5,99 €
Einige Türen sind aus einem bestimmten Grund verschlossen ... England, 1866: Als Elsie den reichen Erben Rupert Bainbridge heiratet, glaubt sie, nun ein Leben im Luxus vor sich zu haben. Doch nur wenige Wochen nach ihrer Hochzeit ist sie bereits verwitwet. Und dazu schwanger. Elsie bezieht das alte Landgut ihres verstorbenen Mannes. Da ihre neuen Diener ihr gegenüber äußerst reserviert sind, hat Elsie nur die ungeschickte Cousine ihres Mannes zur Gesellschaft. Zumindest glaubt sie das. Doch in ihrem neuen Zuhause existiert ein verschlossener Raum. Als sich dessen Tür für sie öffnet, findet sie ein 200 Jahre altes Tagebuch und eine beunruhigende, lebensgroße Holzfigur – eine stille Gefährtin ... Jojo Moyes: »Unvergesslich und wirklich unheimlich.« Peter James: »Glänzt mit der Qualität des Schreibens, den Figuren und meisterhaftem Schrecken.« Susan Hill(Die Frau in Schwarz): »Perfekter Schauplatz, großartiger Aufbau, gespenstisch. Was will man mehr?« Times Literary Supplement: »Ein wahrer Pageturner ... und alle paar Seiten packende Enthüllungen.« Stacey Halls: »Eine meisterhafte Schriftstellerin. Ihre fabelhaften Schauergeschichten sind so gekonnt aufgebaut, dass man sie nicht mehr aus dem Kopf bekommt, selbst wenn man es wollte.« Die Buchausgabe erscheint mit farbigem Vor- und Nachsatzpapier und goldenem Buchschnitt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 459
Veröffentlichungsjahr: 2020
Aus dem Englischen von Eva Brunner
Impressum
Die englische Originalausgabe Silent Companions
erschien 2017 im Verlag Raven Books.
Copyright © 2017 by Laura Purcell
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: AdobeStock – Marta Jonina/magicmary/paprika/jannetito
Lektorat: Bernhard Kempen
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-879-7
www.Festa-Verlag.de
Für Juliet
St. Joseph’s Hospital
Der neue Arzt war für sie eine Überraschung. Nicht dass sein Eintreffen ungewöhnlich gewesen wäre – Ärzte kamen und gingen oft genug. Aber dieser hier war jung. Neu im Beruf sowie neu am Ort. Er strahlte eine Helligkeit aus, die ihre Augen schmerzen ließ.
»Das ist sie? Mrs. Bainbridge?« Das Mrs. war nett. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so angeredet worden war. Es war wie eine Melodie aus vergangener Zeit. Er blickte von seinen Notizen auf, konzentrierte sich auf sie. »Mrs. Bainbridge, ich bin Dr. Shepherd. Ich bin da, um Ihnen zu helfen. Um sicherzustellen, dass wir Sie ausreichend betreuen.«
Betreuung. Sie wollte von der Bettkante aufstehen, ihn am Arm nehmen und sanft zur Tür geleiten. Dieser Ort war nichts für Unschuldige. Neben der Wärterin, einer gedrungenen Hexe mittleren Alters, wirkte er so lebhaft, so lebendig. Die getünchten Wände hatten weder die Farbe aus seinem Gesicht vertrieben noch seinen Tonfall gedämpft. In seinen Augen sah sie Interesse aufblitzen. Das verstörte sie mehr als der finstere Blick der Wärterin.
»Mrs. Bainbridge? Verstehen Sie?«
»Ich hab’s Ihnen gesagt.« Die Wärterin schniefte. »Sie kriegen nichts aus ihr raus.«
Der Arzt seufzte. Er klemmte die Papiere unter den Arm und kam weiter in ihre Zelle hinein. »Das kommt vor. Oft in Fällen großer Not. Manchmal ist der Schock so gewaltig, dass der Patient nicht in der Lage ist zu sprechen. Vermutlich ist es so, nicht wahr?«
In ihrer Brust brodelten die Worte. Ihre Rippen schmerzten und die Lippen kribbelten vor Energie. Aber es waren Geister, Echos von Dingen, die vergangen waren. Sie würde sie nie wieder erleben.
Er beugte sich vor, sodass sein Kopf mit ihrem auf gleicher Höhe war. Sie nahm seine großen Augen wahr, die sie hinter der Brille unverwandt ansahen. Die fahlsten Ringe in Mintgrün.
»Es lässt sich kurieren. Mit Zeit und Geduld. Ich habe es schon erlebt.«
Die Wärterin schnappte missbilligend nach Luft. »Kommen Sie ihr nicht zu nah, Doktor. Sie kann sehr ungestüm sein. Hat mir mal ins Gesicht gespuckt.«
Er ließ sie nicht aus den Augen. Er war so nahe bei ihr, dass sie ihn riechen konnte: Karbolseife, Nelken. Die Erinnerung flackerte wie in einer Zunderbüchse. Doch sie weigerte sich, den Funken zünden zu lassen.
»Sie wollen sich nicht vergegenwärtigen, was Ihnen zugestoßen ist. Aber Sie können reden. Die Rauchvergiftung war keineswegs so schlimm, dass Sie stumm geworden wären.«
»Sie will nicht reden, Doktor. Sie ist nicht dumm. Sie weiß, wohin man sie bringen wird, wenn sie nicht hier sein darf.«
»Aber kann sie nicht schreiben?« Er sah sich im Zimmer um. »Warum gibt es hier nichts, womit sie schreiben kann? Haben Sie nicht versucht, mit ihr zu kommunizieren?«
»Ich würde ihr mit einem Stift nicht trauen.«
»Dann Schiefertafel und Kreide. Sie finden welche in meinem Zimmer.« Er stöberte in seiner Tasche und warf der Wärterin einen Schlüssel zu. »Holen Sie eine. Wenn ich bitten darf.«
Stirnrunzelnd nahm die Wärterin den Schlüssel entgegen und schlurfte zur Tür hinaus.
Sie waren allein. Sie spürte seinen Blick auf sich – nicht streng, aber so unangenehm wie das Kitzeln eines Insekts, das ihr übers Bein krabbelte.
»Die Medizin verändert sich, Mrs. Bainbridge. Ich bin niemand, der Ihnen Elektroschocks verpassen oder Sie in kalte Bäder tauchen würde. Ich möchte Ihnen helfen.« Er neigte den Kopf. »Sie müssen wissen, es wurden gewisse … Anschuldigungen gegen Sie erhoben. Einige Leute meinen, man müsste Sie in eine sicherere Einrichtung verlegen. Oder dass Sie vielleicht gar nicht in eine Irrenanstalt gehören.«
Anschuldigungen. Sie erklärten nie den Grund der Anklage, nannten sie nur eine Mörderin, und eine Zeit lang wurde sie ihrem Ruf gerecht: Sie warf Tassen, kratzte die Pflegerinnen.
Aber jetzt, da sie ein eigenes Zimmer und stärkere Medikamente hatte, wäre der Aufwand zu groß, um die Rolle weiterzuspielen. Sie wollte lieber schlafen. Es vergessen.
»Ich bin hier, um über Ihr Schicksal zu entscheiden. Aber damit ich Ihnen helfen kann, müssen Sie mir helfen. Sie müssen mir sagen, was geschehen ist.«
Als ob er es verstehen könnte. Sie hatte Dinge gesehen, die seinem kleinen, wissenschaftlich geprägten Gehirn unbegreiflich wären. Dinge, deren Existenz er leugnen würde, bis sie sich an ihn heranschlichen und ihre abgenutzten, rissigen Hände an seine drückten.
Ein Grübchen erschien in seiner linken Wange, als er lächelte. »Ich verstehe, was Sie denken. Alle Patienten sagen dasselbe: dass ich ihnen nicht glauben werde. Ich gestehe, hier kommen viele Wahnvorstellungen vor, aber nur wenige sind unbegründet. Bestimmte Erfahrungen haben sie geformt. Selbst wenn es außergewöhnlich klingt, würde ich gern hören, was Ihrer Meinung nach geschehen ist. Manchmal kann das Gehirn all die zu verarbeitenden Informationen nicht mehr bewältigen. Es zieht aus einem Trauma seltsame Schlüsse. Wenn ich höre, was Ihr Verstand sagt, kann ich vielleicht verstehen, wie er funktioniert.«
Sie lächelte zurück. Es war ein unangenehmes Lächeln. Eines, wovor Pflegerinnen zurückwichen. Er rührte sich nicht.
»Und vielleicht können wir Ihnen aus Ihrer misslichen Lage helfen. Wenn es zu einem Trauma gekommen ist, hilft es dem Opfer oft, es aufzuschreiben. Distanziert und objektiv. Als wäre es jemand anderem passiert.« Die Tür quietschte. Die Wärterin war mit Kreide und einer Schiefertafel in der Hand zurückgekehrt. Dr. Shepherd nahm beides, beugte sich zum Bett hinab und bot die Gegenstände wie einen Olivenzweig an. »Nun denn, Mrs. Bainbridge, werden Sie es für mich versuchen? Schreiben Sie etwas.«
Zaghaft streckte sie die Hand aus und nahm die Kreide. Sie lag seltsam in ihrer Hand. Nach so langer Zeit konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie sie anfangen sollte. Sie drückte die Spitze auf die Tafel und zog einen senkrechten Strich. Es quietschte – so entsetzlich hoch und schrill, dass es ihre Nerven reizte. Sie geriet in Panik, drückte zu stark. Das Ende der Kreide brach ab.
»Ich glaube wirklich, ein Bleistift wäre einfacher. Hören Sie, sie ist nicht gefährlich. Sie versucht das zu tun, was wir von ihr verlangen.«
Die Wärterin blickte wütend. »Auf Ihre Verantwortung, Doktor. Ich bringe ihr später einen.«
Es gelang ihr, ein paar Buchstaben zu kritzeln. Sie waren blass, aber sie wollte nicht wieder zu viel Kraft aufwenden. Auf der Tafel war nur ein zittriges Hallo zu lesen.
Dr. Shepherd belohnte sie mit einem weiteren Lächeln. »So ist es richtig! Üben Sie weiter! Glauben Sie, Sie könnten es ausbauen, Mrs. Bainbridge, und tun, was ich gesagt habe? Alles aufschreiben, woran Sie sich erinnern?«
Wenn es so einfach wäre.
Er war zu jung. Zu frisch und voller Hoffnung, um zu erkennen, dass es in seinem Leben Zeiten geben würde, die er lieber auslöschen würde – ganze Jahre unerträglicher Momente.
Sie hatte sie so tief verschüttet, dass sie nur einen oder zwei erreichen konnte. Genug, um zu bestätigen, dass sie den Rest nicht wollte. Wann immer sie sich zu erinnern versuchte, sah sie sie. Diese grässlichen Fratzen, die ihr den Weg in die Vergangenheit versperrten.
Mit der Manschette ihres Ärmels wischte sie die Tafel ab und schrieb erneut. Warum?
Er blinzelte hinter seiner Brille. »Nun … Was denken Sie?«
Heilung.
»Richtig.« Das Grübchen erschien wieder. »Stellen Sie sich vor, wir könnten Sie heilen? Sie aus dieser Anstalt entlassen?«
Um Himmels willen. Nein.
»Nein? Aber … ich verstehe nicht.«
»Ich hab’s Ihnen gesagt, Doktor«, warf die Wärterin mit ihrer rauen, gehässigen Stimme ein. »Sie hat es getan, jawohl.«
Sie zog die Beine an und legte sich flach aufs Bett. Ihr Kopf dröhnte. Sie griff sich mit den Händen an den Schädel, als wollte sie alles darin festhalten. Die Borsten ihres kahl geschorenen Kopfes piksten. Haare, die im Laufe der Monate gewachsen waren, in denen sie weggeschlossen war.
Wie lange war es her? Ein Jahr, nahm sie an. Sie könnte sie fragen, die Frage auf die Tafel schreiben, aber sie fürchtete sich vor der Wahrheit.
Es musste doch Zeit für ihre Medikamente sein, Zeit, um die Welt zu betäuben.
»Mrs. Bainbridge? Mrs. Bainbridge, geht es Ihnen gut?«
Sie hatte die Augen geschlossen. Es reichte, es reichte. Vier Wörter, sie hatte schon zu viel geschrieben.
»Vielleicht habe ich ihr heute zu hart zugesetzt«, sagte er. Dennoch wich er mit seiner beunruhigenden Präsenz nicht von ihrem Bett.
Das war ganz falsch. Ihr Gedächtnis taute auf.
Schließlich hörte sie, wie er sich aufrichtete. Schlüssel klirrten, eine Tür ging knarrend auf.
»Wer ist als Nächstes dran?«
Die Tür schloss sich und dämpfte ihre Stimmen. Ihre Worte und Schritte verliefen sich den Gang hinunter.
Sie war allein, aber die Abgeschiedenheit tröstete sie nicht wie sonst. Geräusche, die normalerweise unbemerkt blieben, wurden quälend laut: das Rasseln eines Schlosses, Lachen in der Ferne.
Verzweifelt vergrub sie ihr Gesicht unter dem Kissen und versuchte zu vergessen.
Die Wahrheit. Während der kalten grauen Stunden der Stille konnte sie nicht aufhören daran zu denken.
Im Aufenthaltsraum gab es keine Zeitungen – jedenfalls nicht, wenn sie dort hineingelassen wurde –, aber Gerüchte sickerten unter Türen und durch Risse in den Wänden hindurch. Die Lügen der Journalisten hatten es lange vor ihr in die Anstalt geschafft. Vom ersten Aufwachen an hatte sie hier einen neuen Namen bekommen: Mörderin.
Andere Patienten, Wärter, sogar die Pflegerinnen, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, verzogen den Mund und sagten die Zähne bleckend und gierig: Mörderin. Als ob sie sie damit einschüchtern wollten. Sie.
Es war nicht einmal die Ungerechtigkeit, die sie verabscheute, sondern das Geräusch, wenn die Silben in ihren Ohren zischten wie – Nein.
Sie verlagerte sich im Bett, umfasste nun fest ihre fröstelnden Arme, als würde sie sich zusammenhalten. Bis jetzt war sie in Sicherheit gewesen. Sicher hinter den Mauern, sicher hinter ihrer Stille, sicher mit den wunderbaren Drogen, die ihre Vergangenheit ausblendeten. Aber der neue Arzt … Er war die Uhr, die mit dem gefürchteten Totengeläut das Ende ihrer Zeit ankündigte. Vielleicht gehören Sie gar nicht in eine Irrenanstalt.
Panik breitete sich in ihrer Brust aus.
Wieder zurück zu den drei Möglichkeiten. Nichts sagen und für schuldig befunden werden. Bestimmung: der Galgen. Nichts sagen und wie durch ein Wunder freigesprochen werden. Bestimmung: die kalte, harsche Welt da draußen ohne Medikamente, die ihr halfen zu vergessen.
Es blieb nur eine Wahl – die Wahrheit. Aber welche war das?
Beim Blick in die Vergangenheit konnte sie nur die Gesichter ihrer Eltern klar erkennen. Um sie herum scharten sich schattenhafte Gestalten. Wesen voller Hass, die sie in Angst und Schrecken versetzt und ihren Lebensverlauf behindert hatten.
Aber das würde ihr niemand glauben.
Der Vollmond warf silberne Streifen durch das Fenster oben an die Wand und streifte ihren Kopf. Sie lag da und sah zu, als ihr der Gedanke kam. An diesem misslichen Ort war alles verkehrt. Die Wahrheit war verrückt, von jeglicher gesunder Vorstellungskraft entfernt. Und deshalb war die Wahrheit das Einzige, das ihr ein Leben hinter Schloss und Riegel garantieren konnte.
Sie glitt vom Bett auf den Boden. Er war kalt und etwas klebrig. Ganz gleich, wie oft sie den Boden aufwischten, der Geruch von Pisse hing stets in der Luft. Sie kauerte sich neben ihrem Bett zusammen, um sich schließlich dem sperrigen Schatten auf der anderen Seite des Zimmers zuzuwenden.
Dr. Shepherd hatte angeordnet, ihn dort hinzustellen: den ersten neuen Gegenstand in einer unveränderlichen Landschaft. Nur einen Schreibtisch. Aber er war ein weiteres Instrument, um das Leichenhaus aufzubrechen und alles, was sie begraben hatte, zu exhumieren.
Während ihr Puls im Hals pochte, kroch sie über den Boden. Irgendwie fühlte sie sich tiefer unten sicherer, sie kauerte sich darunter und blickte auf die eingekerbten Beine. Holz. Sie erschauderte.
Sicher gab es keinen Grund, hier vorsichtig sein zu müssen.
Sicher konnten sie nicht einfach irgendein Stück Holz nehmen und … Es war nicht möglich. Andererseits war nichts von allem möglich gewesen. Nichts ergab den geringsten Sinn. Und dennoch war es geschehen.
Langsam stand sie auf und begutachtete die Oberfläche des Schreibtisches. Dr. Shepherd hatte alle Utensilien für sie dagelassen: Papier und einen dicken, stumpfen Bleistift.
Sie zog ein Blatt zu sich heran. In der Dämmerung sah sie eine weiße Leere, die auf ihre Worte wartete. Sie schluckte den Schmerz in ihrer Kehle herunter. Wie konnte sie es noch einmal durchleben? Wie konnte sie sich dazu überwinden, es ihnen noch einmal anzutun?
Sie starrte auf das leere Blatt und versuchte, irgendwo in der riesigen Weite des Nichts diese andere Frau von vor langer Zeit zu sehen.
The Bridge, 1865
Ich bin nicht tot.
Elsie sagte diese Worte immer wieder, während ihre Kutsche über die Landstraße schlitterte und Matschklumpen aufwirbelte. Die Räder machten ein nasses Sauggeräusch. Ich bin nicht tot. Was schwer zu glauben war, wenn sie durch das regenbespritzte Fenster auf das Gespenst ihres Spiegelbildes blickte: die blasse Haut, die eingefallenen Wangen, die von schwarzem Flor verhüllten Locken.
Draußen war der Himmel eisengrau, die Monotonie wurde nur von Krähen durchbrochen. Meile um Meile, ohne dass sich die Landschaft veränderte. Stoppelfelder, skelettartige Bäume. Sie beerdigen mich, wurde ihr bewusst. Sie beerdigen mich an Ruperts Seite.
So war es nicht geplant gewesen. Sie hätten längst wieder in London sein sollen. Im gastfreundlichen Haus mit Wein und Kerzen im Überschwang. In dieser Saison waren lebhafte Farben in Mode. In den Salons würden Phenolblau, Mauve, Violett und Moosgrün den Ton angeben. Dort sollte sie im Mittelpunkt stehen: eingeladen zu jeder mit Diamanten geschmückten Party; sie würde am Arm des Gastgebers in seiner gestreiften Weste als Dame des Hauses in den Speisesaal geleitet werden. Die neue Braut kam immer zuerst.
Nicht aber eine Witwe. Eine Witwe mied das Licht und vergrub sich in der Trauer. Sie wurde zu einer Meerjungfrau, die wie die Königin in schwarzem Krepp ertrank. Elsie seufzte und starrte in die leere Spiegelung ihrer Augen. Sie musste eine schreckliche Ehefrau sein, denn sie sehnte sich nicht nach Abgeschiedenheit. Still dazusitzen und über Ruperts Tugenden nachzudenken, würde ihre Trauer nicht mildern. Das könnte nur Ablenkung bewirken. Sie würde gern ins Theater gehen, in ratternden Omnibussen auf und ab fahren. Sie wäre überall lieber als allein auf diesen kahlen Feldern.
Nun, nicht ganz allein. Sarah saß auf dem gepolsterten Sitz gegenüber, in einen abgenutzten Lederband vertieft. Ihr breiter Mund bewegte sich beim Lesen und flüsterte die Worte mit. Elsie verachtete sie schon jetzt. Diese schlammbraunen Kuhaugen, die nicht einen Funken Intelligenz in sich trugen, die ausgemergelten Wangenknochen und das fahle Haar, das ihr ständig aus der Haube hing. Sie hatte Ladenmädchen gesehen, die vornehmer waren.
»Sie wird dir Gesellschaft leisten«, hatte Rupert ihr versprochen. »Pass auf sie auf, während ich in The Bridge bin. Zeig ihr ein paar Sehenswürdigkeiten. Die Arme kommt nicht viel raus.«
Er hatte nicht übertrieben. Seine Cousine Sarah aß, atmete und blinzelte – gelegentlich las sie. Das war alles. Sie zeigte keinerlei Initiative, äußerte kein Verlangen, ihre Stellung zu verbessern. Sie hatte sich mit ihrem Trott als Begleiterin einer verkrüppelten alten Dame zufriedengegeben, bis die alte Tante starb.
Als guter Cousin hatte Rupert sie bei sich aufgenommen. Aber es war Elsie, die sie nun am Hals hatte.
Gelbe, fächerförmige Blätter fegten von den Kastanienbäumen herab und landeten auf dem Kutschendach. Tatsch, tatsch. Erde auf den Sarg.
In nur einer oder zwei Stunden würde die Sonne langsam untergehen.
»Wie lange noch?«
Sarah schaute mit glasigen Augen von der Seite auf. »Hm?«
»Wie lange?«
»Bis …?«
Du lieber Himmel! »Bis wir ankommen.«
»Ich weiß es nicht. Ich war noch nie in The Bridge.«
»Was? Du hast es auch noch nie gesehen?« Das war ihr unverständlich. Als alte Familie waren die Bainbridges nicht besonders stolz auf ihren Stammsitz. Nicht einmal Rupert, der 45 Jahre alt war, hatte Erinnerungen an diesen Ort. Ihm fiel wohl erst wieder ein, dass er ein Anwesen besaß, als die Anwälte ihren Ehevertrag beglaubigten. »Ich kann es nicht fassen. Hast du es nie besucht, nicht einmal als du klein warst?«
»Nein. Meine Eltern sprachen oft vom Garten, aber ich habe ihn nie gesehen. Rupert interessierte sich erst dafür, als …«
»Als er mich kennenlernte«, beendete Elsie den Satz.
Sie schluckte ihre Tränen hinunter. Sie waren doch so nah dran gewesen, zusammen das perfekte Leben zu erschaffen, nicht wahr? Rupert war hingefahren, um das Anwesen auf den Frühling und den Erben vorzubereiten, der bald kommen würde. Aber nun hatte er sie allein zurückgelassen. Ohne Erfahrung in der Leitung eines Landhauses sollte sie mit dem Familienerbe und einem erwarteten Kind fertigwerden. Sie stellte sich vor, wie sie in einer vermodernden Stube mit zerfetzten, erbsengrünen Polstern und einer Uhr auf dem in Spinnweben gehüllten Kaminsims ein Kind stillte.
Draußen platschten die Hufe der Pferde. Die Fenster beschlugen. Elsie zog ihren Ärmel herunter und wischte damit über die Scheibe. Trostlose Bilder flogen vorbei. Alles war überwuchert und schäbig. Von Klee und Farn überwachsene Reste einer grauen Backsteinmauer ragten wie Grabsteine aus dem Gras. Die Natur pochte auf ihr Recht und eroberte den Raum mit Brombeergestrüpp und Moos zurück.
Wie konnte die Straße zu Ruperts Haus in einem solchen Zustand sein? Er war ein penibler Geschäftsmann, gut mit Zahlen und mit ausgeglichener Bilanz. Warum hatte er eines seiner Besitztümer derart verkommen lassen?
Die Kutsche klapperte und hielt unvermittelt an. Peters fluchte von oben auf dem Kutschbock.
Sarah klappte ihr Buch zu und legte es zur Seite. »Was passiert da?«
»Ich glaube, wir nähern uns.« Sie beugte sich vor und schaute so weit in die Ferne, wie sie konnte. Ein leichter Nebel schlängelte sich vom Fluss den Pfad herauf und verhüllte den Horizont.
Inzwischen mussten sie Fayford doch erreicht haben! Es schien, als wären sie über Stunden durchgerüttelt worden. Der Einstieg in die Eisenbahn in London in der schmuddeligen whiskybraunen Morgendämmerung fühlte sich wie ein Ereignis von letzter Woche an, nicht wie von heute früh.
Peters knallte mit der Peitsche. Die Pferde schnaubten und strengten sich in ihrem Geschirr an, aber der Wagen schwankte nur.
»Was nun?«
Die Peitsche knallte erneut. Hufe wateten im Matsch.
Fingerknöchel klopften aufs Dach. »Hallo dadrinnen? Sie müssen aussteigen, Madam.«
»Aussteigen?«, wiederholte sie. »Bei dem Dreck können wir nicht hinaus!«
Peters sprang vom Kutschbock und landete mit einem klatschenden Geräusch. Nach ein paar nassen Schritten stand er vor der Tür und öffnete sie schwungvoll. Nebel wehte herein und umwirbelte die Schwelle. »Ich fürchte, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, Madam. Das Rad steckt fest. Wir können es jetzt nur mit einem Ruck herausziehen und hoffen, dass die Pferde den Rest erledigen. Je geringer das Gewicht in der Kutsche, desto besser.«
»Zwei Damen können doch wohl nicht so viel wiegen!«
»Genug, um einen Unterschied zu machen«, sagte er unverblümt.
Elsie stöhnte. Der Nebel legte sich feucht wie der Atem eines Hundes an ihre Wange und roch nach Wasser und Erde.
Sarah steckte ihr Buch weg und hob die Röcke auf. Mit den Unterröcken über den Knöcheln blieb sie stehen. »Nach Ihnen, Mrs. Bainbridge.«
Unter anderen Umständen wäre Elsie erfreut gewesen, wenn Sarah ihr folgte. Aber dieses Mal würde sie lieber nicht als Erste gehen. Der Nebel hatte sich bereits mit erstaunlicher Geschwindigkeit verdichtet. Sie konnte gerade noch die Konturen von Peters und seiner Hand erkennen, die nach ihr griff. »Die Treppe?«, fragte sie ohne allzu viel Hoffnung.
»In diesem Winkel bekomme ich sie nicht runter, Madam. Sie müssen springen. Es ist nicht hoch. Ich fange Sie auf.«
War sie in ihrer Würde schon so tief gesunken? Mit einem Seufzer schloss sie die Augen und sprang. Peters’ Hand berührte kurz ihre Taille, bevor er sie im Matsch absetzte.
»Jetzt Sie, Miss.«
Elsie wankte von der Kutsche weg, um zu vermeiden, dass Sarahs große Füße auf ihrer Schleppe landeten. Es war, als würde sie auf Reisbrei gehen. Ihre Stiefel rutschten aus und blieben in seltsamen Winkeln stecken. Sie konnte nicht sehen, wohin sie trat; der Nebel schwebte bis zu ihren Knien hinauf und verdeckte alles darunter. Vielleicht war es auch gut so – sie wollte den von Schmutz umrandeten Saum ihres neuen Bombasinkleides lieber nicht sehen.
Hier und da waren weitere Kastanienbäume durch den Nebel zu erkennen. So etwas war ihr noch nie begegnet; er war nicht gelb und schwefelig wie ein typischer Londoner Nebel, er hing nicht, sondern er bewegtesich. Als die silbernen und grauen Wolken zur Seite wichen, zeigte sich an der Baumreihe eine rissige Wand. Backsteine waren herausgefallen und hatten wie fehlende Zähne klaffende Löcher hinterlassen. Etwa auf halber Höhe war ein leerer, vermoderter Fensterrahmen. Sie versuchte, alles klarer zu sehen, aber die Bilder lösten sich im zurückgleitenden Nebel auf.
»Peters? Was ist das für ein grässliches Gebäude?«
Ein Schrei zerriss die feuchte Luft. Elsie wirbelte mit pochendem Herzen herum, doch es war nur weißer Nebel zu sehen.
»Ganz ruhig, Miss.« Peters’ Stimme. »Alles in Ordnung.«
Sie atmete aus und sah, wie ihr Hauch im Nebel versickerte. »Was ist hier los? Ich kann euch nicht sehen. Ist Sarah gestürzt?«
»Nein, nein. Ich habe sie rechtzeitig aufgefangen.«
Wahrscheinlich war es die größte Aufregung, die das Mädchen im ganzen Jahr erlebt hatte. Ein Scherz lag ihr auf der Zunge, aber dann hörte sie ein anderes Geräusch: tiefer, eindringlicher. Ein lang gezogenes Stöhnen. Die Pferde mussten es auch gehört haben, denn sie zuckten in ihrem Geschirr.
»Peters? Was war das?«
Das Geräusch wiederholte sich: ein trauriger Bass. Es gefiel ihr nicht. Sie war diese ländlichen Klänge und Nebel nicht gewohnt – und wollte sich auch nicht daran gewöhnen. Sie hob ihre Schleppe und wankte zur Kutsche zurück. Sie bewegte sich zu schnell. Ihr Fuß glitt aus, der Boden rutschte unter ihr weg und ihre Schulterblätter platschten in den Matsch.
Elsie lag benommen auf dem Rücken. Kalter Schleim sickerte in den Spalt zwischen ihrem Kragen und ihrer Haube.
»Mrs. Bainbridge? Wo sind Sie?«
Der Schlag hatte ihr den Atem geraubt. Sie war nicht verletzt – sie machte sich keine Sorgen um das Kind, aber ihr blieb die Stimme weg. Sie starrte in das wogende Weiß hinauf. Die Feuchtigkeit drang durch ihr Kleid. Irgendwo in einem entfernten Teil ihres Gehirns beweinte sie den Schaden an ihrem schwarzen Bombasin.
»Mrs. Bainbridge?«
Dieses Stöhnen kehrte zurück, diesmal war es näher. Der Nebel bewegte sich wie ein unruhiger Geist über ihr. Sie spürte eine Gestalt über ihrem Kopf, eine Präsenz. Sie krächzte schwach.
»Mrs. Bainbridge!«
Elsie zuckte zusammen, als sie es sah, nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt: zwei seelenlose Augen. Eine feuchte Nase. Schwarze Flügel wie die einer Fledermaus. Es beschnupperte sie, dann muhte es. Es muhte.
Eine Kuh. Es war nur eine Kuh, die an einem ausgefransten Seil angebunden war. Es war ihr so peinlich, dass sie sogleich ihre Stimme wiederfand. »Husch! Weg mit dir, ich habe nichts für dich zu fressen.«
Die Kuh rührte sich nicht. Sie fragte sich, ob sie es überhaupt könnte – sie sah nicht gesund aus. Ein sehniger Hals trug den Kopf und Fliegen umschwirrten die hervorstehenden Rippen. Armes Tier.
»Da sind Sie ja!« Peters trieb die Kuh mit ein paar Tritten aus dem Weg. »Was ist passiert, Madam? Sind Sie wohlauf? Ich will Ihnen helfen.«
Es brauchte vier Versuche, bis er sie hochheben konnte. Ihr Kleid kam mit einem klebrigen Riss aus dem Morast. Ruiniert.
Peters schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Keine Sorge, Madam. Sieht nicht nach einem Ort aus, an dem Sie sich fein machen müssten, oder?«
Sie blickte ihm über die Schulter, wo sich die letzten Nebelranken davonschlängelten. Gewiss nicht. Das Dorf, das nun sichtbar wurde, konnte doch nicht Fayford sein.
Heruntergekommene Katen kauerten in einer Reihe unter den Bäumen, jede mit einem eingeschlagenen Fenster oder einer ramponierten Tür. Löcher in den Fassaden waren hastig mit Lehm und Mist geflickt worden. Abgeknicktes Stroh sollte vermutlich die Dächer decken, aber sie waren mit Schimmelflecken übersät.
»Kein Wunder, dass wir stecken geblieben sind.« Peters zeigte auf die Straße vor den Katen. Sie war kaum mehr als ein brauner Fluss. »Willkommen in Fayford, Madam.«
»Das kann unmöglich Fayford sein«, entgegnete sie.
Sarahs bleiches Gesicht erschien neben ihnen. »Ich glaube, das ist es!«, hauchte sie. »Du lieber Himmel!«
Elsie staunte mit offenem Mund. Es war schlimm genug, auf dem Land festzusitzen, aber hier? Die Heirat mit Rupert war dazu gedacht, ihre Stellung zu verbessern und ihr gut genährte Dorfbewohner und demütige Pächter zu bescheren.
»Bleiben Sie hier, meine Damen«, sagte Peters. »Ich hole das Rad raus, bevor sich der Nebel geklärt hat.« Er ging vorsichtig durch den Matsch zurück.
Sarah schlich sich neben Elsie. Ausnahmsweise war Elsie froh über ihre Anwesenheit. »Ich hatte mir angenehme Spaziergänge auf dem Land erhofft, Mrs. Bainbridge, aber ich fürchte, wir werden diesen Winter im Haus bleiben müssen.«
Im Haus. Die Worte waren wie ein Schlüssel, der sich in einem Schloss drehte. Dieses alte Gefühl des Gefangenseins aus der Kindheit. Wie konnte sie sich von Rupert ablenken, wenn sie im Haus bleiben musste?
Es gab Bücher, nahm sie an. Kartenspiele. Sie würden sich schon bald langweilen.
»Hat Mrs. Crabbly dir beigebracht, wie man Backgammon spielt, Sarah?«
»O ja. Und dann natürlich …« Sie erstarrte, machte große Augen.
»Sarah? Was ist denn?«
Sie wies mit dem Kopf zu den Katen. Elsie drehte sich um. Schmutzige Gesichter hingen an den Fenstern. Elende Menschen, schlimmer als die Kuh.
»Das müssen meine Pächter sein.« Sie hob die Hand, um ihnen zu winken, doch dann verließ sie der Mut.
»Sollten wir …?« Sarah wand sich. »Sollten wir versuchen, mit ihnen zu reden?«
»Nein. Lass das!«
»Aber sie sehen so elend aus!«
Das taten sie. Elsie zerbrach sich den Kopf, wie sie ihnen helfen konnte. Sie mit einem Korb aufsuchen und ihnen eine Stelle aus der Bibel vorlesen? So machten es doch die reichen Damen, nicht wahr? Doch sie ahnte irgendwie, dass sie die Mühe nicht zu schätzen wüssten.
Ein Pferd wieherte. Sie hörte ein Fluchen, drehte sich um und sah, wie das Wagenrad mit einem mächtigen Glucksen aus dem Morast sprang und Peters mit Matsch bespritzte.
»Nun«, sagte er mit einem scheelen Blick auf Elsies Kleid. »Jetzt sind wir zu zweit.«
Die Kutsche rollte ein paar Schritte voran. Dahinter erblickte Elsie die ramponierte Ruine einer Kirche. Die Turmspitze fehlte, sodass nur eine scharfe Zacke aus Holz übrig war. Spärlich von gelbem Gras umgeben und mit Grabsteinen vollgestopft. Jemand beobachtete sie vom Friedhofstor aus.
Blasen sprudelten in Elsies Bauch. Das Kind. Sie legte eine Hand auf ihr schlammiges Mieder und nahm mit der anderen Sarahs Arm. »Komm! Zurück in die Kutsche!«
»O ja.« Sarah stolperte voraus. »Wir wollen so schnell wie möglich zum Haus!«
Elsie konnte ihre Begeisterung nicht teilen. Wenn dieses Rattennest das Dorf war, wie würden sie dann erst das Haus vorfinden?
Der Fluss flüsterte ihnen zu; ein Rauschen, ein geisterhafter Klang. Mit Moos gesprenkelte Steine bildeten eine Brücke über das Wasser – das musste also die Brücke sein, der das Haus seinen Namen verdankte.
Sie hatte nichts mit den Brücken in London gemein. Anstelle von moderner Architektur und Technik sah Elsie bröckelnde Bogen, denen Gischt und Nebel zugesetzt hatten. Ein Paar verfärbter steinerner Löwen flankierte die Pfosten zu beiden Seiten des Wassers. Sie musste an Zugbrücken denken, an den Tower von London – an Traitors’ Gate, das Tor der Verräter.
Aber dieser Fluss war nicht wie die Themse; er war weder grau noch braun, sondern klar. Sie blinzelte, ihre Augen fingen einen Schimmer unter der Oberfläche ein. Dunkle Schatten, die umherwirbelten. Fische?
Als sie auf der anderen Seite waren, tauchte wie aus dem Nichts ein altes Pförtnerhaus auf. Peters bremste die Kutsche, aber es kam niemand heraus, um sie zu begrüßen. Elsie ließ das Fenster herunter und zuckte zusammen, als ihr feuchtkalter Ärmel gegen ihren Arm wehte. »Fahr weiter, Peters.«
»Dort!«, rief Sarah. »Dort ist das Haus.«
Die Straße führte über einen Hügelkamm hinab, wo die Sonne allmählich unterging. Ganz am Ende stand in einem Hufeisen aus roten und orangefarbenen Bäumen The Bridge.
Elsie steckte ihren Schleier hoch. Sie sah ein flaches jakobinisches Gebäude mit drei Giebeln auf dem Dach, einem Laternenturm in der Mitte und roten Ziegelschornsteinen dahinter. Efeu wuchs aus dem Dachgesims und verschlang die Türme zu beiden Seiten des Hauses. Es sah tot aus.
Alles war tot. Unterhalb der seelenlos wirkenden Fenster lagen Beete, die Hecken waren braun und voller Löcher. Rankengewächse erstickten die Blumenbeete. Sogar die spärlichen Rasenflächen waren gelb, als hätte sich irgendeine Seuche langsam über das Gelände ausgebreitet. Es gediehen nur Disteln, deren purpurfarbene Dornen zwischen farbigen Kieselsteinen hervorlugten.
Die Kutsche blieb auf dem Schotterweg gegenüber dem Brunnen stehen, der das Herzstück des verfallenen Geländes bildete. Einst, als die Steine weiß und die gemeißelten Hundefiguren darauf neu waren, musste es ein hübsches Bauwerk gewesen sein. Aus den Düsen schoss kein Wasser. Risse schlängelten sich durch das leere Becken.
Sarah wich zurück. »Sie stehen alle draußen, um uns zu empfangen«, sagte sie. »Das ganze Personal!«
Elsie wurde plötzlich flau im Magen. Sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, auf den Garten zu starren. Nun bemerkte sie drei schwarz gekleidete Frauen, die vor dem Haus warteten. Zwei trugen weiße Hauben und Schürzen, während die dritte barhäuptig war, mit lockigem, stahlgrauem Haar. Neben ihr stand ein steifer, förmlich wirkender Mann.
Elsie blickte auf ihre Röcke hinab. Sie waren fleckig wie ein rostiges Eisentor. Der Schlamm machte das Bombasin schwer, sodass es an ihren Knien haftete. Was würden ihre neuen Dienstboten denken, wenn sie sie in diesem Zustand sahen? Selbst in ihren Fabrikkleidern würde sie ordentlicher und sauberer aussehen.
»Eine Hausherrin muss ihren Haushalt kennenlernen. Ich hatte gehofft, es nicht mit Schlamm beschmutzt tun zu müssen.«
Ohne Vorwarnung schwang die Wagentür auf. Sie erschrak. Ein junger Mann stand vor ihr, seine schlanke Figur steckte in einem schwarzen Anzug.
»O Jolyon, du bist es. Gott sei Dank!«
»Elsie? Was in aller Welt ist geschehen?« Sein hellbraunes Haar war aus dem Gesicht gekämmt, als sollte es die darin geschriebene Bestürzung unterstreichen.
»Ein Unfall. Das Kutschenrad blieb stecken und ich stürzte …« Sie zeigte auf ihren Rock. »So kann ich mich den Hausangestellten nicht zeigen. Schicke sie wieder hinein!«
Er zögerte. Seine Wangen erröteten zu beiden Seiten seines Schnurrbarts. »Aber … das würde sehr seltsam aussehen. Was soll ich ihnen sagen?«
»Ich weiß es nicht! Sag ihnen irgendetwas!« Sie hörte den brüchigen Klang ihrer eigenen Stimme und war den Tränen gefährlich nahe. »Lass dir etwas einfallen!«
»Nun gut.« Jolyon schloss die Tür und trat zurück. Sie sah, wie er sich umdrehte, der leichte Wind hob eine Haarlocke an seinem Kragen.
»Mrs. Bainbridge ist … unpässlich. Sie wird geradewegs zu Bett gehen. Macht ein Feuer und schickt Tee hinauf!«
Draußen ertönte ein Murmeln, doch dann war das willkommene Knirschen von Füßen zu hören, die über den Schotter zurücktraten. Elsie atmete erleichtert auf. Sie musste ihnen nicht entgegentreten – noch nicht.
Von allen Menschen fand Elsie die Dienstboten am voreingenommensten: Sie hüteten eifersüchtig den gesellschaftlichen Rang ihres Hausherrn, da dieser eng mit ihrem eigenen verbunden war. Ruperts Londoner Haushalt hatte die Nase über sie gerümpft, als sie aus der Zündholzfabrik gekommen war. Mit ihrem Geständnis, sie habe seit dem Tod ihrer Mutter keine Dienstboten mehr gehabt, war deren Verachtung besiegelt. Nur aus Respekt vor Rupert und dank Ruperts warnender Blicke waren sie höflich geblieben.
Sarah beugte sich vor. »Was werden Sie tun? Sie müssen sich gleich umziehen, ohne gesehen zu werden. Und Rosie ist nicht hier!«
Nein. Rosie war nicht bereit, ihr Leben und ihren Lohn in London zurückzulassen, um in diesem Kaff zu leben. Elsie konnte es ihr nicht zum Vorwurf machen. Und ehrlich gesagt war sie insgeheim erleichtert. Ihr war nie wohl dabei gewesen, sich vor ihrer Kammerzofe umzuziehen, fremde Hände auf ihrer Haut zu spüren. Doch sie würde bald eine neue einstellen müssen, wenn auch nur, um den Schein zu wahren. Sie wollte nicht in den Ruf geraten, eine jener exzentrischen Witwen zu sein, die das Land bevölkerten.
»Ich wage zu behaupten, dass ich vorerst ohne Rosie auskommen werde.«
Sarahs Gesicht erhellte sich. »Ich könnte Ihnen mit den Knöpfen am Rücken helfen. Ich bin gut mit Knöpfen.«
Nun, wenigstens etwas.
Jolyon stand wieder an der Tür, öffnete sie erneut und hielt ihr die Hand hin. »Das Personal ist drinnen in Sicherheit. Komm jetzt, steig aus!«
Sie mühte sich die Stufen hinunter und landete ungeschickt neben ein paar Steinen. Jolyon runzelte angesichts des Kleides die Stirn. »Gütiger Himmel!«
Sie entriss ihm die Hand.
Während er Sarah herunterhalf, sah sie zum Haus hinüber. Es verriet nichts. Man hatte undurchsichtige schwarze Vorhänge hinter den Fenstern zugezogen. Efeu flatterte an den Mauern.
»Komm! Die Koffer, die du vorausgeschickt hast, sind auf deinem Zimmer.«
Sie stiegen die flache Treppe zur offenen Tür hinauf. Bevor sie die Schwelle überquerten, schlug ihnen ein modriger Geruch entgegen und drängte sich in Elsies Nase. Jemand hatte versucht, ihn mit einer weicheren, puderigen Note zu überdecken. Aus einem Wäschefach duftete es nach Lavendel und grünen Kräutern.
Jolyon ging forsch weiter, wie er es in London tat, seine Schritte klackten über einen grauen Steinboden mit Rautenmuster. Elsie und Sarah trödelten hinter ihm, da sie sich das Haus ansehen wollten.
Die Tür führte unmittelbar in den Großen Saal, eine Kaverne antiker Pracht. Mittelalterliche Details ragten heraus: eine Rüstung, an der Wand wie Fächer angebrachte Kurzschwerter und darüber wurmzerfressene Dachbalken.
»Wussten Sie, dass Charles I. und seine Königin einmal hier waren?«, fragte Sarah. »Meine Mutter erzählte es mir. Stellen Sie sich vor, wie sie genau über diesen Boden gingen!«
Elsie war mehr am Feuer interessiert, das hinter einem schwarzen Eisengitter loderte. Sie eilte darauf zu und hielt ihre behandschuhten Hände den Flammen entgegen. Sie war an Kohle gewöhnt; das Knistern der Holzscheite und der tiefe, süße Geruch ihres Rauchs hatten etwas Beunruhigendes an sich. Es erinnerte sie an die Bretter, die sie in der Zündholzfabrik zur Herstellung der Späne benutzten. Die Art und Weise, wie sie unter der Säge gespalten wurden.
Sie wandte den Blick ab. Zu beiden Seiten des Kamins befand sich zwei schwere, eisenbeschlagene Holztüren.
»Elsie.« Jolyon klang ungeduldig. »Auch in deinem Zimmer gibt es einen Kamin.«
»Ja, aber ich …« Sie drehte sich um und die Muskeln in ihrem Gesicht erstarrten wie Wachs. Unter der Treppe. Sie hatte es vorhin nicht bemerkt. Auf einem Tisch lag eine lange, schmale Kiste mitten auf einem Orientteppich. »Ist das …?«
Jolyon ließ den Kopf hängen. »Ja. Zuerst war er im Salon. Aber die Haushälterin sagte mir, dass es einfacher sei, diesen Raum zu lüften und frisch zu halten.«
Daher der Geruch der Kräuter. Elsie bäumte sich auf und spürte, wie es in ihr wogte. Sie wollte Rupert lächelnd und adrett in Erinnerung behalten, so wie er immer gewesen war, nicht als eine zur Schau gestellte leblose Puppe.
Sie räusperte sich. »Verstehe. Wenigstens müssen die Nachbarn nicht durch das Haus schlendern, wenn sie ihm die letzte Ehre erweisen wollen.« Diese schreckliche Teilnahmslosigkeit, die sie übermannt hatte, als sie erstmals von Ruperts Tod gehört hatte, stieg wieder in ihr auf, aber sie verdrängte das Gefühl. Sie wollte nicht von Trauer oder Bitterkeit überwältigt werden – sie sehnte sich nur danach, so tun zu können, als wäre es nie geschehen.
»Es scheint nicht viele Nachbarn zu geben.« Jolyon lehnte sich auf das Geländer. »Bisher war nur der Pfarrer da.«
Wie ungeheuer traurig das war. In London wäre es den Männern eine Ehre, Rupert ein letztes Mal zu sehen. Sie bedauerte erneut, dass man ihn nicht zu einer schönen Beerdigung in die Stadt zurückgebracht hatte, aber Jolyon hatte gesagt, es sei unmöglich.
Sarah ging zum Sarg und lugte hinein. »Er sieht friedlich aus. Guter Mann, das hat er verdient.« Sie drehte sich zu Elsie um und streckte eine Hand aus. »Kommen Sie, Mrs. Bainbridge, und schauen Sie.«
»Nein.«
»Schon gut. Kommen Sie. Es wird Ihnen wohltun, zu sehen, wie heiter er ist. Es wird bei der Trauer helfen.«
Das bezweifelte sie stark. »Ich will nicht.«
»Mrs. Bainbridge …«
Ein Holzscheit platzte hinter dem Gitter. Elsie schrie auf und sprang nach vorn. Ein Funkenregen bestäubte ihre Röcke und schmolz zu Asche, bevor er den Teppich erreichte. »Du meine Güte!« Sie legte eine Hand an ihre Brust. »Diese alten Kamine. Ich hätte entzündet werden können!«
»Wohl kaum.« Jolyon fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Wir müssen dich nach oben bringen, bevor die Angestellten kommen und … Elsie? Elsie, hörst du mir zu?«
Der Sprung weg vom Feuer hatte es getan. Sie stand nahe genug dran, um Ruperts Profil über dem weißen Satin zu erkennen: die graublaue Nasenspitze; Wimpern; Locken aus grau meliertem Haar. Es war zu spät, um nicht hinzusehen. Sie rückte Schritt für Schritt an ihn heran, mit der Sorgfalt, mit der sie sich einem schlafenden Kind nähern würde. Nach und nach wich die hohe Wand des Sarges zurück.
Es verschlug ihr den Atem. Das war nicht Rupert. Nicht wirklich. Was vor ihr lag, war eine Imitation, so kalt und nichtssagend wie eine Steinplastik. Das Haar war mit Pomade perfekt frisiert worden, doch es fehlte jene Locke, die immer über Ruperts linkes Auge fiel. Die geplatzten Äderchen, die Ruperts Wange geschmückt hatten, waren nunmehr ein grauer Klecks. Sogar sein Schnurrbart wirkte unecht und stand deutlich von der trockenen Haut ab.
Wie dieser Schnurrbart gekitzelt hatte. Sie spürte ihn wieder an ihrer Wange, unter ihrer Nase. Wie sie immer gelacht hatte, wenn er sie küsste. Lachen war Ruperts Gabe gewesen. Es fühlte sich falsch an, still und feierlich neben ihm zu stehen. Das hätte er nicht gewollt.
Als sie bis zu seinem Kinn und den Stoppeln blickte, die nun nie mehr wachsen würden, bemerkte sie kleine, blaue Flecken auf der Haut. Es erinnerte sie an ihre Kindheit und an Nähnadeln, wie sie fest an einem Finger saugte.
Natürlich waren es Splitter. Aber warum hatte er Splitter im Gesicht?
»Elsie.« Jolyons Stimme war streng. »Wir müssen nach oben gehen. Morgen wird genug Zeit sein, um uns zu verabschieden.«
Sie nickte und rieb sich die Augen. Es fiel ihr nicht schwer, sich selbst wegzuzerren. Was auch immer Sarah dachte, in einen Sarg zu starren hatte nichts mit Abschiednehmen von ihrem Ehemann zu tun. Die Zeit dafür war mit seinem letzten Atemzug vergangen. Alles, was sie in diesem Sarg hatten, war ein blasser Schatten des Mannes, der einmal Rupert Bainbridge gewesen war.
Es dauerte zwei Treppenfluchten, bis sie die Balken des Großen Saals hinter sich gelassen hatten und ein kleines Podest erreichten. Es brannten nur wenige Lampen, die vereinzelt aufflackerten und eine rote Velourstapete enthüllten.
»Hier entlang«, sagte Jolyon und ging nach links.
Unter Elsies Füßen stiegen Staubwolken auf, während sie ihm folgte und ihre feuchten Röcke über den Teppich raschelten. Der Korridor vermittelte einen Hauch heruntergekommener Pracht. Gobelinsofas standen an den Wänden zwischen schartigen Marmorbüsten. Es waren schreckliche Dinge, die sie mit totem Gesichtsausdruck beobachteten, während Schatten über ihre Wangenknochen krochen und in den Augenhöhlen versanken. Sie erkannte in ihnen weder berühmte Schriftsteller noch Philosophen. Waren sie vielleicht die Vorbesitzer von The Bridge? Sie suchte in ihren teilnahmslosen Gesichtern nach einer Spur von Rupert, fand aber keine.
Jolyon bog nach rechts ab, dann noch einmal kurz nach links. Sie gelangten zu einer Tür unter einem Rundbogen. »Das ist die Gästesuite«, erklärte er. »Ich dachte, Sie würden sich hier wohlfühlen, Miss Bainbridge.«
Sarah blinzelte. »Eine Suite, nur für mich?«
»Ja, in der Tat.« Er lächelte knapp. »Ihr Koffer steht schon drinnen. Ich werde unten im Flur neben der Dienstbotentreppe schlafen.« Er schwang seinen Arm. »Mrs. Bainbridge ist in einer Spiegelsuite im anderen Flügel.«
Elsie runzelte die Stirn. Eine Spiegelsuite. War sie bereits auf ein solches Niveau gesunken? »Wie aufregend. Wir werden wie Zwillinge sein.« Sie bemühte sich, nicht so schroff zu klingen, fürchtete aber, dass es ihr nicht gelungen war.
»Ich werde mal auspacken«, sagte Sarah unbeholfen. »Dann werde ich Ihnen beim Anziehen helfen, Mrs. Bainbridge.«
»Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen«, sagte Jolyon. »Ich werde meiner Schwester ihr Zimmer zeigen. Dann werden wir zusammen ein spätes Abendessen einnehmen.«
»Danke.«
Er packte Elsie am Arm und führte sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Du darfst Sarah nicht wie eine Dienerin behandeln«, knurrte er.
»Das werde ich auch nicht, denn sie arbeitet nicht, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie lebt als Unverheiratete hier auf meine Kosten, nicht wahr?«
»Sie war die einzige Verwandte, die Bainbridge hatte.«
Elsie warf den Kopf zurück. »Das ist nicht wahr. Ich war Ruperts Familie. Ich war seine nächste Verwandte.«
»O ja, du hast es geschafft, ihn davon zu überzeugen.«
»Was in aller Welt willst du damit sagen?«
Jolyon blieb stehen. Er blickte über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass keine Dienstboten in den Schatten herumlungerten. »Es tut mir leid. Das war grob von mir. Du kannst nichts dafür. Aber ich dachte, Bainbridge und ich hätten vor der Heirat genau vereinbart, was in dieser Situation geschehen würde. Es war eine Vereinbarung auf Treu und Glauben. Aber Bainbridge …«
Ihr wurde auf einmal unwohl. »Was willst du damit sagen?«
»Hat er es dir nicht gesagt? Bainbridge hat sein Testament einen Monat vor seinem Tod geändert. Sein Anwalt hat es mir vorgelesen.«
Unbehagen breitete sich in ihr aus. »Was willst du damit sagen?«
»Er hat alles dir hinterlassen. Alles. Das Haus in London, The Bridge, seinen Anteil an der Zündholzfabrik. Sonst wird überhaupt niemand bedacht.«
Natürlich hatte er das getan. Vor einem Monat – das war, als sie ihm vom Kind erzählte.
Sich vorzustellen, dass sie nach allem, was sie durchgemacht hatte, es geschafft hatte, einen fürsorglichen, besonnenen Mann zu heiraten – und ihn verloren hatte. Leichtsinnig, hätte Mutter gesagt. Typisch für dich, Elisabeth.
»Ist es sonderbar, dass er sein Testament geändert hat? Ich bin seine Ehefrau, ich bin mit seinem Kind schwanger. Eine solche Regelung ist doch bestimmt völlig normal.«
»Das wäre sie. In einem oder zwei Jahren würde ich mich nicht daran stören.« Kopfschüttelnd ging er weiter durch den Flur.
Sie versuchte mitzuhalten, konnte sich aber nicht den Weg merken, den er ging; die weinroten Wände schienen sich wie ein Stück Stoff zu bauschen. »Ich verstehe nicht. Rupert hat wie ein Engel gewirkt. Es ist die Antwort auf meine Gebete.«
»Nein, so ist es nicht. Denk nach, Elsie, denk nach! Wie sieht das aus? Ein Mann, den alle für einen eingefleischten Junggesellen hielten, heiratet eine zehn Jahre jüngere Frau und investiert in die Fabrik ihres Bruders. Er ändert sein Testament, um sie zur Alleinerbin zu machen. Und nicht einmal einen Monat später ist er tot. Ein Mann, der so stark wie ein Ochse schien, ist tot, und niemand weiß, warum.«
In ihrer Brust bildeten sich Eiskristalle. »Das ist doch lächerlich. Niemand käme auf die Idee …«
»Oh, sie kommen sehr wohl darauf, das versichere ich dir. Und sie flüstern es. Denk an die Zündholzfabrik! Denk an meinen guten Namen! Ich muss allein durch diesen Sturm aus Klatsch und Tratsch navigieren.«
Sie stolperte. Deswegen wollte Jolyon sie auf dem Land haben, deswegen weigerte er sich, Ruperts Leiche zur Beerdigung nach London zurückzubringen: ein Skandal.
Sie erinnerte sich an den letzten Skandal. Polizisten mit Stahlhelmen nahmen Aussagen auf. Das Flüstern, das in ihrem Windschatten wie ein Schwarm von Fliegen summte, und die hungrigen, bedeutungsvollen Blicke. Jahrelang. Es würde Jahre dauern, bis es verging.
»Gütiger Himmel, Jo. Wie lange werden das Kind und ich hierbleiben müssen?«
Er zuckte zusammen. Zum ersten Mal bemerkte sie den Schmerz in seinen Augen. »Verdammt, Elsie, was ist los mit dir? Ich erzähle dir, wie unser Name und die Fabrik in den Schmutz gezogen werden, und dich interessiert nur, wie lange du von London weg sein wirst. Vermisst du Rupert überhaupt?«
Sie vermisste ihn wie die Luft zum Atmen. »Das weißt du doch.«
»Ich muss schon sagen, du gibst dir alle Mühe, es zu verbergen. Er war ein guter Mann, ein großartiger Mann. Ohne ihn hätten wir die Fabrik verloren.«
»Ich weiß.«
Er blieb am Ende des Korridors stehen. »Das ist dein Zimmer. Wenn du erst einmal hier eingerichtet bist, hast du vielleicht den Anstand zu trauern.«
»Aber ich trauere«, gab sie zurück. »Ich mache es nur anders als du.« Sie schob sich an ihm vorbei, warf die Tür auf und schlug sie hinter sich zu.
Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück, legte beide Handflächen flach aufs Holz, bevor sie ausatmete und auf den Boden sank. Jolyon war schon immer so gewesen. Sie sollte sich seine Worte nicht zu Herzen nehmen. Da er zwölf Jahre jünger war als sie, fiel es ihm leicht, seine Gefühle zu zeigen, zu weinen. Während Elsie alles still ertrug. Und war es nicht seinetwegen? Sie wollte dem kleinen Jolyon vorenthalten, wie sehr sie litt?
Nach ein paar Minuten hatte sie sich wieder im Griff. Sie rieb sich die Stirn und öffnete die Augen. Vor ihr lag ein sauberer, heller Raum mit Fenstern zu beiden Seiten, eines mit Blick auf den Halbkreis der Apfelbäume, der das Haus umgab, und das andere im Winkel zum Westflügel, wo Sarah wohnte. Ihre Koffer lagen in der Ecke aufeinandergestapelt. Ein Feuer knisterte im Rost, und Elsie war erleichtert, als sie daneben einen Waschtisch sah. Aus dem Wasserkrug stieg Dampf auf. Heißes Wasser.
Sie hörte die Stimme ihrer Mutter deutlich im Ohr. Dummes Mädchen, so viel Aufhebens zu machen. Lass uns all die schlechten Gedanken wegspülen.
Sie stand auf, zog die Handschuhe aus und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Die entzündeten Augen fühlten sich sogleich besser an, und das Handtuch, mit dem sie sich die Haut abtrocknete, war wunderbar weich. Was auch immer die Mängel dieses Ortes sein mochten, der Haushälterin konnte sie nichts vorwerfen.
Ein schweres Himmelbett aus Palisanderholz stand an der Wand gegenüber. Darauf lag cremefarbene, mit Blumen bestickte Bettwäsche. Dann kam der Frisiertisch, dessen dreifacher Spiegel in schwarzen Stoff gehüllt war. Sie seufzte. Es war der erste Spiegel, den sie seit dem Aufbruch vom Bahnhof gesehen hatte. Zeit, den Schaden zu begutachten, den ihr Sturz in den Schlamm angerichtet hatte.
Sie hängte das Handtuch wieder an die Stange, ging hinüber und setzte sich auf den Hocker. Sie schob den schwarzen Stoff zur Seite. Was für ein törichter Aberglaube: Spiegel abzudecken, um zu verhindern, dass die Toten darin gefangen wurden. Nichts wurde im Glas festgehalten außer drei blonden braunäugigen Frauen, von denen jede schlimm aussah. Ihr Florschleier flatterte am Nacken wie eine Krähe im Netz. Ihre windgepeitschten Locken kräuselten sich um die Stirn, und trotz der kurzen Wäsche war ein Schlammstreifen auf dem rechten Wangenknochen zurückgeblieben. Elsie schrubbte, bis er wegschmolz. Gott sei Dank hatte sie sich geweigert, den Dienstboten zu begegnen.
Langsam streckte sie die müden Arme hoch, um Haube und Hut abzunehmen und danach die Nadeln aus dem Haar zu entfernen. Ihre Finger waren nicht mehr so beweglich wie früher – sie hatte sich daran gewöhnt, dass Rosie das erledigte. Aber Rosie und alle Annehmlichkeiten dieses vergangenen Lebens waren meilenweit entfernt.
Eine Nadel verfing sich in einem Haarknäuel und brachte sie zum Keuchen. Sie ließ die Hände fallen, unverhältnismäßig bestürzt über das kleine Missgeschick. Wie konnte das passieren?, fragte sie die verwirrten Frauen vor ihr. Sie hatten keine Antwort.
Hier war das Glas kalt und harsch. Es enthielt nicht die lächelnde, hübsche Braut, die sie darin erst vor so kurzer Zeit betrachtet hatte. Ungebeten fiel ihr wieder eine Szene ein: Rupert, der an jenem ersten Abend hinter ihr stand und ihr Haar bürstete. Der Stolz in seinem Gesicht, das Aufblitzen der silbernen Bürste. Das so seltene Gefühl von Sicherheit und Vertrauen beim Betrachten seines Bildes im Spiegel. Sie hätte ihn lieben können.
Die Ehe war eine Geschäftsbeziehung, der Kitt, um Ruperts Beteiligung an der Zündholzfabrik zu sichern, doch an jenem Abend hatte sie sich den Mann wirklich angesehen und erkannt, dass sie ihn lieben könnte. Mit der Zeit. Leider war Zeit genau das, was sie nicht hatten.
Ein Klopfen an der Tür erschreckte sie.
»Die Knöpfe?« Sarahs Stimme.
»Ja. Komm herein, Sarah.«
Sarah hatte ihr Reisekleid gegen ein Abendkleid ausgetauscht, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Es war in ungleichmäßigen Flecken schwarz gefärbt. Sie sah kaum vorzeigbar aus, aber zumindest hatte sie ihr mattbraunes Haar geflochten. »Haben Sie schon ein Kleid ausgewählt? Ich könnte eines der Hausmädchen nach einem Bügeleisen fragen …«
»Nein. Bitte suche einfach ein Nachthemd heraus.« Wenn Jolyon wollte, dass sie trauerte, würde sie es tun. Und zwar genau so, wie er es nach Mutter getan hatte. Da war er selbst schuld. Er würde sehen, wie lästig und nutzlos es war, wenn sie hier oben wimmerte.
Im Spiegelbild rang Sarah die Hände. »Aber … das Abendessen …«
»Ich gehe nicht hinunter. Ich habe keinen Appetit.«
»Aber … Aber ich kann doch nicht mit Mr. Livingstone allein zu Abend essen! Was würden die Leute sagen? Wir kennen uns kaum!«
Gereizt stand Elsie auf, um sich selbst ein Nachthemd zu suchen. War Sarah tatsächlich Gesellschafterin gewesen? Sie hätte wissen müssen, dass man nicht herumstand und mit der Hausherrin diskutierte. »Unsinn. Du musst doch bei der Hochzeit mit Jolyon gesprochen haben.«
»Ich war nicht auf Ihrer Hochzeit. Mrs. Crabbly war krank geworden. Erinnern Sie sich nicht?«
»Oh.« Elsie nahm sich einen Moment Zeit, um ein Nachthemd aus einem der Koffer zu ziehen und eine gute Miene aufzusetzen, bevor sie sich umdrehte. »Natürlich nicht. Du musst es mir nachsehen. An jenem Tag …« Sie blickte auf die weiße Baumwolle in ihrer Hand. »Es war ein so glücklicher Moment, dass alles verschwamm.«
Honiton-Spitze, Orangenblüten. Sie hätte nie gedacht, jemals eine Braut zu sein. Solche Fantasien hatte man nach einem Alter von 25 Jahren ausgeträumt. Für Elsie schienen die Aussichten noch viel geringer gewesen zu sein. Sie hatte verzweifelt jemanden gesucht, dem sie vertrauen konnte, bis Rupert kam. Er war anders. Er verbreitete um sich herum eine Aura, die von Natur aus gut war.
»Ich verstehe«, sagte Sarah. »Kommen Sie her. Jetzt kümmern wir uns um das Kleid.«
Elsie hätte sich lieber allein umgezogen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie konnte Ruperts Cousine wohl kaum sagen, dass sie einen Knopfhaken besaß – so etwas benutzten sonst nur Huren.
Sarah arbeitete geschickt, ihre Finger bewegten sich über Elsies Schultern zur Taille hinunter wie ein leichtes Wasserrieseln. Das Gewand fiel ihr raschelnd in die Hände. »So ein feiner Stoff. Ich hoffe wirklich, dass sich der Schlamm herauswaschen lässt.«
»Vielleicht kannst du es für mich hinunterbringen. Es wird doch ein Küchenmädchen geben, das es ohne viel Aufhebens in den Kupferkessel legt.«
Sarah nickte. Sie faltete das Kleid zusammen und drückte es an ihre Brust. »Und … der Rest?« Sie warf einen schüchternen Blick auf den Käfig aus Unterrock, Federstahl und Reifen, in dem Elsie gefangen war. »Werden Sie es schaffen …?«
»Aber ja.« Selbstbewusst legte sie die Hände an die Bänder, die ihren Reifrock sicherten. »Ich hatte nicht immer eine Zofe, weißt du?«
Es waren Sarahs Schweigen und ihre Stille, die Elsie eine Gänsehaut verursachten. Ihre Augen waren auf Elsies Taille gerichtet, wurden größer, dunkler und glitzerten seltsam.
»Sarah?«
Sarah schüttelte sich. »Ja. Nun gut. Ich werde mich auf den Weg machen.«
Elsie blickte verwirrt an ihrem Körper hinab. Was hatte Sarah zum Starren gebracht? Mit einem schmerzhaften Ruck wurde ihr klar: ihre Hände. Sie hatte die Handschuhe ausgezogen, um sich das Gesicht zu waschen, und die Hände in ihrer ganzen rissigen Hässlichkeit offenbart. Die durch Arbeit gehärteten Hände einer Fabrikarbeiterin. Nicht die Hände einer Dame.
Doch bevor Elsie etwas zu ihrer Verteidigung sagen konnte, öffnete Sarah die Tür und ging hinaus.
St. Joseph’s Hospital
Es erschien über Nacht. Kaum hatte sie den Kopf vom Kissen gehoben und sich die trockenen Augen gerieben, sah sie es. Fremdartig. Falsch.
Sie wankte aus dem Bett, ihre Füße klatschten auf den kalten Boden. Es hing vor ihr. Sie kniff die Augen zusammen.
Es tat weh, es anzusehen, denn es war viel zu hell, aber sie wagte nicht, den Blick abzuwenden. Gelb. Braun. Wirbelnde Linien und Formen.
Es war ohne ihr Wissen gekommen. Würde es wieder gehen, wenn sie wegschaute? Obwohl es stumm war, schien es zu schreien, in ihrem Kopf zu explodieren.
Sie konnte nicht ins Bett zurück; sie musste es in Schach halten. Tageslicht sickerte durch die hohen Fenster, die wie die Wände kahl und kalkfarben waren. Die Strahlen krochen über den Boden und an ihr vorbei. Endlich klickte die Tür auf.
»Mrs. Bainbridge.«
Es war Dr. Shepherd.
Ohne sich umzudrehen, hob sie zitternd die Hand und streckte den Zeigefinger aus.
»Oh. Sie haben das Bild gesehen.« Die Luft verlagerte sich, als er bei ihrer Schulter ankam. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen.«
Die Stille dehnte sich aus.
»Es erhellt den Raum, nicht wahr? Ich dachte, da Sie nicht mit den anderen Patienten in den Aufenthaltsraum und zum Hofgang gehen dürfen, würden Sie vielleicht ein bisschen Farbe zu schätzen wissen.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Das ist die Richtung, die unser Krankenhaus einschlägt. Wir wollen unsere Patienten nicht mehr trostlosen Zellen aussetzen. Es soll ein Zufluchtsort für die Genesung sein. Mit fröhlichen, anregenden Dingen darin.«
Sie sah nun, was der Künstler einzufangen versucht hatte: eine Szene aus dem Kinderzimmer. Ein sonniger Raum mit einer Mutter über einem Kinderbettchen. Ihr Kleid war wie eine Narzisse, ihr Haar wie gesponnenes Gold. Eine Vase mit weißen Rosen stand auf einem Tisch neben dem Kind.
»Beunruhigt es Sie, Mrs. Bainbridge?«
Sie nickte.
»Und warum?« Seine Schuhe knarrten, als er ihre Tafel holte. Obwohl der Bleistift besser geeignet war, ihre Geschichte aufzuschreiben, erleichterten die Kreide und die Schiefertafel die Unterhaltung. Er legte beides in ihre Hände. »Erzählen Sie es mir.«
Schon wieder. Er meißelte Stück für Stück an ihr ab. Das war sein Plan, vermutete sie. Sie Zoll um Zoll zu entblößen; noch ein Geständnis, noch eine Erinnerung, bis sie verbraucht war.
Schon kamen sie in der Nacht: Träume, die in Wirklichkeit ein Aufblitzen der Vergangenheit waren. Landschaften aus Blut, Holz und Feuer. Sie wollte sie nicht haben. Wie weit musste sie noch in die armselige Vergangenheit zurückkehren, bevor er sie als unausgeglichen erachtete und in Ruhe ließ?
»Gefällt Ihnen die Farbe nicht? Heitert es Sie nicht auf und erinnert Sie an bessere Zeiten?«
Sie schüttelte den Kopf. Bessere Zeiten. Er schien davon auszugehen, sie hätte früher bessere Zeiten gehabt.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen Kummer bereitet habe. Glauben Sie mir, ich wollte Ihnen nur eine Freude machen.« Er seufzte. »Können Sie sich setzen? Ich werde dafür sorgen, dass das Bild entfernt wird, sobald wir fertig sind.«
Den Boden im Blick wankte sie zum Bett zurück und setzte sich. Dabei hielt sie Kreide und Schiefertafel so fest, als wären es Waffen. Als würde sie sich damit verteidigen können.
»Nehmen Sie sich diesen kleinen Rückschlag nicht zu Herzen«, sagte er. »Ich bin mit Ihren Fortschritten zufrieden. Ich habe gelesen, was Sie geschrieben haben. Ich sehe, Sie haben meinen Rat befolgt und so geschrieben, als wären die Ereignisse jemand anderem passiert.« Sie konnte nicht zu ihm aufschauen; das Bild, das dort hing, war ihr zu sehr bewusst. Die Pinselstriche, der Rahmen. Er zwang sich zu einem kleinen Lachen. »Erinnerungen sind oft verzwickt. Sie erinnern sich an lustige Einzelheiten. Diese Kuh …!«
Sie nahm immer noch unbeholfen die Kreide zur Hand. Die Kuh ist nicht lustig.
Er nickte. »So war es nicht gemeint … Verzeihen Sie mir. Es war falsch von mir, darüber zu lachen.«
Ja.
Aber eigentlich beneidete sie ihn um dieses Lachen. Sie beneidete ihn darum, dass er noch lachen konnte.
Lachen, Gespräche, Musik – all diese Dinge fühlten sich wie Relikte an, wie Tätigkeiten, die ihre Vorfahren vielleicht vor langer Zeit eingeführt hatten, die aber für sie keine Bedeutung mehr hatten.
