Die Stickerin von Sevilla - Sylvia Klinzmann - E-Book

Die Stickerin von Sevilla E-Book

Sylvia Klinzmann

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Beschreibung

Eine verbotene Liebe in Spanien zur Zeit der katholischen Isabel I. von Kastilien. Kastilien, 1474. Die begabte jüdische Stickerin Lea Bensinior und der christliche Edelmann Alvaro de Salvatierra verlieben sich auf einer Reise ineinander. Obwohl ihre Väter strikt dagegen sind, schwören die beiden jungen Leute einander ewige Treue. Bald darauf wird Alvaro persönlicher Sekretär von Isabel I., die sich nach dem Tod ihres Halbbruders selbst zur Königin ernennt. Ihr Ziel wird sein, sämtliche Ungläubige – allen voran die Juden – von der iberischen Halbinsel zu vertreiben. Die Inquisition wütet im Land, die Scheiterhaufen brennen und die Katholiken führen einen Krieg gegen die Mauren um Granada. Am Ende wird auf der Alhambra anstelle des Halbmondes die Fahne mit dem christlichen Kreuz wehen. Leas Leben gerät in dieser Zeit der Umbrüche mehr und mehr aus den Fugen. Ein infames Intrigenspiel einer Rivalin, der Verlust von Menschen, die sie liebt, die eigene Festnahme durch die Inquisition – immer wieder ist es ein Wettlauf gegen die Zeit und mehr als einmal muss sie dem Tod ins Auge blicken. Wird es am Ende eine gemeinsame Zukunft mit Alvaro geben? Das Buch ist eine Reise ans Ende des 15. Jahrhunderts: Das Zeitalter Christoph Kolumbus' und des Vorabends von Spaniens Weltmacht. Ein fundiert recherchierter Roman voller Leidenschaft, Blut und Tränen und den Kampf um die große Liebe.

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Sylvia Klinzmann

Die Stickerin von Sevilla

Historischer Roman

 

Zum Buch

Eine verbotene Liebe im Spanien zur Zeit der katholischen Isabel I. von Kastilien

Kastilien, 1474. Die begabte jüdische Stickerin Lea Bensinior und der christliche Edelmann Alvaro de Salvatierra verlieben sich auf einer Reise ineinander. Obwohl ihre Väter strikt dagegen sind, schwören die beiden jungen Leute einander ewige Treue.

Bald darauf wird Alvaro persönlicher Sekretär von Isabel I., die sich nach dem Tod ihres Halbbruders selbst zur Königin ernennt. Ihr Ziel wird sein, sämtliche Ungläubige – allen voran die Juden – von der iberischen Halbinsel zu vertreiben. Die Inquisition wütet im Land, die Scheiterhaufen brennen und die Katholiken führen einen Krieg gegen die Mauren um Granada. Am Ende wird auf der Alhambra anstelle des Halbmondes die Fahne mit dem christlichen Kreuz wehen.

Leas Leben gerät in dieser Zeit der Umbrüche mehr und mehr aus den Fugen. Ein infames Intrigenspiel einer Rivalin, der Verlust von Menschen, die sie liebt, die eigene Festnahme durch die Inquisition – immer wieder ist es ein Wettlauf gegen die Zeit und mehr als einmal muss sie dem Tod ins Auge blicken. Wird es am Ende eine gemeinsame Zukunft mit Alvaro geben?

Das Buch ist eine Reise ans Ende des 15. Jahrhunderts: Das Zeitalter Christoph Kolumbus’ und des Vorabends von Spaniens Weltmacht. Ein fundiert recherchierter Roman voller Leidenschaft, Blut und Tränen und den Kampf um die große Liebe.

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2021 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2022

 

Korrektorat: Dr. Rainer Schöttle

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: Booksfactory

Made in Germany

ISBN 978-3-948346-57-7

 

 

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Prolog

I. Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

II. Teil

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

III. Teil

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Geschichtlicher Weitergang

Begriffserklärungen in alphabetischer Reihenfolge

Sylvia Klinzmann: Im Schatten des roten Stieres

Prolog

Sevilla, 26. Juli im Jahre des Herrn 1482

In wenigen Minuten würde ihr Leben auf tragische Weise enden. Obwohl man ihr das sambenito, das gelbe Büßergewand, vom Leib gerissen hatte und sie außer der caroza, einer spitzen, mit Flammen und Dämonen bemalten Papiermütze, nichts mehr trug, war ihr Stolz nicht gebrochen. Mit aufrechtem Blick betrachtete Lea die Menschenmenge, die sich in der Ebene von la Tablada vor den Toren Sevillas versammelt hatte – Männer und Frauen, die mit neugierigen, erwartungsvollen Mienen den Beginn des Hinrichtungsschauspiels verfolgten. Einige hatten sogar ihre Kinder mitgebracht.

Sie sah die wuchtigen Gipsfiguren, welche die vier Propheten darstellen sollten und wie mahnende Wächter an den Ecken des Plateaus thronten. Dann wanderte ihr Blick zu dem Banner der mächtigen Inquisition, mit dem grünen Kreuz zwischen Schwert und Olivenzweig, den Ordensbrüdern mit ihren brennenden Fackeln und schließlich zu der Tribüne der Obrigkeiten, auf der unter einem Baldachin Kardinal Pedro Gonzales de Mendoza und Bruder Tomás de Torquemada saßen. Trotz der Entfernung zwischen den Scheiterhaufen und der Zuschauerbühne konnte Lea das zu einer grotesk lächelnden Fratze verzogene Gesicht des Inquisitors erkennen.

Vorsichtig versuchte sie eine andere Haltung einzunehmen, doch die Stricke an ihren Hand- und Fußgelenken waren fest angezogen und schnitten in ihre Haut ein. Sie schaute zu ihrem Bruder hinüber, der am Holzpfahl zu ihrer Rechten angebunden war. Mit versteinerter Miene starrte der junge Mann vor sich hin, bis er den Blick seiner Schwester auf sich spürte und sein Gesicht in ihre Richtung wandte. Als sie die Furcht in seinen Augen las, wollte es ihr schier das Herz brechen.

„Ich habe Angst, Lea. Wird es lange dauern, bis uns der Tod erlöst?“ Aarons Stimme zitterte.

„Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, Jehova wird uns beistehen“, versuchte sie ihm Mut zu machen.

Wie selbstverständlich war ihr die jüdische Bezeichnung Gottes über die Lippen gekommen, obwohl sie schon vor drei Jahren ihrem einstigen Glauben abgeschworen hatte. In der Stunde des nahenden Todes wollte sie jedoch wieder eine sephardim, eine Jüdin Spaniens, sein. Traurig dachte die junge Frau an ihr ungeborenes Kind, das ebenfalls in den Flammen umkommen und niemals seinen Vater kennenlernen würde. Sie sah nach unten auf ihren Bauch, der schon eine sanfte Wölbung erahnen ließ. Ob ihr Geliebter von ihrer Verhaftung und Verurteilung erfahren hatte? Fast glaubte sie, seine Hand zu spüren, die zärtlich über ihre tränennassen Wangen strich, vermeinte, seine Stimme zu hören, die sie mit süßen Worten tröstete. Ihre Lippen formten einen letzten Kuss, den sie ihm in Gedanken sandte.

Das laute Geräusch der Fanfarenstöße riss Lea in die grausame Wirklichkeit zurück. Sie sah in den Himmel hinauf. Eine dunkle Wand bedeckte nun die Sonne, die kurz zuvor noch über der Stadt gestrahlt hatte. Am anderen Ende des Plateaus, das in der Ebene errichtet worden war, zündeten die Büttel die ersten braseros an. Gelblicher, nach verbranntem Fleisch stinkender Rauch, stieg empor und schien eins zu werden mit den Wolken. Die Zuschauer starrten mit offenem Mund auf das Geschehen. Manche hatten ihre von Entsetzen gezeichneten Gesichter abgewandt, andere wiederum wollten sich nicht das Geringste entgehen lassen und weideten sich an den Qualen der Verurteilten. „Tod den jüdischen Bastarden, den Gottesmördern“, brüllten sie fanatisch.

Die Hitze der brennenden Scheiterhaufen wurde immer unerträglicher. Funken stieben nach allen Seiten. Lea spürte, wie ihr der Schweiß zwischen den Brüsten entlangrann. Die Henkersknechte kamen näher. Nur noch wenige Schritte trennten sie von Aaron, auf dessen Gesicht sich ein entsetzter Ausdruck ausgebreitet hatte. Dann war es so weit. Einer der Büttel hielt die Fackel an das trockene Holz, das sofort Feuer fing. Verzweifelt wand sich ihr Bruder hin und her und versuchte, sich loszureißen.

„Nein“, schrie er gellend. „Beim Gott unserer Väter, nein, ich will nicht sterben!“

Lea schluchzte auf. Dann schloss sie die Augen. Und während um sie herum Flammen knisterten, Menschen kreischten und Paukenschläge erklangen, begann sie das Schm’a Jisrael, „Höre Israel“ zu beten.

I. Teil

In der judería1474–1475

Kapitel 1

September 1474

Kastilien, 15. September im Jahre des Herrn 1474

Die aufgehende Sonne hatte ein wunderschönes Farbenspiel über Toledo gezaubert. Noch einmal drehte sich Lea um und betrachtete die schwarzen Silhouetten der Kathedrale und des Alcazars. Majestätisch ragten sie aus dem Häusermeer heraus und zeichneten sich vor dem rot-orangen Hintergrund ab. Der Anblick der auf dem hohen Felsen ruhenden, vom Tajo umflossenen Stadt faszinierte die junge Frau jedes Mal aufs Neue.

Zwei Tage hatte die Gruppe der sevillanischen Händler und Kaufleute dort geweilt. Nun waren sie wieder auf dem Weg zu ihrem eigentlichen Ziel – Medina del Campo, wo in wenigen Tagen der größte Jahrmarkt Kastiliens beginnen würde, der im Mai und Oktober stattfand und im Jahre 1404 von König Fernando I. von Aragon ins Leben gerufen worden war. Seit vier Jahren, seit ihrem zwölften Geburtstag, begleitete das Mädchen ihren Vater, den jüdischen Tuchhändler Ezra Bensinior, in jedem Herbst zur feria nach Medina, wo er Geschäfte mit Angehörigen seines Gewerbes tätigte.

Lea war guter Dinge. Auch wenn die Reise anstrengend war, wollte sie unter keinen Umständen darauf verzichten. Sie freute sich auf die Stadt, die während des Jahrmarktes voller Leben war. Nicht nur Händler aus allen Teilen Europas boten ihre Waren feil, sondern es waren auch eine Menge Gaukler und Artisten dort, die an jeder Ecke eine andere Attraktion darboten. Lea liebte es, durch die Gassen zu schlendern und die verschiedenen Güter der Kaufleute zu bestaunen: exotische Gewürze und Früchte aus dem Orient, feine Tuchwaren aus Italien oder Flandern, die Erzeugnisse der Gold- und Silberschmiede und vieles mehr. Außerdem konnte sie es kaum erwarten, ihre eigenen Stickarbeiten auszustellen. Im letzten Jahr hatte sie einige neue Aufträge erhalten. Lea war schon als Kind von ihrer Mutter Esther in die Kunst der Stickerei eingewiesen worden, und im Laufe der Jahre hatte sie sich eine Vollkommenheit angeeignet, die ihresgleichen suchte. Sie beherrschte nicht nur jede erdenkliche Stichart, sondern auch die Technik der Schwarzstickerei, die erst seit Kurzem Verbreitung fand. Neben der Verzierung von Kleidungsstücken fertigte sie auch wunderschöne Wandbilder an, deren Farbwahl so naturgetreu und deren Stiche so genau gesetzt waren, dass man meinte, ein Gemälde zu betrachten. Der Ruf ihrer Fähigkeiten war schon über die Grenzen der judería von Sevilla hinausgelangt und hatte ihr des Öfteren Aufträge von christlichen Adeligen eingebracht, die bei der Stickerin einen Wandbehang in Auftrag gaben oder ihr Kleider, Wamse und Umhänge überließen, damit sie diese mit feinen Mustern verzierte.

Der Zug der jüdischen und christlichen Kaufleute, die sich an diesem sonnigen, aber kühlen Morgen auf den Weg gemacht hatten, bestand aus zehn hintereinander rollenden, von Pferden oder Maultieren gezogenen Wagen. Sie kamen zunächst nur langsam vorwärts, da es an den Tagen zuvor geregnet hatte und sich der ehemals festgetretene Weg in eine Schlammhalde verwandelt hatte. Immer wieder blieben die Fuhrwerke im Morast stecken und mussten von den Männern und Lasttieren mit vereinten Kräften herausgezogen werden.

Es war windig und obwohl Lea sich in einen warmen Umhang gehüllt hatte, zitterte sie. Ihr dunkles, üppiges Haar, ein Erbe ihrer vor drei Jahren verstorbenen Mutter, war unter einem Tuch verborgen. Eine Lockensträhne hatte sich jedoch gelöst und umwehte die weichen Konturen ihres Gesichts, in dem als Erstes die funkelnden grünen Augen auffielen. Eine runde Nase, ein Mund mit herzförmigen Lippen und eine schlanke Figur mit festen Brüsten vervollkommneten das Bild einer hübschen, jungen Frau.

Ezra war ebenfalls zum Schutz gegen die Kälte gewappnet. Er trug einen dicken Mantel über seinem Kaftan, ein Turban bedeckte seinen Kopf. Wenn er auf Reisen ging, bevorzugte der Tuchhändler die bequeme maurische Kleidung. Stolz betrachtete Lea ihren Vater, der die Zügel der Maultiere fest in den Händen hielt. Er hatte soeben das einundvierzigste Lebensjahr überschritten. Obwohl sich ein Bauchansatz unter seinem Gewand abzeichnete und sein schwarzes Haar von Silberfäden durchzogen wurde, war er immer noch eine stattliche Erscheinung. Der Spitzbart, der unterhalb seiner Nase ansetzte, stand ihm gut. Schon oft hatte Lea beobachtet, wie die eine oder andere Frau ihm begehrliche Blicke zugeworfen hatte. Doch der Witwer war noch nicht bereit, sich ein neues Eheweib zu nehmen. Zu sehr schmerzte ihn Esthers Verlust. So lenkte er seine ganze Aufmerksamkeit auf sein Geschäft und die Erziehung seiner drei Kinder, denen er bis jetzt ein zwar strenger, aber gerechter Vater gewesen war. Er hatte sogar seine beiden Töchter im Lesen und Schreiben sowohl der kastilischen als auch der hebräischen Sprache unterrichtet und seinem Sohn den Besuch der Chederschule ermöglicht, in der man die Thora und den Talmud studierte.

Es fing zu dämmern an, als der Weg in einen Pinienwald hineinführte. Die Äste, dicht miteinander verwoben, ließen nur wenig Tageslicht in den Wald eindringen. Wie von unsichtbarer Hand geführt, verringerten die Wagen den Abstand zueinander.

„Das gefällt mir nicht.“ Ezra schüttelte besorgt den Kopf.

Kaum hatte er die Worte zu Ende gesprochen, als eine Horde zerlumpter Gestalten aus dem Dickicht hervorstürzte und die Reisenden umstellte. Lea schrie vor Schreck auf, Ezra griff nach dem Dolch, den er unter seinem Kaftan verborgen hatte.

„Sofort alle von den Wagen herunter!“, brüllte einer der Straßenräuber und schwang ein Schwert durch die Luft. Er schien der Anführer der Bande zu sein. „Stellt euch hier an die Seite!“

Ezra versteckte den Dolch wieder unter seinen Kleidern und sprang zu Boden. Dann half er Lea abzusteigen und schob sie hinter sich.

„Bleib ruhig und rühr dich nicht!“, raunte er ihr zu. „Hätte ich dich diesmal nur zu Hause gelassen!“

„Ihr werdet jetzt euer Geld und den Schmuck, den ihr bei euch tragt, in diesen Sack werfen!“, forderte das Oberhaupt der Räuber die Kaufleute auf.

Während einer der Wegelagerer die Wertsachen einsammelte, durchsuchten andere die Wagen und Packtiere.

„Nein, das bekommt ihr nicht! Das ist alles, was ich besitze!“, erklang eine aufgeregte Stimme, die Ezra sofort dem Gewürzhändler Carlos García zuordnete.

„Das werden wir sehen! Lass sofort los!“

Ein Schrei ertönte. Carlos García fiel von seinem Wagen herunter und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Ein dunkelroter Fleck breitete sich auf seinem hellen Wams aus. Entsetzt hatten die Kaufleute den Vorgang verfolgt, aber niemand getraute sich, einzugreifen.

„Vater!“, schluchzte Lea, „Ist er tot?“

„Pst!“ Der Angesprochene drehte sich zu seiner Tochter um. „Schweig still!“

Er wollte auf keinen Fall, dass die Banditen auf sie aufmerksam wurden. Doch das war bereits geschehen.

„Was haben wir denn hier für ein süßes Täubchen?“

Einer der Schurken hatte die hinter Ezra stehende Lea gesehen.

Er zog das Mädchen mit einem Ruck hinter dessen Rücken hervor und riss ihr das Tuch vom Kopf. „Schaut mal, wen ich entdeckt habe!“, brüllte er seinen Kameraden zu.

„Die nehmen wir mit, da werden wir alle unseren Spaß haben“, grölte der Anführer.

„Lass mich los, du Scheusal!“ Die Arme versuchte, sich aus dem Griff des Banditen zu befreien, sodass dieser alle Mühe hatte, sie festzuhalten.

Ezra zückte seinen Dolch und stürzte sich mit einem Aufschrei auf den Peiniger seiner Tochter. Die anderen Kaufleute, durch das mutige Vorgehen des Tuchhändlers aus ihrer Erstarrung erwacht, taten es ihm gleich und machten sich ebenfalls daran, die Plünderer anzugreifen. Ein wilder Kampf entbrannte, von Schreien und Flüchen begleitet.

Lea wich hinter die Fuhrwerke zurück und flehte Gott um Hilfe an. Ängstlich beobachtete sie, wie Ezra mit einem der Männer rang, dem es gelungen war, ihm den Dolch aus der Hand zu schlagen. Nun hielt der Schurke von hinten seinen Arm um den Hals des Tuchhändlers und schnürte ihm die Luft ab. Entsetzt sah Lea, wie sich ihr Vater hin und her wand. Sein Gesicht war feuerrot und es kam ihr so vor, als ob seine Augen aus den Höhlen hervortraten. Sie musste ihm helfen, sonst würde er ersticken. Rasch blickte sie sich um und hob einen dicken Ast auf. Mit voller Kraft schlug sie ihn gegen den Kopf des Angreifers. Ein erstaunter Ausdruck erschien auf dessen Gesicht. Er lockerte seinen Griff und fiel nach hinten um. Lea begann zu zittern. Hatte sie ihn getötet?

Ihr Vater kniete auf dem Boden und hielt sich röchelnd den Hals. „Danke, mein Kind. Du hast mich gerettet.“ Er wollte soeben nach seinem Dolch greifen, als sich ein weiterer Mann auf ihn stürzte. „Geh in Deckung, Lea“, schrie er seiner Tochter zu.

Schnell verkroch sich diese wieder hinter dem Wagen. Plötzlich vernahm sie Hufgetrappel und sah durch die Bäume einen Lichtschein, der rasch an Helligkeit gewann. Es war eine Reitergruppe, die sich in zügigem Galopp näherte. Kurz vor den Fuhrwerken hielten die Männer an und stiegen ab. Lea erkannte zwei kostbar gekleidete Edelleute mit ihrer bewaffneten Eskorte.

„Was geht hier vor?“, rief der Ältere.

Lea stürzte aus ihrem Versteck hervor.

„Wir wurden überfallen, Herr. Bitte, helft uns! Mein Vater, er … Ich habe solche …“

„Nur keine Angst, Mädchen!“, unterbrach er ihr Gestammel und zog sein Schwert. „Vorwärts, Männer!“

Mit lautem Geschrei stürzten sich die Soldaten in den Kampf. Durch diese Verstärkung waren die Straßenräuber rasch überwältigt. Nicht einer von ihnen wurde verschont. Lea schloss ihren Vater glücklich in die Arme. Ezra war außer den Würgemalen an seinem Hals unverletzt geblieben. „Jehova sei Dank! Dir ist nichts passiert, mein Kind.“ Er küssste seine Tochter auf die Stirn.

„Verdammt, Pedro Vazquez hat es erwischt. Ich glaube, er atmet nicht mehr!“, ertönte eine Stimme. Eilig umringten die Händler den auf dem Boden Liegenden, konnten aber nur noch seinen Tod feststellen. Carlos García war ebenfalls seinen Verletzungen erlegen und zwei weitere Männer hatten sich tiefe Stichwunden zugezogen, die in der nächsten Stadt von einem Bader behandelt werden mussten. Schweigend stand die Gruppe beieinander und gedachte der Verstorbenen. Der Gewürzhändler ließ eine Frau und zwei kleine Kinder zurück. Obwohl sie tiefes Mitleid für die beiden Toten und deren Angehörige empfanden, waren die meisten froh, selbst mit dem Leben davongekommen zu sein.

Ezra hielt nach den caballeros Ausschau, die sich etwas abseits neben ihren Pferden aufhielten.

„Wir wollen unsere Retter begrüßen!“ Er nahm Lea bei der Hand und zog sie hinter sich her. „Habt vielen Dank, Ihr edlen Herren!“, verbeugte er sich. „Mein Name ist Ezra Bensinior, Tuchhändler aus Sevilla. Dies ist meine Tochter Lea. Wir alle sind auf dem Weg zum Jahrmarkt nach Medina del Campo. Darf ich fragen, wer Ihr seid?“

Die anderen Kaufleute, die sich in der Zwischenzeit um Ezra geschart hatten, blickten neugierig auf die Edelmänner.

„Seid gegrüßt, Ezra Bensinior, und Ihr anderen ebenfalls. Ich bin Pedro, Marqués de Salvatierra. Dies hier ist mein Sohn Alvaro“, deutete er auf den jungen Mann neben sich. „Wir reiten nach Segovia. Wenn ihr wollt, könnt Ihr Euch uns eine Weile anschließen.“

„Das werden wir gern tun, nicht wahr?“ Fragend blickte Ezra sich zu seinen Mitreisenden um, die zustimmten.

Während des Gespräches hatte Lea fasziniert auf den Sohn des Marqués gestarrt. Er mochte einige Jahre älter sein als sie selbst. Wie Don Pedro trug auch er einen pelzverbrämten Samtumhang. Nur war der seine nicht scharlachrot, sondern von dem gleichen dunklen Blau wie seine Augen. Unter einem Barett schauten braune Haare hervor, die ein bartloses, mit einer geraden Nase und einem eckigen Kinn versehenes Gesicht umrahmten. Schwarze, eng anliegende Beinkleider betonten seine muskulösen Oberschenkel.

Auch Alvaro hatte sie heimlich gemustert, und was er gesehen hatte, gefiel ihm. Die großen grünen Augen, die ihn ohne Scheu ansahen, die zierliche Gestalt und schließlich die langen, dunklen Locken, die ihr bis zur Taille reichten. Während er sie weiterhin verstohlen betrachtete, ertappte er sich bei dem Gedanken, wie es sein würde, ihren herzförmigen Mund zu küssen. Schnell wandte er sich ab.

Nachdem die Kaufleute ihr Geld und die Wertgegenstände zurückgeholt und auf den Fuhrwerken verstaut hatten, huben sie zwei Gräber aus, in die sie die Leichen legten. Zusammen mit dem Marqués und seinem Sohn sowie den Soldaten standen sie dann mit ernsten Mienen vor den Erdhügeln. Ezra hielt Lea fest im Arm, und seine Lippen formten stumm die Worte des Kaddisch. Garcia und Vazquez waren Katholiken gewesen, und so sprach einer der christlichen Kaufleute ein Gebet für die Verstorbenen. Er erklärte sich zudem bereit, die Packesel nach Medina und danach wieder zurück nach Sevilla zu führen, um sie dort den Hinterbliebenen zu übergeben.

Die Leichen der Straßenräuber ließen sie am Wegesrand liegen. Im nächsten Ort würden sie den Vorfall der Hermandad melden, einer Vereinigung, die im vorigen Jahrhundert ins Leben gerufen worden war, einer Art Bürgerwehr, die auf den Straßen für Ordnung sorgte.

Als die Nacht gänzlich hereingebrochen war, schlugen die Reisenden ihr Lager auf. Dies wurde nicht wie sonst von lautem Gerede und Lachen begleitet, sondern ein jeder verrichtete stumm seine Arbeit. Alle waren immer noch von den schrecklichen Ereignissen, die den Tod in ihre Mitte gebracht hatten, wie gelähmt. Bevor man sich zur Ruhe niederlegte, luden Ezra und Lea die Edelleute ein, sich zu ihnen ans Feuer zu setzen. Lea tischte kaltes Lammfleisch sowie Brot und Schinken auf, Pedro seinerseits bot dem Tuchhändler und seiner Tochter Wein an, den er in Lederschläuchen mit sich führte. Sie unterhielten sich über die unsicheren Zustände Kastiliens, die sie auf die lasche Regierung König Enriques von Kastilien zurückführten. Alvaro schaute immer wieder zu Lea, die ihm gegenübersaß. Ohne jegliche Schüchternheit lächelte das junge Mädchen ihn an.

Später, als sie neben ihrem Vater lag und in den Sternenhimmel hinaufblickte, waren es nicht die hellen Himmelskörper, die sie sah, sondern zwei dunkelblaue, von dichten Wimpern umrandete Augen.

Am nächsten Morgen setzten sie ihren Weg fort. Da die Kaufleute von den beiden Salvatierras und deren bewaffneter Eskorte begleitet wurden, fühlten sie sich sicher.

Alvaro ritt die meiste Zeit neben Ezras Wagen und unterhielt sich mit dem Tuchhändler und seiner Tochter. Der Sohn des Marqués verfügte über einen ausgesprochen trockenen Humor, mehr als einmal brachen sie in schallendes Gelächter aus. Das Mädchen genoss es, die hochgewachsene, schlanke Gestalt Alvaros auf dem Araberhengst neben sich zu wissen, zumal seine Blicke ihr eine Gänsehaut verursachten.

Vor den Toren Torrijos machte die Gruppe erneut halt. Ezra und zwei weitere Männer brachten die Verletzten in die Stadt, um einen Bader aufzusuchen, der ihre Wunden behandeln konnte. Die übrigen Reisenden und die Soldaten ruhten sich derweil unter den umliegenden Bäumen im Schatten aus.

Lea blieb bei den Fuhrwerken zurück. Sie versorgte gerade die Maultiere, als Alvaro sich zu ihr gesellte.

„Erzähl mir ein wenig von dir, Lea“, bat er sie lächelnd.

Die beiden jungen Leute setzten sich nebeneinander ins Gras.

„Wo soll ich anfangen? Meinen Namen kennst du ja schon. Wir kommen aus Sevilla, dort wohnen wir in der judería von Santa Cruz. Ich habe einen Bruder, Aaron, und eine Schwester. Sie heißt Sara.“ Lea blickte auf. „Unsere Mutter ist vor einigen Jahren gestorben.“

„Oh, das tut mir leid!“ Alvaro ergriff ihre Hand und drückte sie mitfühlend.

„Wie du weißt, ist mein Vater Tuchhändler“, fuhr sie fort. „Ich selbst widme mich der Stickerei. Darin hat mich meine Mutter unterwiesen.“

„Das ist doch ein netter Zeitvertreib für ein junges Mädchen“, fand Alvaro und streichelte Leas Finger.

„Es ist nicht nur ein netter Zeitvertreib. Ich verdiene damit Geld!“, erwiderte die junge Frau selbstbewusst und entzog Alvaro ihre Hand. „Komm mit! Ich zeige dir ein paar meiner Arbeiten.“

Damit sprang sie auf und lief zu Ezras Wagen. Dort schlug sie die Abdeckung zurück und zog einen feinen, weißen Leinenstoff hervor, auf den sie mit schwarzem Garn verschiedene Formen aufgestickt hatte. Sie erinnerten Alvaro an die arabischen Friese, die in den maurischen Bauwerken zu finden waren. Des Weiteren hatte das Mädchen eine blaue Seide mit goldenen Blumenranken und einen grünen Stoff mit einem Fantasiemuster verziert.

„Das ist wunderschön, Lea. Dein Vater muss sehr stolz auf dich sein.“

Die junge Frau lächelte und öffnete nun eine Kiste, der sie eine eingewickelte Rolle entnahm. Vorsichtig enthüllte sie einen Wandbehang, dessen Anblick dem Sohn des Marqués einen Ausruf des Erstaunens entlockte.

„Lea, noch nie habe ich ein solches Kunstwerk gesehen.“ Er fuhr die Konturen der Landschaft nach, die die Stickerin auf dem Teppich verewigt hatte. Es war ihre Heimatstadt Sevilla. Im Vordergrund hatte sie den Guadalquivir und den Anlegesteg der Flussschiffe dargestellt, dahinter das Häusermeer mit dem Turm der Kathedrale. Der Himmel, der die Stadt überspannte, war in den leuchtendsten Blautönen gehalten. Die Arbeit war sehr sorgfältig ausgeführt und musste seine Herstellerin viel Zeit gekostet haben.

„Es freut mich, dass es dir gefällt.“ Leas Wangen hatten sich gerötet.

Nun hob sie den Wandteppich hoch und gab den Blick auf ein weiteres Werk frei, das Adelige bei einer Jagdszene zeigte.

Wiederum fielen Alvaro die naturgetreuen Farben und Formen ins Auge. „Wenn mein Vater dies sieht, wird er dir sofort einen Auftrag erteilen“, war sich der junge Mann sicher. „Meine Mutter versucht schon seit Langem, ihn davon zu überzeugen, die Wände unseres Anwesens zu verschönern.“

Vorsichtig rollte Lea die Arbeiten wieder zusammen. „Dann sollte ich sie ihm vor Ende unserer Reise einmal zeigen.“

Gerade als sie alles wieder ordnungsgemäß verstaut hatte, kamen Ezra und die anderen Männer aus der Stadt zurück. Zum Glück hatten sie einen Bader ausfindig machen können, der die Wunden der Verletzten versorgt und ihnen Anweisungen sowie Medizin für die weitere Behandlung mitgegeben hatte.

Kurz darauf setzte der Trupp seine Reise fort. Alvaro ritt weiterhin in der Nähe von Ezras Wagen. Selbst wenn die Gruppe Rast hielt, wich er nicht von Leas Seite. Erst am späten Abend gesellte er sich zu seinem Vater und dessen Männern. Sobald er sich von dem Tuchhändler und seiner Tochter verabschiedet hatte, begann Lea bereits, ihn zu vermissen und den Morgen herbeizusehnen. Sie träumte jede Nacht von dem jungen Edelmann und stellte sich vor, wie sie in seinen Armen liegen und er sie küssen würde. Wenn sie ihn dann nach Sonnenaufgang hoch zu Ross erblickte und er sie anstrahlte, nahmen ihre Wangen eine zarte Rötung an und ihr Herz raste. Sie musste sich schon bald eingestehen, dass sie sich in den Sohn des Marqués verliebt hatte.

Ezra betrachtete das Ganze mit gemischten Gefühlen. Es gefiel ihm nicht, dass die beiden jungen Leute so viel Zeit miteinander verbrachten, da ihnen somit der in Bälde bevorstehende Abschied voneinander umso schwerer fallen würde. Auch war ihm nicht entgangen, mit welch zärtlichen Blicken Alvaro Lea bedachte und wie seine Tochter diesen oftmals versonnen, mit einem innigen Lächeln auf den Lippen betrachtete. Wie es schien, empfanden die beiden weit mehr füreinander als Freundschaft, doch niemals würde er Lea erlauben, die Gemahlin eines Christen zu werden.

Vor Escalona gönnten sie sich eine weitere Pause. Der Tuchhändler legte sich zu einem Nickerchen auf dem Wagen nieder und kurz darauf war die Luft von seinen Schnarchgeräuschen erfüllt. Lea gab den Maultieren Wasser und setzte sich dann in die Sonne. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Strahlen auf ihrem Gesicht.

„Holabelleza“, vernahm sie eine Stimme, deren Klang ihr Herz schneller schlagen ließ.

Sie schaute auf und erblickte Alvaros schlanke Gestalt.

„Hast du Lust auf einen Spaziergang?“, fragte er.

„Ja, gern.“ Das Mädchen erhob sich und sah vorsichtshalber noch einmal nach Ezra, doch dieser schlief tief und fest. So liefen sie nebeneinander einen Hügel hinauf. Als sie sicher sein konnten, dass man sie von den Wagen aus nicht mehr sehen konnte, ergriff Alvaro Leas Hand. Zwischen ein paar Olivenbäumen setzten sie sich nieder.

Von hier oben hatte man einen freien Blick auf die Stadtmauern Escalonas und die Zinnen des Kastells.

Alvaro lehnte mit dem Rücken an einen Baumstamm, Lea ruhte zwischen seinen ausgestreckten Beinen, ihr Kopf lag auf seiner Brust. Der junge Mann streichelte die Hände seiner Liebsten. „Du bist das hübscheste Mädchen, das mir je begegnet ist.“

Lea lachte verlegen. „Das glaube ich dir nicht. Sicher gibt es in Toledo viele schöne Frauen.“

„Aber keine hat solche grünen Augen und so weiches Haar.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die glänzenden Locken.

„Ich bin froh, dass wir uns getroffen haben.“ Seine Stimme klang rau, er räusperte sich.

„Ich auch.“ Lea richtete sich auf und wandte sich ihm zu, sodass sie Alvaro ins Gesicht blicken konnte.

Voller Zärtlichkeit betrachtete dieser die beiden Grübchen, die sich auf ihren Wangen bildeten, wenn sie lächelte. Mit seinen Fingerspitzen fuhr er behutsam die Konturen ihrer Wangen und Lippen nach, danach streichelte er ihren Hals. Ein wohliger Schauer überzog das Mädchen.

„Darf ich dich küssen?“, fragte er, und als Lea zustimmend nickte, beugte er sich hinab, sodass sich ihre Lippen berührten, erst vorsichtig und dann voller Leidenschaft. Im Kopf der jungen Frau drehte es sich, alles schien weit weg zu sein – Ezra, der Jahrmarkt, ihr jüdischer Glaube. Es gab nur noch sie, Alvaro und ihre Liebe. Der Kuss schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder trafen sich ihre Münder. Lea war überwältigt von den Gefühlen, die Alvaro in ihr erweckte. Noch nie hatte sie etwas Ähnliches erlebt.

„Eigentlich müssten wir uns bei den Wegelagerern bedanken“, bemerkte der Sohn des Marqués nach einer Weile. „Hätten sie euch nicht überfallen, dann wären wir uns sicherlich nie begegnet.“

Das Mädchen stimmte lächelnd zu. Doch sie wollte nicht reden, wollte einfach nur diesen unbeschreiblichen Augenblick in seinen Armen genießen.

Schließlich war es Zeit aufzubrechen, wollten sie vermeiden, dass den anderen ihre Abwesenheit auffiel. Nach einem letzten innigen Kuss liefen sie den Abhang wieder hinunter.

Mittlerweile war Ezra aufgewacht. Er hatte seine Tochter bereits vermisst.

„Wo bist du gewesen?“, fragte er.

„Ich habe mir die Beine vertreten.“

„Allein?“

„Nein, ich … Alvaro hat mich begleitet.“

Der Tuchhändler runzelte die Stirn. Schon wieder der Sohn des Marqués. Er durfte Lea in Zukunft nicht mehr aus den Augen lassen, beschloss er.

Aber trotz seiner Bewachung gelang es den jungen Leuten ab und zu, einen Augenblick der Unaufmerksamkeit auszunutzen und sich heimlich davonzustehlen, um ein paar ungestörte Momente der Zweisamkeit zu genießen. Lea mochte nicht daran denken, wie es weitergehen sollte, wenn sie ihr Ziel erreicht hätten.

Die Landschaft fing an sich zu verändern, wurde hügeliger und kahler. Im Nordwesten waren bereits die schneebedeckten Berge der Sierra Gredos zu erkennen, deren Ausläufer die Reisenden überqueren mussten. Je weiter sie nach Norden kamen, umso kälter wurde es, sodass sie nun nicht mehr im Freien nächtigten, sondern in Herbergen, die auf ihrem Weg lagen. Alvaro ritt seit ein paar Tagen wieder in vorderster Linie neben seinem Vater. Der Marqués hatte ihn dazu aufgefordert, da auch ihm mittlerweile aufgefallen war, dass sein Sohn stets Leas Nähe suchte. Nicht auszudenken, wenn sich sein Jüngster in die Tochter des jüdischen Tuchhändlers verlieben würde. An eine solche Verbindung war in ihren Kreisen nicht einmal zu denken. Außerdem hatte er Alvaros Zukunft bereits genau geplant. Für eine Frau gab es dort keinen Platz.

So wurde es für die beiden Verliebten immer schwieriger, eine flüchtige Berührung oder gar einen verstohlenen Kuss auszutauschen.

Ungefähr einen halben Tagesritt von Avila entfernt kehrte die Gruppe am Abend zum letzten Mal gemeinsam in einem Gasthaus ein, wo sie ein stärkendes Mahl und eine Schlafgelegenheit zu finden hofften. Der Wirt, ein korpulenter Geselle mit schütterem braunem Haupthaar, sagte ihnen beides zu, und so nahmen sie zunächst an den aus grobem Holz gezimmerten Tischen und Bänken in der Schankstube Platz. Ein flackerndes Feuer im Kamin sorgte für wohlige Wärme, und wenig später drangen verheißungsvolle Gerüche zu ihnen vor. Nachdem der Wirt die Edelleute im Gefolge der Händler erblickt hatte, fuhr er alles auf, was seine Küche zu bieten hatte. Schon bald verzehrten die Gäste bei munterem Geplauder die Köstlichkeiten, die die Frau des Herbergsbesitzers ihnen servierte. Ezra, Lea und die anderen Juden gaben darauf acht, nur koschere Speisen zu essen. Alle waren froh, den größten Teil der Reise hinter sich gebracht zu haben, und so herrschte eine ausgelassene Stimmung, die zweifelsohne dem Rotwein zu verdanken war, den der Wirt aus einem hölzernen Fass hinter dem Haus in reicher Fülle herbeischaffte. Nur einmal war ein Hauch von Bedrücktheit zu spüren, als man erneut der verstorbenen Kaufleute gedachte.

Zu fortgeschrittener Stunde holte der Schankwirt seine Laute hervor und fing an zu spielen. Die Gäste rückten das Mobiliar beiseite und schwangen ausgelassen das Tanzbein. Ezra war sogar so gut gelaunt, dass er nichts sagte, als Alvaro Lea aufforderte und mit ihr durch die Stube wirbelte.

Eine Stunde nach Mitternacht beendeten sie das fröhliche Beisammensein und begaben sich in die Schlafkammern.

Der Sohn des Marqués zog Lea vorher in eine Nische. „Hast du den Johannisbrotbaum draußen hinter den Ställen gesehen?“, flüsterte er ihr ins Ohr, ohne ihre Hand loszulassen. „Ich werde in einer halben Stunde dort sein.“

„Ich muss erst warten, bis mein Vater eingeschlafen ist“, wisperte Lea.

Schon kam Ezra zurück, um nach seiner Tochter zu schauen. In der Stube wollte der Tuchhändler jedoch nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder sprach er von der bevorstehenden Messe und den Geschäften, die er zu tätigen hoffte. Endlich verrieten Lea gleichmäßige Schnarchtöne, dass er vom Schlaf übermannt worden war. Sie schlich sich auf leisen Sohlen aus der Kammer.

Als sie sich dem alten Baum näherte, hatte sich der Mond hinter ein paar Wolken verzogen. Sie musste sehr vorsichtig gehen, um nicht über Pflanzen oder Wurzeln zu stolpern.

„Alvaro, bist du da?“, raunte sie, um gleich darauf erschreckt aufzuschreien, als jemand ihren Arm ergriff.

„Keine Angst! Ich bin es.“ Der Sohn des Marqués kam hinter dem algarrobo hervor und drückte ihr einen zärtlichen Kuss aufs Haar.

„Morgen werden sich unsere Wege trennen.“ Traurig blickte die Stickerin in Alvaros Gesicht, das sie nur schemenhaft wahrnehmen konnte.

„Ich werde meinen Vater nach Segovia begleiten, wo wir dessen Freund, den Statthalter Andres de Cabrera besuchen wollen“, erklärte der junge Edelmann mit leiser Stimme. „Dort werde ich die erstbeste Gelegenheit ergreifen, mich unbemerkt davonzumachen, um auf dem schnellsten Wege nach Medina zu reiten. Es wird mir schon gelingen, euren Stand zu finden.“

„Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Ich werde jeden Tag nach dir Ausschau halten und erst beruhigt schlafen können, wenn du wieder bei mir bist.“

Die Stickerin schmiegte sich in die Arme ihres Liebsten. Sie genoss die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, und dachte mit Schrecken an den morgigen Tag, an dem sie sich für eine ungewisse Zeit trennen mussten.

„Wird dein Vater es nicht zu verhindern wissen, dass du mich aufsuchst?“, fragte sie und das Zittern in ihrer Stimme verriet ihre Furcht. „Was ist, wenn du das Haus eures Freundes nicht unbemerkt verlassen kannst?“

Der Gedanke, dass etwas oder jemand ihre Pläne durchkreuzen könnte, war ihr unerträglich.

„Sorge dich nicht, Liebste! Ich werde mein Versprechen einlösen und dann werden wir für immer beisammen sein.“ Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie voller Leidenschaft auf den Mund.

„Ich wünsche mir von ganzem Herzen, mich nie wieder von dir trennen zu müssen“, flüsterte Lea, „aber trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass ich eine Jüdin bin und du ein Christ und zudem noch der Sohn eines Marqués. Unsere Familien werden unsere Liebe niemals billigen.“

„Der jüngste Sohn“, bemerkte Alvaro. „Den Titel und die Güter erbt mein ältester Bruder. Mir bleibt nur übrig, eine Anstellung anzunehmen oder ins Kloster einzutreten.“

„Mein Vater würde mir nie erlauben, einen Mann zu heiraten, der nicht unserem Glauben angehört. Er wird sich bald in den jüdischen Familien Sevillas umschauen, um einen geeigneten Bräutigam für mich zu finden.“ Sie verschwieg, dass er diesen bereits im Auge hatte.

„Dann gehen wir zusammen weg, irgendwohin, wo uns keiner kennt und wo der Glaube keine Rolle spielt.“

Eine Zornesfalte erschien zwischen Alvaros schön gewachsenen Augenbrauen.

Lea seufzte und schmiegte sich noch fester in seine Arme.

„Ich will niemals mehr von dir getrennt sein“, flüsterte der junge Edelmann.

Erneut berührten sich ihre Lippen. Ein Schauer durchfuhr die junge Frau, als Alvaros Hand ihre linke Brust umschloss und diese sanft zu streicheln begann. Leas Herz klopfte so heftig, als ob es augenblicklich zerspringen wollte, und sie spürte, wie das Blut in ihrem Kopf rauschte. Eine unbekannte Kraft schien von ihr Besitz zu ergreifen, sodass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Erst als eine empörte Stimme ihren Namen rief, erwachte sie aus ihrer Entzückung. Im Licht des hoch stehenden Vollmondes erkannte sie die sich schnell nähernde Gestalt. Es war Ezra.

Das junge Paar ließ augenblicklich voneinander ab, doch es war zu spät. Der Tuchhändler hatte sie bereits in ihrer innigen Umarmung gesehen.

„Lea! Wie kannst du nur! Komm sofort her!“, rief er außer Atem, da er die letzten Schritte gerannt war. Fest umfasste er den Arm seiner Tochter. „Wir unterhalten uns später!“, drohte er Alvaro und zog Lea mit sich fort.

„Ich bin tief enttäuscht von dir“, warf der Jude der jungen Frau wenig später in ihrer gemeinsamen Kammer vor. „Ich hätte dir wirklich mehr Vernunft zugetraut.“

Lea saß auf der Schlafstätte und blickte nach unten auf ihre gefalteten Hände.

„Hat er dich bereits entehrt, dieser christliche Schurke?“

„Nein! Wir haben uns nur geküsst.“ Ihre Stimme klang trotzig. „Wir lieben uns, Vater. Alvaro will mich heiraten.“ Sie hob ihren Kopf und schaute Ezra an. Tränen glitzerten in ihren Augen, die wie zwei Smaragde glänzten.

Ezra zuckte hilflos mit den Schultern. Er konnte seiner Tochter nie lange böse sein. „Lea. Du weißt doch selbst, dass dies nicht möglich ist.“ Er setzte sich neben sie auf das Bett und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Er ist kein Jude und noch dazu der Sohn eines Marqués. Sein Vater würde einer solchen Verbindung niemals zustimmen. Und ich auch nicht“, fügte er hinzu. „Zumal es in Sevilla schon jemanden gibt, der dir den Hof macht und der mehr als gut zu dir passt!“

Mit Widerwillen dachte Lea an den unscheinbaren Sohn des jüdischen Weinhändlers Jehuda Toledano, der in den Wochen vor ihrer Abreise immer wieder ihre Nähe gesucht hatte. Er war zwar mit seinem langen, lockigen Haar und dem dunkelblonden Bart nicht unbedingt hässlich zu nennen, doch Lea konnte seiner verweichlichten, ruhigen Art nichts abgewinnen.

„Aber ich liebe Manuel nicht. Mein Herz gehört von nun an Alvaro“, brach es aus ihr hervor.

„Mein Kind, du weißt, ich kann dir selten eine Bitte abschlagen, trotzdem werde ich diesmal hart bleiben.“ Ezra umschloss ihr Gesicht mit seinen Händen. „Du musst dir diesen Salvatierra wieder aus dem Kopf schlagen! Es kann keine Zukunft für euch geben, hörst du? Schau mich an, Lea!“

Sie blickte ihn ablehnend an.

„Versprich mir, dass du ihn vergessen wirst!“, beharrte der Tuchhändler.

Lea kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, wie zwecklos es gewesen wäre, weiterhin aufzubegehren. So versprach sie, was er von ihr forderte. Doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie dieses Gelöbnis schon bald wieder brechen würde.

Das Gespräch mit seiner Tochter hatte Ezra beruhigt. Trotzdem beschloss er, am nächsten Morgen Alvaros Vater über das Geschehene zu informieren. Als er den Marqués etwas abseits neben seinem Pferd stehen sah, trat er auf ihn zu und berichtete ihm mit wenigen Worten, was sich in der Nacht abgespielt hatte. Pedro de Salvatierra missbilligte eine solche Beziehung ebenso wie der Tuchhändler.

„Sorgt Euch nicht, Ezra! Mein Sohn wird nach unserer Rückkehr aus Segovia sein Studium des kanonischen Rechts beenden und danach in ein Kloster eintreten. Es ist bereits alles Erforderliche in die Wege geleitet.“

„Das ist gut! Ich habe ebenfalls Pläne bezüglich der Zukunft meiner Tochter.“ Erleichterung war aus der Stimme des Juden herauszuhören.

Der Marqués klopfte ihm besänftigend auf die Schulter. „In Kürze werden sie sich sowieso trennen. Ihr werdet weiter nach Medina del Campo reisen und wir nehmen die Abzweigung in Richtung Segovia. Danach werden sie sich niemals wiedersehen und einander schnell vergessen.“

Ezra nickte zustimmend. Dann ging er zu seinem Wagen, auf dem Lea mit verschlossener Miene Platz genommen hatte. Sie hatten seit dem Morgen nur das Nötigste miteinander gesprochen, da die einsilbigen Antworten seiner Tochter dem Tuchhändler alsbald die Lust an einer Unterhaltung vergällt hatten.

Kurz darauf ging die Reise weiter. Der Sohn des Marqués ritt wieder am Anfang des Zugs neben seinem Vater.

Ein paar Stunden später hielt der Tross an. Man hatte die Kreuzung erreicht, an der die Salvatierras und ihr Gefolge eine andere Richtung einschlagen mussten.

„Vater, erlaube mir wenigstens, mich von Alvaro zu verabschieden!“, bat Lea.

„Das will ich dir nicht verwehren“, antwortete der Tuchhändler, während er selbst vom Wagen abstieg, um ihren Helfern eine gute Weiterfahrt zu wünschen.

Er ging vor, wo der Marqués soeben von seinem Pferd absaß.

Alvaro kam Lea entgegen und ergriff ihre Hände. „Ich liebe dich, mi corazón! Wir werden uns wiedersehen, ich gebe dir hier und jetzt mein Wort darauf.“

„Ich vertraue dir.“ Das Mädchen blickte ihn traurig an. „Auch ich liebe dich von ganzem Herzen. Wie soll ich nur ohne dich sein?“ Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel.

„Sobald wir Segovia erreicht haben und sich eine Gelegenheit ergibt, komme ich nach Medina. Dann bleiben wir für immer zusammen.“ Wie gern wäre der Sohn des Marqués jetzt mit der jungen Frau allein gewesen und hätte sie in seine Arme gezogen.

Lea schaute ihn an, um sich noch einmal genau seine Züge zu verinnerlichen. Sie wollte seinen Worten so gern Glauben schenken, doch tief in ihrem Inneren spürte sie, dass ihre Liebe aufgrund ihrer unterschiedlichen Stellung und Religionszugehörigkeit keine Erfüllung finden würde.

„Komm, mein Kind, wir fahren weiter“, ertönte Ezras Stimme. Sanft ergriff er Leas Schultern und zog sie von Alvaro fort. „Lebt wohl und habt nochmals Dank für Eure Hilfe!“, verabschiedete er sich von dem Sohn des Marqués.

Dieser hob stumm die Hand zum Gruß und verfolgte jede Bewegung seiner Liebsten, während sie auf den Karren kletterte. Noch einmal drehte sie sich um und hauchte ihm einen Kuss zu.

„Ich liebe dich Lea, vergiss das niemals!“, rief er, doch seine Worte wurden von dem Hufgetrappel und den Geräuschen der anfahrenden Fuhrwerke verschluckt.

Lea zog sich den Umhang fest um den Körper und starrte mit finsterer Miene vor sich hin. Ob Alvaro sein Versprechen einlösen und sie in Medina del Campo aufsuchen würde?, ging es ihr durch den Kopf. Und wie sollte es danach weitergehen? Bei dem Gedanken an seine Küsse wurde es ihr warm ums Herz. Wann würde sie seine Lippen wieder auf den ihren spüren? Sie hätte am liebsten laut geweint, doch sie wollte sich vor ihrem Vater keine Blöße geben, und so schluckte sie die aufsteigenden Tränen tapfer hinunter. Dabei hätte Ezra ihr gern Trost gespendet, aber er wusste aus Erfahrung, dass man seine Tochter in einer solchen Stimmung besser nicht ansprach.

Schon bald hatten sie das hügelige Bergland Avilas hinter sich gelassen und durchquerten eine großflächige Ebene. So weit das Auge reichte, erstreckten sich Getreide- und Weinfelder, dazwischen blitzte immer wieder der rotbraune,

sandige Boden dieser Gegend auf. Ab und zu stießen sie auf einsame Gehöfte oder kleine Dörfer, eine Handvoll Häuser, die sich um eine Kirche scharten. Mühlen aus weiß getünchtem Mörtelstein mit gitterartigen Holzflügeln thronten wie Wächter auf sanft ansteigenden Hügeln. Die Bauern der umliegenden Höfe ließen dort das geerntete Getreide mahlen.

Lea nahm von alldem nichts wahr. Ihre Gedanken weilten bei Alvaro. Immer wieder klangen seine Worte in ihren Ohren: „Wir werden uns wiedersehen! Ich gebe dir hier und jetzt mein Wort darauf.“

Kapitel 2

Oktober 1474

Segovia

Die Gruppe um Pedro und Alvaro ritt ohne weiteren Halt, bis sie endlich am zweiten Oktober Segovia erreichte. Wie eine Galeere, eingebettet zwischen den Flüssen Eresma und Clamores, bot sich die Stadt dem Ankommenden dar. Im Nordwesten erhob sich, einer mächtigen Galionsfigur gleich, auf einer Anhöhe der Alcazar, dessen Türme sich stolz in die Lüfte reckten. Alvaro konnte diesem Anblick jedoch nichts abgewinnen, denn er sah immer nur Lea vor sich, ihr liebliches Gesicht mit den funkelnden, grünen Augen und den Locken, die im Wind auf und ab getanzt waren. Auch wenn ihnen ihre Väter jeglichen Kontakt untersagt hatten, er würde Lea wieder sehen, dachte der junge Mann trotzig. In seinen Gedanken schmiedete er bereits einen Fluchtplan. Sobald sie sich im Haus des Statthalters eingerichtet hätten, würde er sich auf den Weg nach Medina del Campo machen. Sein Vater verbrächte sicherlich viel Zeit mit Andrés de Cabrera, da sich die Gefährten lange nicht gesehen hatten. So musste er nur einen geeigneten Augenblick ausnutzen, um heimlich sein Pferd zu satteln und Segovia zu verlassen. Alvaro malte sich bereits aus, wie er seine Liebste bald wieder in die Arme schließen und ihren Mund mit seinen Küssen bedecken würde.

Kurz darauf ritten sie durch die Puerta de San Juan in Segovia ein. Gleich neben dem Tor stand das Festungshaus des Statthalters im sogenannten barrio de los Caballeros, dem Viertel, in dem die Ritter und Adeligen lebten. Andres de Cabrera war seit vielen Jahren mit den Salvatierras befreundet und die beiden Familien besuchten sich hin und wieder. So waren Pedro, seine Frau und seine drei Söhne auch bei Andres’ Hochzeit mit Beatríz de Bobadilla, einer Jugendfreundin der kastilischen Thronfolgerin Isabel, zugegen gewesen.

Als Pedro und Alvaro im Innenhof des Palastes von ihren Pferden absaßen, kamen Andrés und Beatríz ihnen bereits entgegen. Herzlich begrüßten die Cabreras ihre Freunde.

„Seid willkommen in Segovia! Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Reise.“

Der Statthalter schloss zuerst seinen Freund und danach dessen Sohn in die Arme. Der Edelmann war hochgewachsen und von kräftiger Statur. Sein leicht gewelltes Haar fiel ihm auf die Schultern und an seinem Gesicht bemerkte man zuallererst die spitze Nase und das markante Kinn. Seine Frau hatte ihr schwarzes Haar unter einer Haube verborgen. Auch sie war von beachtlicher Größe. Ein dunkelbraunes Samtkleid betonte die schlanke Taille und harmonierte gut mit ihrem olivenfarbenem Teint.

„Es gab einen unangenehmen Zwischenfall. Doch das erzählen wir euch bei einem guten Schluck Wein. Meine Kehle ist wie ausgedörrt.“ Pedro klopfte Andrés freundschaftlich auf die Schultern.

„Ich werde sofort Anweisungen geben, etwas zu eurer Stärkung anzurichten“, rief Beatríz beflissen und lief ins Haus.

Nachdem sie den Stallburschen die Versorgung der Pferde aufgetragen und der Eskorte des Marqués de Salvatierra ein Quartier zugewiesen hatten, begaben sich auch die Männer ins Innere des Palastes. Schon bald saßen sie bei Wein, Schinken und Käse vor dem flackernden Kaminfeuer im Empfangssaal. Beatríz hatte sich zu ihnen gesellt.

„Nun, was habt ihr auf eurer Reise erlebt, Pedro?“, wollte der Statthalter wissen. „Du erwähntest vorhin einen unangenehmen Zwischenfall.“

Auch seine Frau blickte die Besucher neugierig an.

„Wir stießen unterwegs auf eine Gruppe Kaufleute, die gerade von Straßenräubern angegriffen worden waren und sich gegen die Halunken zu wehren versuchten. Es gelang uns mithilfe unserer Eskorte, die Banditen zur Strecke zu bringen.“

„Wie schrecklich!“, rief Beatríz aus. „Ich hoffe doch, es ist niemand ernsthaft zu Schaden gekommen.“

„Leider gab es zwei Tote und ein paar Verletzte unter den Händlern“, berichtete Pedro. „Von den Schurken hat keiner überlebt.“

„Solch üble Gesellen verdienen nichts Besseres!“ Andrés zeigte keinerlei Mitleid.

„Sag, mein Freund, was gibt es bei euch Neues zu berichten?“, wollte der Marqués de Salvatierra nun wissen und nahm sich ein Stück Käse.

„Es herrscht zurzeit ein unruhiges Klima in der Stadt. Immer wieder gibt es Angriffe auf die conversos, die konvertierten Juden. Ich weiß bald nicht mehr, wie ich sie schützen soll.“

Andrés stammte ebenfalls aus einer jüdischen Familie, die im vergangenen Jahrhundert zum Christentum übergetreten war.

„Was sagt Ihre Majestät dazu?“, fragte Pedro neugierig. Er saß in einem gepolsterten Sessel und hielt einen Pokal mit herb schmeckendem Rotwein in seinen Händen.

„Der König verbringt die meiste Zeit in Madrid und geht der Jagd nach. Ich habe Kunde erhalten, dass er zurzeit das Bett hütet, es soll ihm gar nicht gut gehen.“ Besorgnis spiegelte sich in den Zügen des Statthalters wieder. „Seine Schwester, die Thronfolgerin, weilt übrigens gerade in Segovia. Ihr werdet sie gewiss während eures Aufenthaltes bei uns treffen.“

„Das wäre schön, nicht wahr Alvaro?“ Pedro blickte zu seinem Sohn, der sich bislang nicht an der Plauderei beteiligt hatte und mit ernstem Gesicht in die Flammen starrte.

„Was hast du, Alvaro? Du bist so schweigsam. So kennen wir dich gar nicht“, wandte sich Beatríz an den jungen Mann und lächelte ihn freundlich an.

„Es ist nichts. Ich bin ein wenig erschöpft von der Reise“, gab dieser zurück.

„Ich werde euch gleich eure Schlafkammern zeigen, dann kannst du dich ausruhen“, zeigte sie Verständnis.

„Wie kommst du mit dem Lernen voran, Alvaro?“, fragte Andrés.

„Er hat bald sein Studium des Kanonischen Rechts abgeschlossen“, kam Pedro seinem Sohn zuvor. „Ich habe vor unserer Reise bereits Kontakt mit dem Prior von San Pedro Mártir in Toledo aufgenommen, damit er in das dortige Kloster eintreten kann.“

„Nein!“, rief Alvaro entrüstet und sprang auf. „Ich gehe nicht in ein Kloster! Ich werde Lea zu meiner Gemahlin nehmen und mir eine Anstellung suchen!“ Er warf seinem Vater noch einen wütenden Blick zu und verließ den Raum, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Der Statthalter und seine Frau schauten ihren Freund verwundert an. Dieser zuckte nur ratlos mit den Schultern.

„Wer ist diese Lea?“, fragte Beatríz neugierig.

Der Marqués de Salvatierra fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch die Haare.

„Er hat die junge Frau unterwegs kennengelernt. Sie ist die Tochter eines der Kaufleute, denen wir bei dem Überfall zu Hilfe gekommen sind. Die beiden jungen Leute haben sich anscheinend ineinander verliebt.“

„Und was wäre so schlimm daran?“, fragte die Gemahlin des Statthalters weiter.

„Sie ist nicht von Adel und gehört dem mosaischen Glauben an. Eine solche Verbindung werde ich auf keinen Fall dulden“, erboste sich der Marqués. „Die Jüdin hat dem Jungen den Kopf verdreht. Er muss sie so schnell wie möglich wieder vergessen! Ich hoffe, er findet hier in Segovia ein wenig Ablenkung“, fügte er noch hinzu.

„Das wird er gewiss, Pedro.“ Andrés nickte seinem Gast aufmunternd zu.

Dieser konnte nun ebenfalls seine Müdigkeit nicht mehr verbergen und gähnte bereits zum zweiten Mal verstohlen hinter vorgehaltener Hand. Beatríz, der dies nicht entgangen war, bekundete taktvoll ihre eigene Schläfrigkeit und bat daher den Familienfreund, ihm dessen Schlafkammer zeigen zu dürfen, um sich danach in ihre eigenen Gemächer zurückzuziehen. Der Marqués stimmte sogleich zu und verließ mit der Gemahlin seines Freundes den Raum, nachdem er diesem eine gute Nacht gewünscht hatte. Andrés blieb noch eine Weile am Kamin sitzen.

Während der nächsten Tage ließ Pedro seinen Sohn nicht aus den Augen. Er kannte ihn gut genug und wusste, dass dieser dazu fähig wäre, sich auf ein Pferd zu schwingen, um zu der Tochter des jüdischen Tuchhändlers zu reiten. Das musste er verhindern.

Tagsüber beaufsichtigte er Alvaro höchstpersönlich, des Nachts stellte er eine Wache vor dessen Kammertür auf. Der junge Edelmann fand schon bald heraus, dass er gleichsam der Gefangene seines eigenen Vaters war. Ein paar Tage nach ihrer Ankunft in Segovia hatte er sich in der Tat, nachdem sich alle zur Ruhe begeben hatten, aus seinem Schlafgemach schleichen wollen, um nach Medina del Campo zu reiten. Bereits am Vorabend hatte er eine kurze Unaufmerksamkeit seines Vaters ausgenutzt, heimlich sein Pferd gesattelt und einen Reisesack mit dem Nötigsten im Stall versteckt. Zwei Stunden nach Mitternacht erhob er sich von seiner Bettstatt, kleidete sich an und öffnete leise die Tür, die auf den Gang hinausführte. Sobald er den Flur betreten hatte, vernahm er eine Stimme: „Wo wollt Ihr zu so später Stunde hin, junger Herr?“

Erschrocken wandte sich Alvaro um und erblickte einen der Soldaten seines Vaters.

„Das geht Euch gar nichts an“, stotterte er.

Bevor er zu einer weiteren Reaktion fähig war, hatte Pedros Untergebener schon seinen Arm ergriffen und wollte ihn zurück in die Kammer führen.

„Lasst mich sofort los! Was fällt Euch ein?“, rief der Ertappte und versuchte sich zu befreien.

„Seid doch vernünftig, Don Alvaro! Ich führe ja nur den Befehl Eures Vaters aus.“

„Mein Vater hat nicht das Recht, mich einzusperren! Ich fordere Euch nochmals auf: Lasst mich los!“

Am Ende des Ganges öffnete sich nun eine Tür und der Marqués de Salvatierra, in einen braunen Schlafrock gekleidet, kam eiligen Schrittes den Korridor entlang.

„Alvaro, was geht hier vor? Wo willst du hin?“ Verschlafen rieb er sich über die Augen.

„Warum lässt du mich in meinem eigenen Gemach wie einen Verbrecher bewachen?“ Der junge Mann warf seinem Erzeuger einen aufgebrachten Blick zu.

„Beruhige dich, mein Sohn, du weckst sonst noch Andrés und Beatríz auf. Komm, lass uns in deine Schlafkammer gehen! Dort werde ich dir den Grund für mein Vorgehen darlegen.“

Nachdem die Tür hinter den beiden Männern geschlossen war und sie auf dem Bett Platz genommen hatten, forderte Alvaro seinen Vater erneut auf, ihm zu erklären, warum er einen Soldaten vor seinem Zimmer postiert hätte.

„Es geschah nur zu deinem Besten“, verteidigte sich dieser. „Ich wusste, du würdest irgendwann versuchen, zu der Tochter des jüdischen Tuchhändlers zu gelangen. Du musst sie dir aus dem Kopf schlagen! Ich werde niemals meinen Segen zu einer solchen Verbindung geben. Der Vater des Mädchens ist übrigens meiner Ansicht. Weder der christliche noch der jüdische Glaube erlaubt Mischehen.“

„Aber wir lieben uns!“, protestierte Alvaro.

„Ihr seid vielleicht im Augenblick ineinander verliebt, ja, aber von Liebe kann nach einer so kurzen Zeit wohl kaum die Rede sein.“ Pedro legte seinem Sohn den Arm um die Schulter. „Wenn du deinen weiteren Werdegang nicht in einem Kloster verbringen willst, werden wir bestimmt eine andere Lösung finden, aber versprich mir, dass du die Jüdin vergessen wirst!“

„Das kann ich nicht, Vater. Mein Herz schlägt nur noch für sie.“ Der junge Mann berührte mit der Hand seine linke Brust. „Ich kann ohne sie nicht mehr sein!“

„Red nicht so einen Unsinn, Sohn! Und lass dir gesagt sein, ich werde diese Verbindung mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern wissen!“ Schäumend vor Wut angesichts Alvaros Halsstarrigkeit erhob sich der Marqués und verließ das Gemach.

*

Zur gleichen Zeit in Medina del Campo

Die weitere Reise der Kaufleute aus Sevilla verlief ebenfalls friedlich. Die letzte Wegstrecke führte sie am Ufer des Flusses Zapardiel entlang, dessen Pegel nach den heftigen Herbstregen stark angestiegen war. Wie geplant erreichten sie Medina del Campo Anfang Oktober. Am Horizont zeichneten sich die Umrisse der Burg La Mota ab, die auf dem gleichnamigen Hügel errichtet war.

Ezra und Lea suchten wie in jedem Jahr zunächst den aposentador auf, den Beamten, der die erforderlichen Lizenzen erteilte und die Unterkünfte zuwies. Auch diesmal würden sie wieder in einem kleinen Haus in der Nähe der Gasse Rúa Nova wohnen, einer der Straßen, die von der Plaza Mayor abgingen. Dort hatten neben den Tuch-, Woll-, Seiden- und Tapisseriehändlern auch die Geldwechsler ihren Platz.

Am Morgen nach ihrer Ankunft richteten Ezra und Lea ihren Stand ein. Die Stadt stellte aus Holz gezimmerte, mit buntem Tuch überspannte Buden zur Verfügung, in denen die Händler ihre Waren vorführen konnten. Ezra stapelte die verschiedenen Stoffballen nebeneinander. Lea legte ihre Wandbehänge aus.

Während ihr Vater alte Bekannte begrüßte, machte sich die Stickerin zu einem Spaziergang auf. Die Plaza Mayor war ebenfalls von Verkaufsständen übersät. In einem äußeren Kreis hatten sich die Sattler, Waffenschmiede, Juweliere und Gewürzhändler platziert, in der Mitte die Hausierer und Barbiere. Sämtliche Straßen, die von hier abzweigten, waren einem bestimmten Gewerbe zugeordnet. Das Mädchen begegnete neben dem allgemeinen Besuchervolk maurischen Händlern mit ihren farbigen Turbanen, jüdischen Kaufleuten in schwarzen Kaftanen, einfach gekleideten Landarbeitern und baskischen Hirten. Sie passierte verschiedene Stände, an denen man alles kaufen konnte, was das Herz begehrte: Früchte, Datteln, Zucker, Honig, Öl, Pfeffer, Safran, Nelken, Indigo, Weihrauch, Geschirr, Spiegel, Teppiche, Knöpfe, Nähnadeln, Garne, Hüte, Kämme, Schmuck, Schwerter und vieles mehr. Doch nichts von alledem nahm sie tatsächlich wahr, weder das Stimmengewirr der zahlreichen Nationalitäten noch die Gruppe der Gaukler, die mit Bällen jonglierten und ein dressiertes Äffchen allerlei Kunststücke vorführen ließen. Selbst die verführerischen Gerüche, die in der Luft lagen, wie das Aroma der orientalischen Gewürze oder der Duft gerösteter Mandeln und gebackener Küchlein, die Straßenhändler feilboten, vermochten es nicht, ihre Sinne zu erfreuen.

Zu groß war die Angst, die sich in ihrem Inneren breitgemacht hatte, die Angst, die sie bei dem Gedanken daran empfand, Alvaro vielleicht niemals wiederzusehen. So kehrte sie schließlich in die Rúa Nova zu ihrem Vater zurück. Dieser hatte soeben mit ein paar Ankäufern aus Flandern ein gutes Geschäft getätigt, wie er ihr stolz berichtete.

Die Tage vergingen und Lea wurde immer missmutiger. Wann würde Alvaro ankommen? Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich vor Augen führte, dass er erst einmal nach Segovia gereist war. Von dort hätte er erneut die Strecke bis nach Medina del Campo zurücklegen müssen. Vielleicht war es ihm unmöglich gewesen, sich gleich nach seiner Ankunft wieder auf den Weg zu machen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als geduldig zu warten, versuchte sie sich zu trösten.

Ezra hatte weiterhin beachtliche Gewinne erzielt und war guter Dinge. Natürlich war ihm die schlechte Laune seiner Tochter nicht entgangen. Der Tuchhändler hatte alle Mühe, sie dazu zu bewegen, die Kunden freundlich zu bedienen. An einem Morgen, als er mit einer Händlergruppe aus dem italienischen Lucca beschäftigt war, die sich für seine Seidenstoffe interessierte, und aus den Augenwinkeln heraus beobachten musste, wie Lea einige andere Kunden einfach ignorierte, war das Maß voll. Empört nahm er das Mädchen beiseite. „So kann das nicht weitergehen, cariño. Was ist los mit dir? Ich werde nicht zulassen, dass unsere Arbeit durch dein Verhalten leidet.“

„Kannst du dir nicht denken, was in mir vorgeht?“ Lea blickte ihrem Vater traurig ins Gesicht. „Ich vermisse Alvaro. Ich kann an nichts anderes als an ihn denken.“

„Aber Kind! Der junge Mann hat dich doch längst vergessen“, erwiderte Ezra.

Leas Augen füllten sich mit Tränen. „Nein! Er hat es mir versprochen! Wir werden uns wiedersehen! Ich glaube fest an sein Wort.“

„Selbst wenn es so wäre, du könntest ihn niemals heiraten. Ich habe es dir bereits gesagt: Du bist eine Jüdin und er ein Christ. Weder die eine noch die andere Religion gestattet es, Andersgläubige zu ehelichen.“

„Ich könnte zum Christentum übertreten oder Alvaro unseren Glauben annehmen“, beharrte die junge Frau.

Ezra schüttelte entsetzt den Kopf. „Du wärst bereit, zu konvertieren? Deine Mutter würde sich im Grabe umdrehen.“

„Dann muss eben Alvaro ein Jude werden“, gab das Mädchen nicht auf.

„Corazón!“ Der Tuchhändler legte seine Hände auf Leas Schultern. „Das geht nicht so, wie du denkst. Zudem darfst du auch seine Stellung nicht außer Betracht lassen. Er ist immerhin der Sohn eines Marqués und wir sind nur eine zwar nicht mittellose, aber doch einfache Kaufmannsfamilie.“ Dabei strich er ihr über die Wange. „Du musst ihn vergessen, cariño! Bestimmt wird es dir leichter fallen, wenn wir erst einmal nach Hause zurückgekehrt sind und du Manuel Toledano wiedergesehen hast. Das ist ein Bursche nach meinem Herzen. Er wird einmal den Weinhandel seines Vaters übernehmen und dich ausreichend versorgen können.“

Lea verdrehte die Augen, während Ezra mit seiner Lobeshymne fortfuhr.

„Er ist ein frommer Jude, der noch nie gegen die Gesetze Mose verstoßen hat. Er wäre dir zweifelsohne ein guter Ehemann, zumal er bereits Gefallen an dir gefunden zu haben scheint.“

Lea seufzte. Sie nickte wortlos. Zum Glück blieben in diesem Moment zwei kostbar gekleidete Damen vor dem Stand stehen, sodass Ezra seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschäft zuwenden musste. Ach Alvaro, wandte sich das Mädchen in Gedanken an ihren Liebsten, bitte vergiss mich nicht! Das könnte ich nicht ertragen.

*

Alcazar von Segovia, 10. Oktober im Jahre des Herrn 1474

Isabel, die Halbschwester König Enriques und Thronfolgerin Kastiliens, hatte das blonde Haar und die helle Haut ihrer Trastámara-Vorfahren geerbt. Sie war nicht besonders groß und ihre Figur hatte noch dazu durch die Geburt ihrer Tochter Isabelita vor vier Jahren an Fülle gewonnen. Der Blick aus ihren blaugrünen Augen, deren Farbe an das Wasser eines kühlen Bergsees erinnerte, konnte zuweilen Sanftheit, aber dennoch Entschlossenheit und ein gewisses Maß an Härte ausdrücken.

Während der dreiundzwanzig Jahre ihres jungen Lebens hatte sie es nicht immer leicht gehabt, denn genau drei Monate nach ihrem dritten Geburtstag, war ihr Vater, König Juan II. von Kastilien gestorben. Zusammen mit ihrer Mutter, die immer mehr dem Wahnsinn verfiel, und ihrem Bruder Alfonso verbrachte sie also ihre Kindheit in der düsteren Festung von Arévalo, bis schließlich ihr Halbbruder Enrique IV., der neue König von Kastilien, seine Geschwister an den Hof nach Segovia holte. Doch auch hier sollte ihr das Glück nicht lange hold sein. Sie verlor ihren Bruder Alfonso und musste hart um ihre Rechte als Thronfolgerin kämpfen, da Enrique, obwohl angeblich impotent, eine Tochter von seiner zweiten Gemahlin bekommen hatte. Das Kind wurde nach seiner Mutter Juana genannt.

Gegen den Willen des Königs hatte Isabel schließlich Fernando, den Thronfolger von Aragon und Herrscher über Sizilien, geheiratet. Seit seiner Hochzeit im Oktober 1469 war das junge Paar ruhelos umhergezogen. Nun aber weilte die Infantin wieder in Segovia, da sie sich dank der Hilfe ihrer Jugendfreundin Beatríz, der Gemahlin des Statthalters Andrés de Cabrera, mit Enrique ausgesöhnt hatte. Um dessen Gesundheit stand es bekanntlich nicht zum Besten, immer wieder wurde er von Magenschmerzen und Schwächeanfällen geplagt. Isabel ahnte daher, dass es in nicht allzu weiter Ferne große Veränderungen in ihrem Leben geben würde.

Sie erhob sich von ihrem Bett und ließ sich von einer Zofe den mit Marderfellen gefütterten Umhang bringen, den sie auf ihrem Weg zur Kirche von San Miguel zu tragen gedachte. Der Herbst hatte seit einiger Zeit Einzug in der Stadt gehalten und das Laub der Bäume leuchtete jetzt in der Abendsonne in den schillerndsten Farben. Die Infantin wollte zusammen mit Andrés und Beatríz an der Messe teilnehmen und danach im Hause des Statthalters zu Abend speisen. Ihr Gemahl war vor ein paar Tagen nach Aragon abgereist, wo er seinen Vater bei dem Niederschlag eines Aufstands unterstützen musste, wie dies bereits des Öfteren geschehen war.

Bevor die Infantin den Alcazar verließ, suchte sie die Kinderstube auf, in der ihre kleine Tochter friedlich in ihrem Bettchen schlummerte. Isabelita hatte vom Schlaf gerötete Wangen und lutschte an ihrem Daumen. Zärtlich strich die Thronfolgerin über die blonden Locken des Mädchens. Es war an der Zeit, der Kleinen endlich ein Brüderchen zu schenken, dachte sie bei sich. Doch wie sollte ihr dies gelingen, wenn Fernando so selten bei ihr weilte? Sie rückte die Decke zurecht, gab Isabelita noch einen Kuss und verließ auf Zehenspitzen den Raum.

Zusammen mit ihrer Leibgarde überquerte die Prinzessin wenig später die Zugbrücke, die gleich hinter dem Eingangsportal des Schlosses einen tiefen Graben überspannte. Ein schneidender Wind wehte ihnen entgegen. Fröstelnd zog sie den Umhang fester um ihren Körper und schlug die Richtung zur Plaza Mayor ein, in dessen Mitte die Kirche San Miguel