Die Stimme aus der Erde - Inger Gammelgaard Madsen - E-Book

Die Stimme aus der Erde E-Book

Inger Gammelgaard Madsen

0,0

  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

"Willst du jetzt noch mit Bello los?", fragte Monika verwundert."Ja, nur kurz.""Nimm Janus mit. Du gehst nicht alleine, verstanden? Es ist schon spät.""Nein, Janus kann mich mal. Er ist so doof!"Nach einem Streit mit ihrem älteren Bruder geht die 7-jährige Lilly Danielsen mit dem Familienhund spazieren. Als sie nicht nach Hause zurückkehrt, macht sich ihre Mutter Sorgen. Ist sie weggeblieben, weil sie immer noch wütend ist, oder ist ihr etwas Schlimmeres zugestoßen?Der Job des amerikanischen Polizeibeamten Mason Teilmann bei der Polizei in Mittel- und Westjütland ist deutlich entspannter als seine frühere Arbeit bei der Kindermordkommission in seiner Heimatstadt New Orleans. Trotzdem wird er immer wieder von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht, obwohl seine dänische Frau versucht, ihm zu helfen, darüber hinwegzukommen. Als er mit dem Fall des verschwundenen Mädchens Lilly Danielsen betraut wird, kann er seine gesamte amerikanische Ausbildung und Erfahrung gut gebrauchen. Aber unangenehme Erinnerungen holen ihn ein...-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 386

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inger Gammelgaard Madsen

Die Stimme aus der Erde

Übersezt von Patrick Zöller

Saga

Die Stimme aus der Erde

 

Übersezt von Patrick Zöller

 

Titel der Originalausgabe: Stemmen fra jorden

 

Originalsprache: Dänisch

 

Copyright © 0, 2022 Inger Gammelgaard Madsen und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726782585

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Kapitel 1 - Verschwunden

Monika nahm die Lesebrille ab und legte sie auf den Tisch. Sie streckte sich, verschränkte die Finger im Nacken und lehnte sich im Stuhl zurück. Ein Knacken zwischen den Schulterblättern verriet ihr, dass sie schon viel zu lange vor dem Laptop gesessen hatte. Sie hatte sich entschieden, die Dienstpläne für die Geburtshelferklinik zu Hause aufzustellen, wo es ruhiger war, besonders heute. Thor war in einem Meeting und würde erst spät wieder da sein. Es wurde immer spät, wenn die Kanzlei einen Fall gewann und sie anschließend noch in die Stadt gingen, um den Sieg mit einem guten Essen und reichlich Flüssigem zu feiern. Ab und zu war sie mitgekommen, hatte heute aber abgesagt, aufgrund der Dienstpläne. Und weil Lilly und Janus nicht schon wieder vom Kindermädchen ins Bett gebracht werden sollten. In letzter Zeit war so viel los gewesen.

Das Abendlicht fiel durch die Sprossenfenster des Bauernhauses herein und malte helle, viereckige Felder auf den rauen Holzboden. Sie hatten darüber gesprochen, den Boden abschleifen und lackieren zu lassen, doch bisher waren sie sich noch nicht darüber einig geworden, inwieweit das Haus seinen alten Charme behalten oder modernisiert werden sollte, also war vorläufig alles beim Alten geblieben. Das war erst einmal die einfachste Lösung, es würde sich schon alles finden. Zumindest darauf konnten sie sich einigen. Allmählich gefiel es Monika sogar, obwohl sie nie geglaubt hatte, sie als typisches Stadtkind könne sich auf dem Land wohlfühlen, wo es im Frühjahr auf den umliegenden Höfen und Feldern nach Gülle stank und im Spätsommer der Staub der Ernte in der Luft hing. Aber sie musste sich eingestehen, dass Thor recht hatte. Er war auf dem Land aufgewachsen, und den Kindern würde es guttun, oft draußen unter freiem Himmel zu sein, besonders Lilly, hatte er energisch argumentiert, als er das Haus in dem kleinen Dorf gesehen hatte, das etwa zehn Kilometer außerhalb von Silkeborg zum Verkauf stand. Janus und Lilly mussten die Schule wechseln, aber das war kein Problem, denn Janus war an seiner alten Schule ohnehin nicht sehr glücklich gewesen. Mit Beginn des dritten Schuljahres war er an die Grundschule nach Voel gewechselt. Lilly hatte ganz einfach in der ersten Klasse begonnen. Sie konnten mit dem Rad zur Schule fahren, und Monika musste sie nicht mehr jeden Tag abliefern und abholen, weil sie sich Sorgen machte wegen des Verkehrs, vor allem an den Zebrastreifen. Und Lilly ging es hier tatsächlich deutlich besser. Sie hatte keine Angstanfälle mehr, seit sie umgezogen waren, und erleichtert hatte Monika beim Kinderpsychologen angerufen und gesagt, dass weitere Sitzungen nicht notwendig seien.

Ihr Blick löste sich von den viereckigen Lichtfeldern und wanderte zum Fenster und nach draußen in den Garten. Bello machte sich lautstark bemerkbar. Vorhin hatte Janus einen Ball aus seinem Zimmer geholt, wie sie gesehen hatte, und wahrscheinlich spielten Lilly und er jetzt damit. Und Bello war jedes Mal ganz außer Rand und Band, wenn er dem runden Spielgerät nachjagte und versuchte, es zu erwischen. Auch der Hund war eine Neuanschaffung. Es schien ganz natürlich, aufs Land zu ziehen und sich einen Hund zuzulegen, und auch dabei ging es hauptsächlich um die Kinder. Lilly hatte eine stärkere Bindung zu dem Hund aufgebaut als Janus, und das galt umgekehrt auch für Bello. Janus war rauer und lauter als Lilly, wenn sie spielten, und manchmal erschreckte sich der kleine Vierbeiner. Bello vergrub die Schnauze im Kopfkissen und in Lillys blonden Locken, wenn sie sie abends ins Bett brachten, und ohne ihr kleines, lebendiges Kuscheltier konnte Lilly nicht einschlafen. Anfangs war Monika dagegen gewesen, das Tier ins Bett zu lassen, aber die Liebe der beiden zueinander hatte sie schließlich dazu gebracht, nachzugeben.

Monika setzte die Brille wieder auf und wandte sich erneut den Dienstplänen zu. Es wurden immer mehr Kinder geboren, zum Glück, aber manchmal war es schwer, Personal zu bekommen, und dann musste sie den Hebammen auch schon mal ihren freien Tag streichen. Das war nie besonders angenehm, und es machte ihr zu schaffen, weil leicht der Eindruck entstand, sie sei eine schlechte Chefin, obwohl in Wahrheit die ewigen Einsparungen der Grund dafür waren. Sie hatten versucht, den politisch Verantwortlichen klarzumachen, dass der Erfolg der Geburtshelferklinik, innerhalb der vergangenen zehn Jahre die Zahl der Totgeburten zu halbieren, darauf zurückzuführen war, dass sie dazu übergegangen waren, die werdenden Mütter während der gesamten Schwangerschaft von ein und derselben Hebamme betreuen zu lassen. Aber diese Möglichkeit bestand nicht mehr, es war schlicht und einfach zu teuer.

Die Kinderstimmen aus dem Garten wurden lauter, und auch Bello schien aufgebrachter zu sein als gewöhnlich. Monika stand auf und sah aus dem Fenster. Die knorrigen alten Apfelbäume blühten weiß und hellrot, und die Buchenhecke, die den großen Rasen umgab, hatte bereits dichte, hellgrüne Blätter getrieben. Sie konnte die gelben Rapsfelder hinter der Hecke erahnen, so weit das Auge reichte, darüber der blaue Himmel, den in etwa einer Stunde ein schöner Sonnenuntergang zieren würde. Der Mai war ihr Lieblingsmonat, auch wenn in diesem Mai ein Regenguss den anderen abgelöst hatte. Aber heute schien die Sonne und verkündete, dass der Sommer nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Janus und Lilly standen unter einem der Apfelbäume und zankten sich. Bello tanzte kläffend um sie herum. Monika seufzte. Worüber waren sie sich nun schon wieder in die Haare geraten? Sie zog sich vom Fenster zurück. Die Kinder mussten lernen, ihre Konflikte selbst zu lösen und ohne, dass sie sich einmischte. In diesem Punkt waren sie und Thor sich einig. So lange keiner heulte, gab es keinen Grund einzugreifen. Sie setzte sich und nahm die Arbeit wieder auf.

Kurz darauf ging die Tür zum Flur auf und Bello kam schwanzwedelnd auf Monika zugelaufen. Sie bückte sich und tätschelte ihn.

„Was ist denn los, mein kleiner Freund?“, sagte sie in dem sanften, hellen Tonfall, den sie dem Hund gegenüber immer anschlug, und kraulte ihn hinter den Ohren. Sie sah, wie Lilly die Hundeleine von der Garderobe nahm. Lilly pfiff und Bello, der das Signal kannte, stürmte zu ihr in den Flur. Sein fröhlich wedelnder Schwanz hätte sie beinahe umgeworfen. Lilly klickte die Hundeleine an das Halsband.

„Willst du jetzt noch mit Bello los?“, fragte Monika verwundert.

„Ja, nur kurz.“

„Nimm Janus mit. Du gehst nicht alleine, verstanden? Es ist schon spät.“

„Nein, Janus kann mich mal. Er ist so doof!“

„Okay, aber versprich mir, dass ihr nur kurz draußen bleibt. Nur bis zum Ende der Hecke und wieder zurück.“

„Ja, ja.“

„Und zieh deine Jacke an.“

Monika beugte sich vor, sodass sie in den Flur sehen konnte. Lilly nahm ihre rote Jacke von der Garderobe und schlüpfte mit einer einzigen, geübten Bewegung hinein.

Monika hörte die Tür zufallen und es wurde wieder still im Zimmer. Nur noch ein paar Schichten und der Dienstplan war endlich fertig. Sie sah auf die Uhr, es war 20.15 Uhr. Sobald Lilly zurück war, hieß es für sie und Janus Zähne putzen und ab ins Bett. Unter der Woche galt die Spätestens-21.00-Uhr-Regel. Thor würde sie wahrscheinlich nicht vor Mitternacht zu Gesicht bekommen. Die Kinder wurden am liebsten von ihm ins Bett gebracht, weil er immer so witzige Stimmen machte, wenn er ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte vorlas. Außerdem war er leichter zu überreden, noch ein Extrakapitel zu lesen.

Wieder ging sie ans Fenster. Janus versuchte, seinen Basketball in den Korb zu befördern, den Thor an der Wand über dem Carport angebracht hatte. Monika klopfte an die Scheibe, aber er hörte es nicht. Sie zog sich eine Jacke über und ging durch die Terrassentür zu ihm nach draußen. Sie griff sich den Ball, nachdem dieser einmal mehr die Wand anstelle des Korbs getroffen hatte, und warf ihn zurück zu ihrem Sohn, der damit nicht gerechnet hatte und ihn fallen ließ. Sie hatte Thor gebeten, den Korb etwas niedriger aufzuhängen, sah aber jetzt, dass er es noch nicht getan hatte. Er vergaß häufig, dass Janus neun Jahre alt und es schwierig für ihn war, so hoch zu werfen. Am Ende verlor er noch die Lust daran.

„Worüber hast du dich denn mit deiner Schwester gestritten?“, fragte sie. Janus hob den Ball auf und versuchte wieder, ihn in den Korb zu werfen. Fast wäre es gelungen, aber der Ball traf den Ring und prallte ab. Janus sprang vor und fing ihn auf, bevor er auf dem Boden aufsetzte.

„Nichts. Sie ist nur so eine Nervensäge.“

Noch einmal warf er den Ball.

„Du hast aber nichts Gemeines zu ihr gesagt, oder Janus?“

„Nein.“

„Ganz sicher nicht? Sie war ganz schön sauer.“

„Ich habe nur gesagt, dass sie wie ein Fisch ausgesehen hat, der nach Luft schnappt, als wir sie damals gefunden haben.“

Erschrocken starrte Monika ihren Sohn an und griff nach seinem Arm, der bereits wieder den Ball hielt.

„Janus, jetzt hör mal mit dem Ball auf. Warum sagst du so etwas zu ihr?“

„Weil sie manchmal so doof ist!“

„Du kannst auch eine ganz schöne Nervensäge sein, und du weißt, dass du so etwas nicht sagen sollst. Du tust ihr weh, wenn du sie daran erinnerst, was passiert ist. Kannst du das verstehen?“

Janus prellte den Ball hart auf die Steinplatten, fing ihn wieder auf und wiederholte die Prozedur. Seine blonden, fast weißen Locken klebten an der verschwitzten Stirn, und die Augenbrauen waren vor Wut zusammengezogen, sodass eine Falte zwischen ihnen entstand.

„Immer haltet ihr nur zu ihr! Das ist ungerecht!“ Tränen schlichen sich in Janusꞌ Stimme, und wütend trat er gegen den Ball, der unter der Hecke verschwand.

„Wir halten doch nicht immer zu Lilly, kleiner Schatz, aber es ist nicht immer leicht für sie, und …“

Sie streckte die Hand aus, um ihm über die Wange zu streicheln, aber er wich zurück.

„Wann kommt Papa nach Hause?“, fragte er und schaute sie vorwurfsvoll und mit Tränen in den Augen an.

„Das dauert wohl noch ein bisschen. Ihr schlaft dann schon, aber Papa schaut ja immer noch bei euch rein, heute Abend natürlich auch. Magst du ein Eis? Es sind bestimmt noch welche im Tiefkühlfach.“

„Eins mit Waffel?“, fragte er und wischte sich die Augen trocken.

„Ja, eins mit Waffel“, lächelte sie und nahm seine Hand. „Komm, gehen wir rein. Lilly und Bello kommen sicher jetzt gleich.“

 

Monika sah auf die Wanduhr in der Küche. Lilly war jetzt über eine halbe Stunde weg. Wo blieb sie so lange? Sie hatte versprochen, nicht zu weit wegzugehen. Monika hatte die Spülmaschine ausgeräumt, während Janus sein Eis aß. Danach war er auf sein Zimmer gegangen, um noch ein bisschen Fortnite auf seinem Rechner zu spielen. Er hatte den Schlafanzug an und die Zähne geputzt, die Bedingung dafür, dass er so spät noch zocken durfte. Monika schaute aus dem Fenster. Vielleicht war Lilly ja schon wieder da und spielte mit Bello im Garten, aber es war niemand zu sehen, und die Hecke versperrte den Blick auf die Straße. Sie steckte kurz den Kopf in Janusꞌ Zimmer. Der Junge war in sein Spiel vertieft, und sie ließ ihn spielen und ging nach draußen, um nach Lilly zu sehen. Wieder zog sie sich ihre Jacke über.

Der Wind hatte ein wenig aufgefrischt und der einsetzende Sonnenuntergang über den gelben Feldern war so schön wie erhofft. Aber Lilly war nirgends zu sehen. Einige hundert Meter entfernt machte der asphaltierte Weg einen Bogen und verschwand hinter einigen Bäumen. Sie ging bis zu der Kurve. Von hier aus verlief der Weg einige Kilometer schnurgerade und war gut einsehbar, bevor er sich zwischen Getreidefeldern und Windschutzhecken verlor.

Die Entfernung zwischen den Höfen war groß, und Monika glaubte nicht, dass Lilly diese Richtung eingeschlagen hatte. Monikas Herz klopfte jetzt heftiger, und ihre Handflächen, die sie zunehmend fieberhaft aneinander rieb, wurden feucht. Sie ging zurück und versuchte es in der anderen Richtung. Das entsprach Lillys Schulweg, und weiter als bis zur Schule würde Lilly nicht gehen, soviel stand fest, denn dahinter traf der Weg auf die Landstraße, und Lilly wusste, dass sie nicht alleine über die Straße laufen durfte. An der Einfahrt zur Schule hatten zwei Teenager ihre Fahrräder angehalten und sprachen miteinander. Monika ging auf sie zu.

„Hej. Habt ihr ein kleines Mädchen gesehen, dass hier vorbeigekommen ist?“

Beide kauten auf ihren Kaugummis und schüttelten den Kopf.

„Ganz sicher nicht? Sie ist sieben Jahre alt und ungefähr so groß.“ Monika deutete Lillys Größe mit der Hand an. „Sie hat schulterlange, blonde Locken und eine rote Jacke mit Kapuze , einen Jeansrock und weiße Sandalen an. Sie hat einen kleinen weißen Hund dabei.“ Sie hörte, wie ihre Stimme zitterte, hörte den flehenden Klang, als wollte sie die Jungs zwingen, ihr zu sagen, wo Lilly war.

„Nein, wir haben niemanden gesehen“, antwortete einer der beiden. Monika hörte, wie sie ihr Gespräch wieder aufnahmen und über irgendetwas lachten, während sie sich umdrehte und auf den Rückweg machte.

Wo bist du, Lilly?, dachte sie und verspürte den Drang, laut nach ihr zu rufen. Aber was sollte das nutzen, wenn sie weder Lilly noch Bello sehen konnte?

Janus saß immer noch vor seinem Computerspiel, als Monika zurückkam. Wahrscheinlich hatte er gar nicht bemerkt, dass sie weggewesen war. Sie war jetzt ernstlich beunruhigt. Ein Impuls stellte sich ein, zu ihm ins Zimmer zu gehen und ihn zu schimpfen, weil er gemein zu seiner Schwester gewesen und sie deshalb noch mit dem Hund losgegangen war. Eigentlich hatten sie alle drei Ludo spielen wollen, während Papa noch in der Stadt war, aber sie wusste, dass es falsch wäre, Janus Vorwürfe zu machen. Sie hätte Lilly niemals alleine gehen lassen dürfen, nicht um diese Zeit. Sie hätte mit ihr gehen können, hätte mit ihr darüber sprechen können, warum sie und Janus sich gestritten hatten. Hätte sie trösten können. Sie schaute in Janus' Zimmer.

„Es ist schon viel zu spät. Geh jetzt bitte ins Bett“, sagte sie.

Janus blickte auf und sah sie an.

„Jetzt schon? Och Mann, darf ich die Runde noch zu Ende spielen?“

„Nein, du machst jetzt den Computer aus und gehst ins Bett.“ Monika betrat das Zimmer und zog die Gardinen zu. Der Raum verdunkelte sich, und sie schlug die Bettdecke auf. Widerwillig gehorchte Janus, fuhr den Computer herunter und legte sich ins Bett. Monika deckte ihn zu.

„Ist Lilly auch schon im Bett?“, fragte er.

Monika nickte. „Sie ist auch gleich dran.“ Sie versuchte zu lächeln. „Mach jetzt die Augen zu. Schlaf gut.“ Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Als sie die Tür zum Zimmer ihres Sohnes hinter sich schloss, stieg Panik in ihr auf. Sie atmete stoßweise. Lilly war jetzt schon viel zu lange weg. Es war fast dunkel, und es würde bestimmt noch Stunden dauern, bis Thor nach Hause kam. Monika lief in der Küche auf und ab. Sollte sie die Polizei rufen? Sie dachte an das letzte Mal, als sie das getan hatte, und wozu es geführt hatte. War Lilly vielleicht bei einer Klassenkameradin? Das sah ihr gar nicht ähnlich, aber vielleicht wollte sie Janus eins auswischen, indem sie lange wegblieb. Monika überlegte, wer aus Lillys Klasse von hier aus gesehen am nächsten wohnte, aber wenn sie sich richtig erinnerte, war es zu allen so weit, dass Lilly unmöglich dorthin gegangen sein konnte. Ein Mädchen namens Sara wohnte in der Nähe, aber mit ihr hatte Lilly nie viel zu tun gehabt, und Monika kannte den Nachnamen nicht und wusste auch nicht, wo genau Sara wohnte. Sie rief Thor an. Sie hörte ein Stimmengewirr, gedämpfte Musik und Besteck, das gegen Porzellan klirrte, und dann Thors Stimme.

„Monika? Was ist denn los?“

Thor wusste, dass sie ihn niemals anrufen und bei einem Siegesschmaus, wie die Kanzlei es nannte, stören würde, nur um ihm zu sagen, sie vermisse ihn oder sie habe jetzt endlich den Dienstplan für die Klinik fertig. Ergo ging er automatisch davon aus, dass etwas nicht in Ordnung war.

„Lilly ist weg!“, sagte sie atemlos und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

„Was sagst du?“

Monika war unsicher, ob Thor sie wegen des Lärms im Restaurant nicht verstehen oder ob er es nicht glauben konnte und deshalb nachfragte. Also wiederholte sie:

„Lilly ist weg!“

„Wie kann das sein? Einen Moment mal“, hörte sie ihn sagen, und kurz darauf verschwand der Lärm und wurde durch eine Geräuschkulisse ersetzt, die nach im Hintergrund vorbeifahrenden Autos klang. Er war nach draußen gegangen, um ungestört reden zu können, wie sie vermutete.

„Was ist passiert, Monika?“

„Lilly wollte noch ein bisschen mit Bello gehen, und bis jetzt ist sie nicht zurückgekommen. Ich habe nach ihr gesucht, aber sie ist nirgends zu finden. Sie ist weg.“

„Ganz ruhig, Schatz. Tief durchatmen. Wann ist sie gegangen?“

„Vor ungefähr einer Dreiviertelstunde. Ich war dabei, den Dienstplan aufzustellen, und ich … Ich hätte mit ihr gehen müssen, ich …“

„Ganz ruhig“, wiederholte Thor. „Sie taucht bestimmt gleich wieder auf. Wo ist Janus?“

„Im Bett. Ich habe ihm nicht gesagt, dass Lilly noch nicht wieder da ist.“ Beinahe hätte sie gesagt, dass es seine Schuld sei. Janus' Schuld. Dass er sich mit Lilly gezankt und die alten Wunden wieder aufgerissen hatte, ihr wehgetan hatte, aber sie schaffte es, sich zurückzuhalten.

„Was soll ich tun, Thor?“, fragte sie verzweifelt.

„Ich nehme mir ein Taxi und komme nach Hause. Wenn Lilly dann immer noch nicht wieder da ist, müssen wir etwas unternehmen. Und du bewahrst die Ruhe, okay?“

„Ja, okay“, versprach Monika, aber es war ein Versprechen, dass sie nicht halten konnte. Sie war alles andere als ruhig. Immerhin würde Thor jetzt nach Hause kommen, und dann war sie wenigstens nicht allein.

 

Thor hängte seine Jacke an die Garderobe, warf die Schlüssel auf die Kommode im Flur und betrat das Wohnzimmer, in dem Monika in Embryonalstellung auf einem der Stühle hockte. Sie fror und zitterte. Das Ganze klang so normal. So wie immer, wenn Thor aus der Kanzlei nach Hause kam. Die Geräusche waren dieselben, der Duft seines Aftershaves war derselbe, aber nichts war normal. Draußen war es jetzt dunkel, und Lilly war irgendwo draußen. Monika hatte doch die Polizei angerufen, noch bevor Thor nach Hause gekommen war. Es hatte sich hingezogen. Es war wohl nicht so einfach, sich vom Siegesrausch loszureißen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie seinen Abend ruiniert hatte, aber Lilly war ja auch seine Tochter. Und sie hatte irgendetwas tun müssen. Aber der Diensthabende bei der Polizei, mit dem sie gesprochen hatte, hatte sie ermahnt, noch abzuwarten. Es konnte ja sein, dass das Mädchen bald wieder auftauchte. Bestimmt hatte sie sich nur mit einer Freundin verquatscht. Verquatscht? Lilly quatschte nicht. Monikas Panik hatte ein neues Level erreicht, und sie hatte in den Hörer geschrien, dass ein kleines, siebenjähriges Mädchen verschwunden sei und dabei ängstlich in Richtung Janus' Zimmertür geschaut und gehofft, ihn nicht zu wecken. Sie war sicher, sie hatte hysterisch geklungen. Der Beamte antwortete bloß, sie könne ja noch einmal anrufen, wenn ihre Tochter nicht innerhalb der nächsten Stunde zurückkam. Hinterher überlegte sie, ob sie sich noch an sie erinnerten. Vom letzten Mal. Aber dann fiel ihr ein, dass sie sich ja jetzt in einem anderen polizeilichen Zuständigkeitsbereich aufhielten. Damals war es die Polizei Ostjütland gewesen, hier war die Polizei Mittel- und Westjütland zuständig.

Thor ging vor ihrem Stuhl in die Hocke und versuchte vergeblich, ihre Hände von dem Kissen zu lösen, an das sie sich krampfhaft klammerten. In seinen Augen konnte sie sehen, dass ihm noch nicht klar war, worum es hier ging. Dass ihre Tochter verschwunden war. Oder war sie zu schnell in Panik verfallen? Verlor sie die Kontrolle, genau wie beim letzten Mal, als sie Lilly nicht finden konnten? War es das, was Thor jetzt dachte? Dass sie überreagierte?

„Wir müssen sie finden, Thor. Wir müssen nach ihr suchen!“

„Zusammen mit Bello würde Lilly auf dem Weg bleiben. Sie würde nicht über die Felder laufen. Sie sind viel zu schlammig nach dem Regen der vergangenen Tage. Ich bin die Strecke gerade gefahren und habe natürlich Ausschau nach ihr gehalten. Kann sie bei einer Schulfreundin sein?“

„Höchstens bei Sara, die anderen wohnen zu weit weg. Aber ich kenne nur ihren Vornamen, Sara, und …“

Thor stand auf, nahm sein Handy aus der Jackentasche und tippte eine Nummer ein.

„Wen rufst du an?“

„Saras Eltern.“

Monika nickte. Natürlich, warum hatte sie nicht selbst daran gedacht? Warum stand in ihrem Kopf alles still? Warum konnte sie sich nicht zusammenreißen und vernünftig denken?

Thor sprach kurz mit Saras Mutter und aus dem, was er sagte, schloss Monika, dass Lilly nicht bei Sara war. Er rief noch weitere Eltern von Lillys Klassenkameradinnen an, aber keiner von ihnen hatte Lilly gesehen.

„Sie hat sich doch noch nie mit einer von ihnen zum Spielen verabredet. Warum sollte sie plötzlich spät abends dort auftauchen, einfach so?“, sagte sie in angegriffenem Tonfall, vielleicht weil sie dieser Möglichkeit nicht selbst nachgegangen war. „Was machen wir denn jetzt, Thor?“

„Wir müssen die Polizei anrufen, es gibt keine andere Möglichkeit.“

Jetzt wird sich etwas tun, jetzt ruft ein Mann mit ruhiger und autoritärer Stimme an, und keine hysterische Frau, dachte Monika, während sie Thors Stimme lauschte. Er telefonierte mit seinem Handy und ruhig und sachlich erklärte er der Polizei, dass Lilly Danielsen, ihre siebenjährige Tochter, einen Spaziergang mit dem Hund gemacht hatte, aber noch nicht nach Hause gekommen und jetzt seit fast drei Stunden verschwunden sei.

„Es dauert ein bisschen, aber dann kommen sie mit Suchhunden“, sagte Thor, nachdem er auf- und das Handy weggelegt hatte.

„Ein bisschen? Wie lange? Sie können doch nicht einfach …“

„Wir müssen warten, Monika. Sie schicken jemanden. Wir sollen ein geeignetes Bild raussuchen, damit sie Lilly zur Fahndung ausschreiben können.“

Monika war nicht fähig, sich aus ihrer zusammengekrümmten Haltung auf dem Stuhl zu lösen und schaute Thor nur an, der wieder nach seinem Handy griff.

„Das hier ist doch das neueste, das wir von ihr haben, oder?“, fragte er und hielt ihr das Handy hin. Das Bild war vor Kurzem im Garten aufgenommen worden. Lilly lächelte ein wenig schief, denn sie hatte ein paar Tage zuvor einen Milchzahn im Oberkiefer verloren und traute sich nicht richtig zu lächeln, weil Janus sie deswegen immer ärgerte. Monika nickte nur. Thor schickte das Bild an den Beamten, legte das Telefon auf den Tisch und ging wieder vor Monikas Stuhl in die Hocke. Er legte die Hände auf ihre Oberschenkel. Sie starrte auf seine sauberen und schönen Hände, die keine härteren Arbeiten ausführten, als den Basketballkorb zu hoch an der Wand beim Carport aufzuhängen.

„Sollten wir nicht Janus wecken?“, fragte er.

Monika schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. „Hoffentlich finden wir Lilly, bevor er aufwacht. Dann müssen wir ihm nichts erzählen. Sie haben sich gestritten, bevor sie losgegangen ist. Also, sie ist mit Bello los, weil er sie geärgert hat.“ Mehr sagte sie nicht. Sie wollte Thor nicht an das alles erinnern, und schon gar nicht jetzt. Damals hätten sie sie beinahe für immer verloren. Was gerade geschah, fühlte sich an wie ein Déjà-vu.

„Okay, du hast recht.“

Thor richtete sich wieder auf und fuhr sich mit der Hand durch das dichte, dunkle Haar. Die Locken hatten die Kinder von ihm geerbt, das Blond von ihr. Monika merkte, dass er nervös war. Seine Hand zitterte, und er schob beide Hände in die Hosentaschen, sicher um es zu verbergen. Er trug den sandfarbenen Anzug, der ihm so gut stand, und das Hemd, das sie noch gebügelt hatte, bevor er gegangen war. Das mit den dezenten Streifen in hellem Lila, von dem Lilly sagte, er sehe darin aus wie ein Mädchen. Sie hatte laut gelacht, als Thor ihr durchs Wohnzimmer hinterhergelaufen war und sie auf dem Sofa durchgekitzelt hatte. Thor trat ans Fenster und schaute nach draußen, obwohl in der Dunkelheit nichts zu sehen war. Sie schwiegen, bis Thor schließlich in den Flur ging.

„Sie kommen“, sagte er, und es klang wie ,Jetzt reiß dich zusammenʻ.

Er öffnete den Beamten die Tür, noch bevor sie klingeln konnten.

Monika streckte die Beine aus und richtete sich auf ihrem Stuhl auf. Sie wischte sich die Augen trocken.

Zwei Beamte traten ein, zeigten ihre Dienstausweise und stellten sich als Anders und Vibeke vor. Monika riss sich zusammen, so gut sie konnte, und fragte mechanisch, ob sie ihnen eine Tasse Kaffee machen solle oder ob sie ihnen sonst etwas anbieten könne. Die Polizisten nahmen das Kaffeeangebot dankend an und ließen sich auf dem Sofa nieder.

„Süßes Mädchen“, meinte der männliche Bedienstete, Anders, mit einem vorsichtigen Lächeln. Er sah sehr jung aus, vielleicht war er erst seit Kurzem bei der Polizei. Bürstenhaarschnitt, Bodybuilder-Typ. An seinen Oberarmen schien die Uniform zu spannen. Er trug einen Ehering.

„Lilly ist also sieben Jahre alt? Dann geht sie in die erste Klasse?“, fuhr er fort.

Thor nickte. „Ja, hier in der örtlichen Schule.“

„Und sie ist nicht bei einer Schulkameradin?“

„Nein, wir haben schon rumtelefoniert. Außerdem wohnen die meisten so weit entfernt, dass sie niemals zu Fuß dorthin gehen würde. Normalerweise fährt sie mit dem Rad. Aber sie hat ja Bello mitgenommen. Den Hund.“

„Welche Rasse?“

„Es ist ein kleiner Hund, ein West Highland Terrier mit rotem Halsband … Es ist doch rot, oder Monika?“, fragte Thor.

„Ja“, bestätigte Monika geistesabwesend aus der Küche. Es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren, die Kaffeelöffel zu zählen, die sie in den Filter der Maschine kippte.

„Was hatte Lilly an, als sie ging?“, fragte Andersꞌ Kollegin. Monika war erleichtert, dass eine Frau dabei war. Eine Frau, die eventuell auch Mutter war, hatte eher ein Gespür dafür, was gerade in ihr vorging. Sie hatte nicht gut genug auf ihre Tochter aufgepasst, und jede Mutter kannte die Angst, zu versagen. Nur einen Augenblick wegzusehen. Gab Thor ihr die Schuld? Sie sah hinüber ins Wohnzimmer, sah ihn an, ohne dass er es bemerkte. Seine Miene war ernst, drückte aber keine Wut aus. Sie konnte ihn immer lesen, und jetzt gerade tat er alles dafür, dass die beiden Beamten die Informationen bekamen, die sie brauchten, um seine Tochter zu finden.

„Hat sie nochmal etwas anderes angezogen, nachdem ich gegangen bin?“, fragte er sie. Sie drückte auf den Knopf, der die Kaffeemaschine in Gang setzte, ging mit vier Tassen zurück ins Wohnzimmer und stellte sie auf dem Sofatisch ab. Dann setzte sie sich neben Thor.

„Nein, sie hat immer noch den Jeansrock mit den Fransen an, weiße Leggins und die weißen Sandalen … Aber sie hat ihre rote Jacke mit der Kapuze angezogen, als sie gegangen ist.“

Der Beamte kritzelte etwas auf seinen Notizblock.

„Besondere Merkmale?“, fragte Anders.

Thor und Monika sahen sich an. Hatte ihre Tochter besondere Merkmale?

„Ihr fehlt ein Vorderzahn. Und sie hat einen Wackelzahn.“

Monika nickte. „Sie hat ein Muttermal auf der Schulter. Es sieht aus wie eine kleine braune Ente.“

„Hat Lilly Geschwister?“, fragte Vibeke, die von ihrem Platz aus die Bilder auf dem Regal betrachtete. Vor einem Jahr waren sie mit Janus und Lilly zu einem professionellen Fotografen nach Aarhus gefahren, und eins der Bilder zeigte die beiden, wie sie zusammen auf einem Schemel saßen. Es war das einzige Mal gewesen, dass sie für Fotos von den Kindern bezahlt hatten. Es sollte ein Weihnachtsgeschenk für Monikas Eltern sein, die die Zelte abgebrochen hatten und nach Málaga in Spanien ausgewandert waren und die Kinder deshalb nur selten zu Gesicht bekamen.

„Ja. Janus.“

„Wie alt ist er?“

„Neun. Er schläft. Er weiß nicht, dass seine Schwester verschwunden ist, und wir wollten ihm keine Angst machen“, erklärte Monika.

„Sie haben ihn also nicht gefragt, ob er vielleicht weiß, wo seine Schwester hinwollte?“

„Nein, und er weiß es auch nicht. Sie waren draußen im Garten und haben sich gezankt … Ja, und dann ist Lilly mit Bello losmarschiert.“

„Sie haben sich gestritten? War sie traurig deswegen? Oder wütend? Als sie ging, meine ich.“ Wieder machte Vibeke sich Notizen.

„Tja, Geschwister streiten sich eben manchmal. Haben Sie Kinder?“ Monika sah die beiden nacheinander an.

Anders nickte, aber die Polizistin schüttelte den Kopf. Letzteres führte dazu, dass Monika ein wenig der Mut verließ. Vielleicht verstand sie doch nichts. Frauen ohne Kinder kannten die Verantwortung nicht, ständig aufpassen zu müssen.

In der Küche gab die Kaffeemaschine so etwas wie ein Schnarchen von sich. Monika stand auf, um das Getränk zu holen. Der Kaffee duftete so wie immer, was allein schon völlig falsch war. Es hatte sich doch alles verändert. Sie stand vollkommen neben sich, als sei sie in eine ihr gänzlich fremde Welt geraten.

„Was machen Sie beruflich? Sie sind Anwalt, wenn ich richtig informiert bin?“, sagte der Beamte, als Thor ihm Kaffee eingoss auf eine Art, als wollten sie ein bisschen plaudern und sich kennenlernen.

„Ja, Kanzlei Skov & Brygger in Aarhus.“ Thor schenkte auch allen anderen am Tisch Kaffee ein. „Monika arbeitet als Hebamme im Universitätskrankenhaus, ebenfalls in Aarhus.“

„Sie pendeln also beide? Jeden Tag?“, fragte die Polizistin. Monika verstand nicht recht, worauf sie hinauswollte.

„Es ist ja nicht besonders weit von Voel nach Aarhus, nur eine halbe Stunde“, erklärte Thor, aber Monika unterbrach ihn.

„Sollten Sie nicht nach Lilly suchen?“

„Wir warten auf die Hunde. Leider ist es schon zu dunkel, um Helikopter und Drohnen einzusetzen. Also schauen wir mal, ob die Hunde Lilly finden können.“ Vibeke trank einen Schluck Kaffee.

Monika schaute zum Fenster, als sie hörte, wie draußen ein Wagen vorfuhr.

„Das muss die Hundestaffel sein“, sagte Vibeke und stand auf. Sie hörten Gebell.

 

Monika wollte ihre Jacke vom Haken nehmen und den Leiter der Hundestaffel nach draußen begleiten. Der Mann war hereingekommen und hatte Instruktionen von den beiden Polizisten entgegengenommen, und mit Tränen in den Augen und wie in Trance hatte Monika eins von Lillys T-Shirts geholt und dem Hundeführer in die Hand gedrückt. Die Hunde brauchten etwas, um die Fährte aufzunehmen. Aber Vibeke bat sie und Thor, sich wieder zu setzen und versicherte ihnen, dass die Hunde am effektivsten waren, wenn sie ungestört ihrer Arbeit nachgehen konnten.

„Sollen wir etwa hier herumsitzen und einfach nur warten?“, sagte Monika und griff nach Thors Hand. Er nahm sie und drückte sie kurz, wohl um sie zu beruhigen, liebkoste mit dem Daumen ihren Handrücken, sicher in derselben Absicht.

„Jetzt warten wir erst einmal ab, ob die Hunde sie nicht hier in der Gegend finden“, sagte Anders. Er hatte den Kaffee bisher nicht angerührt.

„Sie beide tun also jetzt erst einmal nichts weiter?“, fragte Monika wieder.

„Sollten wir sie heute Abend nicht finden – und ich hoffe, dass wir es tun -, dann geben wir eine Fahndung heraus.“

Monika ließ Thors Hand im selben Moment los, in dem sie Janus aus seinem Zimmer nach ihr rufen hörte. Sie ging zu ihm und setzte sich auf die Bettkante.

„Was ist denn los, kleiner Schatz?“

„Bello hat gebellt“, murmelte er.

„Das war nicht Bello, mein Schatz. Schlaf jetzt wieder.“ Sie strich ihm über das Haar.

„Ist Papa schon da?“

Monika legte die Bettdecke etwas fester um ihn.

„Ja, Papa ist schon da.“

„Er war gar nicht mehr bei mir“, sagte er im Halbschlaf. Tränen brannten in Monikas Augen, als sie Janus auf die Haare küsste und versprach, dass Papa gleich bestimmt noch kurz nach ihm sehen werde. Sie blieb noch einen Moment lang auf der Bettkante sitzen und lauschte seinen Atemzügen. Was, wenn sie Lilly nicht finden würden? Was sollte sie ihm sagen? Dass es nicht seine Schuld war, dass seine Schwester verschwunden war? Würde er das nicht sofort glauben, weil sie sich gestritten hatten und sie ihn deswegen zur Rede gestellt hatte? Sie schaltete seine Nachttischlampe aus.

Als Monika zurück ins Wohnzimmer kam, waren die Beamten im Aufbruch begriffen.

„Danke für den Kaffee. Für den Moment wollen wir sie nicht länger belästigen. Hoffen wir mal, dass die Hunde Lilly finden.“ Vibeke gab ihnen beiden die Hand. „Sie erfahren es natürlich sofort, wenn sich die Hundestaffel meldet. Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen.“

Monika ging ans Fenster und sah, wie die Schweinwerfer des Wagens die große, alte Kastanie beleuchteten, die am Rand der Einfahrt stand. Dann verschwand das Licht hinter der Hecke, und die Dunkelheit kehrte zurück. Sie konnte die Tränen nicht länger unterdrücken. Der Gedanke, dass Lilly allein dort draußen herumirrte, in Dunkelheit und Kälte, war unerträglich. Wo war sie?

Thor trat hinter sie, legte die Hände auf ihre zitternden Schultern und zog sie an sich. Sie drehte sich um und drückte sich an ihn, als sei sie es, die verschwunden gewesen sei und nun den Weg zurück nach Hause und in seine starke Umarmung gefunden habe. Er strich ihr über das Haar und küsste sie auf die Stirn.

„Sie werden sie finden, ganz bestimmt“, sagte er, ohne dass es sie überzeugt oder getröstet hätte. „Sie hat Bello bei sich. Bello ist bei ihr.“

*

Vibeke Andersen parkte hinter dem Wagen der Hundestaffel, der am Straßenrand stand.

„Was ist denn?“, fragte Anders, der gerne nach Hause zu seiner Frau und seinem erst ein paar Monate alten Sohn wollte, wie Vibeke vermutete. Als Single hatte sie keine derartigen Verpflichtungen.

„Ich will nur kurz mit Thorsen reden, dauert nicht lange. Du kannst im Auto bleiben“, antwortete sie, zog die Handbremse an und öffnete die Tür.

Es roch nach Landleben: feuchter Mutterboden und Gülle. Sie selbst wohnte gern in Silkeborg, was auch keine Großstadt war. Im Gegenteil. Mit den vielen großen und schönen Wäldern und Seen wirkte Silkeborg eigentlich gar nicht wie eine Stadt.

Sie ging auf den Leiter der Hundestaffel zu, der an den Wagen gelehnt eine Zigarette rauchte. Der Zigarettenqualm dominierte die Luft, als sie näherkam.

„Hej, Thorsen. Noch keine Erfolgsmeldung?“ Nickend deutete sie auf den Schäferhund.

Thorsen, ein hochgewachsener, dünner Mann, zu dem sie aufblicken musste und der in seiner Uniform obendrein breitschultrig wirkte, schüttelte den Kopf.

„Auch eine?“, fragte er und hielt ihr ein Päckchen Zigaretten hin.

„Nein, danke, ich habe aufgehört. Außerdem sitzt Anders im Auto und wartet.“

„Okay. Unsere Lulu hier hat sich die Hecke und die Büsche vorgenommen und nichts gefunden. Wir machen ein Päuschen, stoßen aber gleich zu den anderen, die in dem Waldstück östlich vom Weg suchen.“

„Hoffen wir mal, dass es das Ganze wert ist“, seufzte Vibeke, während sie den Blick über die dunklen Felder schweifen ließ.

„Wie meinst du das?“, fragte Thorsen.

Vibeke sah ihn an. „Wenn solche Anrufe kommen, überprüfe ich als erstes immer die Eltern. Normalerweise stehen sie im Fokus, wenn es sich um ein Verbrechen handelt. Es ist nicht das erste Mal, dass Lilly Danielsen als vermisst gemeldet wird.“

Thorsen schnippte Asche von seiner Zigarette und sagte zögernd:

„Also ist sie vielleicht ein kleines Mädchen, dass von zu Hause abhaut und irgendwann wiederkommt? Um Aufmerksamkeit zu bekommen oder so ähnlich?“

„Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich bin bei den Kollegen von der Polizei Ostjütland darauf gestoßen. Lilly war damals fünf, und es wurden sämtliche verfügbaren Ressourcen eingesetzt. Hunde, Helikopter, Fußvolk, das ganze Programm. Es stellte sich heraus, dass das Mädchen gar nicht weg gewesen war, sondern sich im Keller in einem Schrank versteckt hatte. Das Schloss war zugefallen, und sie saß fest. Sie hatte Verstecken gespielt, mit ihrem Bruder. Wenn ich alles richtig verstanden habe, wäre sie fast erstickt, bevor man sie am nächsten Tag gefunden hat. Aber diesmal deutet nichts in den Aussagen der Familie darauf hin, dass die Kinder mal wieder Verstecken gespielt haben.“

„Verdammt noch mal, heute ist eigentlich mein Pokerabend“, seufzte Thorsen. „Habt ihr den Keller überprüft? Nur zur Sicherheit?“

„In dem Haus gibt es keinen Keller. Vielleicht eben deswegen.“ Vibeke lächelte und klopfte Thorsen auf die Schulter. „Viel Vergnügen noch. Du meldest dich, sobald ihr etwas gefunden habt, okay?“

Thorsen nickte.

*

Es war kurz vor halb drei Uhr nachts, als Thors Handy aufleuchtete und brummend vibrierte. Monika und er waren nicht ins Bett gegangen, sondern zusammen auf dem Sofa sitzengeblieben. Thor war eingenickt, und auch Monika schreckte hoch, als das Telefon seinen Tanz begann. Die Tassen standen noch auf dem Tisch, zwei von ihnen mit inzwischen eiskaltem Kaffee gefüllt.

Thor griff über sie hinweg nach dem Handy. Monika richtete sich auf und spürte, wie der Puls in ihrem Brustkasten beschleunigte. Hatten sie Lilly gefunden? Würde es nicht mehr lange dauern, und sie konnte sie in ihren Schlafanzug und ins Bett stecken? Ihr einen Gute-Nacht-Kuss geben? Noch ein Einschlaflied singen? Sie konnte besser singen als Geschichten vorlesen, behauptete Lilly.

Aber schlagartig wurde ihr klar, dass es keine guten Nachrichten waren, als Thor sich an die Stirn fasste und mit heiserer Stimme einsilbige Antworten gab, deren Bedeutung nicht durch Monikas Ohren vordrang. Als würde ein Schalter umgelegt, der schlechte Neuigkeiten blockierte. Mit jeder Zelle ihres Körpers spürte sie, dass Lilly etwas zugestoßen war. Die Tränen kehrten zurück, liefen ihr über die Wangen, als sie mit verschwommenem Blick sah, wie Thor das Telefon auf dem Sofatisch ablegte. Er legte die Arme um sie und zog sie an sich.

„Sie … Die Hunde haben immer noch keine Spur von ihr gefunden. Sie haben die gesamte Umgebung abgesucht, aber keine Spur von Lilly oder Bello. Sie haben die Suche vorläufig eingestellt.“

Monika fiel auf, dass Thors Stimme nie zuvor so geklungen hatte. Sie legte die Hände an seine Wangen und sah ihm in die Augen, in denen Tränen schimmerten.

„Wo ist sie, Thor? Wo ist unser kleines Mädchen? Wir müssen los und nach ihr suchen.“

„Das nützt doch nichts, Schatz. Die Polizei hat alles abgesucht. In ein paar Stunden machen sie weiter, wenn es wieder hell wird. Sie setzen einen Hubschrauber ein. Und morgen früh kommen die beiden Polizisten noch mal, sie wollen noch mal mit uns sprechen.“

 

Monika weckte Janus nicht wie gewöhnlich um sieben. Sie wollte ihn schützen; vor der Tatsache, dass seine Schwester verschwunden war; so lange wie möglich. Und er würde heute nicht zur Schule gehen müssen. Außerdem hatte sie in der Klinik angerufen und mitgeteilt, sie werde heute nicht kommen, weil sie krank sei. Sie konnte es nicht sagen; dass Lilly verschwunden war; wieder verschwunden war. Die Polizei würde sie bald finden. Dass musste so sein. Auch Thor hatte in der Kanzlei angerufen und sich entschuldigt, mit welcher Begründung wusste sie nicht. Sicher hatte er die Wahrheit gesagt. Jedenfalls hatte er lange mit seinem Chef gesprochen. Monika nahm sich zusammen und machte frischen Kaffee. Sie hatte keinen Hunger. Zum Glück schien heute auch die Sonne. Wenn Lilly irgendwo da draußen war, wurde sie wenigstens nicht nass. Die Tasse fiel ihr aus der Hand und zerschellte auf den Küchenfliesen. Sie lehnte sich gegen den Tisch und schluchzte unkontrolliert.

Thor kam in die Küche geschossen. „Was ist denn los, Monika?“ Er sah die Scherben auf dem Boden und holte das Kehrblech und den Handfeger aus dem Schrank. Ging vor ihr in die Hocke und fegte alles zusammen.

„Entschuldige“, heulte Monika, der es so vorkam, als zittere ihr Körper von innen und als zerbreche etwas in ihr in tausend Stücke.

„Das war doch nur eine billige Tasse, Schatz. Das macht doch nichts“, antwortete Thor fahrig.

„Entschuldige, dass ich nicht auf unser kleines Mädchen aufgepasst habe“, heulte Monika. „Entschuldige! Ich hätte mit ihr gehen müssen. Ich hätte sie nicht alleine gehen lassen dürfen …“

Thor öffnete einen der Schränke und warf die Scherben in den Abfalleimer. Dann nahm er sie in die Arme.

„Es ist nicht deine Schuld, Monika.“ Er strich ihr das Haar von den tränennassen Wangen. „Es ist niemandes Schuld. Und sie finden sie heute, du wirst sehen.“

„Mama? Was hast du denn?“

Über Thors Schulter hinweg sah Monika Janus, der in der Tür zu seinem Zimmer stand. Seine Stimme ähnelte der Lillys so sehr, dass sie einen kurzen Moment glaubte, sie hätte ihre Tochter reden hören.

„Janus!“, rief sie beinahe und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Natürlich würde sie es nicht immer vor ihm verbergen können.

„Hej, Nus“, sagte Thor und benutzte Janus' Spitznamen aus vergangenen Tagen, als er noch klein gewesen war. Es war lange her, dass Thor ihn Nus genannt hatte. Er ließ Monika los, ging zu ihrem gemeinsamen Sohn, hob ihn hoch bis fast an die Decke und setzte ihn dann auf einen der Küchenstühle. Janus lachte laut.

„Mama hat eine Tasse fallen lassen, nichts weiter. Hör mal …“

Seine Miene nahm einen ernsten Ausdruck an, und Janus, der die Veränderung sofort bemerkte, hörte auf zu lachen.

„Gleich kommt die Polizei, um mit uns zu reden. Lilly ist nicht nach Hause gekommen, und sie suchen nach ihr. Nach ihr und Bello.“

Janus starrte seinen Vater an.

„Wo ist sie? Wo ist Lilly?“

„Sie macht anscheinend einen ziemlich langen Spaziergang mit Bello, aber jetzt sucht die Polizei nach ihnen, und sie werden sie bestimmt bald finden.“

Monika setzte sich auf den Stuhl neben Janus und strich ihm übers Haar, das nach allen Seiten abstand, wie jeden Morgen, bevor er im Bad verschwand. Lillys Haar war weniger widerspenstig, einfach nur lockig.

„Du weinst ja, Mama“, sagte Janus mit brüchiger Stimme.

„Ja, ich bin traurig, weil Lilly nicht nach Hause gekommen ist. Aber wir werden sie finden. Wenn wir mit den Polizisten gesprochen haben, dann gehen wir los und suchen auch nach ihr, okay?“

Janus nickte. „Muss ich nicht in die Schule?“

Thor schüttelte den Kopf. „Nein, heute nicht.“

 

Als Vibeke und Anders zum zweiten Mal erschienen, hatte Thor gerade frischen Kaffee gemacht, während Monika Anziehsachen für Janus rauslegte und sich Mühe gab, seinen Morgen so normal wie möglich zu gestalten.

„Wie Sie ja wissen, haben die Hunde leider nichts gefunden“, sagte Vibeke, nachdem sie sich mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch niedergelassen hatte. Lächelnd sah sie Janus an, der seine Haferflocken verspeiste.

„Deine Schwester hat nicht gesagt, wo sie mit Bello hinwollte, oder?“

Janus kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Gestern sagte deine Mutter, ihr hättet euch gestritten, bevor Lilly ging“, verriet Vibeke, und Janus sah Monika vorwurfsvoll an.

„Es war nichts Ernstes“, entgegnete Monika und legte den Arm um Janus' Schulter.

„Und ihr habt nicht Verstecken gespielt?“, fragte Vibeke weiter.

Janus sah sie verwundert an, schüttelte aber den Kopf.

„Was meinen Sie damit?“, fragte Monika. Wusste die Beamtin, was damals passiert war? Es war ein anderer Polizeibezirk, aber tauschten sie vielleicht Informationen aus? Glaubte sie etwa, dass es jetzt genauso war wie damals? Dass es nicht mehr lange dauerte, bis Thor und sie eingestehen mussten, alle zum Narren gehalten zu haben, weil Lilly überhaupt nicht verschwunden war? Dass sie nicht einmal das Haus verlassen hatte? Dass sie die kostbare Zeit der Polizei vergeudet hatten und zwar völlig umsonst?

„Es war nur eine Frage, aber gut.“ Vibeke richtete den Blick auf Thor, der ihr gegenüber saß. „Wir müssen Sie fragen, ob es einen Verdacht gibt, dass jemand Lilly möglicherweise gekidnappt hat. Ich weiß, das mag im Moment etwas sonderbar klingen, aber wenn Sie einen Verdacht haben, können wir da ansetzen.“

Thor blickte verstohlen zu Janus, der weiter seine Haferflocken aß.

„Kann das nicht noch warten?“, fragte er.

„Leider nicht. Nicht, wenn wir Lilly finden sollen. Sie sind Anwalt. Hat man da nicht auch Feinde?“

„Doch, natürlich. Wenn ich einen Fall nicht gewinne, sind die Klienten nicht allzu gut auf mich zu sprechen, aber deswegen …“

„Ist das vielleicht kürzlich mal der Fall gewesen?“, hakte Anders nach, der müder aussah als gestern.

„Na ja, nein … Oder vielleicht doch.“ Thor dachte nach und sah Monika an. „Erinnerst du dich an Michael Kruse? Dem das Sorgerecht für seine Tochter entzogen wurde und der mich dafür verantwortlich machte, weil wir die Klage verloren hatten?“

Monika nickte. Sie konnte sich sehr wohl daran erinnern. Einer der ganz wenigen Fälle, die Thor vor Gericht verloren hatte.

„Kann er Lilly entführt haben?“, fragte Monika. „Er hat dich bedroht, hat diese Mail geschrieben, dass er weiß, wo die Kinder zur Schule gehen. Aber würde er sich wirklich auf diese Weise rächen?“

Am liebsten hätte sie Janus die Ohren zugehalten. Er hatte aufgehört zu essen und sah sie mit offenem Mund an. Aber sie musste erkennen, dass sie ihre Kinder nicht vor allem Bösen in der Welt beschützen konnte. Sie würden schlimme Dinge sehen. Und erleben.

„Haben Sie seine Adresse?“, fragte Vibeke.

Thor stand auf, ging ins Arbeitszimmer und kam kurz darauf mit einem Notizzettel in der Hand zurück, den er Vibeke reichte. Währenddessen hatte Monika darüber nachgedacht, dass sie auch bedroht worden war. Dabei war es um diese tragische Geburt vor einer Woche gegangen, als das Neugeborene in ihren Armen gestorben war. Die Geburt war zunächst ganz planmäßig verlaufen. Das Paar hatte sich ursprünglich eine Geburt zu Hause gewünscht, aber aufgrund möglicher Komplikationen war die Geburt im letzten Augenblick in die Klinik verlegt worden. Alles war gut verlaufen, aber als Monika das winzige Mädchen in den Händen gehalten hatte – der Moment, in dem sie einem neuen, kleinen Leben auf die Welt geholfen hatte und der der Grund dafür war, dass sie Hebamme geworden war –, hatte das Herz des Kindes unvermittelt aufgehört zu schlagen. Sie versuchten es mit Herzmassage und künstlicher Beatmung, aber es nützte nichts. Die Mutter schrie und wurde zunehmend hysterisch, und irgendwann wurde aus der Trauer eine psychotische Wut, die sich gegen Monika richtete, weil sie das Kind nicht retten konnte. Sie drohte, auch Monikas Tochter könne eines Tages etwas zustoßen, und dass die Strafe sie treffen werde, weil sie ihr Kind umgebracht habe. Es konnte nicht schwer sein herauszufinden, wo die Frau wohnte.

Vibeke notierte etwas auf ihrem Block.

„Wir werden nachprüfen, ob einer der beiden etwas mit Lillys Verschwinden zu tun hat. Lilly ist zur Fahndung ausgeschrieben, also wenn jemand sie sieht, bekommen wir Bescheid. Sie sollten sich darauf einstellen, dass die Presse wahrscheinlich bald hier auftauchen wird. Sie tauchen meistens auf, besonders wenn Kinder verschwunden sind.“

Janus hatte seine Haferflocken aufgegessen. Seine Augen waren groß und schimmerten feucht.

„Ist Lilly weggelaufen, weil ich zu ihr gesagt habe, dass sie wie ein Fisch ausgesehen hat, der nach Luft schnappt, als wir sie in dem Schrank gefunden haben?“, fragte Janus mit tränenerstickter Stimme.

Monika streichelte seine Wange.

„Nein, natürlich nicht, kleiner Schatz.“

„Vielleicht ist sie in das Auto gestiegen, das am Weg stand, als sie ging“, sagte er dann.

„Was für ein Auto?“, fragte Vibeke sofort.

„Es war ein großes Auto.“

„Ein Lieferwagen?“, setzte Vibeke nach und warf Anders einen Blick zu.

Janus nickte.