Die Sterne und wir - Carsten Kluth - E-Book

Die Sterne und wir E-Book

Carsten Kluth

0,0

Beschreibung

Seit Anbeginn der Menschheit sind wir fasziniert von den Sternen. Der Blick hinauf in den Nachthimmel bringt uns zum Staunen, Grübeln, Träumen. Wir projizieren unsere Ängste und Hoffnungen auf die Sterne, wähnen in ihnen den Geist von verstorbenen Angehörigen, werden uns der eigenen Vergänglichkeit bewusst und fühlen uns als Teil eines großen Ganzen. Carsten Kluth geht es nicht anders. Mit einem selbst gebauten Fernglas betrachtet er den Nachthimmel, hangt persönlichen Gedanken nach und wird sich immer wieder der kulturhistorischen Bedeutung der Sterne bewusst. Dieses Buch lädt ein zum Schwelgen, gleichzeitig enthält es erhellende Erkenntnisse – nicht zuletzt darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 146

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Carsten Kluth

Die Sterne und wir

Über den Zauber des Nachthimmels

Die Milchstraße in meiner Küche

Beim Filtern von Himbeeressig im Frühherbst musste ich bei dem Geruch der Früchte an den gerade zu Ende gegangenen Sommer denken – und an die Sterne, worauf ein Freund mich brachte, der am Küchentisch saß und mir zuschaute. Genauer, führte er aus, an eine Gaswolke im Inneren der Milchstraße, Sagittarius B2, denn er wusste, dass ich solche Informationen schätzte, wilde Sprünge aus dem Übergroßen ins alltäglich Kleine oder umgekehrt. Im Zentrum unserer Galaxie, erklärte er mit großer Geste, riecht es nach Sommer. Man kann dort Ameisensäure-Ethylester oder Ethylformiat nachweisen, dieselben Verbindungen, die auch in reifen Himbeeren vorhanden sind. Dieser Geruch sommerlicher Sorglosigkeit waberte durch die Küche und wurde von uns mit jedem Atemzug eingesogen. Jetzt, da es vom Sommer Abschied nehmen hieß, stimmte der Geruch melancholisch; die Fülle des Lebens bald nur noch Erinnerung, so wie die Molekülstruktur des Ethylformiats an das Glycin erinnert, die kleinste und einfachste α-Aminosäure und Quelle unserer Art von Leben. Hier sah ich also der rubinroten Flüssigkeit zu, wie sie durch den Filter und durch einen Plastiktrichter in den Hals einer ausgewaschenen Roséflasche lief, und es war, als hätte ich auf einmal einen zusätzlichen Sinn entwickelt, der Tausende von Lichtjahren weit in unsere Heimatgalaxie hineinreichte.

Nachdem der Freund gegangen war, stellte ich drei nun verschlossene Flaschen Himbeeressig in den Keller. Dort funkelten sie im elektrischen Licht verheißungsvoll, als wären sie viel mehr als nur drei Essigflaschen.

Das führte nun nicht dazu, dass ich von da an eine olfaktorisch inspirierte Astronomie betrieb, sobald ich eine Vinaigrette zubereitete oder Linsen würzte. Aber Sternenkunde, was Astronomie im Griechischen bedeutet, auf ungewöhnliche Art war es eben doch, und ich fragte mich, wonach es sonst noch riechen mochte zwischen den Sternen und auf den Planeten. Und ich fragte mich, ob der Sternenhimmel darüber hinaus für alle anderen Sinne lohnend sein könnte. Es ging mir dabei auch um eine Art der Beobachtung, wie sie mir am meisten entspricht. Sosehr mich der Blick zum Sternenhimmel im Moment des Aufschauens fasziniert, so ist mir der Anblick allein auf die Dauer nicht genug. Es war etwas anderes, wenn ich das Leben in unserer Wiese beobachtete, mitten im Leben mich befand und ganz deutlich eine Ahnung von Austausch hatte. Die eigentümliche Wirkung des Nachthimmels rührt nicht zuletzt von der Getrenntheit von allem Erdgeschehen her, eine Empfindung, die Rainald Goetz auch der Seele zuschreibt, weswegen sie im Nachthimmel bewegt und verzaubert etwas ihr Entsprechendes entdeckt. Aber gleichzeitig bestehen unsere Körper und alles, was uns umgibt, aus den Überresten verloschener Sterne, und diese Tatsache, dass wir die Bestandteile unseres Körpers mit den fernsten Sternen gemein haben, fordert auch die Sinne heraus. Die Entdeckung des nach Himbeeren duftenden Zentrums der Milchstraße veränderte meine Wahrnehmung. Vielleicht ist der Nachthimmel nicht ganz so getrennt von uns, wie es scheint. Könnte es neben Astronomie, Astrophysik, Astrochemie und Exobiologie noch andere Zugänge zum Sternenhimmel geben? Eine Astrosensorik? Eine Astropoetik? Vielleicht würde eine solcherart erweiterte Wahrnehmung uns ein Verständnis ermöglichen, in den Kosmos zu sehen wie der Mensch der Antike, der als contemplator caeli sich beim Anblick der Sterne nicht bedeutungslos, sondern gemeint und angesprochen gefühlt hat.

Ich fand bei dem Philosophen Hans Blumenberg den – vielleicht nicht immer ganz ernst gemeinten – Ansatz der Astronoetik, vorgeschlagen in den 1970er-Jahren als eine Art philosophische Astronomie und Astronautik. Während Astronauten zum Himmel flogen und Astronomen den Sternenhimmel mit ihren Instrumenten beobachteten, vermaßen und analysierten und auf diese Weise unser Weltbild immer wieder revolutionierten, stellte sich Blumenberg die Frage, ob die Erforschung des Sternenhimmels nicht auch durch reine Gedankenkraft möglich sein könnte. Wichtig war vor allem, erkannte er, dass der Astronoet sich immer wieder aus den gültigen Weltbildern hinausbegibt, dass er die Schwerkraft der Bücher und Theorien überwindet, um mit unverstelltem Blick, sensibler Nase und offenen Ohren, neugieriger Zunge und Haut auf Pirsch geht und auf diese Weise dem kollektiven Wissen und der gemeinsamen Erfahrung einige individuelle Erlebnisse mitgibt, immer dem Motto folgend: Das alles also gibt es!

Immer wieder Beteigeuze

Kopernikus hat vor vierhundert Jahren seine ungeheuren Gesetze erkannt, neue ungeheure Erkenntnisse folgten. Aber umsonst. Der Mensch denkt weiterhin so, als sei er die Mitte der Welt.

Erhart Kästner

Die Sterne und wir – das ist auch eine Verlustgeschichte. Inwiefern ist das eine Verlustgeschichte? Wissen wir nicht so viel mehr über den Sternenhimmel als frühere Generationen, ja als die Wissenschaft noch vor wenigen Jahren? Hat nicht heute jedes Kind am Tablet, Handy oder PC schon einen Blick in den Tiefen Raum, den Deep Space, getan, von dessen purer Existenz die Großen der mittelalterlichen Astronomie – Kopernikus, Kepler, Galilei – nichts ahnten? Werden uns nicht Bilder von galaktischen Nebeln in jeder Form präsentiert, kaum streichen wir über irgendein Display? Lesen wir nicht nebenbei von Leben unter kilometerdickem Eis auf Monden des Saturn? Kennen wir nicht längst die Rückseite des Mondes und werden über die Ankunft von Asteroidenschauern per Push-Nachricht rechtzeitig informiert? Wie kann man Verlust nennen, was so allgegenwärtig ist?

In der Frage liegt bereits ein Teil der Antwort. Um die Sterne zu sehen, müssen wir nicht mehr zum Sternenhimmel sehen. Wir müssen nicht mehr warten, bis es Nacht wird, und wir müssen auch nicht nach oben blicken. Wir können nach unten schauen, mitten am Tage, auf die Geräte in unseren Händen. Wir tragen den Sternenhimmel in unseren Taschen mit uns herum, in Form von Apps, Bildern und Satzfetzen auf Twitter und Instagram, erklärt von den Webseiten der Max-Planck-Institute, Spiegel Online oder auf anderen Nachrichtenseiten unseres Vertrauens. Nichts hindert uns daran, den Planeten zu folgen und die Sterne zu identifizieren, selbst wenn der gesamte gewaltige Körper der Erde sich zwischen ihnen und uns befindet. Das Einzige, was zwischen uns und ihnen noch steht, ist ein Gerät und eine Software, und ich glaube, das ist viel. Die Geschichte dieses Erfolges ist der Verlust der unperfekten und kaum zu kalkulierenden Unmittelbarkeit zugunsten einer ständigen Verfügbarkeit. Was der Mensch aber immer haben kann, das langweilt ihn bald.

Wie aufregend dagegen ist eine unverhoffte Begegnung, im Juli, kurz vor Mitternacht, mit dem im Südosten ungemein hell über der Weißdornhecke unseres Gartens stehenden Jupiter. Nur die Katze rauslassen wollte ich, jetzt hole ich das große Fernglas, mit dem wir sonst nach den Tieren sehen, die übers Feld streifen, und siehe da, ich kann zwei der Monde des Riesenplaneten erkennen, deren Entdeckung durch Galilei die Geschichte veränderte. Und wenige Grad weiter östlich (was wenigen Fingerbreit entspricht) strahlt deutlich Saturn und spannt den Raum unseres Systems vom südlichen Rand Lübecks in unvorstellbare Fernen auf. Für ein paar kostbare Momente kann ich spüren, was Blumenberg meinte.

Die Sterne und wir – das ist nicht nur die Geschichte einer Entfremdung, es ist auch die Geschichte eines Abschieds. Spüren wir, dass etwas zu Ende geht? Oder ist es mit den Sternen wie mit der Liebe? Wir merken nicht, dass sie verschwunden ist, und ahnen höchstens, wie ausschließlich wir einst geliebt haben. Oder ist es vielleicht mit den Sternen ähnlich wie mit den Wesen, die einmal in Fülle um uns waren und eine wirkliche Bedeutung hatten, den Vögeln, Fischen, Insekten, den Blumen und Kräutern, und die auf einmal verschwunden sind. Wir können kaum glauben, wie viel mehr einmal da waren, Sterne, Fische, Pflanzen und eigentlich von allem, was materiell ist oder so etwas wie eine Seele hat. Im Überfluss gibt es nur noch das Abstrakte, das Flüchtige und das Nichtige.

Wir bemerken kaum die Verarmung, weil wir den ursprünglich vorhandenen Reichtum ignoriert, vergessen oder nie kennengelernt haben. Die Forschung nennt das Shifting Baselines – für den heutigen Fischer ist die moderne Artenarmut selbstverständlich, während sein Vater oder Großvater noch im Überfluss lebten. Er aber weiß von dieser einstigen Fülle nichts mehr; ein Drittel der heute lebenden Menschen sieht selbst bei sternenklarer Nacht die Milchstraße nicht mehr und hält die paar Dutzend Sterne, die man aus der Mitte einer modernen Großstadt wahrnimmt, für die Normalität.

Eine Folge des Kampfes gegen den Klimawandel könnte das Verschwinden der Sterne sein. Viele Methoden des menschlichen Eingriffs in die Atmosphäre haben zur Grundlage, das Sonnenlicht zu spiegeln. Geoengineering, das zeigen vor allem Vulkanausbrüche, kann furchtbar effektiv sein, es kühlt den Planeten um mehrere Grad Celsius ab.

Am drastischsten war in jüngerer Zeit der berühmte Wintersommer von 1816, als sich eine milchige Dunstschicht um die Erde legte und zu Schnee im Sommer auf der Schwäbischen Alb führte, zu Hungersnöten, Aufständen und Fluchtbewegungen. Eine der vielen Folgen des Klimawandels könnte also eine solche, diesmal menschlich erzeugte, Nebelwand zwischen uns und dem All sein, künstliche Wolken, die uns Zeit kaufen würden. Künstliche Wolken, hinter denen der sichtbare Sternenhimmel endgültig verschwinden würde.

Hätten wir eine Art Schatzkästlein in unserem Kopf, in dem wir die wichtigsten Erinnerungen aufbewahren und dann und wann hervorholen könnten, um sie zu betrachten, dann würden wir möglicherweise nicht so unbesonnen und unbeschwert weitermachen. Aber wir erinnern uns ja nicht, sondern erzeugen das, was wir Erinnerung nennen, jedes Mal aufs Neue und verändern es. Jeder Mensch hat andere Erinnerungen an dasselbe Ereignis, und deshalb können wir nicht zum Himmel hinaufsehen und uns daran erinnern, wie es wirklich einmal war. Daran, dass es früher mehr Sterne gab und der Raum eine Tiefe hatte, von der wir heute kaum noch etwas ahnen. Und Farben. Und Geflimmer und Geglitzer. Wir könnten nur wieder anfangen, in die Nacht zu sehen, wie wir wieder anfangen können, eine Wiese zu betrachten oder einen Menschen anzuschauen.

Wir könnten das Staunen wieder lernen, das Schauen, ohne sofort nach einer Erklärung zu verlangen. Wir könnten den Dingen wieder Raum geben, in forschender Vorsicht und Rilkes Warnung ernst nehmend: »Bleibt fern. / Die Dinge singen hör ich so gern. / Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. / Ihr bringt mir alle die Dinge um.«

Im Dezember 2019 traf ich zufällig auf einen alten Bekannten, einen Stern, den ich in meiner Jugend jahrelang während des Winters beobachtet hatte. Dieser Stern war der Rote Riese Beteigeuze, und er sollte zum Weihnachtsstern des Jahres 2019 werden. Ich las von seiner eigentümlichen Verwandlung zuerst am 19. Dezember auf Twitter und auf verschiedenen Astroblogs. Beteigeuze (oder auch Betelgeuse, was auf einen sehr alten Übersetzungsfehler aus dem Arabischen zurückgehen soll), der die linke Schulter des Himmelsjägers Orion bildet, hat seit März 2019 knapp 60 Prozent seiner Helligkeit eingebüßt. Er ist einer der hellsten Sterne am Nachthimmel, sein orangefarbener Glanz ist unverkennbar, und wenn er auch am tatsächlich beobachtbaren Himmel deutlich dunkler wurde, so strahlte er im Netz umso heller – ist er doch schon lange ein Kandidat für eine Supernova. Und der Erde so nah! Aber nur wenige Astronomen gaben zu bedenken, dass man nicht genau sagen könne, ob Beteigeuze morgen oder in 200000 Jahren explodiere. Dass er eben auch schon zur Supernova geworden sein könnte, das Licht aber, das knapp 640 Jahre zu uns brauche, noch nicht angekommen sei. Die meisten Kommentare waren ernüchternd abgeklärt. Sarafina (!) Nance, Doktorandin der Astrophysik an der Universität Berkeley, erklärte uns Lesern am Tag vor Heiligabend ihre Sicht auf den Stern in einer Kaskade von Tweets. Sie betonte, dass die Helligkeitsschwankungen absolut zu früheren Beobachtungen passen und dass wir alle wohl nicht Augenzeugen einer solch spektakulären Explosion werden würden. Die gegenwärtig beobachtbaren Helligkeitsschwankungen rührten von Ereignissen her, die unvorstellbar groß waren. Gegen die Ausmaße dieses rötlich leuchtenden Pünktchens am Nachthimmel nimmt sich unsere Sonne wie ein Joghurtbecher in einem Familienkühlschrank aus. Eine Theorie besagt, dass Beteigeuzes Strahlungsintensität von sogenannten Konvektionszellen beeinflusst wird, das sind von der Rotation des Sternes erzeugte heiße Ausstülpungen, die aus dem Inneren des Sterns bis zur Außenhülle reichen und ihm die Form einer von Geschwülsten bedeckten Knolle geben.

Zwei Erklärungen für die geringe momentane Helligkeit mag ich besonders: Es könnten riesige Staubwolken sein, die der Stern in unsere Richtung ausgestoßen hat und die sein Licht verschlucken. Staubwolken, aus denen Leben wie das unsere entstehen könnte. Eine zweite Theorie rückt mir Beteigeuze noch näher: Bei einer Abkühlung der äußeren Gase entstehen manchmal molekulare Verbindungen, wie sie auch in Sonnencremes verwendet werden – Titanoxid. Beteigeuze hat im Moment vielleicht einfach eine zu dicke Schicht Sonnenschutz aufgetragen. Und diese Verbindung bringt mir den Stern auf eine sinnliche Weise nahe, wie die Himbeeren das Zentrum der Milchstraße.

Wie auch immer, wenn Beteigeuze einmal explodiert, dann wird seine Helligkeit am Nachthimmel schlagartig zunehmen. Der Stern wird groß wie eine Taube im Flug über den Bäumen unseres Gartens sein und so hell wie der Halbmond scheinen. Bei all den vorangegangenen Superlativen fand ich diese Aussicht ein wenig enttäuschend.

Noch am selben Abend suchte und fand ich meine alten Sternkarten und darauf bald Beteigeuze im Orion. In einem klaren Feuerwehrrot prangte er dort, wo bei einer Weltkarte Osten wäre, und nicht weit von der Ekliptik, der Sonnenbahn, entfernt, an der die Tierkreiszeichen aufgereiht sind, die ich einmal alle aus dem Effeff hatte aufzählen können und die sich mir heute mit den anderen Sternbildern vermischen.

Die bekannten Sterne des Orion – Bellatrix, Rigel, Saiph – strahlten mir blau von der Karte entgegen, ihre Oberflächentemperaturen sind 7000 bis 8000 Grad Celsius heißer als Beteigeuze mit seinen 3500 Grad Celsius. Gehört hatte ich von Beteigeuze zuerst durch einen frühen Band der Science-Fiction-Serie Perry Rhodan, die es auch heute noch gibt. Ein galaktisches Händlervolk, die sogenannten Springer, wollen die Erde vernichten, und die Terraner entgehen dem Untergang nur durch den rechtzeitigen Austausch der Koordinaten. So wird, anstatt ihrer, der dritte Planet Beteigeuzes zerstört, wie man in Rotes Auge Beteigeuze und Die Erde stirbtnachlesen kann. Wenige Jahre später geht vom vierten Planeten Beteigeuzes eine tödliche Seuche aus, die zu drastischen Quarantänemaßnahmen im bekannten Universum führt …

Mit diesen Geschichten einer wilden Space Opera im Hinterkopf habe ich zum ersten Mal den Stern am Himmel betrachtet, und selbst jetzt, da ich weiß, dass bisher kein Planet bei Beteigeuze entdeckt wurde und dass der Stern mit zehn Millionen Jahren viel zu jung wäre, als dass sich Leben hätte entwickeln können, bleiben diese Geschichten. So wie andere, die seither dazugekommen sind. Diese wunderbar wilden Abenteuer haben mir den Sternenhimmel auf eine menschliche Weise vertraut und interessant gemacht.

Seit Kopernikus ist der Mensch nicht mehr Mittelpunkt, nicht mehr ruhender Beobachter, aber es bleibt doch die ferne Erinnerung daran, dass es einmal anders gewesen ist. Es ist ein bisschen wie in dem Film Before Sunset, in dem Céline sich nicht mehr an die gemeinsame Nacht neun Jahre zuvor mit Jesse erinnert (oder erinnern will), was diesem für ein paar Filmminuten den Boden unter den Füßen wegzieht. Für Jesse ist diese Nacht so zentral für sein ganzes Leben, dass er sich an jedes Detail erinnert. Sie hingegen wirft ihm vor, die Nacht zu idealisieren, worauf er antwortet, er erinnere sich sogar noch an die Marke des Kondoms, das sie benutzt haben. »I remember that night better than I do entire years.« Die Sterne und wir, das ist die Geschichte einer solchen Erinnerung, wie Jesse sie hatte – und Céline eben nicht.

 

Nach Weihnachten legte sich die Aufregung um Beteigeuze langsam wieder. Sarafina Nance wandte sich einer tatsächlichen Supernova zu, die sie nur Tage nach deren Ausbruch entdeckt hatte, knapp 100 Millionen Lichtjahre entfernt. Ihre Aufregung drückte sie in GROSSBUCHSTABEN aus. Was aber kommt nach den Großbuchstaben? Was nach den immer neuen, selbst den Fachleuten nur noch schwer erklärlichen Entdeckungen? Könnte das abflauende Interesse an den wirklichen Sternen (während die Astrologie boomt) damit zu tun haben, dass aus der Forschung für uns Laien zu oft Entertainment gemacht, aber nicht mehr nach einem Sinn, nach wirklicher Erkenntnis gesucht wird? Dass alles Streben am Ende wie ein Galopp in die Leere erscheint?

Was auch immer mit Beteigeuze ist, ob Gammastrahlen einer Supernova die Erdatmosphäre beschädigen könnten, was Gravitationswellen aus Beteigeuzes Richtung bedeuten, warum der Stern auf einmal wieder heller wird – ich nutzte in diesen Weihnachtstagen 2019 und in den Wochen danach die meisten Gelegenheiten eines freien Nachthimmels, um den alten Bekannten im Orion zu betrachten. Nie für lange, aber immer wieder. Er war dunkler als sonst, das stimmte, aber ich hatte keine belastbare Erinnerung daran, wie hell er noch vor Kurzem gewesen war. Er war immer dunkler als Rigel, der den rechten Fuß des Sternbilds formt, und er hatte immer in einem funkelnden Rot geleuchtet, wie ein verglimmendes Kaminfeuer, während Rigel strahlend weiß und klar am Himmel leuchtete. Der bevorstehende Tod des Sterns – oder eher seine Verwandlung in einen Neutronenstern, der dann als Pulsar, als Neutronen-Leuchtfeuer, weiterhin beobachtbar sein wird, aber eben nicht mehr mit bloßem Auge – verwandelte ihn auf eine eigentümliche Weise. Er verlieh diesem Stern ein Schicksal, er brachte ihn mir näher. Ich fühlte mit ihm.

Die Schönheit des Sternenhimmels berührt uns nicht allein der Größe und Weite oder der physikalischen Gesetzmäßigkeiten wegen, sondern auch, weil wir ganz direkt, mit unseren aus Sternenstaub bestehenden Körpern, mit ihm verbunden sind. Weil wir, ob wir es können oder nicht, doch versuchen, mit dem, was da draußen über uns ist, mitzufühlen. Weil wir bei der Betrachtung des Nachthimmels gemeint sein wollen.

Dem Himmel Luft geben

Die hauchdünne Netzhaut des Universums, die sich selbst ansieht, das sind wir.

Ernesto Cardenal

Der Zauber, den ein sternenklarer Nachthimmel auf uns ausübt, entsteht zuallererst dadurch, dass wir in der Dunkelheit stehen und die hellen Sterne sehen. Und je dunkler und klarer die Nacht, desto weniger sehen wir hinauf zu einem Himmel, sondern blicken hinein in den Raum, in dem wir uns befinden. Aber weil es ein Raum ist, sollten wir nicht alle unsere Sinne nutzen können, so wie wir es auch auf der Erde tun? Das scheint zunächst einmal absurd. Wie sollten wir im Weltall hören können oder riechen oder schmecken oder fühlen? Wir können es. Wir können das Himbeeressig-Aroma riechen, das sich im Inneren der Milchstraße ausbreitet. Wir können dem Pulsieren der Sterne zuhören. Und wir können Meteoriten berühren.

Beginnen wir aber mit dem naheliegendsten Sinn, dem Sehen.

 

Kurz nach der Jahrtausendwende erklärte ein Schüler des Künstlers Joseph Beuys uns Zuhörern im