Parted Hearts - Sylvia Klinzmann - E-Book + Hörbuch

Parted Hearts E-Book und Hörbuch

Sylvia Klinzmann

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Beschreibung

Parted Hearts – Meine italienische Familie Nach dem Tod ihres geliebten Vaters, der sie allein großgezogen hat, findet Stella einen von ihm an sie gerichteten Brief. Sie erfährt, dass ihre Mutter nicht, wie ihr immer gesagt wurde, bei ihrer Geburt gestorben ist, sondern in Wahrheit in Italien lebt. Warum hat ihr Vater dies all die Jahre verschwiegen? Stella, die eigentlich in ihrem Büchercafe in Köln dringend gebraucht wird, bricht überstürzt nach Ligurien auf und kann nicht ahnen, dass diese Reise ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen wird. Ganz zu schweigen von ihrem Verlobten Jonas, der kein Verständnis für Stellas Verhalten und deren Suche nach ihren Wurzeln hat. Verzaubert von der schönen Küstenregion stößt Stella bei den Recherchen in Ligurien schnell an ihre Grenzen. Ihre einzigen Hinweise sind ein altes Bild ihrer Eltern und eine Halskette mit einem halben Herz, die sie zu ihrer Geburt bekommen hat. Unverhofft erhält sie Hilfe von dem charmanten Italiener Matteo, für den sie schnell mehr empfindet als nur Freundschaft. Aber ist Matteo wirklich der Richtige? Stella steht vor einer schweren Entscheidung: Soll sie in ihr altes Leben in Köln zurückkehren und Jonas heiraten oder ihrem Herzen folgen, ihrer rätselhaften Familiengeschichte auf der Spur und dem heißblütigen Matteo näher kommen? Ein Roman über die Suche nach den Wurzeln, das wunderbar italienische Lebensgefühl und das Glück, seinen Weg, die große Liebe und ein Zuhause zu finden.

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Seitenzahl: 345

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Zeit:7 Std. 51 min

Sprecher:Lara Hoffmann

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Sylvia Klinzmann

Parted Hearts

Roman

 

Zum Buch

Meine italienische Familie

Nach dem Tod ihres geliebten Vaters, der sie allein großgezogen hat, findet Stella einen von ihm an sie gerichteten Brief. Sie erfährt, dass ihre Mutter nicht, wie ihr immer gesagt wurde, bei ihrer Geburt gestorben ist, sondern in Wahrheit in Italien lebt. Warum hat ihr Vater dies all die Jahre verschwiegen?

Stella, die eigentlich in ihrem Büchercafé in Köln dringend gebraucht wird, bricht überstürzt nach Ligurien auf und kann nicht ahnen, dass diese Reise ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen wird. Ganz zu schweigen von ihrem Verlobten Jonas, der kein Verständnis für Stellas Verhalten und deren Suche nach ihren Wurzeln hat.

Verzaubert von der schönen Küstenregion stößt Stella bei den Recherchen in Ligurien schnell an ihre Grenzen. Ihre einzigen Hinweise sind ein altes Bild ihrer Eltern und eine Halskette mit einem halben Herz, die sie zu ihrer Geburt bekommen hat.

Unverhofft erhält sie Hilfe von dem charmanten Italiener Matteo, für den sie schnell mehr empfindet als nur Freundschaft. Aber ist Matteo wirklich der Richtige?

Stella steht vor einer schweren Entscheidung: Soll sie in ihr altes Leben in Köln zurückkehren und Jonas heiraten oder ihrem Herzen folgen, ihrer rätselhaften Familiengeschichte auf der Spur und dem heißblütigen Matteo näher kommen?

Ein Roman über die Suche nach den Wurzeln, das wunderbar italienische Lebensgefühl und das Glück, seinen Weg, die große Liebe und ein Zuhause zu finden.

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Widmung

Vorbemerkung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Glossar der italienischen Begriffe

Die Autorin Sylvia Klinzmann

Zehn Fragen an … Sylvia Klinzmann

MAXIMUM: Weitere Liebesromane im Verlag

Weitere Bücher der Autorin

MAXIMUM: Historische Romane

MAXIMUM: Kriminalromane

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2021 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

1. Auflage 2021

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Angelika Wiedmaier

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Covergestaltung: Alin Mattfeldt

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: Booksfactory

Made in Germany

ISBN 978-3-948346-30-0

Widmung

Für Mama,die immer an mich glaubt!

Vorbemerkung

Zur Erklärung italienischer Begriffe findet sich am Ende des Buches ein Glossar.

Prolog

Alassio, Ligurien 1987

Vincenzo Moroni eilte die Via XX Settembre hinunter. Jetzt, zur Mittagszeit, da die Läden geschlossen hatten, waren nur wenige Menschen im budello unterwegs, einer parallel zum Meer verlaufenden Gasse zwischen mittelalterlichen Häusern, wo sich Geschäfte aller Art, Cafés und Restaurants aneinanderreihten. Bevor er um vier Uhr sein Juweliergeschäft öffnen würde, wollte er noch die Auftragsarbeit einer Kundin fertigstellen. Sie würde wie vereinbart am Nachmittag vorbeikommen, um das Schmuckstück abzuholen.

Als Vincenzo bei dem zweistöckigen gelben Haus ankam, in dem sich sein Juwelierladen befand, schloss er das Scherengitter und die Eingangstür auf und entschärfte danach die Alarmanlage. Rasch stieg er die Treppen in den ersten Stock hinauf, wo sich die Werkstatt befand. Von hier oben konnte man hinter dem Weg, der zur Strandpromenade führte, das Meer sehen.

Er öffnete das Fenster und atmete tief ein, roch die salzige Luft und die Pizza ‚alla nonna‘, die Giovanni nebenan frisch vom Blech verkaufte. Eine Rezeptur, die sich all die Jahre nicht verändert hatte. Und wie Giovannis kleines Unternehmen befand sich auch Vincenzos Laden seit mehreren Generationen im Familienbesitz. Beide hatten das Handwerk von ihren Vätern erlernt und diese wiederum von ihren.

Nachdem er die Zahlenkombination eingegeben hatte, entnahm Vincenzo dem Safe ein zusammengebundenes weiches Tuch und legte es auf seinen Werktisch. Er faltete den Stoff auseinander und begann mit der Arbeit. Es waren nur noch einige wenige Gravuren zu verrichten, dann war das Schmuckstück fertig. Er hatte es genau nach den Wünschen der Kundin entworfen und dafür extra eine Gießform anfertigen müssen.

Pünktlich um vier Uhr betrat seine Kundin den Laden. „Ist meine Bestellung fertig?“, fragte sie.

Vincenzo nickte, griff unter den Verkaufstresen und holte die Schatulle mit dem gravierten Schmuckstück hervor, klappte den Deckel auf und schob die Schachtel zu ihr hinüber. Als sie das goldene Herz erblickte, erhellte ein Strahlen das Gesicht der Frau, und ihre Augen begannen vor Freude zu funkeln. Vorsichtig fuhr sie mit dem Zeigefinger über die kaum erkennbare Zickzacklinie, die mitten durch das Herz verlief. Sie nahm es aus der Schachtel und zog es vorsichtig auseinander, bis sie zwei Anhänger in Form eines halben Herzens in den Händen hielt.

„Genau so habe ich es mir vorgestellt“, freute sie sich. „Das ist Ihnen perfekt gelungen.“

Sie bezahlte den vereinbarten Preis, steckte die Schmuckschatulle in ihre Tasche und verließ das Geschäft.

 

Kapitel 1

Köln, Sommer 2020

Die Glocken von Sankt Severin, die zur vollen Stunde läuteten, weckten Stella um neun Uhr an diesem Sonntagmorgen. Sofort überkam sie wieder dieses mulmige Gefühl, das sie bereits am Abend zuvor bei dem Gedanken verspürt hatte, nachher die Wohnung ihres Vaters betreten zu müssen. Als würde etwas ihren Brustkorb zusammendrücken und ihr die Luft zum Atmen abschnüren.

Erneut bahnten sich Tränen einen Weg durch ihre dichten Wimpern und liefen an ihren Wangen hinab. Es war so unvorstellbar, so ungerecht, dass ihr Vater sie niemals mehr in die Arme nehmen und sie „mein Püppchen“ nennen würde, dass sie ihn nie wieder um Rat fragen konnte.

Wer würde sie nun bei ihrer Hochzeit zum Altar führen? Wer ihren zukünftigen Kindern Gutenachtgeschichten vorlesen?

Seit seinem Tod vor drei Wochen hatte es nicht eine Nacht gegeben, in der sie nicht geträumt hatte, wie sie in sein Wohnzimmer gekommen war und ihn leblos in seinem Sessel vorgefunden hatte.

Tod durch Hinterwandinfarkt hatte die Diagnose gelautet. Dabei hatte ihr Vater so friedlich ausgesehen, so, als ob er nur für einen Moment vor dem Fernseher eingenickt wäre. Doch bei dem Gedanken daran, wie kühl und wächsern die Haut seiner Wangen gewesen war, als sie sein Gesicht gestreichelt hatte, bekam sie jetzt noch eine Gänsehaut.

Nun war sie ganz allein auf dieser Welt, ohne Vater. Und ohne Mutter, die vor dreiunddreißig Jahren bei Stellas Geburt gestorben war. Stella wusste nicht viel über Giuliana, nur, dass sie Italienerin gewesen war und ihr die dunklen Locken und die smaragdgrünen Augen vererbt hatte. Ihr Vater hatte sich jedes Mal geweigert, wenn Stella ihn gebeten hatte, von ihr zu erzählen. Die Erinnerung an sie würde ihn zu sehr schmerzen. So war das Thema all die Jahre lang totgeschwiegen worden, und Stella hatte sich damit abgefunden, dass es auf ihre Fragen keine Antworten geben würde.

Sie wischte sich die Tränen ab und schlug die Bettdecke zurück. Um zehn Uhr hatte sie sich mit Francesca vor der Wohnung ihres Vaters verabredet. Francesca Ricci, eine italienische Witwe, die seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland lebte und von der Stella italienisch gelernt hatte, war Stammkundin in Stellas Café und im Laufe der Zeit von einer Lehrerin zu einer mütterlichen Freundin geworden. Stella war froh, dass Francesca sofort angeboten hatte, sie in die Wohnung ihres Vaters zu begleiten.

Das Klingeln ihres Handys riss Stella aus ihren Gedanken. Es war Jonas, wie ihr ein rascher Blick auf das Display zeigte.

„Guten Morgen, mein Schatz. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt“, erklang die Stimme ihres Verlobten am anderen Ende der Leitung.

„Nein. Ich bin schon wach. Du weißt doch, dass ich gleich in Papas Wohnung anfangen will, seine Sachen auszusortieren.“

„Stella, Schatz, es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann. Aber ich konnte die Tagung nicht absagen. Warte doch einfach, bis ich wieder zurück bin.“

„Nein. Ich will es endlich hinter mich bringen.“ Stella ließ sich wieder zurück aufs Bett fallen. „Außerdem ist sonntags der einzige Tag, an dem ich Zeit habe. Unter der Woche bin ich im Café.“

„Ich habe dir schon oft gesagt, dass ich dich gern auch schon vor unserer Hochzeit finanziell unterstützen würde und du das Café jederzeit schließen kannst. Ich verdiene mit der Unternehmensberatung mehr als genug für uns beide. Abgesehen davon, wenn du das Café aufgeben würdest, hättest du genügend Zeit, unsere Hochzeit zu planen.“

Stella verdrehte die Augen. Warum forderte Jonas ständig von ihr, das Café aufzugeben? Nachdem sie vor drei Jahren ihren Job als Fremdsprachenkorrespondentin verloren hatte, hatte Stella das Café in der Kölner Altstadt eröffnet und mit bequemen Sitzecken und vielen Bücherregalen eine gemütliche Wohnzimmeratmosphäre geschaffen. Mittlerweile war das Schmökercafé zu einer Art Literaturtreff geworden, wo Stella regelmäßig Autorenlesungen veranstaltete.

Aber nein, wenn es nach Jonas ginge, sollte sie zu Hause sitzen, die brave Hausfrau spielen und ihre zukünftigen Kinder versorgen. Die hätte Jonas lieber heute als morgen. Sicher, sie wünschte sich auch irgendwann Kinder, wollte sich damit aber noch ein wenig Zeit lassen.

„Wer liest denn im Zeitalter von Social Media und E-Books noch Bücher?“, fuhr Jonas fort.

„Und wieso ist es dann jeden Tag so voll?“, verteidigte sich Stella.

„Nur weil du einmal am Tag alle Tische besetzt hast, heißt das noch nicht, dass dein Café rentabel ist. Leute in unserem Alter bevorzugen die modernen Läden. Früher oder später werden dir deine Gäste sowieso wegsterben.“ Er lachte über seinen Witz.

„Manchmal bist du echt ein Idiot!“ Stella stand wieder auf und ging zum Fenster. „Hör mal, ich habe jetzt keine Zeit mehr, mit dir über mein Café zu diskutieren“, versuchte sie, das Thema zu beenden. „Ich muss mich duschen und anziehen. Melde dich, wenn du wieder zurück bist.“

„Okay, Schatz. Ich rufe dich später noch mal an. Dann erzählst du mir, wie es heute war. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“ Stella warf das Handy auf die Bettdecke und ging ins Bad.

Eine Dreiviertelstunde später schloss Stella mit klopfendem Herzen die Wohnungstür in der Goethestraße auf. Sie war seit der Beerdigung ihres Vaters nicht mehr dort gewesen.

Der vertraute Geruch, der ihr entgegenschlug, als sie die Tür öffnete und in den kleinen Flur trat, trieb ihr Tränen in die Augen. Francesca, die hinter ihr stand, schien es zu spüren und legte ihren Arm um Stella.

„Das ist nicht einfach, cara mia. Aber da müssen wir jetzt durch.“

„Ich weiß. Aber es tut so weh. Jetzt bin ich ganz allein. Er war doch erst sechzig. Das ist doch noch kein Alter zum Sterben.“

„Du bist nicht allein. Du hast mich und deinen Jonas.“ Francesca umarmte Stella, betrat dann das Wohnzimmer und öffnete die Fenster.

Stella folgte ihr. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu dem Sessel, in dem sie ihren Vater gefunden hatte. Reiß dich jetzt zusammen, Stella!, befahl sie sich in Gedanken.

„Wie wollen wir vorgehen?“, fragte Francesca.

„Könntest du im Wohnzimmer die Bücher in Kartons packen? Die nehmen wir mit ins Café. Ich gehe ins Schlafzimmer und fange mit der Kleidung an.“ Stella flüchtete aus dem Wohnzimmer zurück ins Treppenhaus, um die Umzugskartons zu holen.

Das Schlafzimmer sah aus wie immer, das Bett war akkurat gemacht und auf dem Nachttisch lag noch das Buch, das ihr Vater zuletzt gelesen hatte. Er hatte die Wohnung gekauft, als Stella in die Schule gekommen war. Nachdem er sich von Gundula getrennt hatte, hatte er allein gelebt. Gundula war Lehrerin am gleichen Gymnasium wie ihr Vater, und die beiden waren drei Jahre lang ein Paar gewesen. Länger als drei oder vier Jahre hatte es Robert Lehmann nie mit ein und derselben Frau ausgehalten. Sehr zu Stellas Leidwesen, denn sobald sie Vertrauen zu einer neuen Partnerin ihres Vaters gefasst und in dieser so etwas wie einen Mutterersatz gesehen hatte, war sie auch schon wieder aus ihrem Leben verschwunden.

Mit einem tiefen Seufzer öffnete Stella den Kleiderschrank. Wieder überkam sie eine Welle der Trauer, als ihr der herbe Aftershave-Geruch ihres Vaters, der noch an den Kleidungsstücken haftete, in die Nase stieg. Sie presste die Lippen zusammen und begann, die Sachen von den Bügeln zu nehmen, zu falten und in die Kartons zu legen. Ein hellblaues Poloshirt, das ihr Vater besonders gern getragen hatte, legte sie beiseite. Das wollte sie als Erinnerung behalten.

Als sie nach den Hemden auf dem obersten Regalbrett griff, stießen ihre Finger gegen einen harten Gegenstand. Sie stieg auf einen Stuhl und entdeckte eine mit Intarsien verzierte Holzkiste. Was hatte ihr Vater denn hier aufbewahrt? Neugierig setzte sich Stella aufs Bett und öffnete den Deckel. Als Erstes fiel ihr Blick auf ein Foto. Es zeigte einen blonden Mann in Badeshorts, der den Arm um ein dunkel gelocktes Mädchen in einem gelben Bikini gelegt hatte. Das Paar lehnte an einem Tretboot. Seitlich daneben waren blau-gelb gestreifte Sonnenschirme und Liegen zu sehen, im Hintergrund eine lang gezogene Bucht. Stella schaute sich den jungen Mann genauer an und erkannte in ihm ihren Vater.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Konnte die junge Frau neben ihm etwa ihre Mutter sein? Eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr war vorhanden. Sie drehte das Foto um. Irgendjemand hatte Giuliana e Robbi – nell’estate del 1986 auf die Rückseite geschrieben: Giuliana und Robbi – im Sommer 1986.

Giuliana – der Name ihrer Mutter. Sie spürte, wie sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Zärtlich fuhr sie mit dem Zeigefinger über das Gesicht der jungen Frau. Das Foto hatte im Laufe der Jahre etwas an Farbe verloren. Beim genauen Hinschauen erkannte Stella Lippenabdrücke, als hätte jemand immer wieder Giulianas Gesicht geküsst. In Gedanken sah sie ihren Vater vor sich, wie er seine Lippen auf das Bild drückte. Er musste Giuliana sehr geliebt haben.

Stella begann hemmungslos zu weinen. Die Trauer um ihren Vater und die aufgestaute Sehnsucht der vergangenen Jahre nach ihrer Mutter brachen aus ihr heraus.

„Tesoro, was ist passiert?“ Francesca kam ins Schlafzimmer, setzte sich neben Stella auf das Bett und nahm sie in die Arme. „Scht, ich weiß, das alles ist nicht einfach für dich.“ Beruhigend strich sie ihr über die dunklen Locken und wiegte sie wie ein kleines Kind.

Als sich Stella etwas gefangen hatte, reichte sie Francesca das Foto. „Die junge Frau ist meine Mutter. Es war hier in der Kiste. Ich verstehe nicht, warum mein Vater mir das Bild nie gezeigt hat. Ich habe ihn so oft gefragt, wie sie ausgesehen hat.“

„Da waren sie aber noch sehr jung. Wahrscheinlich hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Du hast die gleichen Locken wie sie“, stellte Francesca lächelnd fest. „Ich verstehe auch nicht, warum er dir das Foto nicht gezeigt hat. Hat er denn nie irgendwas von ihr erzählt?“

Stella schüttelte den Kopf. „Er wollte nicht über sie reden. Er ist sogar richtig sauer geworden, wenn ich davon angefangen habe. ‚Deine Mutter ist nicht mehr bei uns. Du musst dich damit abfinden, Stella‘, war das Einzige, was er zu diesem Thema gesagt hat.“

„Und deine Großeltern? Haben sie nicht mal irgendetwas erwähnt, als sie noch lebten?“, fragte Francesca.

„Nein. Sie meinten nur, dass meinen Vater das Ganze sehr mitgenommen hätte und dass ich besser nicht ständig davon anfangen solle.“ Stella zog ein Taschentuch aus ihrer Jeans und putzte sich die Nase.

„Dann weißt du auch nicht, ob deine Mutter noch Familie hatte? Vielleicht hast du ja irgendwo noch Verwandte“, mutmaßte Francesca.

„Einmal hat meine Großmutter die Bemerkung fallen lassen, meine Mutter hätte sich damals mit ihrer Familie überworfen. Aber mehr konnte ich nicht aus ihr herausbekommen. Alles, was Giuliana betraf, war in unserem Haus ein Tabuthema.“

„Du, schau mal, da sind noch mehr Sachen in der Schachtel.“ Francesca deutete auf die neben Stella stehende Kiste. „Vielleicht findest du ja noch irgendeinen anderen Hinweis.“

Stella griff in die Holzkiste und holte eine kleine Schmuckdose und einen Brief heraus, auf dem ihr Name stand. Vorsichtig öffnete sie den Deckel der Schatulle.

„Oh mein Gott. Guck mal, wie schön!“ Stella blickte ehrfürchtig auf den auf blauem Samt gebetteten Anhänger, der die Form eines halbierten Herzens hatte. Er war an einem Goldkettchen befestigt. Sie nahm das Schmuckstück in die Hand und betrachtete es von allen Seiten. Auf der Vorderseite war der Buchstabe S eingraviert und auf der Rückseite stand: Mamma ti voglia bene.

„Ein S für Stella“, flüsterte sie. „Mama hat dich lieb. Das hat bestimmt sie für mich machen lassen.“ Mit einem Mal verdrängte ein Gefühl der Wut die Trauer um ihren Vater. „Warum hat er mir die Kette nicht gegeben? Ich hätte so gern irgendetwas von ihr gehabt. Ich verstehe das nicht.“ Stellas Augen füllten sich erneut mit Tränen.

Francesca zuckte ratlos mit den Achseln. „Das ist alles sehr merkwürdig. Lies doch mal, was in dem Brief steht. Vielleicht findest du dort eine Erklärung.“

Stella legte die Kette mit dem Anhänger zurück in die Schatulle und griff nach dem Brief. „Das ist die Schrift meines Vaters.“ Sie deutete auf den per Hand geschriebenen Namen auf dem Umschlag. Rasch öffnete sie ihn, zog einen Papierbogen heraus und begann mit klopfendem Herzen laut vorzulesen.

Kapitel 2

Alassio, Sommer 1986

Mit geschlossenen Augen lag Giuliana auf der Liege und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen der Wellen und dem Stimmenwirrwarr der Badegäste. Wie an jedem Nachmittag verbrachte sie die freien Stunden, die sie nicht im Hotel ihrer Eltern arbeiten musste, am Strand. Nachdem sie noch eine Weile die warmen Sonnenstrahlen genossen hatte, blickte sie auf ihre Armbanduhr. Halb sechs, also blieb ihr noch eine halbe Stunde, bis sie im Hotel sein musste. Ihr Vater mochte es überhaupt nicht, wenn sie zu spät zu ihrer Schicht kam. Als Tochter des Besitzers hatte sie seiner Meinung nach ein Vorbild für die anderen Angestellten zu sein. Fabio Colombo wollte, dass seine Tochter, bevor sie einmal selbst die Leitung des Hotels übernähme, alle Bereiche von der Pike auf kennengelernt hätte. In der Rezeption und in der Küche hatte sie bereits gearbeitet, diesen Sommer war sie als Servicekraft für den Speisesaal eingeteilt.

Giuliana stand auf, zupfte ihren gelben Bikini zurecht und nahm ihr Handtuch von der Liege, die, wie alle anderen und wie auch die Sonnenschirme, gelb-blau gestreift war. Da sie, um zum Hotel zu gelangen, lediglich die Strandpromenade überqueren musste, beschloss Giuliana, an der Strandbar noch einen Kaffee zu trinken.

Sie zog ihr Kleid über und ging an die Theke, wo sie bei Laura einen caffè doppio bestellte – einen doppelten Espresso –, von dem sie sich erhoffte, dass er ihre Lebensgeister wecken würde. Während sie trank, blickte sie über das Meer. Am Horizont flog ein Flugzeug, das ein Werbebanner hinter sich herzog. Pasta di Barilla – la più fresca del mondo, konnte sie entziffern. Als sie sich wieder zur Theke drehte, um die leere Kaffeetasse abzustellen, stand dort ein junger Mann neben ihr, der versuchte, sich bei Laura mit Händen und Füßen verständlich zu machen. Er trug ausgefranste kurze Jeansshorts und ein weißes T-Shirt. Die blonden, von der Sonne ausgeblichenen Locken fielen ihm bis auf die Schultern, und seine Augen hatten die gleiche Farbe wie das Meer.

„Giuliana, ich verstehe nicht, was er will“, jammerte Laura. „Frag du ihn mal! Du kannst doch deutsch.“

„Ich? Aber ich …“ Giuliana riss die Augen auf.

Der junge Mann lächelte sie an, und dabei bildeten sich zwei Grübchen auf seinen Wangen.

„Eh, kann ich dir helfen?“, brachte sie schließlich hervor.

„Ah, du sprichst deutsch. Das ist ja wunderbar“, freute er sich. „Ich wollte fragen, ob ihr mir einen Campingplatz empfehlen könnt, für mich und meinen Bulli.“ Der Blick aus seinen stahlblauen Augen traf Giuliana wie ein kleiner Stromschlag.

„Wer ist denn Bulli? Dein Hund?“

„Du bist ja süß.“ Ihr Gegenüber brach in Gelächter aus. „Bulli nennt man bei uns einen VW-Bus“, klärte er Giuliana auf. „Meinen habe ich so umgebaut, dass ich drin schlafen kann.“

„Ach so.“ Giulianas Wangen färbten sich rot vor Verlegenheit. „Das Wort kannte ich nicht. Es gibt einige Campingplätze hier in der Gegend. Der schönste heißt Pinomar und liegt direkt am Meer.“

„Das hört sich gut an. Wie komme ich am besten dahin?“

„Versuch es doch mal mit deinem Bulli!“, scherzte sie.

Der Deutsche grinste und hielt den Daumen hoch. „Gute Idee.“

„Fahr einfach auf der Hauptstraße bis zum Ortsausgang, in Richtung Albenga. Dann geht es irgendwo rechts ab zum Meer. Du musst nur auf die Hinweisschilder achten.“

„Okay, danke. Ich heiße übrigens Robert“, stellte er sich vor. „Und du?“

„Giuliana.“

„Hübscher Name. Machst du in Alassio Urlaub?“

„Schön wär’s.“ Giuliana lachte und entblößte eine Reihe makelloser weißer Zähne. „Leider nicht. Ich wohne hier und muss in fünf Minuten bei der Arbeit sein.“ Sie pustete eine widerspenstige Locke aus der Stirn.

„Kann ich dich auf eine Pizza einladen, wenn du Feierabend hast, als Dankeschön fürs Übersetzen?“ Robert sah sie bittend an.

„Okay, warum nicht. Ich habe aber erst gegen zehn Uhr Schluss.“

„Auf dich würde ich auch bis zwölf Uhr warten.“ Er zwinkerte ihr lächelnd zu.

„Gut zu wissen.“ Sie grinste zurück. „Also, dann treffen wir uns um kurz nach zehn hier an der Strandbar. Ich freue mich.“ Sie legte eine Münze für den Kaffee auf den Tresen, warf Laura noch ein „Ciao, a domani“ zu und lief die Stufen zur Strandpromenade hoch.

Zwei Minuten später betrat sie die Eingangshalle des Hotels. Ihr Vater saß an der Rezeption und blickte sie über den Rand seiner Lesebrille an. Seine grau-schwarz melierten Locken hatte er wie immer mit Pomade gebändigt, sodass sie ihm nicht in die Stirn fielen.

„Avanti ragazza, es ist schon sechs.“ Er zeigte demonstrativ auf seine Armbanduhr. „Per l’amor di Dio, Giuliana, musst du immer auf den letzten Drücker kommen?“

„Scusa, papà! Ich habe für Laura übersetzt. Da war ein Deutscher, der einen Campingplatz gesucht hat, und sie hat ihn nicht verstanden.“

„Va bene,bambolina. Dann beeil dich und zieh dich um!“

Giuliana gab ihrem Vater rasch einen Kuss und ging in Richtung Speisesaal.

„Giuli, am Sonntag kommen die Rossis aus Arnasco“, rief ihr Vater ihr nach. „Ihr Sohn Filippo wird auch dabei sein. Sie werden hier mit uns zusammen essen. Ich hoffe, du freust dich.“

„Si papà. Ich muss mich jetzt wirklich beeilen.“ Ohne sich noch mal umzudrehen, lief Giuliana weiter.

Filippo Rossi. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Er war der Sohn eines Jugendfreundes ihres Vaters. Die Familie betrieb eine Olivenplantage und ein Landhotel im Hinterland von Albenga, und ihr Vater hatte ihr schon mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass er sich jemanden wie Filippo sehr gut als Schwiegersohn vorstellen könnte. Dabei war Filippo überhaupt nicht ihr Typ und außerdem um einiges älter als sie selbst.

Während sie sich in dem Raum neben dem Speisesaal das dunkelblaue Arbeitskleid anzog und die weiße Schürze umband, musste sie an Robert denken. Schon lange hatte ihr keiner mehr so gut gefallen wie der junge Deutsche mit seinen stahlblauen Augen und den Grübchen, die sich auf seinen Wangen bildeten, wenn er lachte. Giuliana stellte sich vor, wie es sein würde, seine blonden Locken zu berühren und ihn dabei zu küssen. Er hatte einen sinnlichen Mund mit vollen Lippen. Das war ihr sofort aufgefallen. Und sie meinte, sogar einige Sommersprossen auf seiner Nase gesehen zu haben.

Beim Gedanken daran, ihn in ein paar Stunden wiederzusehen, beschleunigte sich ihr Herzschlag.

Sie steckte sich die dunklen Locken am Hinterkopf zusammen und betrat den Speisesaal, wo ihre beiden Kollegen bereits damit beschäftigt waren, die letzten Vorbereitungen für das Abendessen der Hotelgäste zu treffen.

Vier Stunden später war Giulianas Schicht beendet. Rasch fuhr sie mit dem Fahrstuhl ins Dachgeschoss des Hotels, wo sich die Wohnung der Familie befand. Es war niemand da. Giuliana atmete erleichtert auf. So brauchte sie wenigstens keine Fragen zu beantworten, wo sie hinginge und wann sie nach Hause käme. Obwohl sie im nächsten Jahr volljährig sein würde, behandelten sie ihre Eltern zuweilen noch wie eine Zehnjährige.

Nachdem sie schnell unter die Dusche gesprungen war, zog sie sich ein luftiges weißes Sommerkleid mit Spaghettiträgern an, das ihren gebräunten Teint gut zur Geltung brachte. Eine schimmernde Körperlotion, der korallenrote Lippenstift, den ihr ihre Freundin Fiorangela geschenkt hatte, und ein wenig Gel für ihre feuchten Locken sorgten dafür, das Giuliana mit ihrem Spiegelbild zufrieden war.

Robert stand schon am Eingang der Strandbar, als sie kurz darauf dort ankam. Er trug eine Karottenjeans, darüber ein buntes Hemd und fuhr sich mit einer lässigen Bewegung durch die Haare.

„Ciao, Robert.“ Giuliana begrüßte ihn mit zwei Küssen rechts und links auf die Wangen. „Sorry, es ist ein bisschen später geworden. Ich musste noch duschen.“

„Kein Problem. Ich habe es nicht eilig. Du siehst toll aus. Ich meine … du gefielst mir heute Nachmittag schon. Aber jetzt, wow!“

Sein intensiver Blick jagte Giuliana einen Schauer nach dem anderen durch den Körper. Sie fühlte sich wie eine Vierzehnjährige, der es gelungen war, ein Date mit dem Klassenschwarm zu ergattern.

„Wenn du mir weiter solche Komplimente machst, werde ich rot. Lass uns gehen! Es ist schon gleich halb elf. Hast du einen Stellplatz auf dem Campingplatz bekommen?“, fragte Giuliana.

„Ja. Danke noch mal für den Tipp. Es ist schön schattig zwischen den Pinien und man kann das Meer sehen.“

Nach einem fünfminütigen Fußweg erreichten sie Giovannis Lokal, das in einer vom budello abzweigenden Seitengasse lag. Wie selbstverständlich hatte Robert den ganzen Weg über ihre Hand gehalten und auch jetzt, wo sie vor dem Lokal standen, ließ er sie nicht los. Die Trattoria befand sich in einem Haus mit pastellfarbenem Anstrich. An der Fassade rankte ein Jasmin empor, der einen süßlichen Duft verströmte.

„Pizza oder Pasta?“, fragte Giuliana, als sie sich an den letzten freien Tisch gesetzt hatten und der Kellner die Speisekarte vor sie hinlegte. „Ist beides sehr gut hier.“

„Such du aus!“, bat Robert sie.

„Okay. Dann nehmen wir Giovannis Penne al modo mio“, entschied Giuliana. „Das ist die beste Pastasoße, die ich kenne. Frische und getrocknete Tomaten, Schinken, Pilze, Sahne und geröstete Pinienkerne.“

„Das hört sich lecker an! Ich sterbe vor Hunger.“ Robert öffnete ein Tütchen mit Grissini und zog eine der dünnen Brotstangen heraus. „Erzähl doch mal ein bisschen von dir!“, forderte er Giuliana auf, während er in die Grissinistange biss. „Wo arbeitest du?“

„Meinen Eltern gehört ein Hotel unten an der Strandpromenade, da arbeite ich im Sommer. Im Winter gehe ich auf eine Hotelfachschule in Savona.“ Sie trank einen Schluck aus dem Colaglas, das der Kellner gerade gebracht hatte. „Das Hotel hat schon meinen Großeltern gehört. Jetzt führt es mein Vater, und da ich keine Geschwister habe, bin ich irgendwann dran.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Meine Eltern sind sehr traditionell und konservativ.“

„Das hört sich aber nicht so an, als ob du besonders viel Lust dazu hättest.“ Robert schob seine Hände über den Tisch, legte sie über Giulianas und strich mit den Daumen über ihre Handrücken. Dort, wo er ihre Haut berührte, kribbelte es, als ob Hunderte Ameisen darüber liefen.

„Nein. Eigentlich würde ich viel lieber etwas mit Tieren machen.“ Sie lächelte. „Aber das kann ich vergessen. Meine Zukunft ist genau geplant. Ich übernehme irgendwann das Hotel und heirate jemanden aus der Branche, der dann mit mir zusammen das Hotel leitet. So stellt es sich mein Vater vor.“ Sie zog die rechte Augenbraue hoch. „Was meinst du, wie oft ich mir schon einen älteren Bruder gewünscht habe oder von mir aus auch einen jüngeren. Dann sähe die Sache natürlich ganz anders aus.“ Sie seufzte. „Weiß auch nicht, warum meine Eltern keine Kinder mehr bekommen haben.“

Bevor Robert sich dazu äußern konnte, brachte der Kellner zwei Teller und eine schmiedeeiserne Pfanne mit den dampfenden Nudeln an den Tisch.

„Buon appetito“, wünschte er und stellte noch eine kleine Glasschüssel mit geriebenem Parmesan dazu.

Giuliana füllte zunächst Roberts Teller und dann ihren eigenen mit den köstlich duftenden penne.

„Jetzt haben wir aber genug über mich geredet“, sagte sie und streute Käse über die Nudeln. „Du bist an der Reihe! Woher kommst du? Was machst du? Wie lange bleibst du?“ Die letzte Frage interessierte sie besonders.

„Mm, ist das lecker“, schwärmte Robert, nachdem er sich einen ersten Bissen in den Mund gesteckt hatte. „Gute Empfehlung.“

Während sie aßen, erzählte er, dass er sechsundzwanzig Jahre alt war, ein Lehramtsstudium in Sport und Englisch sowie eine zweijährige Referendarzeit abgeschlossen hatte und nun den Sommer genießen wolle, bevor er im Herbst in Köln eine Stelle als Lehrer antreten würde.

„Ich habe eigentlich vor, noch bis runter nach Spanien zu fahren. Aber es gefällt mir hier so gut, dass ich vielleicht länger bleibe.“ Er legte den Kopf schief und blickte sie an.

Giulianas Wangen begannen bei seinen Worten zu leuchten. Wollte er damit sagen, dass er ihretwegen länger bleiben wollte?

„Du solltest auf jeden Fall noch nicht fahren“, riet sie ihm. „Morgen beginnt das Fest zu Ehren unserer Schutzheiligen Santa Anna. Da gibt es Prozessionen, Live-Musik und am Samstag das große Feuerwerk. Wir machen jedes Jahr ein Barbecue bei meiner Freundin Fiorangela und ihrer Mutter. Sie haben ein Haus ganz oben am Berg mit einem super Blick auf die Bucht. Wenn du Lust hast, kannst du auch kommen.“

„Aber sie kennen mich doch gar nicht“, gab Robert zu bedenken.

„Das macht nichts. Jeder kann Freunde mitbringen. Die Kosten werden durch alle geteilt.“

„Okay. Super, dann übernehme ich deinen Teil und komme mit.“

Nachdem sie jeder noch ein Tiramisu gegessen und einen caffè getrunken hatten, schlenderten sie auf der Strandpromenade zurück zum Hotel. Wie selbstverständlich legte Robert seinen Arm um Giulianas Schultern.

„Sag mal, warum lässt dich deine Freundin eigentlich diese Tour allein machen?“, fragte sie. „Wenn du mein Freund wärst, würde ich dich keine Sekunde aus den Augen lassen.“

Robert schaute sie von der Seite an und grinste. „Also, wenn du mit dieser Bemerkung herausfinden willst, ob ich eine Freundin habe: Nein, ich habe keine. Wir haben uns vor einem Jahr getrennt, und seitdem bin ich Single. Bis jetzt ist mir die Richtige noch nicht über den Weg gelaufen.“ Er räusperte sich. „Aber das kann ja schneller gehen, als man denkt.“

Giuliana lächelte und strich sich verlegen eine Locke aus dem Gesicht. Sie waren mittlerweile vor dem Hotel angekommen.

„Und du? Hast du einen Freund?“ Robert lehnte sich gegen die Balustrade, die die Promenade vom Sandstrand trennte.

Giuliana schüttelte den Kopf. „Sonst würde ich jetzt nicht hier mit dir stehen.“

Für einen Moment schwiegen sie und schauten über das Meer, wo der Mond silberne Streifen auf das Wasser zauberte.

„Ich fand es sehr schön mit dir heute Abend“, sagte Robert schließlich und nahm Giulianas Hand.

„Ja, ich auch.“ Ein angenehmer Schauer durchrieselte sie.

Sie schauten sich eine Weile tief in die Augen, dann näherte sich Robert ihrem Gesicht und küsste sie. Giulianas Herz hämmerte so fest, als hätte sie soeben einen Hundert-Meter-Lauf absolviert. Sie schlang die Arme um Robert und fuhr ihm mit der rechten Hand durch die Locken, wie sie es sich in Gedanken bereits mehr als einmal vorgestellt hatte. Seine Haare fühlten sich so weich wie Watte an.

„Sehen wir uns morgen?“, fragte er, als sie vor dem Hoteleingang standen.

Giuliana nickte. „Um drei Uhr am Strand. Ich habe bis sechs Pause.“

„Okay. Ich werde da sein.“

Sie küssten sich erneut.

„Giuliana! Per l’amor di dio! Was machst du da? Komm sofort rein!“

Fabio Colombos schneidende Stimme ließ die beiden auseinanderfahren.

„Wir sprechen uns noch, signorina!“ Giulianas Vater trat aus dem Hotel auf die Promenade. „Hast du mal auf die Uhr geschaut?“ Demonstrativ tippte er mit dem Zeigefinger auf das Ziffernblatt seiner Breitling. „Du musst morgen um halb acht arbeiten und knutschst mitten in der Nacht mit irgendeinem Kerl auf der Straße herum. Che vergogna! Was für eine Schande! Los, geh auf dein Zimmer!“ Er ging einen Schritt auf Robert zu. „Und du lass die Finger von meiner Tochter! Verschwinde!“

Robert machte eine hilflose Geste in Giulianas Richtung. „Wer ist der Typ? Was will er?“ Er schien kein Wort verstanden zu haben.

„Das ist mein Vater. Geh jetzt lieber, Robert!“, bat Giuliana ihn.

„Was hat er für ein Problem? Wir waren doch nur essen. Bitte erklär ihm das.“

„Das hat jetzt keinen Sinn. Geh bitte! Wir reden morgen!“

„Bist du sicher? Soll ich nicht lieber bleiben?“

Giuliana verneinte.

„Okay. Dann bis morgen. Buonanotte.“ Er hob die Hand zum Gruß und ging, wobei er sich noch einige Male umdrehte.

„Was soll das, papà?“, Giulianas grüne Augen funkelten vor Wut. „Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Nächstes Jahr werde ich achtzehn. Und außerdem ist Robert nicht irgendein Kerl!“

„So? Was ist er dann? Un tedesco, der noch nicht mal italienisch spricht.“ Giulianas Vater schnaubte Luft durch die Nase. Seine Gesichtshaut hatte eine ungesunde rote Farbe angenommen. „Für so einen ist meine Tochter viel zu schade. Du wirst dich nicht mehr mit ihm treffen! Capisci? Hast du verstanden?“

Giuliana nickte, denn sie wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, ihrem Vater zu widersprechen, wenn er so aufgebracht war. Sie wusste aber auch, dass nichts und niemand sie davon abhalten würde, sich weiterhin mit Robert zu treffen.

Ohne ihren Vater eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie an ihm vorbei ins Hotel.

 

Kapitel 3

Köln, 2020

Mein liebes Püppchen,

wenn du diesen Brief liest, bin ich leider nicht mehr bei dir. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass du mir irgendwann verzeihen kannst und verstehen wirst, was ich dir hier schreibe.

Du hast mich oft nach deiner Mutter gefragt, und ich habe dir erzählt, dass sie bei deiner Geburt gestorben wäre. Doch das entspricht nicht der Wahrheit. Du bist in Italien geboren. Deine Mutter wohnte damals in Alassio, als ich sie kennenlernte. Und vielleicht lebt sie auch heute noch dort.

Du musst mir glauben, ich habe sie sehr geliebt. Jedoch haben gewisse Umstände dazu geführt, dass es für uns keine gemeinsame Zukunft gegeben hätte. Ich weiß, es war ein Fehler, dich all die Jahre in dem Glauben zu lassen, deine Mutter wäre tot. Aber ich hielt es für besser so.

Falls du ihr jemals begegnen solltest, bitte sie in meinem Namen um Verzeihung für das, was ich ihr angetan habe.

Leb wohl, mein Püppchen. Ich warte auf dich da oben, bis wir uns irgendwann wiedersehen. Und vergiss nie, ich habe dich lieb von hier bis zum Mond und wieder zurück.

Dein Papa

Stella ließ den Briefbogen auf ihren Schoß sinken und sah Francesca ungläubig an.

„Bin ich jetzt im falschen Film oder wie? Kneif mich doch bitte mal, damit ich weiß, dass ich wirklich hier sitze und gerade erfahren habe, dass meine Mutter nicht vor dreiunddreißig Jahren gestorben ist.“

„Also, ich weiß auch nicht, was ich dazu sagen soll.“ Francesca blickte ebenso verwirrt drein wie Stella.

„Alassio. Liegt das nicht an der italienischen Riviera?“, überlegte Stella.

„Ja. In Ligurien. Als Luigi noch lebte, haben wir oft unseren Urlaub dort verbracht. Eine schöne Gegend.“

„Gewisse Umstände haben dazu geführt, dass es für uns keine gemeinsame Zukunft gegeben hätte“, wiederholte Stella den Satz aus dem Brief. „Was für Umstände? Was meint er damit? Welche Umstände können eine Mutter dazu bringen, ihr Kind zu verlassen und sich nie wieder nach ihm zu erkundigen?“ Sie zog verzweifelt die Schultern hoch, um sie gleich darauf wieder fallen zu lassen. „Oh Gott, von was für schrecklichen Menschen stamme ich ab? Von einem Vater, der seine Tochter dreiunddreißig Jahre lang anlügt, und einer Mutter, die ihr Kind nicht liebt und einfach weggibt.“

Tränen der Wut und der Enttäuschung vereinten sich auf ihren Wangen und tropften auf ihr T-Shirt.

„Verurteile deine Mutter nicht, solange du nicht weißt, was sich damals abgespielt hat!“, mahnte Francesca, die ihre eigene Tochter bei einem Verkehrsunfall verloren hatte, als diese zwanzig Jahre alt gewesen war. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dich nicht geliebt hat und dich weggegeben hat, weil sie dich nicht haben wollte. Da müsste sie ein Herz aus Stein haben.“

„Und warum bin ich bei meinem Vater aufgewachsen, und sie hat sich nicht einmal bei mir gemeldet? Selbst, wenn irgendwelche widrigen Umstände sie damals dazu gezwungen hätten, sie hatte dreiunddreißig Jahre Zeit, um mich zu suchen.“

„Das ist alles schon sehr kurios. Was willst du jetzt machen?“ Francesca blickte Stella fragend an.

Diese zog die Stirn in Falten und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ich weiß es nicht. Ich muss in Ruhe über alles nachdenken, irgendwo, wo ich allein bin. Sei mir nicht böse, Francesca, aber ich kann hier im Moment nicht weitermachen.“ Stella legte den Brief zu dem Foto und der Schmuckschatulle in die Kiste und stand auf.

„Ich bin dir doch nicht böse, tesoro. Du musst das Ganze erst einmal verarbeiten.“ Francesca erhob sich ebenfalls. „Wenn du mich brauchst, kannst du mich jederzeit anrufen. Ansonsten sehen wir uns morgen im Café.“ Sie zog Stella in ihre Arme. „Lass dich noch einmal drücken, cara mia! Das wird schon alles wieder.“ Beruhigend strich sie ihr über den Rücken, gab ihr zwei Küsse auf die Wangen und verließ das Schlafzimmer.

Stella nahm die Kiste, griff nach ihrer Handtasche und folgte Francesca nach draußen.

Eine Viertelstunde später parkte sie unten am Rhein und ging vor bis zum Ufer. Jetzt zur Mittagszeit waren nicht so viele Spaziergänger unterwegs, sie saßen vermutlich in den Straßencafés in der Altstadt oder machten ein Picknick im Rheinpark. Eine Weile beobachtete sie einen jungen Mann, der mit einem dunkelbraunen Labrador Ball spielte. Unermüdlich hechtete der Hund dem gelben Tennisball hinterher und legte ihn immer wieder vor die Füße seines Herrchens.

Stella ließ sich in einiger Entfernung im Gras nieder und schlug die Beine übereinander. Sie trug eine kurze Jeansshorts und ein Trägertop und merkte schon bald, wie die Sonne auf ihrer Haut brannte. Der Rhein floss an dieser Stelle gemächlich dahin. Nur ab und zu bildeten sich kleine Wellen, wenn der Wind sacht über die Oberfläche strich. Am gegenüberliegenden Ufer standen die drei Kranhäuser, moderne architektonische Kunstwerke, die die Form eines Hafenkrans hatten und in denen Büros und teure Eigentumswohnungen untergebracht waren. Rechts davon im Hintergrund waren die Zwillingstürme des Doms zu sehen. Stella liebte ihre Heimatstadt und besonders den Karneval. Und obwohl sie schon seit jeher gewusst hatte, dass sie in Italien geboren war, hatte sie sich immer als waschechte Kölnerin gefühlt.

Was sollte sie nun machen? Es war, als ob ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Ihr Leben bestand nur noch aus einer einzigen großen Lüge und einer Flut von unbeantworteten Fragen. Warum hatten sich ihre Eltern damals getrennt? Was war passiert, dass Stella nicht bei ihrer Mutter geblieben, sondern in Deutschland bei ihrem Vater aufgewachsen war? Warum hatte Giuliana nie den Kontakt zu ihr gesucht? Wie oft hatte sich Stella danach gesehnt, eine Mutter zu haben. Ihre Großmutter väterlicherseits hatte zwar bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren versucht, diesen Platz so gut es ging auszufüllen, doch es war nicht das Gleiche gewesen. Gerade im Teenageralter hatte Stella die Leere besonders gespürt. Als sie zum ersten Mal ihre Regel bekommen und sich geniert hatte, ihre Großmutter um Rat zu fragen. Oder, wie sie ihre Freundinnen beneidet hatte, wenn sie das Make-up und die Klamotten ihrer Mütter benutzten.

Stella riss ein paar Grashalme aus und ließ sie über ihre nackten Beine rieseln. Wie anders wäre wohl ihr Leben verlaufen, wenn sie nicht in Köln bei ihrem Vater, sondern in Italien bei ihrer Mutter aufgewachsen wäre? Sie blickte über den Fluss, wo gerade ein Frachtschiff vorbeifuhr.

Eines wusste sie ganz sicher. Bevor sie nicht das Geheimnis ihrer Abstammung enträtselt hätte, wollte sie auf keinen Fall Jonas heiraten. Sie würde ihre Mutter suchen und sie auffordern, ihr ins Gesicht zu sagen, warum sie ihre Tochter damals nicht gewollt hatte. Erst dann würde sie ihre innere Ruhe wiederfinden und bereit sein, ihr eigenes Leben weiterzuleben, sei es mit oder ohne ihre Mutter. Sie hoffte, dass Jonas dies verstehen würde.

Als sich ein Mückenschwarm näherte und sie umsurrte, stand Stella auf. Sie beschloss, nach Hause in ihre Wohnung zu fahren und sich einen Film anzuschauen, der sie von dem ganzen Desaster ablenken würde. Sicherlich würde auch Jonas später noch anrufen.

Am nächsten Morgen betrat Stella wie gewohnt um acht Uhr das Schmökercafé, das nur zwei Straßen von ihrer Wohnung in der Kölner Altstadt entfernt lag. Sie hatte am Abend noch lange mit Jonas telefoniert. Doch mit seinem Vorschlag, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich lieber auf die Gründung ihrer eigenen Familie zu konzentrieren, erreichte er eher das Gegenteil. Wieder einmal drängte er sie, so bald wie möglich mit den Hochzeitsvorbereitungen zu beginnen und das Haus einzurichten, das er gerade am Stadtrand für sie beide bauen ließ. Das würde sie sicherlich von allem ablenken. Doch Stella brauchte keine Ablenkung, um die Vergangenheit zu verdrängen, sondern eine Lösung, wie sie jetzt weiter vorgehen sollte. Als Erstes musste sie herausfinden, was damals in Italien zwischen ihren Eltern vorgefallen war.

Sie fühlte sich um Jahre gealtert, hatte kaum geschlafen in der Nacht, weil sie die ganze Zeit über den Brief nachgedacht hatte. Sie hatte ihn so oft gelesen, dass sie seinen Inhalt mittlerweile auswendig konnte. Schließlich war sie irgendwann in den frühen Morgenstunden in einen unruhigen Schlaf gefallen.

Stella ging in den kleinen Abstellraum, hängte ihre Tasche an den Haken hinter der Tür und band sich die bodenlange schwarze Kellnerschürze um. Luna, ihre Angestellte, war bereits da und machte sich in der Küche zu schaffen. Ein verführerischer Duft nach gebackenen Croissants und frisch gemahlenen Kaffeebohnen durchzog das Café. Stella bereitete sich wie jeden Morgen als Erstes einen Cappuccino zu.

„Luna, möchtest du auch einen Kaffee?“, rief sie, während sie Milch aufschäumte.

„Ja bitte“, erklang es aus der Küche.