbarin redete aufmunternd und beruhigend auf meine Mutter ein, ging mit ihr auf und ab und wischte ihr den Schweiß vom Gesicht, wenn sie sich wieder hinlegte. Für die Abnabelung nach der Geburt hatte sie ein Rasiermesser vorbereitet, ansonsten besaß sie keinerlei Erfahrung.

Es war das Jahr 1955. Das damalige Haus meiner Eltern war typisch für arme Schwarze Familien: Ein Rechteck mit dünnen Holz- und Ziegelsteinwänden und einem Blechdach, dessen Überhang uns vor den das gesamte Jahr über niedergehenden tropischen Regenfällen schützte. Die gesamte Konstruktion war denkbar einfach und findet sich auch heute noch in den Unterkünften von Familien mit geringen Mitteln.

Unser Haus bestand aus einem einzigen Raum und war in aller Eile zusammengezimmert worden, genau wie die Häuser anderer kongolesischer Familien um uns herum, die nach Bukavu gekommen waren, um einen Neuanfang zu wagen. Die Stadt, zuvor nur ein Fischerdörfchen am Ufer des Kivu-Sees, lag in einem damals als Belgisch-Kongo bezeichneten Territorium und war von den Belgiern zu einem strategischen kolonialen Stützpunkt und Außenposten entwickelt worden.

Bukavu befindet sich an der äußersten Ostflanke des riesigen Gebietes; es ist so groß wie Westeuropa oder die Vereinigten Staaten östlich des Mississippi. Der Kongo liegt gerade südlich des Äquators, nahe der Mitte der Welt und dem Herzen Afrikas, obwohl es sich niemals so anfühlt. Nur wenige Orte haben eine solche Faszination ausgeübt und waren Gegenstand so dunkler Fantasien wie der Kongo und wurden dabei so gründlich missverstanden und übersehen.

Was mag meiner Mutter vor diesem Glücksspiel der Geburt wohl durch den Kopf gegangen sein, wenn sie sich entweder vor Schmerzen krümmte oder in den Wehenpausen auf den dünnen, mit Rohbaumwolle gefüllten Matratzen lag, auf denen wir damals schliefen? Hat sie Gedanken an ihre eigene Mutter zugelassen, die vor 23 Jahren bei der Geburt meiner Mutter gestorben war? Durch den frühen Tod ihrer Mutter war die Kindheit meiner Mutter von Not gekennzeichnet, und es liegt insbesondere an diesem Verlust, dass sie sich zu einer so eigensinnigen Persönlichkeit entwickelte.

Auch ihre Heirat war noch vom Tod der Mutter beeinflusst. Die Mutter meines Vaters war ebenfalls bei der Geburt gestorben, und meine Eltern hatten beide in ihrer Kindheit unter wirtschaftlichen und emotionalen Entbehrungen gelitten. Sie wuchsen im Dorf Kaziba auf, südwestlich von Bukavu, ungefähr einen Tagesmarsch durch Plantagen und Wälder entfernt. Beide hatten gute Gründe, sich über das Geschenk eigener Kinder zu freuen, waren sich aber der Schwierigkeiten, die bei der Geburt auftreten können, nur zu bewusst.

Über die Geburtensterblichkeit in der damaligen Zeit gibt es keine verlässlichen Zahlen, da die belgische Kolonialbehörde in diesem Gebiet keine Daten erhob. Nach einer Schätzung aus einer ersten Volkszählung, die zwischen 1955 und 1957 durchgeführt wurde, verstarb die Mehrzahl der Frauen damals vor dem 40. Lebensjahr. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 38 Jahren, und Geburten waren eine der Haupttodesursachen.

Ohne medizinische Betreuung ein Kind zur Welt zu bringen, war und ist nach wie vor für Millionen von Frauen wie russisches Roulette. Diese Runde mit mir hatte meine Mutter überlebt – genau wie die folgenden sieben Geburten meiner jüngeren Geschwister. Ich dagegen wäre um ein Haar gestorben.

Einige Tage nach meiner Geburt wurden meine Schreie immer höher und durchdringender. Meine Haut wurde fahl, und ich bekam hohes Fieber. Als ich nichts mehr essen wollte, war klar, dass ich schwer erkrankt war. Meine Mutter, die sich noch von der Anstrengung der Geburt erholte, wusste, dass sie schnell handeln musste und nicht auf Hilfe zählen konnte. Mein Vater war nur per Post erreichbar.

Sie wickelte mich also in eines ihrer pagnes, die bunt gemusterten Stofftücher, die im Kongo als Kleider getragen werden, und band mich auf ihrem Rücken fest, meinen schlaffen und fiebrigen Körper eng an sich gepresst. Sie gab meine Schwestern, die damals drei und sieben Jahre alt waren, in die Obhut der Nachbarn und machte sich auf den Weg den Hügel hinunter in die Stadt. Sie wollte zu einer der Krankenstationen in Bukavu, die auch Schwarze Patienten behandelten, wusste jedoch, wie schwierig es würde, dort aufgenommen zu werden.

Beide Krankenstationen wurden von Katholiken geführt, und die Beziehungen zwischen ihnen und evangelischen Familien wie der unsrigen waren nach wie vor gespannt. Die katholische Kirche gehörte neben der Verwaltung und den privaten Konzessionsgesellschaften zu den Stützen des belgischen Kolonialsystems, und sie alle hatten freie Hand darin, große Teile des Kongo zu organisieren, zu überwachen und auszubeuten.

Bereits seit der ersten Welle europäischer Ankömmlinge in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts machten sich Katholiken und Protestanten heftig Konkurrenz. Als seinerzeit der »Wettlauf um Afrika« einsetzte, rivalisierten die Kolonialmächte um Gebiete und Ressourcen. Junge weiße Händler und Soldaten machten sich auf den Weg ins Abenteuer, angelockt von der Aussicht auf das rasche Geld durch Elfenbein und Edelsteine, während in London, Paris, Berlin, Lissabon und Brüssel Politiker Intrigen spannen und Kriege führten, um ihre Konkurrenten auszuschalten.

Zugleich begann ein anderer und nicht minder folgenreicher Kampf um die afrikanischen Seelen. Die ersten Priester und Pastoren folgten den kolonialen Händlern, Schutzkräften und Sklavenhändlern auf den Fuß. Den Missionaren ging es jedoch nicht um materiellen Reichtum, sondern um die geistige Eroberung – auch wenn einige von ihnen den Versuchungen der Reichtümer des Landes erlagen. Die Livingstone Inland Mission, eine britische protestantische Missionsgesellschaft, kam 1878 ins Land, und in den darauffolgenden Jahren trafen Baptisten und Methodisten aus Schweden und den Vereinigten Staaten ein. Zwei französische katholische Missionen, darunter auch die Weißen Väter, waren ab 1880 im Kongo aktiv.1

Das Gebiet war riesig, die Bevölkerung des Kongo größtenteils feindselig, und jeder Missionar, der in das ausgedehnte, noch nicht kartografierte Landesinnere reiste, begab sich in erhebliche Gefahr. Zunächst gab es noch keinen Wettbewerb zwischen den religiösen Orden, die sich alle auf dem Weg der »zivilisatorischen« Mission sahen. Das sollte sich jedoch ab 1885 ändern.

Die Weltmächte erkannten die Vorherrschaft König Leopolds II. von Belgien über das Gebiet an, das zuvor als Freistaat Kongo bezeichnet wurde. Leopold II., der vor allen Dingen Kontrolle über seine neue Kolonie demonstrieren wollte – tatsächlich hatte er bisher nur einige Handelsplätze am Kongo-Fluss eingerichtet –, wandte sich 1886 hilfesuchend an Papst Leo XIII.

Der Papst gab daraufhin bekannt, dass der Kongo in Zukunft von belgischen Katholiken evangelisiert werden solle. Der katholische Glaube wurde zu einem Werkzeug der Kolonisation und die Protestanten marginalisiert. Dieses Schisma spaltete nicht nur die frühen weißen Kolonisten, sondern auch die kongolesische Bevölkerung, als mehr und mehr Menschen zum neuen Glauben übertraten.

Voller Angst um ihr krankes Kind und verzweifelt auf der Suche nach Hilfe, geriet meine Mutter in diesen sektiererischen Mahlstrom, als sie die Krankenstation betrat, ein schlichtes, zweigeschossiges Gebäude, das grundlegende medizinische Versorgung wie Impfungen, Verbandszeug und Antibiotika anbot. Insbesondere Letztere waren dringend nötig, um mein Leben zu retten.

Die Krankenstation wurde von belgischen Nonnen geleitet, die meine Mutter völlig unbewegt abwiesen. Die Station sei ausschließlich für Katholiken, erklärten sie. 1955 blickte das Christentum im Kongo auf eine gerade mal 75-jährige Geschichte zurück, doch die Kluft war bereits so tief, dass sie über Leben und Tod entscheiden konnte. Meine Mutter flehte die Krankenschwestern an, aber es war vergebens.

Hat der Beruf meines Vaters eine Rolle gespielt? Obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Bukavu befand, hatte er bereits einen wachsenden Ruf als erster kongolesischer protestantischer Pfarrer. Meine Mutter hat nie herausgefunden, ob dies auch ein Grund für die Feindseligkeit der Nonnen war.

Als sie in ihren Sandalen und der pagne wieder den Hügel hinauf nach Hause stapfte, war sie überzeugt, dass ich die nächste Nacht nicht überleben würde. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf und verwünschte die Dummheit der religiösen Bigotterie und ihre eigene Machtlosigkeit.

Als sie später am Abend meinen schwachen, fieberheißen kleinen Körper in den Armen hielt und mich wiegte, spürte sie förmlich, wie das Leben aus mir wich, und sie glaubte, zusehen zu müssen, wie sie mich verlor. Sie dachte an die Nachbarin, die nach der Geburt die Nabelschnur durchtrennt hatte. Meine Mutter war überzeugt davon, dass sie die Verantwortung für die lebensbedrohliche Infektion trug.

»Ich habe sofort gesehen, dass sie einen Fehler gemacht hat«, sagte sie mir später. »Aber ich war zu erschöpft, ich hatte dich gerade erst zur Welt gebracht. Ich konnte es nicht verhindern.«

Nach allem, was sie mir später über die Symptome und die Behandlung erzählt hat, bin ich mir so gut wie sicher, dass ich damals eine Sepsis hatte, eine Blutvergiftung, die bei Neugeborenen fast immer tödlich verläuft, wenn sie nicht behandelt wird.

Solche Infektionen treten häufig auf, wenn die Nabelschnur entweder falsch oder mit einer unsauberen Klinge durchtrennt wird. Sobald das Kind zur Welt gekommen ist, muss man die Schnur an zwei Stellen abklemmen, um den Blutfluss in beide Richtungen zu unterbrechen, sie dann in der Mitte durchschneiden und einige Zentimeter vor dem kindlichen Nabel stehen lassen.

Die Nachbarin hatte die Schnur zu nahe an meinem Körper durchtrennt, und es war nicht mehr genug Gewebe übrig, um die Nabelschnur abzubinden. Dadurch war mein Körper schutzlos allen Krankheitserregern ausgeliefert. Einige Tage nach der Geburt entzündete sich der Nabel und eiterte.

Es hätte mich das Leben kosten können, und von mir wäre nichts geblieben als eine kurze und schmerzliche Erinnerung meiner Familie. Aber meine Zeit war noch nicht gekommen. Eine zweite tapfere Frau sollte in mein Leben treten und den vielen anderen Frauen vorangehen, denen ich seither begegnet bin. Ich verdanke ihr mein Überleben.

Das Leben im Kongo hängt oft von Zufallsbegegnungen ab. Vielleicht trifft man in einem Augenblick der Not auf einen mitfühlenden Fremden; oder aber auf jemanden, der eine Pistole in der Hand hält, gerade wenn man am wenigsten damit rechnet. In unserer unvorhersehbaren Welt scheint die göttliche Hand der Vorsehung unermüdlich am Werk zu sein. Vielleicht erklärt das auch, warum wir Kongolesen zugleich so abergläubisch und so gläubig sind. Wir schlagen uns alle irgendwie durch, versuchen uns und unsere Familien, so gut es geht, zu schützen, während unser Leben von Kräften bestimmt zu werden scheint, auf die wir keinen Einfluss haben. Das war 1955 nicht anders als heute.

Während meine Mutter fürchtete, dass bald der Tod an unsere Tür klopfen würde, hatte jemand in unserer Nachbarschaft Ereignisse in Gang gesetzt, die mich letztlich retten sollten. Diese Person – wir haben nie herausgefunden, wer es war – ging zum kleinen Backsteinhaus der Missionarin und Lehrerin unten am Fuß des Hügels und gab ihr gegen drei Uhr früh eine handgeschriebene Nachricht, in der sie die Notlage meiner Mutter schilderte. Die Missionarin hieß Majken Bergman, stammte aus Schweden und war damals ungefähr Ende zwanzig. Sie gehörte zu den wenigen Europäerinnen, die sich entschieden hatten, in unserem Viertel zu leben, wo ausschließlich Schwarze wohnten, und nicht im weitaus komfortableren und europäischen Verhältnissen angepassten Zentrum Bukavus. In der damaligen Gesellschaft waren Weiß und Schwarz strikt getrennt, und sie war vielleicht die einzige Person, der es gelingen konnte, die Vorurteile der katholischen Schwestern zu überwinden.

Majken las die Nachricht, dass der Sohn von Pfarrer Mukwege schwer krank war und die katholischen Nonnen ihm die Hilfe verweigert hatten. Sie machte sich sofort auf den Weg zu uns. Meine Mutter hielt mich im Arm und war eingenickt. Zuerst erschrak sie, erzählte Majken dann aber von ihrer verzweifelten Lage und wie man sie in der Krankenstation abgewiesen hatte.

Majken versprach zu helfen.

Bei Tagesanbruch machte sie sich auf den Weg zur anderen Krankenstation der Stadt. Sie beschrieb den Nonnen, wie kritisch mein Zustand war, und erklärte, sie seien für meinen Tod verantwortlich, wenn sie sich weigerten, mir zur helfen. Daraufhin gaben ihr die Nonnen einen roten Passierschein. Majken brachte ihn meiner Mutter und wies sie an, sofort zur Station zu gehen. Der Passierschein berechtigte sie dazu, mich direkt auf die Station zu bringen, ohne sich in die lange Warteschlange einreihen zu müssen.

Die Schwestern verabreichten mir sofort eine erste Dosis Penicillin und schickten uns dann nach Hause. In sechs Stunden sollte meine Mutter mich für die nächste Dosis vorbeibringen. In den folgenden Stunden zu Hause ließ meine Mutter mich nicht aus den Augen, während sich mein kleiner Brustkorb hob und senkte. Mein Atem ging unvermindert schwer. Diese Symptome und die ängstlichen Blicke der Mütter, mit denen sie nach Anzeichen der Besserung forschen, habe ich seither viele Male selbst erlebt.

Als ich die zweite Dose erhielt, war mein Zustand unverändert. Die Nonnen versuchten, meine Mutter zu beruhigen. »Die Medizin wirkt bald, und es wird ihm besser gehen«, versicherten sie.

Erst gegen Abend, nach der dritten Dosis, atmete ich allmählich ruhiger und tiefer, und meine schmerzverzerrten Züge entspannten sich. Am darauffolgenden Morgen war auch das Fieber gesunken.

Meine Mutter hat nie vergessen, wie sehr Majken uns damals geholfen hat. »Du verdankst ihr dein Leben«, sagte sie immer wieder zu mir. Als ich 2009 nach Stockholm eingeladen wurde, um den Olof-Palme-Preis entgegenzunehmen, schlug meine Mutter vor, Majken zur Preisverleihung und dem anschließenden Galadiner einzuladen.

Majken war damals schon eine über achtzig Jahre alte, gebrechliche Dame, aber ihre Erinnerungen an die Zeit im Kongo waren noch sehr lebendig. Als wir uns wiedertrafen, war es, als würde ich eine lang verschollene Großmutter wiedersehen. Wir umarmten uns und lachten. Nach meiner Geburt war sie eine enge Freundin meiner Familie geworden, und die Einladung zur Preisverleihung hatte sie sehr gerührt. Sie erinnerte mich an die Spiele, die sie in meiner Kindheit mit mir gespielt hatte.

Während des Diners hielt meine Mutter eine Rede und erklärte allen Anwesenden, dass Majken in Wahrheit der Ehrengast des Abends sei, eine Frau, die ihr ganzes Leben der Aufgabe gewidmet hatte, anderen zu helfen, und dass wir ohne ihr Engagement nicht hier sitzen würden. Majken wirkte etwas verlegen und bekam feuchte Augen, als alle Gäste lautstark applaudierten.

Meine Mutter, die 86 Jahre alt wurde und bis an ihr Lebensende fromm blieb, war auch davon überzeugt, dass meine schwierige Geburt entscheidend für meinen Lebensweg war. »Als wir damals in die Krankenstation gingen, hat Gott dir eine Botschaft ins Herz geschrieben«, sagte sie oft. »Du sollst anderen helfen, denn dir selbst hat man auch geholfen.«

Die Vorstellung eines Schicksals ist mir eher fremd. Ich glaube seit jeher fest daran, dass wir Menschen selbst etwas bewirken und verändern können. Gott hat uns erschaffen, aber anschließend liegt es an uns, Entscheidungen zu treffen. Die Vorstellung eines Schicksals beinhaltet auch die Vorstellung des Menschen als passives Geschöpf, das einem vorherbestimmten Lauf folgt. Ich dagegen bin der Ansicht, dass wir ständig Entscheidungen treffen müssen: ob wir uns aktiv oder passiv verhalten wollen, unserem Gewissen folgen oder eben nicht auf diese innere Stimme hören. Diese Freiheit können wir besser oder schlechter nutzen. Meine Mutter jedoch war fest davon überzeugt, dass mein Lebensweg vorherbestimmt sei.

Vielleicht mag sie insofern recht haben, als mein unruhiger Lebensbeginn und meine Familie insgesamt mein späteres Leben stark geprägt haben. Als Arzt konzentrierte ich mich zu Beginn meines Berufslebens vor allem darauf, das tödliche Glücksspiel der Geburt zu bekämpfen, an dem so viele Frauen unter unsicheren Bedingungen auf der ganzen Welt sterben. Babys sterben nach wie vor aus Unkenntnis oder Vernachlässigung. In westlichen Ländern ist die Sterblichkeitsrate von Müttern, Neugeborenen und Kindern inzwischen sehr niedrig, aber das trifft für viele Gebiete unseres Planeten, den Kongo eingeschlossen, leider nicht zu.

Ich staune immer noch über den Mut meiner Mutter, die mich und meine Geschwister damals zu Hause zur Welt brachte, wohl wissend, dass eine Infektion, eine Steißgeburt oder eine Blutung nach der Geburt sie das Leben kosten konnte, so wie es bei meinen beiden Großmüttern geschehen war.

Und ich bewundere Majkens Selbstlosigkeit: Sie hätte ebenso gut das Klopfen an ihrer Tür mitten in der Nacht ignorieren können, oder sie hätte denken können, dass das Leben eines armen Schwarzen Neugeborenen, dem man die Behandlung verweigerte, verloren sei. Doch sie hörte nicht auf den Sirenengesang der Apathie und des Defätismus. Sie war sich bewusst, dass sie, aufgrund ihrer Stellung, etwas bewirken konnte, und übernahm Verantwortung.

Meine Heimatstadt Bukavu entstand ursprünglich auf fünf kleinen Halbinseln, die sich wie Finger in den Kivu-See hineinstrecken. Wenn die Sonne besonders kräftig scheint, leuchtet das Wasser türkisblau wie das Karibische Meer oder das Mittelmeer. Wenn der See gegen Abend ganz still liegt, gleicht er einem sich langsam verschiebenden Spiegel, der die umliegende Hügellandschaft und die Berge reflektiert. In der Abenddämmerung werde ich nie müde, dem Schauspiel des Sonnenuntergangs zuzusehen, der die Berge orangefarben und dann leuchtend rosa aufstrahlen lässt, bis sie sich allmählich tintenblau und aschgrau und schließlich schwarz färben, in allen nur denkbaren Schattierungen.

Der See besitzt eine geradezu magnetische und geheimnisvolle Schönheit. In seinen Tiefen befinden sich gewaltige Vorkommen an Methangas, die alles Leben so gut wie vernichtet haben.

Die Durchschnittstemperatur in Bukavu beträgt das ganze Jahr über rund 20 Grad Celsius, denn die Stadt liegt 1500 Meter hoch. Es ist ein angenehmes Klima, anders als die erstickende Hitze oder Feuchtigkeit in unserer Hauptstadt Kinshasa, 2000 Kilometer westlich von Bukavu an der anderen Seite des Kongo.

Hier herrscht immerwährender Frühling, es ist nur selten zu warm und niemals richtig kalt. Das ganze Jahr hindurch blühen Blumen. Die einzige große Variable ist der Regen, der in der Regenzeit ganz plötzlich anfängt, gelegentlich dramatisch eingeleitet von einem mächtigen Donnerschlag. Dann rauschen gewaltige Regenwände herab, bis die Sturzflut ebenso schlagartig und dramatisch wieder aufhört. Wenige Stunden später, wenn die Wolken sich verzogen haben und die kräftige Äquatorsonne scheint, ist das feuchte Gras schon wieder stachelig und trocken; der dicke Schlamm auf den Straßen ist festgebacken, und die feine rote Staubschicht darauf sammelt sich im Haar und in den Wimpern.

Dieser rötliche Schlamm, der an getrocknetes Blut oder Rost erinnert, gehört zu den Grundfarben der begrenzten Farbpalette des Ostkongo. Er ist überall dort, wo Menschen oder Natur die Erde freigelegt haben. Und er kontrastiert stark mit dem üppigen, wuchernden Grün unserer Hügel und Täler.

Ich spreche deswegen von einer »begrenzten Farbpalette«, weil Grün und Braun, die Farben des Wachstums und der Natur, im Kongo einfach allgegenwärtig sind. Wir teilen unsere Heimatregion mit dem zweitgrößten Regenwald der Welt nach dem Amazonasgebiet, der sich wie eine mitunter undurchdringliche Decke vom Osten bis in den Westen des Landes erstreckt.

Mitten im Wald blitzen Farbtupfer auf: Die gelben Blüten der Mangobäume, die scharlachroten Kronen der Passionsfruchtranken und die aneinandergereihten gelb-roten Dreiecke der Helikonia-Palme. Aber die satten Grundfarben, leuchtendes Grün und rötliches Braun, dominieren alles.

Unter dem dichten Blätterdach liegt das Netzwerk der trüben Flüsschen und Wasserwege, und alle Wasser strömen dem mächtigen, gebogenen Rückgrat unserer Nation zu, dem Kongo-Fluss. Er entspringt im Südosten, wälzt sich nach Norden, krümmt sich in einer ausladenden Kurve von mehr als neunzig Grad wieder nach Westen und fließt Richtung Atlantik, wo er sein schaumiges, mit Ablagerungen angereichertes Wasser mit solcher Wucht ins Meer gießt, dass sich ein breiter Mündungstrichter gebildet hat.

Die Landschaft um Bukavu taucht überraschend hinter dem zerklüfteten Seeufer auf. Sogar die Hänge der fünf Halbinseln der Stadt sind steil, eine wellenförmige Reihe von Schluchten, hinter denen, weiter landeinwärts, die Felsen in noch höheren Faltungen aufragen. Weit in der Ferne liegen die Berge – Biéga und Kahuzi sind rund 3000 Meter hoch –, deren Gipfel aus den Wolken auftauchen und wieder darin verschwinden.

Aktive Vulkane gibt es ebenfalls, eingeschlossen den rund 100 Kilometer entfernten Nyiragongo, der hin und wieder aus seinem rumpelnden Kessel Lava und Asche in den See spuckt. Es heißt, durch die vulkanische Aktivität habe sich vor 20000 Jahren die Strömungsrichtung des Sees verändert, dessen Wasser seither in südlicher Richtung zum Tanganjika-See abfließt statt nach Norden.

Die Landschaft meiner Heimat und ihre Schätze unter der Erde beruhen auf tektonischen Aktivitäten, auf die sowohl die einzigartige Schönheit der Region als auch ihre unermessliche Fülle an Rohstoffen zurückgehen. Das Zerreißen und Erneuern der Erdoberfläche seit Hunderten von Millionen Jahren erklärt den Reichtum des Kongo an verlockend dicht unterhalb der Erdkruste liegenden Bodenschätzen. Ein kolonialer Landvermesser bezeichnete den Kongo einmal als »geografischen Skandal.«

Als ich geboren wurde, herrschte in Bukavu ein Apartheid-System, eine strikte Segregation. Die Villen im Viertel der Europäer lagen direkt am Ufer, die weißen Bewohner trugen Anzüge, hatten das Haar mit Brillantine zurückgekämmt, und die Frauen hatten Baumwollkleider an. In ihrem Viertel gab es ein Fußballfeld, eine Bücherei und Gebäude im Art-déco-Stil.

Das Stadtzentrum war dem einer belgischen Stadt nachempfunden – still, ordentlich und sauber –, allerdings mit größeren Häusern und tropischen Gärten. Die prächtigen Schulen, in denen die Kinder der Europäer unterrichtet wurden, lagen in großzügigen und grün beschatteten Parkanlagen. Unsere Kathedrale mit den großen, spitz zulaufenden Bögen und dem Kuppeldach war dem Ensemble Ende der Vierzigerjahre hinzugefügt worden.

An dieses Zentrum grenzte das sogenannte asiatische Viertel; hier wohnten und arbeiteten indische und pakistanische Händler. Weiter vom See entfernt und hügelaufwärts lagen die Vororte der Schwarzen Bevölkerung: Kadutu, wo wir wohnten, und Bagira.

Von dort strömten allmorgendlich Tausende mit dem ersten Tageslicht in die Stadt hinunter. Sie arbeiteten als Pförtner, Wächter, Reinigungskräfte und Gärtner oder waren in den lokalen Brauereien, Pharma- oder Textilunternehmen angestellt. Etwas außerhalb der Stadt befanden sich die großen Plantagen, in denen Zitrusfrüchte, Bananen, Kaffee und Tee für den Export angebaut wurden.

Die Kolonisten – les colons, wie sie damals auf Französisch hießen – hatten das Leben unter dem grauen Himmel Nordeuropas gegen die Wärme der Tropen eingetauscht. Trotz der drohenden Gefahr einer Malariaerkrankung – damals noch, neben dem Gelbfieber, eine der Haupttodesursachen – waren viele Europäer der Ansicht, sie hätten das Paradies auf Erden gefunden.

In den Fünfzigerjahren kamen allmählich die ersten abenteuerlustigen Touristen nach Bukavu, diese tropische Version der Côte d’Azur, saßen unter den Bougainvilleen und schlürften importierten Wein. Die Stadt hieß damals noch Costermansville, zu Ehren eines belgischen Regierungsbeamten und Vizegouverneurs.

Die Feriengäste wurden in chromglänzenden, importierten amerikanischen und europäischen Autos durch die Gegend chauffiert und brausten über die gepflegten, von Blumenbeeten, Palmen und Korallenbäumen gesäumten Straßen dahin. Die belgischen Gastgeber nahmen sie in ihren Schnellbooten oder Yachten mit auf den See. Wasserskifahren auf dem Kivu-See war ein beliebter Freizeitsport.

Bukavu war preiswert, sonnig und exotisch. Hatten die Gäste genug von den schönen Ausblicken über den Kivu-See und dem erfrischenden morgendlichen Baden, konnten sie mit dem Paddelboot nach Goma hinauf, an die Nordspitze des Sees. Von dort sah man den Nyiragongo, der ebenso schön wie bedrohlich über der Stadt aufragt. Auf Safaris durch den Virunga-Nationalpark der zu den schönsten Afrikas zählt, konnte man Gorillas, Löwen und Elefanten in freier Wildbahn beobachten.

Nach meinen kränklichen Anfängen im Jahr 1955 verbrachte ich die ersten Jahre mit meiner liebevollen und einfallsreichen Mutter, meinem hart arbeitenden Vater und unserer stetig wachsenden Familie. Je größer die Gemeinde meines Vaters wurde, desto mehr wuchs unser soziales Ansehen, was wiederum zu verbesserten Lebensbedingungen führte.

Wir zogen mehrmals um und wohnten schließlich für längere Zeit in einem großen Haus mit holzverkleideter Fassade und Annehmlichkeiten wie Strom und fließend Wasser. Es war im Rahmen eines öffentlichen Bauprogramms der belgischen Behörde errichtet worden, das die Lebensbedingungen der Schwarzen Bevölkerung verbessern sollte.

Ich erinnere mich noch an den hölzernen Esstisch und die Stühle mit baumwollbezogenen Kissen, unser Sofa und die Regale, in denen die Bibeln und religiösen Bücher meines Vaters standen. Meine Eltern besaßen ein Grammofon und ein Radio, das wir mit Hilfe eines großen zentralen Wählknopfes auf den nationalen oder den lokalen Sender in Bukavu einstellten. Wir hatten drei Schlafzimmer, eines für meine Eltern, eines für uns Jungen und eines für meine Schwestern. Das Haus war einfach und schlicht und ohne den Komfort eines modernen Heims, aber für die damalige Zeit und für uns war es der Gipfel des Luxus.

Heute sieht Bukavu vollkommen anders aus als damals in meiner Kindheit. Ich erinnere mich noch gut an die gepflegten Bürgersteige, die so glatt waren, dass ich darauf mit meiner Schwester Rollschuh laufen konnte – was wir häufig taten und dabei Kopf und Kragen riskierten. Jedes Haus hatte einen Garten, in dem ein Obstbaum wuchs.

Die Unabhängigkeit beendete dieses Leben und die strikte Segregation der Ära mit einem Schlag. Ich war fünf Jahre alt und kann mich nur bruchstückhaft daran erinnern. So weiß ich noch undeutlich, wie mich meine Eltern 1960 zu einer politischen Ansprache in Bukavu mitnahmen, die erste meines Lebens. Obwohl ich kein Wort verstand, machte die Erfahrung, in einer großen Menschenmenge von Kongolesen zu stehen, großen Eindruck auf mich. Der Redner war der Held seiner Zeit und gilt noch heute in Teilen Afrikas als Ikone: Patrice Lumumba, ein drahtiger Mann mit Ziegenbärtchen und einer Brille mit schwarzem Halbrahmen.

Wenig später und unerwartet schnell wurde er Premierminister und demokratisch gewählter Präsident der unabhängigen Republik Kongo. Die 75-jährige Herrschaft der Belgier war beendet.

In den ersten zwanzig Jahren der Kolonialherrschaft war der Kongo Privateigentum des Königs Leopold II. und trug wesentlich zu dessen Wohlstand und zeitweilig sogar zu seinem Prestige als großer humanitärer Wohltäter bei. Als jedoch bekannt wurde, in welchem Ausmaß Tyrannei und Habgier seine Herrschaft im Kongo geprägt hatten, machte ihn sein einstiger afrikanischer Besitz zu einem internationalen Paria.

Am Tag der Unabhängigkeit, dem 30. Juni 1960, wurde in der ganzen Stadt getanzt und Musik gemacht, daran erinnere ich mich noch. Das Land feierte vier Tage lang. Überall wurde die neue Nationalfahne – gelbe Sterne auf blauem Grund – gehisst. Es gab ein Feuerwerk und Radfahrrennen, Musik und Bier. Ich war noch zu klein, um zu verstehen, was das alles bedeutete, aber ich feierte begeistert mit.

Tatsächlich traten Lumumba und die anderen Führungspersonen der Unabhängigkeit das Erbe eines Staates an, den man regelrecht ausgeplündert hatte, und in einem Land mit 15 Millionen Einwohnern besaßen nur ein paar Dutzend Kongolesen einen Universitätsabschluss. Nach dem überstürzten Abzug der Belgier war der Kongo daher völlig unvorbereitet auf die Unabhängigkeit. Und die ehemalige Kolonie wurde nur unter der Auflage in die Freiheit entlassen, dass ihre Ressourcen und ihr Territorium dem Westen weiterhin zugänglich blieben.

Als Lumumba sich an die Sowjetunion wandte und um Unterstützung bei einem Aufstand der Streitkräfte, den immensen wirtschaftlichen Problemen und einer Sezessionsbewegung im Süden des Landes bat, war sein Schicksal besiegelt. Er sollte nur drei Monate im Amt bleiben und wurde sechs Monate nach der Amtsergreifung entführt und mit belgischer und amerikanischer Duldung getötet.

Als in den Vierteln der Schwarzen in Bukavu die Unabhängigkeit gefeiert wurde, herrschte im Zentrum der Stadt Trauer, und ein wahrer Exodus setzte ein. Häuser leerten sich, Möbelwagen fuhren vor, und am Himmel waren ungewöhnlich viele Flugzeuge zu sehen, die die europäischen Bewohner so schnell wie möglich in die sichere Heimat zurückbrachten.

Die Europäer reagierten damit auf die wachsende Feindseligkeit und auf Berichte und Gerüchte – einige davon wahr, andere übertrieben – über Angriffe auf die weiße Bevölkerung. Zu Hause würden sie in nostalgischen Erinnerungen an ihre Zeit in Afrika schwelgen.

Mit der überstürzten Abreise der Europäer verlor das Land jedoch auch entscheidende Kenntnisse und verwaltungstechnisches Wissen, die zur Führung eines neuen, noch instabilen Staates nötig waren.

Meine Großeltern und deren Eltern waren Zeugen des genau entgegengesetzten Prozesses gewesen, als die ersten Europäer damals in unserem Heimatort Kaziba eintrafen. Bewohnt von unserer Gemeinschaft der BaziBaziba, liegt Kaziba in einem hoch gelegenen, waldreichen und von Bergen eingefassten Tal und ist dank der dortigen Metallindustrie reicher als andere Gebiete.

Die BaziBaziba waren seit jeher geschickte Handwerker, die aus Kupfer und Eisenerz landwirtschaftliche Geräte oder Schmuck herstellten und sie in der Region der Großen Seen verkauften, also dem heutigen Ostkongo, Ruanda, Burundi und Uganda. Ihre andere Spezialität war die Herstellung von Kriegsgerät wie Pfeilspitzen und Speeren.

Insbesondere letztere Fähigkeit, gekoppelt mit dem Unabhängigkeitsstreben der BaziBaziba, hatte eine wichtige Rolle im erfolgreichen Kampf gegen arabische Elfenbeinhändler und Sklavenhändler gespielt, die ab dem frühen 19. Jahrhundert in den Ostkongo eingedrungen waren. Doch den Gewehren der Europäer waren diese Waffen nicht gewachsen. Meine Vorfahren erlebten einen tiefgreifenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Schock. Per Dekret wurde angeordnet, dass alle Bodenschätze der neuen Kolonialverwaltung zufielen. Fortan waren alle Minen Eigentum des Freistaates König Leopolds II., und der »eingeborenen Bevölkerung« war ihr Besitz verboten.

Die gesamte lokale Metallindustrie wurde mit einem Schlag vernichtet. Viele Handwerker verlegten sich auf den Handel mit Edelmetallen, hauptsächlich Gold, das in der Region reichlich vorkommt. Noch heute sieht man in der Umgebung von Kaziba Menschen, die knietief in den Bächen und Flüssen stehen und nach Gold suchen.

Jeder lokale Anführer, der sich dem neuen Kolonialregime widersetzte, ob es sich nun um ein Unternehmen der belgischen Regierung oder einen privaten Konzessionär handelte, musste mit Strafmaßnahmen rechnen. So wurde unser Dorfältester nach Kalehe verbannt, ein 160 Kilometer weit entferntes Dorf, und starb dort im Gefängnis. Andere Stammesführer wurden an Ort und Stelle umgebracht. Dies hatte tiefgreifende und destabilisierende Auswirkungen auf Gesellschaften, deren gesamtes Gefüge auf dem Respekt und der Verehrung für ihre Stammesoberhäupter, der mwamis, beruhte.

Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind meine Eltern über die Zeit sprechen hörte, als das Stammesoberhaupt weggeschickt wurde. Eine heute noch, hundert Jahre später, gängige Redewendung in Kaziba vermittelt ein Gefühl dafür, wie einschneidend dieses Ereignis war: Mboje-Kalehe sagt man, wenn man beschwören will, dass etwas wahr ist – auf die Gefahr hin, nach Kalehe verbannt zu werden.

Mit dem Niedergang des lokalen Handwerks und der Fertigung blieb den Dorfbewohnern nichts anderes übrig, als sich importierte Macheten, Werkzeuge und Räder zu kaufen, obwohl diese noch Jahre zuvor vor Ort hergestellt worden waren.

Das Kolonialsystem veränderte auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Mit den Europäern kam deren neues Geldsystem und verdrängte allmählich die Tauschwirtschaft, in der Güter und Vieh als wichtigste Tauschware gedient hatten. Innerhalb dieses Tauschsystems waren die Frauen aufgrund der ausgeprägten matriarchalischen Traditionen für die Lagerung und Organisation der jährlichen Ernte verantwortlich gewesen.

Als 1887 der Kongo-Franc als Währung eingeführt wurde, ging die wirtschaftliche Macht allmählich auf den Mann über. Der Umgang mit Geld wurde als männliche Kompetenz gesehen, und wenn Männer als Träger, Minenarbeiter oder Plantagenarbeiter arbeiteten, verdienten sie Lohn, den sie verteilten und kontrollierten. Die Frauen hingegen, die zuvor die Mittel der Familie organisiert hatten, verloren ihre einstige Machtstellung.

Die zweite wichtige Veränderung im Dorf wurde durch eine Gruppe protestantischer Geistlicher bewirkt, die 1921 eintrafen und um die Erlaubnis baten, eine Mission aufzubauen. Ihre Entscheidung, sich gerade in Kaziba niederzulassen, hatte weitreichende Auswirkungen auf das Dorfleben, insbesondere auf meine Eltern und in der Folge auch auf mich.

Die norwegische Delegation wurde, unterstützt von der belgischen Verwaltung, im Haus unseres mwami vorstellig, der sich ihr Angebot, dem Dorf helfen zu wollen, anhörte. Vielleicht weil er das Gefühl hatte, dass ihm ohnehin keine andere Wahl blieb, oder weil er sich gastfreundlich zeigen wollte, willigte er ein, den Missionaren ein Stückchen Land am Ende des Tals zu überlassen, ein sumpfiges, unerschlossenes Gelände am Fluss. Da er genau wusste, welche Schwierigkeiten den Fremden bevorstanden, ging unser Oberhaupt möglicherweise auch davon aus, dass die seltsamen weißen Besucher irgendwann aufgeben und weiterziehen oder nach Hause zurückkehren würden.

Er hatte die Missionare jedoch unterschätzt und nicht mit einer derartigen Entschlossenheit gerechnet. Mit finanzieller Unterstützung ihrer norwegischen Heimatgemeinde ließ sich die Gruppe dauerhaft im Dorf nieder, und nach anfänglichen Feindseligkeiten gelang es den Missionaren auch, sich zu integrieren, vor allem dank Medizin und Bildung.

Es sprach sich bald herum, dass der muzungu (wörtlich »weißer Mann«) äußerst wirksam Wunden heilen und Fieber senken konnte und dem Zauberdoktor vor Ort mit seinen Salben und Beschwörungen überlegen war. Die Missionare hatten Antiseptika, fiebersenkende Mittel, Medikamente gegen Pilzerkrankungen und Darmparasiten und einen Vorrat an sauberen Verbänden dabei.

Jeder Besucher ihrer behelfsmäßigen Krankenstation wurde evangelisiert. Ihr besonderes Interesse galt dabei Kindern, eingeschlossen die Waisen und die in Armut lebenden Menschen wie meine Eltern. Die Missionare bauten auch eine kleine Holzkapelle und gründeten eine Schule, in der Schüler zum ersten Mal lesen und schreiben lernten, damit sie die Bibel lesen konnten. Obwohl viele Eltern misstrauisch waren – wenn ein Kind zur Schule ging, konnte es nicht bei der Feldarbeit helfen oder das Vieh hüten –, erkannten einige durchaus die Vorteile der Alphabetisierung.

Die Zahl der Taufen war zunächst gering, aber die Gemeinde wuchs stetig, bis schließlich fast alle bekehrt waren. Die Missionare sahen sich, genau wie König Leopold II. und der belgische Staat, als Exporteure einer »Zivilisation«, die rückständige afrikanische Praktiken durch europäisches Denken und europäische Traditionen ersetzen würde.

Vor der Taufe mussten Bekehrte ihre kupfernen und goldenen Armbänder und Halsketten ablegen, Erbstücke, die seit vielen Generationen in der Familie weitergegeben worden waren. Das gehörte seit Jahrhunderten zum lokalen Brauchtum. Die Bekehrten versprachen, ihren Glauben an die Geister ihrer Vorfahren und den Gott, den sie verehrten, aufzugeben: Namuzinda, »Er, der am Ende von allem ist«. Das Rauchen von lokal angebautem Tabak in Pfeifen, ein beliebter Zeitvertreib für Männer, galt fortan als ebenso sündhaft wie der Genuss von Bananenwein.

Das Dorfleben hatte sich vor allem um den Aha-Ngombe herum abgespielt, einen öffentlichen Platz, an dem Männer zusammenkamen, um über Dorfangelegenheiten zu sprechen, Streit beizulegen und die Geschichte der Region an die folgende Generation durch unsere mündliche Tradition des Geschichtenerzählens weiterzugeben. Hier wurde auch musiziert, die Gitarre der Region namens lulanga, die karhero-Flöte oder das likembe, ein hölzerner Resonanzkasten mit Metall-Lamellen. Unsere Musik und die Musiker verteufelte man als satanisch.

Die Ankunft des Christentums führte zu einem Bruch mit der Vergangenheit, obwohl die Gemeinschaft, meine Eltern eingeschlossen, den neuen Glauben freiwillig annahm. In dieser ersten Missionierungswelle ging es nicht darum, lokale spirituelle und soziale Traditionen als Bereicherung aufzunehmen, sondern sie auszuradieren und durch christliche Überzeugungen zu ersetzen. Eine in vielerlei Hinsicht katastrophale Vorgehensweise, die viele alte und kostbare kulturelle Traditionen als primitiv und degeneriert verdammte.

Ich wünschte, es hätte eine Anpassung, ein Austausch stattgefunden, eine wechselseitige Anerkennung, dass beide Seiten, die europäische wie die afrikanische, voneinander lernen können. Aber das war nicht der Geist der damaligen Zeit. Wäre es so gekommen, könnte man auch heute noch das Spiel der lulanga oder der karhero in den Kirchen hören und nicht nur Orgelmusik.

Mein Vater bekehrte sich als einer der Ersten zum christlichen Glauben. Er wurde 1922 in eine arme Familie früherer Metallhandwerker hineingeboren, die weder Vieh noch Land besaßen, und wurde bereits mit vier Jahren Waise. Nachdem die Mutter meines Vaters bei der Geburt gestorben war, lebte sein Vater nur noch einige Jahre, bevor er erkrankte und starb.

Mein Vater kam daraufhin zu seiner Tante, die ihr Bestes tat, um für ihn zu sorgen und sich um ihn zu kümmern, während sie gleichzeitig ihre eigenen Kinder großzog. Dennoch fühlte er sich an dem einzigen Ort, an den er sich als sein Zuhause erinnerte, in seiner Kindheit wie ein Außenseiter. Als junger Mann sah seine Zukunft düster aus: Er besaß kein Land und konnte bestenfalls darauf hoffen, auf einem Bauernhof als Arbeiter unterzukommen. Und da er keinen angemessenen Brautpreis zahlen konnte, waren seine Heiratsaussichten ebenfalls schlecht.

Dann half ihm die Kirche aus seiner Notlage. Er besuchte die Missionsschule und blieb, nachdem er getauft war, bei den Missionaren. Er gehörte zu den ersten kongolesischen Evangelisten, die aus dieser kleinen Missionsstation am sumpfigen Ende des Tals hervorgingen. Anfang der Vierzigerjahre kam meine damals zehnjährige Mutter als Schülerin in die Missionsschule.

Als jüngstes und schwächstes von vier Geschwistern hatten ihre Brüder sie hergeschickt. Sie mussten für sich selbst sorgen, nachdem meine Großmutter bei der Geburt meiner Mutter gestorben war. Der Vater hatte wieder geheiratet, und seine Frau hatte ihm ein Ultimatum gestellt: entweder sie oder seine Kinder aus erster Ehe. Sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben.

Daraufhin wurde meine Mutter von ihren Brüdern großgezogen. Sie gaben sich redlich Mühe, sie satt zu bekommen, und versorgten sie mit Essensresten, und gelegentlich auch mit Fischen oder Fröschen. Als Kind litt sie häufig unter Gesundheitsproblemen, die sie bis an ihr Lebensende begleiten sollten.

Am Ende ihrer Schulzeit, als sie fünfzehn Jahre alt war, erklärte sie sich einverstanden, meinen Vater zu heiraten, der zu diesem Zeitpunkt beschlossen hatte, Pfarrer zu werden. Er setzte seine Evangelisierungsarbeit zunächst im Dorf fort, doch einige Jahre später unternahm er Reisen bis über die Grenze hinweg in das heutige Ruanda. In den ersten Ehejahren war er häufig für längere Zeit unterwegs und arbeitete zeitweilig in einer von Schweden geführten Mission an der Grenze zwischen Ruanda und dem Kongo. 1949 ließ er sich schließlich dauerhaft in Bukavu nieder, und meine Mutter zog noch im selben Jahr zu ihm.

Er war der erste kongolesische Pfarrer in Bukavu und arbeitete anfangs in den Häusern seiner Glaubensgenossen, wobei er eine Zeit lang das Anwesen eines örtlichen Richters für die Gottesdienste nutzte. Als die Schar der Bekehrten größer wurde, feierten sie die Gottesdienste häufig in einem der Schwarzen Vororte unter freiem Himmel, im Schatten eines Baumes. Anfang der Fünfzigerjahre erhielten er und ein schwedischer Missionar grünes Licht von der Kolonialverwaltung für den Bau einer Kirche.

Damals herrschten schwere Zeiten, und zwar sowohl in materieller wie auch in geistiger Hinsicht. Als Pfarrer verdiente mein Vater nicht viel, und er hatte während meiner ganzen Schulzeit Mühe, das Schulgeld für uns Kinder aufzubringen. Außerdem geriet er in das Chaos, das in den ersten Jahren der Unabhängigkeit im Kongo ausbrach.

1961, als Sechsjähriger, saß ich gemeinsam mit meiner Mutter und meinen Schwestern in der Kirche, als plötzlich schwer bewaffnete Truppen den Gottesdienst unterbrachen und den schwedischen Kollegen meines Vaters auf Befehl des örtlichen Gouverneurs, der die Abreise der Europäer beschleunigen wollte, aus der Kirche führten.

Der Klang der Militärstiefel auf dem Betonboden ist mir immer noch gegenwärtig, das vor Angst verzerrte Gesicht des schwedischen Missionars, und ich weiß noch genau, wie ich nicht wagte, mich umzudrehen, um ihnen nachzublicken. Mein Vater wurde wenige Tage später ebenfalls verhaftet, und auf der Polizeiwache setzte man ihm eine Pistole an den Kopf.

Drei Jahre später wurde Bukavu von regierungsfeindlichen Rebellen gestürmt, die im Kirchhof mehrere Menschen niederschossen. Und wieder drei Jahre darauf, 1967, besetzten weiße Söldner die Stadt, und wir mussten uns zu Fuß in Sicherheit bringen und aufs Land fliehen. In beiden Fällen war es eine schmerzliche Erfahrung für meine Eltern, aber besonders für uns Kinder war es schwer, unser Zuhause zu verlassen. Ich weiß noch, wie ich zunächst Angst um unsere eigene Sicherheit hatte und mir dann auch bange Fragen stellte, was während unserer Abwesenheit geschehen würde und ob wir wohl je zurückkehrten. In diesem Jahr wurde unser Haus versehentlich von einem Flugzeug der kongolesischen Luftwaffe beschossen. Zwei Freunde unserer Familie, Leah und Job, dreizehn und zwanzig Jahre alt, die beide in meinem Zimmer übernachteten, kamen dabei ums Leben.

Diese Vorfälle bereiteten mich auf andere Evakuierungen oder Zeiten im Exil vor, derer es noch viele geben sollte. Ich habe schon früh die Illusion verloren, dass meine Eltern, unsere Gemeinschaft oder der kongolesische Staat mich vor Gefahren schützen könnten. Falls sich darüber irgendetwas Positives sagen lässt, dann vielleicht, dass ich mich aus diesem Grund immer nur auf das konzentriert habe, was für die Gesundheit und Sicherheit meiner Familie wichtig ist. Das mag auch erklären, warum ich nie daran interessiert war, Besitztümer anzuhäufen, denn ich weiß nur zu gut, dass man von einem Moment auf den anderen alles verlieren kann.

In Friedenszeiten geriet mein Vater nicht selten zwischen die Fronten jenes spirituellen Kampfes, der mich als Neugeborenes schon beinahe das Leben gekostet hätte. In den Augen einiger Katholiken galt mein Vater als Bedrohung, und ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als Steine auf das Blechdach der Kirche prasselten, während mein Vater den Gottesdienst hielt. Manchmal wurden auch die Türen aufgerissen, Steine gingen auf die Gemeinde nieder, und wir mussten Schutz unter den Holzbänken suchen. Abgesehen von diesen Angriffen waren auch Diebstähle ein ständiges Problem.

Meine Grundschule in Bukavu wurde von schwedischen Missionaren geleitet; das Tragen einer blau-gelben Schuluniform, die Farben der schwedischen Nationalfahne, war Pflicht; dadurch waren wir jedoch für jedermann auch sofort als Protestant zu erkennen und ein Ziel für die katholischen Jungen vor Ort. Der Heimweg von der Schule glich einem Spießrutenlauf – Beleidigungen, Drohungen und manchmal noch Schlimmeres hagelten nur so auf uns herab. Auch Besorgungen zu machen, war eine regelrechte Mutprobe. Heute gehören diese Feindseligkeiten der Vergangenheit an, aber Vorurteile gibt es nach wie vor. In meiner eigenen Gemeinde musste ich große Schwierigkeiten überwinden, als eine meiner Töchter sich entschied, einen Katholiken zu heiraten.

Mein Vater gehörte nicht zu den Gift und Galle spuckenden Predigern, wie sie manchmal in modernen Kirchen oder im Fernsehen zu sehen sind. Er war ein leiser, ernsthafter und zutiefst spiritueller Mann. Seine Autorität beruhte auf der gründlichen Kenntnis der Schrift und dem Vorbild, das er durch sein mitfühlendes Verhalten gab. Es machte ihm nichts aus, in der Öffentlichkeit zu reden, und er erteilte privat gern einen Ratschlag, doch er war auch ein aufmerksamer Zuhörer.

Als kleiner Junge begleitete ich ihn so oft wie möglich auf seinen Besuchen in der Gemeinde, besonders an Sonntagen. Er durfte nicht nur die Gottesdienste in seiner eigenen stetig größer werdenden Gemeinde halten, sondern man hatte ihm auch die Erlaubnis erteilt, die Messe vor einer Handvoll evangelischer Soldaten in einer Kapelle des militärischen Hauptstützpunktes in Bukavu zu lesen. Jeden Sonntag in aller Frühe begann er um vier Uhr dreißig und hatte die strikte Anweisung, vor sechs Uhr morgens fertig zu sein, wenn die katholische Messe anfing.

Wir standen noch im Dunklen gegen drei Uhr morgens auf und machten uns auf den Weg zum anderen Ende der Stadt. Nach diesem Gottesdienst fuhren wir zu einem Polizeigebäude, wo mein Vater eine weitere Messe las. Ich begleitete ihn wie ein kleiner Schatten, sah zu ihm auf, hörte von der ersten Kirchenbank aus seinen Predigten zu und trug unterwegs seine braune Ledertasche.