Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 - Inger Gammelgaard Madsen - E-Book

Leichen bluten nicht - Roland Benito-Krimi 6 E-Book

Inger Gammelgaard Madsen

4,5

Beschreibung

Fesselnder Bestseller-Krimi für Skandi-Krimifans!Roland Benito wird eines warmen Sommermorgens zum Westfriedhof gerufen, wo sich ihm ein schaurig bizarres Bild bietet: Eines der Gräber wurde über Nacht geöffnet, nun liegt der Grabräuber tot auf dem Sarg. Doch der Sarg ist leer. Benito beginnt sofort mit Nachforschungen und stellt fest, dass der Mann, der aus seinem Grab verschwunden ist, bei einem Motorradunfall ums Leben kam.Es ist nicht einzige Fall, der Roland Benito den Schlaf raubt, denn in Aarhus geht ein Vergewaltiger und Mörder um, der es vor allem auf junge Mädchen abgesehen hat. Zusammen mit der Journalistin Anne Larsen nimmt er die Ermittlungen auf."Leichen bluten nicht" ist der 6. Band der Krimireihe um den italienischstämmigen Ermittler Rolando Benito und der Journalistin Anne Larsen."Der Krimi hat mich wieder einmal mitgerissen." - Ukeli-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 602

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (18 Bewertungen)
11
5
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inger G. Madsen

Leichen bluten nicht

Kriminalroman

Aus dem Dänischen vonKirsten Krause

SAGA

Kolofon

Leichen bluten nicht

Aus dem Dänischen von Kirsten Krause

Originaltitel: Lig bløder ikke

© 2013 Forlaget Farfalla

Alle Rechte der Ebookausgabe: © SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711668580

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: Epub 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com

- a part of Egmont, www.egmont.com

Leichen bluten nicht

Rolando Benito wird eines warmen Sommermorgens zum Westfriedhof gerufen. Ihm bietet sich da ein schaurig bizarres Bild. Eines der Gräber wurde über Nacht geöffnet und der Grabräuber liegt tot auf dem Sarg. Dieser ist jedoch leer. Benito startet Nachforschungen über den jungen Mann, der bei einem Motorradunfall ums Leben kam und nun aus seinem Grab verschwunden ist.

Zeitgleich macht ihm und seinem Team ein anderer Fall zu Schaffen. Jemand vergewaltigt und tötet junge Mädchen in Aarhus.

„Leichen bluten nicht“ ist der 6. Band der Krimireihe um den italienischstämmigen Ermittler Rolando Benito und der Journalistin Anne Larsen.

Inger Gammelgaard Madsen

Inger Gammelgaard Madsen arbeitete lange Zeit als Grafikdesignerin in verschiedenen Werbeagenturen. 2008 debütierte sie mit ihrem Kriminalroman Dukkebarnet, der bei Osburg unter dem Titel »Der Schrei der Kröte« erschien. Sowohl der erste als auch der zweite Band ihrer Krimireihe um den Ermittler Roland Benito wurden von Kritik und Publikum begeistert aufgenommen. 2010 gründete Madsen ihren eigenen Verlag Farfalla und seit 2014 konzentriert sie sich ganz auf das Schreiben. Die Roland Benito-Reihe umfasst inzwischen neun Bände. Inger Madsen lebt in Aarhus.

1

Die Sonne ging über dem Horizont auf wie eine Kugel glühenden Lebens. Die Schwärze der Nacht war vertrieben. Ein neuer Tag brach an. Für einige jedenfalls, dachte er, als er auf dem Pfad zwischen den Gräbern zu der kleinen Versammlung ging, die er glücklicherweise sofort entdeckt hatte, als er den parkähnlichen Friedhof von immerhin über sechzehn Hektar Größe betreten hatte. Hier war Platz für alle, unabhängig vom Glauben; selbst Atheisten hatten ihre eigene Gräberfläche bekommen.

Der Kies knirschte unter seinen Schuhen und störte die ehrfürchtige Stille, die Friedhöfe kennzeichnet, hier jedoch mit der Ausnahme, dass man zwischen Vogelgezwitscher schwach den Verkehr vom Viborgweg und der Westringstraße hörte. Seine krumme, südländische Nase nahm den würzigen Duft von Zypressen und Thujen und die Frische nächtlichen Taus auf.

Zum Glück kam nicht länger Licht oder schwarzer Rauch aus dem viereckigen weißen Schornstein des Krematoriums. Er schielte dorthin und versuchte, nicht daran zu denken, warum er oben leicht geschwärzt war. Er hatte gehört, dass die übergewichtigen Menschen den schwarzen Rauch erzeugten. Aber diese Zeit war vorbei. Jetzt, in Kälteperioden, trat nur ein wenig Dampf aus. Zu viele Dioxine und Schwermetalle, unter anderem Quecksilber von Zahnplomben, hatten dem Krematorium vor einigen Jahren bei neuen verschärften Umweltschutzanforderungen schlechte Noten beschert. Die Technik, um dieses Problem zu beheben, hatte einen Anbau erfordert; jetzt konnte man den Rauch abkühlen und ihn mit einem Filter reinigen, bevor er in die Atmosphäre verschwand. Das Kühlwasser dieses Prozesses wurde verwendet, um die Kapellen und das Krematorium zu beheizen, der Überschuss ging in die Heizungen für die Fernwärmeverbraucher. So konnte man nach dem Tod wenigstens ein bisschen von Nutzen sein, ohne schwarzen Rauch zu verursachen, dachte er. Das war ein kleiner Trost. Roland zog die weiße Schutzkleidung an, die ihm ein Beamter reichte, ehe er sich dem Tatort näherte.

Der Westfriedhof war früher schon Vandalismus ausgesetzt gewesen, teilweise von ganz unfassbaren Dimensionen. Einer der Fälle wurde von der Presse als ›größte Grabschändung aller Zeiten‹ bezeichnet. 179 umgeworfene und zerstörte Grabsteine und Monumente, einige von ihnen so groß, dass ein Kran sie danach wieder aufrichten musste. Nichts hatte auf Satanismus oder etwas anderes Okkultes hingedeutet, aber diese Art Verbrechen waren ohne Zeugen schwer aufzuklären, und die gab es selten, da sie oft nachts verübt wurden, zu einer Zeit, in der Friedhöfe in der Regel nicht so gut besucht waren.

Den bizarren Anblick, der sich ihm bot, als die Anwesenden mit heiseren, aber höflichen Morgengrüßen vor ihm zurückwichen, damit er sehen konnte, was der Kriminaltechniker gerade auf seiner Kamera digital verewigte, hatte er jedoch nicht erwartet. Einige Erdklumpen rollten ins Grab, als er sich vorbeugte und hinuntersah. Ein Hauch von Kühle und der Geruch muffiger Erde schlugen ihm entgegen. Es war der Tod, der auf die Morgenluft traf, die von der Sonne bereits ein bisschen aufgewärmt worden war.

»Ja, man denkt fast an die Rache der Zombies oder sowas«, sagte der Rechtsmediziner Henry Leander, ohne dass es witzig klang, was es sicher auch nicht sein sollte. Dass Leander auch erschienen war, zeigte, für wie ernst Vizepolizeidirektor Kurt Olsen die Lage hielt. Oder vielleicht war es nur, um der Gemeinde, besonders dem Bürgermeister gegenüber Entgegenkommen zu zeigen, da es sich hier nun einmal um eine kommunale Einrichtung handelte. Vielleicht als Kompensation für die mangelnde Aufklärungsquote bei den vielen Grabschändungen. Henry Leander hatte im Übrigen angefangen, sich mit kleinen Schritten seiner Pension zu nähern. Es war lange her, dass Roland seinen alten Freund zuletzt gesehen hatte, aber nicht einmal als er sich neben ihn stellte, wandte Leander den Blick von dem offenen Grab ab. Er war gebräunter als sonst, was seinen elegant geschwungenen Schnurrbart kreideweiß wirken und zu dem Schutzanzug passen ließ. Der Mundschutz hing unter seinem Kinn. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schien gar nicht er selbst zu sein. Oder war es bloß so, dass sich alte Kollegen und Mitarbeiter veränderten, wenn sie aus dem Arbeitsalltag verschwanden und man sie nicht mehr jeden Tag sah? Dass sie auf irgendeine Weise aufblühten, jünger wirkten, entspannter, lebendiger. Sie hatten jetzt Zeit, auszuspannen, länger zu schlafen und ihren Hobbies nachzugehen. Leander verbrachte jetzt sicher viel Zeit in seinem Keller mit seinen Insekten. Soweit Roland wusste, würde er seine Forschung dieser kleinen Viecher und ihrer wichtigen Bedeutung für die Polizeiarbeit fortsetzen. Er gab sporadisch Seminare über Entomologie an der Universität. Seine Stellvertreterin, die sehr junge Natalie Davidsen, machte sich bereit, die Leichenschau vorzunehmen, und zog ebenfalls die weiße Schutzkleidung und Latexhandschuhe an, bevor sie mit dem Kriminaltechniker die Plätze tauschte. Leander reichte ihr helfend die Hand; das Loch war fast zwei Meter tief. Sobald der Techniker aus dem Grab gestiegen war, bürstete er sich hektisch die Erde vom Anzug, als wäre es giftiger Staub. Dann kontrollierte er die Qualität der Beweisfotos.

»Willst du sie dir auch anschauen, Herr Kommissar?«, fragte er, als wären es Urlaubsbilder aus den Katakomben.

Roland schaute ihm über die Schulter. Der Tote lag in einer krampfartig verrenkten Stellung. Normaler Körperbau. Er hatte einen dreckigen, aber schicken, hellen Trenchcoat an, eine Rasur nötiger als Roland und markante Pigmentstörungen im Gesicht. Mit der rechten Hand umklammerte er einen Spaten. Roland hörte, dass hinter ihm etwas vorging und drehte sich um. Gerade legten sie die Leiche auf eine weiße Plastikunterlage. Natalie kramte in den Taschen des toten Mannes. Der Kriminaltechniker machte wieder Bilder, als sie ein braunes Lederportemonnaie aus einer Hosentasche zog und es öffnete.

»Harald Lund Iversen«, las sie von einem abgenutzten, geknickten Führerschein ab. »56 Jahre alt.«

»Was zum Teufel hat er da unten in dem Grab gemacht?«, fragte der Techniker, während er immer wieder auf den Auslöser der Kamera drückte, während Natalie in das Diktiergerät sprach und die Beweise dokumentierte. Ein paar Geldscheine, Münzen, ein Einkaufszettel, ein Bon von 7-Eleven, ein Schlüsselbund mit vier Schlüsseln, ein Foto von ihm und sicher seiner Ehefrau, ein zerknülltes Bild eines jungen Mannes, vielleicht sein Sohn. Gott sei Dank hatte der Verstorbene selbst gerade die wichtigsten Informationen geliefert, das ersparte ihnen eine zeitraubende Identifizierung. Seltsamerweise hatte er kein Handy bei sich.

»Wie ist er gestorben?«

»Das kann ich dir noch nicht sagen, Benito«, antwortete Natalie, stand auf und verstaute die Gegenstände in kleinen Plastiktüten, in Tütchen, die sie dem Kriminaltechniker reichte. Ihr Augenkontakt dauerte einen Moment zu lang.

»Wenn jemand es weiß, soll er es bitte für sich behalten«, sagte der Techniker mit einem verschmitzten Grinsen, riss, nur widerwillig, den Blick von Natalie los und studierte wieder das Ergebnis seiner Aufnahmen.

Roland warf ihm einen irritierten Seitenblick zu; noch einer dieser Neuen, der nicht wusste, wann man besser seine Klappe halten sollte. Er hatte gehört, dass er Single war, mit einer Harley Davidson herumfuhr, an der er gern selbst herumschraubte, und Mitglied eines Motorradclubs war, der letzten Sommer eine Tour durch die Staaten gemacht hatte: Orlando-Los Angeles inklusive eines guten Stücks der Route 66. Ein junger Mann mit einem Hang zu grenzüberschreitenden Beschäftigungen. Roland vermutete, er war einer der vielen, die im Fernsehen von CSI fasziniert waren und sicher mit ihrem Job prahlten, um bei Ladys in der Disco zu landen. Falls man mit der Art Job irgendwo landen konnte.

Er schaute nach unten in das feuchte Grab, wo einer der Friedhofsgärtner ihn entdeckt hatte.

»Wann ist er gestorben?«, fragte er weiter. Die üblichen Fragen, über die die Rechtsmediziner allmählich die Augen verdrehten, weil sie sie meistens nicht vor einer Obduktion beantworten konnten, und das wussten die Ermittler ganz genau. Aber Natalie war neu und unternahm trotz allem einen Versuch, damit Roland mit seiner Arbeit beginnen konnte.

»Die Leichenstarre ist voll ausgeprägt. Es war eine verhältnismäßig milde Nacht, aber feucht …« Sie schob die Ärmel ihres Anzugs hoch und schaute auf die Uhr. »Ich würde sagen, der Tod ist vor ungefähr sechs Stunden eingetreten. Vor Mitternacht. Es sei denn, hier wäre die Rede von kataleptischer Totenstarre. Aber ich werde versuchen, das ein bisschen weiter einzugrenzen, wenn ich ihn auf dem Tisch liegen habe.«

Leander warf ihr ein diskretes anerkennendes Lächeln zu, das von dem weißen Schnurrbart beinahe verdeckt wurde. Er konnte seinen Ruhestand unbesorgt fortsetzen; sein alter Job war in guten Händen.

»Sieht aus, als wäre es ihm gelungen, den Sargdeckel abzuschrauben. Was er wohl vorhatte?«, sagte Natalie nachdenklich.

Roland trat über die Erdhaufen, die entlang der Grabränder aufgehäuft worden waren, und bog die Zweige eines Wachholderbusches zur Seite, sodass er den Namen auf dem Stein lesen konnte.

»David Lund Iversen. Er ist vor zehn Tagen gestorben und nur achtzehn Jahre alt geworden.«

»Das muss wohl ein Familienmitglied sein. Aber warum wollte er ihn ausgraben?« Natalie war wieder ins Grab geklettert und stand auf dem Sargdeckel.

»Vielleicht war er psychisch krank. Ob er wohl etwas mit den Grabschändungen zu tun hat, die hier passiert sind?«, fragte der Kriminaltechniker und sah sich um, als ob er erwartete, noch weitere zu entdecken.

»Kaum«, erwiderte Roland.

Man ging davon aus, dass die Täter Jugendliche waren, die wahrscheinlich in betrunkenem Zustand hier randaliert hatten. Das waren wirklich keine Jungsstreiche mehr, so viel stand fest. Er starrte auf den Toten, der gerade von den ersten Sonnenstrahlen, die sich über die Baumkronen schlichen und einen neuen, warmen Sommertag ankündigten, beschienen wurde. Der Ausdruck in Harald Lund Iversens Gesicht konnte beinahe darauf hindeuten, dass er wirklich einen Zombie gesehen hatte, und er sah nicht wie jemand aus, der sich normalerweise in der Nacht auf Friedhöfen herumtrieb, um Gräber zu schänden – wie solche Typen auch aussehen mochten.

»Wie hat er es wohl geschafft, dieses Loch zu graben?«, fragte Henry Leander und schüttelte verwundert den Kopf.

»Das Grab hier liegt ja ein bisschen abseits, daher …«

»Aber gibt es hier nicht auch Nachtwächter seit den Vorfällen damals 2005? Oder Videoüberwachung?« Leander schaute sich um, als suche sein Blick nach Kameras in den Baumkronen. Aber dort hingen nur die vielen Nistkästen, hier machte man sich verdient um den Vogelschutz. Über 50 Holzkästen waren rund um den Friedhof angebracht worden, sie waren aber kaum so genial gewesen, diskret Kameras darin zu installieren.

»Es gab viel Gerede darüber, doch es wurde nie etwas daraus. Es gibt ethische Einwände.«

Leander nickte. »Vielleicht war es der Anblick der Leiche, der ihn umgebracht hat. Ein Schock. Nicht alle können sowas ab.«

»Vielleicht hat die Leiche ihn ermordet und ist dann abgehauen«, unterbrach der Kriminaltechniker und lachte allein über seinen Witz, aber sein Lachen gefror jäh und er wurde sichtlich blass, als Natalies Ruf unten aus der Tiefe ertönte:

»Der Sarg ist leer!«

»Leer?«

Roland beugte sich wieder vor und schaute zu ihr hinunter. Sie hatte ihre Beine links und rechts auf den Grabrändern abgestellt, sodass sie in der Grätsche über dem Sarg stand, und den Deckel so weit angehoben, dass man hineinschauen konnte.

»Wie kann der leer sein? Man begräbt doch nicht einfach einen leeren Sarg!«, murmelte Roland.

Er sah, wie die Beamten weiter oben auf dem Pfad mit einer Familie sprachen, die auf dem Weg zu einem Grab war. Die Kinder hatten Blumen im Arm. Sie sollten zusehen, dass sie hier fertig wurden.

»Irgendjemand tut das offenbar. Wir müssen den Sarg mit ins Kriminaltechnische Zentrum nehmen«, sagte Natalie und strich sich mit der Oberseite des Armes die Haare aus der verschwitzten Stirn.

»Kümmerst du dich um die Genehmigung, Benito?«

2

Der beste Job der Welt! Keine lange und mühsame Ausbildung! Niemals Arbeitslosigkeit!

So hatte sein Vater seine Profession stets angepriesen, die er schon von seinem Vater übernommen hatte.

Johan Spang, Gott habe ihn selig, hatte oft versucht, seinen jüngsten Sohn zu überreden, auch ins Familienunternehmen einzusteigen, wie auch sein Bruder und seine älteste Schwester. Aber er hatte sich dagegen gesträubt, wie seine andere Schwester, die sich ebenfalls für einen anderen Weg entschieden hatte. Dieser Beruf war mit einem Tabu belegt. Als Kind hatte ihn der Anblick der Särge geängstigt, selbst der der leeren, oder nein, gerade der. Er hatte immer mit Abscheu auf seinen Vater geschaut, wenn er sich an den Tisch setzte, nachdem er einen toten Körper berührt hatte. Ihn in einen Sarg gelegt hatte. Es hatte ihn geprägt, der Sohn eines Bestatters zu sein, und unter keinen Umständen wollte er diesen Beruf eines Tages selbst ausüben.

Er nahm eine der weißen Karten aus dem Visitenkartenhalter, der vor ihm auf dem Palisanderschreibtisch stand. Nicht bloß ein billiger Halter aus Plastik. Nein, er war aus blankem Sterlingsilber. So blank, dass er sich darin spiegeln konnte. Die kurz geschnittenen, gekräuselten Haare mit den weißen Strähnen saßen perfekt – McDonald’s Haare, wie Mathilde sie aufgrund seiner Geheimratsecken spöttisch nannte, die sich wie das berühmte ›M‹ bogen. Er hob das Kinn ein wenig und betrachtete zufrieden den akkurat getrimmten Schnurrbart, der sein jungenhaftes Gesicht männlicher machte. Auch der Bart hatte weiße Sprenkel bekommen. Der Teint war ebenmäßig und sonnengebräunt, aber er sah auch, dass seine sonst ruhigen, stahlgrauen Augen Unsicherheit ausstrahlten. Er kippte die Karte zwischen zwei Fingern, während er darauf starrte. Der Geruch von Druckerschwärze haftete noch daran. Das Papier war so glatt, dass es an den Fingerspitzen unangenehm kitzelte und das Licht vom Fenster reflektierte. Er las den Text: Andreas Spang. Bestatter. Der Name war in gotischer Schrift geschrieben. Schwarze, geschwungene Buchstaben. Der Stil, den sein Großvater einst im 19. Jahrhundert festgelegt hatte, war bewahrt worden. Das Logo war ebenfalls altmodisch. Ein hässliches kleines Kreuz war oben auf die Karte gedruckt, darunter eine traurige schwarze Borte. Das würde er mit der Zeit ändern. Etwas Moderneres musste her. Ein Bestattungsunternehmen musste sich nicht so trist präsentieren. Eine ansprechende Homepage hatte er auch im Sinn. Vielleicht sogar mit einer Art Online-Shop. Mit einem Mausklick könnten die Kunden wählen, ob es eine Erdbestattung oder Einäscherung und welcher Sarg oder welche Urne es sein sollte. Ob die Asche über dem Meer oder einem Vulkan verstreut und ob der Sarg in einem ganz persönlich ausgewählten Bereich begraben werden sollte. Neue Zeiten waren angebrochen.

Pia hatte dafür gesorgt, dass die Visitenkarten genau heute, an seinem ersten Tag, geliefert worden waren. In der Regel hielt seine Schwester zuverlässig Wort. Sie kümmerte sich um die Abrechnung und andere Büroarbeit und auch um die Dekoration des Schaufensters. Frauen kennen sich besser damit aus, war die Devise seines Vaters gewesen, und damals hatte seine Frau, Andreas‘ Mutter, diese Arbeit gemacht, bis sie ihn verließ. Pia, die auch gerade geschieden worden war, übernahm ihren Part. Aber auch hier würde er Änderungen vornehmen, obwohl er genau wusste, dass es keine leichte Aufgabe war, den Tod spannend, einladend – und verkäuflich – zu präsentieren.

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und betrachtete die Vitrine mit ausgewählten Urnen. Mehrere verschiedene Modelle waren systematisch aufgereiht, wie Aufbewahrungsdosen auf einem Küchenregal. Wieder Pias Werk. Einige hatten kunstvolle Muster, gestaltet von einem bekannten Designer. Die teuren. Andere waren schlicht in einer gedeckten Farbe gehalten. Aber wem bedeutete das etwas? An der gegenüberliegenden Wand hing das Firmenportrait von Johan Spang neben dem seines Vaters. Ihre Augen schienen über den Raum zu wachen. Über ihn. Sie hatten den gleichen ernsten Blick, der zu dem Gewerbe passte. Fast schien diese Berufung angeboren. Beide hatten etwas Ehrfurcht gebietendes. Großvaters Schnurrbart wand sich elegant nach oben, der seines Vaters, nicht ganz so exorbitant, hing nach unten, was ihm einen etwas verschlossenen Ausdruck verlieh. Aber was beide mit ihrer Haltung ausstrahlten, war absolute Disziplin.

Andreas wusste nur zu gut, dass sein neuer Job genau dies erforderte, samt vielen anderen wichtigen Eigenschaften: Mitgefühl, Geduld, Demut, und nicht zuletzt die Fähigkeit, mit Menschen in Trauer und Krise reden zu können. Diese Fähigkeiten hatten sowohl sein Großvater als auch sein Vater besessen, trotz allem. Sein Bruder hingegen hatte überhaupt keine soziale Kompetenz, deswegen kümmerte sich Erling um die schwere Arbeit mit den Särgen und fuhr den Leichenwagen. Andreas hatte keine Ahnung, ob er selbst jemanden trösten konnte. Würde er Gitta und Mathilde fragen, würden sie seine Frage ganz sicher nicht ernst nehmen. War das etwas, das man in dem vierzehntägigen Kurs lernen konnte, bei dem Pia ihn angemeldet hatte?

Erst, als er als Exportverkäufer bei Danish Crown gefeuert wurde, hatte er gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter beschlossen, in Ringsted die Zelte abzubrechen und heim in die Provinz in Jütland zu ziehen. Nicht, weil der Export von Schweinefleisch zurückging – im Gegenteil -, seine Zahlen waren bloß einfach zu schlecht und so wurde er während der letzten Entlassungsrunde gefeuert. Er verstand nicht, wie die anderen das anstellten. Man konnte doch das Ausland nicht einfach zwingen, dänisches Schweinefleisch zu kaufen. Sie konnten es offenbar.

Aber es war trotzdem nicht so tragisch. Gitta musste nicht einmal ihren Job wechseln, sie wurde einfach auf die neue Route zwischen dem Aarhuser Flughafen und Helsinki versetzt und flog nicht länger Kopenhagen-London. Ihr sei es egal, hatte sie gesagt und ihr einstudiertes Zahnpastalächeln gelächelt; das, was ihn sofort umgehauen hatte, als er sie das erste Mal am Flughafen Heathrow getroffen hatte. Damals wollten sie beide nach Kopenhagen, doch der Flug hatte Verspätung gehabt und sie waren sich zufällig in der Abflughalle begegnet. Er hätte nie geglaubt, dass eine so hübsche Frau, die fünf Jahre jünger war als er, überhaupt Interesse an ihm haben könnte, aber sie hatte ihn mit ihren wasserblauen Augen angeschaut, sie waren ins Gespräch gekommen und als er das Flugzeug verließ, hatten sie Telefonnummern ausgetauscht. Sie hatte ihn angerufen. Er hatte nicht den Mut gehabt. Jetzt war Mathilde geradedabei, sich gut in der neuen Schule einzuleben. Aber wie würde ihr Alltag jetzt aussehen, wenn ihr Vater Bestatter war? Würde er wie sein Vater werden? Er hoffte nicht. Wie würde Gitta reagieren, wenn er nach einem Tag bei den Toten heimkäme und ihren Körper berührte? Wie seine Mutter, die ihren Mann am liebsten in Quarantäne geschickt hätte, als sich neben ihn in das gemeinsame Ehebett zu legen? Hatte er sich doch falsch entschieden, als er diesen Job hier angenommen hatte?

»Du bist es gewohnt, tote Schweine zu verkaufen, was ist der Unterschied?«, hatte Pia zynisch gefragt, damals, als er ihr seine Bedenken geschildert hatte. Seine Geschwister brauchten seine Unterstützung, nachdem ihr Vater vor einem Monat das Zeitliche gesegnet und die Firma ohne Leitung hinterlassen hatte.

Andreas legte die Visitenkarte an ihren Platz und fuhr mit den Händen über die polierte Oberfläche des Holztisches, wie um die Qualität zu beurteilen, aber er wusste, dass er das nicht zu tun brauchte. Sein Vater hatte immer nur Dinge von sehr hoher Qualität angeschafft. Davon zeugte auch das Büro. Aber stilvoll, nicht protzig. Man sollte ja nicht damit hausieren gehen, dass der Tod ein einträgliches Geschäft war, was er jetzt überrascht erkennen musste. Einträglicher als ein Verkäuferjob in der Fleischbranche jedenfalls. Das konnte ganz sicher der entscheidende Baustein in der Beziehung zu Gitta werden. Geld bedeutete ihr mehr als ihm.

»Guten Morgen! Na, du bist da! Erster Tag, was! Hast du schon gefrühstückt?« Pia war dabei, ihre schulterlangen, dunklen, fast schwarzen Haare, ebenfalls klein gekräuselte Locken wie die ihres Vaters, in einen Knoten hochzustecken, als sie in sein Büro kam. Sie redete undeutlich, da eine Haarnadel zwischen ihren Zähnen klemmte. Andreas nickte nur, überwältigt, wieder mit seiner Schwester zusammen zu sein. Es war so lange her. So viel aufzuarbeiten. Vieles, das unausgesprochen war.

»Okay, aber dann einen Kaffee? Ich mache eine Kanne. Dein erster Kunde kommt ja bald und will sicher auch einen. So läuft das hier«, fügte sie hinzu, als wolle sie unterstreichen, dass das hier etwas war, über das er nicht so viel wusste wie sie.

»Nervös?« neckte sie ihn. Er mochte diesen Anflug von Boshaftigkeit nicht, es klang, als mache sie sich über ihn lustig. Oder bildete er sich das bloß ein, genau wie das Gefühl, dass sie gerne in diesem Stuhl hier gesessen hätte und es nur nicht tat, weil Johan Spang in seinem Grab rotieren würde, wenn eine Frau seinen Platz eingenommen hätte? Genau deswegen hatte er es auch in seinem Testament anders verfügt, was am meisten Andreas selbst überrascht hatte. Aber Pia musste dankbar sein und ihm ein bisschen Respekt zeigen. Hätte er den letzten Wunsch seines Vaters nicht erfüllt, hätte das Familienunternehmen schließen müssen. Erling wirkte jedenfalls dankbar. Er hätte es auch schwer gehabt, einen anderen Job zu finden.

»Nein, ich bin nicht nervös«, log er.

»Ich kann’s dir ansehen, Brüderchen. Ich kenne dich. Deinen Blick.«

»Welchen Blick?«

Aber er wusste genau, was sie meinte; er hatte ihn selbst gerade in der Spiegelung im Visitenkartenhalter gesehen.

»Natürlich bist du das, wenn es das erste Mal ist. Ich werde wohl hierbleiben, dann kann ich dir zeigen, wie man sich anstellt. Nicht?«

Er wollte dankend ablehnen, sagen, dass er wohl allein klarkäme, nickte aber stattdessen und warf ihr ein Lächeln zu, das Erleichterung ausdrücken sollte. Pia lächelte zurück und verschwand in die Küche, die direkt gegenüber von seinem Büro lag. Er sah auf den Kalender, der auf der blanken Oberfläche des Tisches lag wie eine Störung der Perfektion. Der schwarze Lederumschlag war voller Fettflecken und abgenutzt. Johan Spang hatte seine Kalender immer darin aufbewahrt. Ein Erbstück seines Vaters, der die gleiche Tradition gepflegt hatte. Als Kind war es Andreas streng verboten gewesen, ihn anzufassen. Er öffnete ihn mit einem vorsichtigen Blick zum Porträt seines Vaters, als ob er erwartete, von ihm angebrüllt zu werden; dann blätterte er zum heutigen Datum. Pia hatte mit ihrer kindlichen Handschrift, die sich seit dem Teenageralter nicht sehr verändert hatte, den Namen seines ersten Kunden aufgeschrieben. Eine Frau, deren Mann gerade verstorben war. Sie war vielleicht betagt. Alt. Er wusste nicht, warum ihn dieser Gedanke ein wenig beruhigte. Oft fand diese Art von Gesprächen bei dem Kunden zu Hause statt, wusste er. Er erinnerte sich deutlich, dass sein Vater wegen dieser Art Treffen ständig weg gewesen war. Aber diese Kundin hatte aus irgendeinem Grund gewünscht, dass das Treffen bei ihnen im Bestattungsinstitut stattfinden sollte. Auch das erleichterte ihn ein bisschen. Hier wäre er zumindest einigermaßen in seinem Element. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war nur noch eine Viertelstunde, bis sie kommen würde.

3

Der Grabschänder war eines natürlichen Todes gestorben, was angesichts der Tatsache, wo und wann er gefunden wurde, seltsam klang. Aber das Ergebnis der Obduktion war eindeutig. Der Mann hatte einen akuten Herzstillstand erlitten. Was den verursacht hatte, konnte man nur mutmaßen. Roland dachte an die spöt­tisch Theorie des Kriminaltechnikers; dass die Leiche verschwunden war, konnte sicher auch einige unheimliche Gedanken in Gang setzen. Aber Harald Lund Inversen hatte ohnehin schon ein schwaches Herz gehabt und die anstrengende Arbeit, ein Loch von zwei Metern zu graben, hätte allein für einen Infarkt gereicht. Roland entschied sich, bei dieser Theorie zu bleiben. Jeden konnte ein akuter Herzstillstand ereilen, selbst Profisportler. Der Todeszeitpunkt war nicht ganz so leicht einzugrenzen gewesen, da Natalie mit ihrer Theorie bezüglich der kataleptischen TotenstarreRecht gehabt hatte. Leichenspasmus, wie sie auch genannt wurde. Wenn der Todesfall während anstrengender körperlicher Aktivität erfolgte, trat die Starre innerhalb kürzester Zeit ein und nicht erst, wie gewöhnlich, nach zwei bis drei Stunden.

Harald Lund Iversens Leiche war sofort freigegeben worden, damit seine Frau Lissi mit der Beerdigung nicht warten musste. Sie war widerwillig mitgegangen, als der Sarg ihres Sohnes ausgegraben und zur näheren Untersuchung ins Kriminaltechnische Zentrum gebracht worden war.

»Na, was hat die Witwe gesagt?«

Kurt Olsen stand auf einmal in der Türöffnung und hatte vergessen, die goldene, blank polierte Stanwell-Pfeife, die seiner Unterlippe einen leicht hängenden Zug gab, aus dem Mundwinkel zu nehmen. Sonst rauchte er nur in seinem eigenen Büro. Er rückte seinen Krawattenknoten zurecht und sah aus wie jemand, der auf dem Weg zu einer der gewöhnlichen Besprechungen war, auf die die hohen Tiere stets viel Zeit verwendeten. Diese Meetings waren in Rolands Augen nichts als reine Zeitverschwendung, die von anderen wichtigen Aufgaben abhielt.

»Ihr Sohn hätte in diesem Sarg liegen sollen. Er ist vor einer Woche bei einem Motorradunfall gestorben und wurde gerade erst beerdigt.«

»Verdammt nochmal, die arme Frau! Hat sie irgendeine Ahnung, warum ihr Ehemann ihren Sohn ausgraben wollte? Irgendwie ungewöhnlich und bizarr, nicht?«

Roland nickte. »Selbstverständlich war sie völlig schockiert darüber, auch ihren Mann so plötzlich zu verlieren, und natürlich nicht weniger über den leeren Sarg ihres Sohnes. Das Handeln ihres Mannes war ihr ganz und gar unverständlich. Als ich gehen wollte, fiel ihr allerdings plötzlich etwas ein.«

Der Vizepolizeidirektor bemerkte, dass er die Pfeife noch immer im Mund hatte und stopfte sie in seine Jackentasche.

»Und was?«

»Es bestand wohl ein großes Interesse an den Organen ihres Sohnes. Der Junge lag einige Tage, nachdem ihn die Ärzte für hirntot erklärt hatten, im Koma. Ein künstliches Koma, das einzig dazu diente, seine Organe am Leben zu erhalten. Kein Elternteil wünscht sich, dass ihr Sohn als Ersatzteillager für andere benutzt wird, wie sie es ausdrückte.«

»Eine etwas egoistische Haltung, wenn man weiß, wie viele Patienten auf ein neues Organ warten.«

»Das ist wohl etwas anderes, wenn es plötzlich aktuell wird und um die eigenen Lieben geht. Man hofft ja immer, dass sie doch überleben.«

Kurt Olsen schüttelte den Kopf und kratzte sich am Hals. Der Hemdkragen und der Schlips schienen ihn plötzlich zu stören.

»Harald Lund Iversen hat nicht darauf vertraut, dass man ihre Wünsche respektieren würde, weil man sie unter Druck setzte. Als wären die Körperteile ihres Sohnes plötzlich eine beliebige ›Exportware zum Verkauf für den Meistbietenden‹ geworden, wie sie sich ausdrückte.«

»Beliebig waren sie ja auf jeden Fall nicht«, unterbrach Kurt.

»Es hat Harald Inversen so sehr umgetrieben, dass er …«

»Dass er selbst kontrollieren wollte, ob sein Sohn, nennen wir es intakt in seinem Grab lag. Ist das die Erklärung?«, mischte sich Kurt wieder ein, als ob er keine Zeit hätte, auf Rolands Bericht zu warten.

Roland nickte. »Es deutet einiges darauf hin, ja.«

»Und dann findet er den Sarg leer vor! Kein Wunder, dass er einen Herzstillstand hatte. Aber wo zum Teufel ist die Leiche abgeblieben? Und wann ist sie verschwunden? Sicher vor der Beisetzung?«

»Ja, davon darf man fast ausgehen. Es ist höchst ungewöhnlich. Wo suchen wir nach einer Leiche?«

»Die Sargträger müssen doch gemerkt haben, dass er leer war, sollte man annehmen. Was wiegt ein leerer Sarg?«

Roland zuckte die Schultern. Woher sollte er das wissen? Der Sarg seiner Mutter hatte ungefähr eine Tonne gewogen, so hatte es sich angefühlt, aber das war nicht nur dem Sarg geschuldet. Salvatores hingegen, ein magerer junger Körper von knapp fünfzehn Jahren …

»Auf dem Bild, das wir im Portemonnaie des Vaters gefunden haben, sieht der Sohn aus, als ob er schmächtig gewesen ist, wenn er also nicht besonders viel gewogen hat, haben die Träger es vielleicht nicht bemerkt«, murmelte er.

»Hat die Kriminaltechnik keine Spuren im Sarg gefunden?«

»Sie sind noch nicht fertig mit der Untersuchung.«

Kurt Olsen streckte nonchalant seinen Arm aus und beugte ihn, sodass der Jackenärmel automatisch hoch glitt und er die Ziffern auf seiner modernen Armbanduhr sehen konnte.

»Ich gehe jetzt zu einer Besprechung, die dauert sicher den restlichen Nachmittag. Hältst du mich auf dem Laufenden?«

Roland stapelte einige Papiere, um beschäftigt zu wirken.

»Selbstverständlich.«

Der Fall war wirklich recht ungewöhnlich und konnte nicht wie ein anderer angegangen werden. Gehörte er überhaupt auf seinen Tisch? Eine verschwundene Leiche! Als ob sie nichts anderes zu tun hätten. Kurt Olsens Wohlwollen dem verhältnismäßig neuen Bürgermeister gegenüber kannte offenbar keine Grenzen. Es war ein Skandal, dass so etwas auf einem von Aarhus’ besten städtischen Friedhöfen passieren konnte. Wenn die Presse Wind von dieser Geschichte bekam, wollte er sich die Schlagzeilen gar nicht vorstellen: Leichenraub? Scheintod? Wiederauferstehung?

Fast glaubte er, dass ein Fluch auf dem Tag lag, als in diesem Moment das Telefon klingelte und ihre überforsche Stimme in sein Ohr drang:

»Ich war gerade beim Westfriedhof, was ist da los? Warum habt ihr ein Gebiet da draußen abgesperrt? Ist jemand tot?«

»Was hast du denn auf einem Friedhof erwartet?«, antwortete er müde und abweisend und nicht einmal, um witzig zu sein.

»Ich hab‘ gehört, dass es dem Mann gelungen ist, seinen Sohn auszugraben, ist das korrekt?«

Roland schloss die Augen und drückte Daumen und Mittelfinger fest gegen seine Schläfen. »Wer um alles in der Welt hat dir diese Information gegeben?«

»Ein Journalist von der BT. Stimmt das?«

»Nein, Anne. Das stimmt nicht, und ich gebe im Übrigen keinen Kommentar ab. Woher hast du meine neue Nummer?«

Er bekam keine Antwort, aber spürte ihren Eifer nach schlüpfrigen Details wie Elektrizität durch‘s Telefon vibrieren.

»Komm schon, Roland. Du weißt, dass ich es trotzdem irgendwie herausfinde, also kannst du mir genauso gut die richtige Version geben.«

»Ist dir nicht egal, ob die es vielleicht schon ist?«

Er vernahm ein ärgerliches Seufzen.

»Natürlich nicht. Nachrichten-Online ist ein sehr seriöses Nachrichtenportal, andere Zeitungen kaufen nicht umsonst unsere Artikel.«

Ja, leider Gottes, dachte er.

»Vielleicht ist es gar kein Verbrechen. Der Mann ist eines natürlichen Todes gestorben. Es war ein Herzstillstand, das kannst du schreiben, dann können wir das schon mal klarstellen.«

»Aber der Sarg war ja leer. Wo ist dann die Leiche? Grabschändung ist doch ein Verbrechen.«

Er wusste es. Es musste eine makabre Sensation geschaffen werden, das war das Mantra der Journalisten, und Anne Larsen war eine Meisterin in dieser Disziplin.

»Kein weiterer Kommentar, wie ich bereits sagte. Wenn du das nicht akzeptierst, muss ich auflegen.« Er tat es, bevor sie antworten konnte, weil er wusste, dass sie wie gewöhnlich nicht locker lassen würde.

Eine Zeit lang hatte er bei seiner Arbeit Frieden vor ihr gehabt, als die kleine Redaktion, für die sie früher als Kriminalreporterin gearbeitet hatte, in dem Massengrab der gedruckten Zeitungen unterging und sie eine neue Karriere als Reinigungsfachkraft gestartet hatte. Aber jetzt war sie zurück und hatte sich mit ihrem früheren Journalistenpraktikanten zusammengetan. Sie hatten ein erfolgreiches Onlineportal aufgebaut, das in Nullkommanichts alle Neuigkeiten direkt in das digitale Universum hinaus senden konnte. Er seufzte resigniert.

»Nachrichten-Online ist ein sehr seriöses Nachrichtenportal«, äffte er sie lautstark nach und versuchte ihre Stimme mit dem Nørrebro-Dialekt zu imitieren, was zu seiner eigenen Überraschung ziemlich gut klappte. Na klar, genauso wie alle anderen Sensationsmedien.

»Was hast du gesagt?« Niels Nyborg füllte den kompletten Türrahmen aus. Argwöhnisch schaute er ihn an und glaubte sicher, dass Roland wirklich einen an der Klatsche hatte.

»Sind sie auf dem Friedhof fertig?«, fragte Roland, um von seinem kleinen Selbstgespräch abzulenken.

Niels zog seine Jacke an, sein Blick war beunruhigend. »Ja, da gibt’s nichts mehr zu holen. Sieht so aus, als wäre er allein gewesen, und was er im Grab seines Sohnes verloren hatte, werden wir wohl nie herausfinden. Aber die vom Traumazentrum haben angerufen. Eine sehr schwere Vergewaltigung. Eine Frau hat ihre Freundin heute Morgen gefunden und es ist wirklich ein Wunder, dass das Opfer überlebt hat. Sie ist gerade aus der OP aufgewacht.«

»Ach du Scheiße.« Roland hatte bereits seine Jacke von der Stuhllehne gerissen, wo sie immer zum schnellen Ausrücken bereit hing. »Wo wurde sie gefunden?« Er versuchte mit Niels und dessen langen Beinen Schritt zu halten, während er die Jacke anzog. Eigentlich war es warm genug ohne, aber er wollte nicht nur im Hemd dort aufkreuzen.

»In ihrer eigenen Wohnung. Wenn du zum Krankenhaus fährst, nehme ich mir zusammen mit ein paar Kriminaltechnikern die Wohnung in der Neuen Munkestraße vor. Ich habe sie schon kontaktiert.«

Das alte Aarhuser Stadtkrankenhaus, gerade erst erweitert durch einen Anbau und einen neuen Flügel für das Dänische Neuro-Forschungszentrum, sollte jetzt bald geschlossen und durch das größte Riesen-Krankenhaus des Nordens auf den Feldern bei Skejby ersetzt werden. Gerüchten zufolge wollte die Universität die schönen alten Gebäude zwar übernehmen, aber dennoch war es ein Jammer, fand Roland.

Roland setzte die Sonnenbrille auf, während er vom Parkplatz direkt zum Traumazentrum ging. Gott sei Dank hatten sie von sich aus angerufen und mitgeteilt, dass das Mädchen für einen Besuch der Polizei und eine Vernehmung bereit war, sonst würde man ihn ganz sicher sofort an der Pforte abweisen. Auch mit einer Dienstmarke bekam man hier keine Sonderbehandlung.

Als er an die angelehnte Tür eines Büros klopfte, empfing man ihn auch nicht gerade mit offenen Armen. Eine kräftig gebaute Krankenschwester in einem offenbar zu engen und daher geöffneten Kittel sah sich seinen Ausweis skeptisch an und deutete auf eine Tür am anderen Ende des Flures. Und solche Leute belehrten einen über falsche Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsmangel. Sie verwies auf die leitende Krankenschwester, im Hintergrund klingelten die Telefone unaufhörlich; dann knallte sie die Tür zu. Sie hatten viel zu tun. Stress konnte sich auf viele Arten zeigen und er wusste, dass sie es glücklicherweise nicht an den Patienten ausließen. Die letzte jährliche Evaluation der Patientenzufriedenheit hatte das Krankenhaus ganz an die Spitze geschickt. Er ging den Flur hinunter zu der bezeichneten Tür. Der Krankenhausgeruch ließ etwas in seinem Brustkorb verkrampfen und erschwerte ihm das Atmen, er bescherte ihm einfach zu viele hässliche Erinnerungen. Die Tür öffnete sich und eine schlanke, jüngere Frau mit zugeknöpftem Kittel kam ihm mit einem netten Lächeln entgegen. Vermutlich, weil sie noch nicht wusste, wer er war. Die dürfte ihn gerne über was auch immer belehren, dachte Roland bei sich. Er blickte auf das Namensschild auf ihrer Brusttasche, sie hieß Signe Hansen und war zu seinem großen Glück die Person, an die er sich wenden sollte.

»Maja kann nicht besonders lange sprechen, aber es ist wichtig, dass sie Ihnen erzählt, woran sie sich erinnert, bevor sie bewusst oder unbewusst alle Details vergisst. Wann kommt Ihre Kollegin?« Sie steckte einen Kugelschreiber in die Brusttasche und schaute ihm weiter direkt in die Augen. Ihre waren grün mit braunen Einsprengseln um die Pupille herum.

»Kollegin?« Verständnislos runzelte er die Stirn.

»Ja, aber das war doch eine ausdrückliche Bedingung, dass Sie eine Frau herschicken. Sonst kann Maja nicht erzählen, was passiert ist.«

Roland verfluchte Niels innerlich, sollte er derjenige sein, der die Nachricht vom Krankenhaus entgegengenommen hatte.

»Sie haben vielleicht keine Frauen bei der Polizei?«, fragte Signe Hansen in einem fast vorwurfsvollen Ton, hob eine dunkle Augenbrauen und wurde im selben Augenblick von dem Piepen des Pagers in ihrer Kitteltasche abgelenkt.

»Doch, natürlich. Selbstverständlich haben wir auch weibliche Kollegen. Ich hole jemanden her.«

»Gut. Sie kann mich einfach rufen, wenn sie soweit ist, ich sitze in diesem Büro.« Sie deutete auf die Tür, die ihm gerade vor der Nase zugeschlagen worden war. Er ging ins Wartezimmer, wo es erlaubt war, das Handy einzuschalten, und kontaktierte das Polizeipräsidium. Isabella war auf Streife, aber sie sollte sofort zum Krankenhaus geschickt werden, sobald der Diensthabende sie erreichte.

An diesem Vormittag saß nur eine junge Frau im Wartezimmer. Hochkonzentriert tippte sie in ihr Smartphone und schaute nicht einmal auf, als er hereinkam. Heutzutage war es selten, dass man jungen Menschen in die Augen sehen konnte. Selbst sein ältestes Enkelkind, Marianna, gerade neun geworden, war immer in irgendetwas auf einem digitalen Bildschirm vertieft. Solange hatten die Eltern natürlich ihre Ruhe. Olivias Zwillinge in Italien waren zum Glück noch so klein, dass sie noch nicht an so etwas dachten. Aber das würde früh genug kommen. Er setzte sich und wartete, während er das Mädchen betrachtete. Sie war tatsächlich ganz hübsch, diese schöne Kombination aus blonden Haaren und braunen Augen, ganz natürlich, ungeschminkt, vielleicht ein bisschen Wimperntusche, die benutzten ja die meisten jungen Mädchen. Ihr Gesicht war sehr ernst, es waren bestimmt keine Witze, die sie ihren Freunden da gerade schickte. Plötzlich spielte der dünne Apparat eine aktuelle Popmelodie; er hatte sie oft im Radio gehört, wusste aber nicht, wie der Song hieß; das war nicht die Art Musik, die er normalerweise hörte. Sofort klemmte sie sich das Telefon ans Ohr und das schwache »Hi« drückte ebenso viel Ernst aus wie ihre Augen, die nun kurz in seine sahen. Sie schaute jedoch schnell wieder weg, fast als ob sie den zwischenmenschlichen Kontakt fürchtete, und blickte nach unten auf ihre Sneaker mit orangefarbenem Schnürsenkeln und Nike-Logo, und mit denen sie nun nervös zu wippen begann, während sie sprach. Es war unhöflich, die Privatgespräche anderer zu belauschen, dachte Roland, aber in diesem öffentlichen Bereich waren sie ja irgendwie nicht privat, und wenn er vermeiden sollte zu lauschen, müsste er den Raum verlassen. Da ging ihm auf, dass das Mädchen die Freundin sein musste, die Maja am Morgen gefunden hatte. Sie erklärte ihrem Telefongegenüber, dass sie immer noch auf Neuigkeiten warte und bleiben wolle, bis sie mit eigenen Augen gesehen habe, ob Maja okay war. Denn sie habe echt abgefuckt ausgesehen, als sie sie gefunden habe, aber sie würde über Facebook alle auf dem Laufenden halten, versprach sie. Als sie die Verbindung unterbrochen hatte, fing sie sofort wieder an, zu tippen. Roland nahm seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn in ihr Sichtfeld.

»Ich habe gehört, dass Sie Majas Freundin sind. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Das Mädchen schaute ihn misstrauisch an, es fiel ihr schwer, sich vom ihrem Smartphone loszureißen.

»Ich muss das gerade noch abschicken.«

»Okay.« Roland wartete und steckte den Ausweis wieder in die Tasche. Er schaute auf die Uhr. Isabella musste bald auftauchen.

»Woher kann ich wissen, dass das eine richtige Dienstmarke ist?«, fragte sie unvermittelt, während sie weitertippte.

Roland zuckte die Schultern. Vernünftiges Mädchen, vorsichtig zu sein war eine gute Sache. Er hoffte, sie war es auch, wenn sie sich im Internet bewegte, wo mindestens genauso viele Gefahren im Verborgenen lauerten.

»Sie können ja eine SMS ans Polizeipräsidium schreiben und es sich bestätigen lassen.«

Endlich schaute sie ihn an.

»Wie heißen Sie?«, leitete er ein.

»Nanette.«

»Haben Sie auch einen Nachnamen?«

»Sunds.«

»Sie haben Maja heute Morgen gefunden?«

Sie nickte und ihre Bestürzung machte die braunen Augen noch dunkler.

»Hat Maja einen Freund?«

»Ja, aber der war’s nicht, falls Sie das glauben.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein?« Er warf ihr ein kleines, aufmunterndes Lächeln zu, das nicht erwidert wurde.

»Der wohnt in Kopenhagen.«

»Okay. Und da war er auch gestern Abend und heute Nacht?«

»Ja, er war übers Wochenende bei Maja, ist aber am Sonntagabend heimgefahren. Jetzt ist er wieder auf dem Weg hierher. Ich hab’ ihm heute Morgen sofort eine SMS geschickt, als …«

Eine eingehende Nachricht ließ ihr Handy piepsen, das sie umklammerte wie eine Rettungsboje; der unentbehrliche Kontakt zu den Freunden und der Welt. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Ding mit dem silberschimmernden Apple-Logo gerichtet, ein ultimatives Statussymbol.

»Wissen Sie, ob Maja gestern Abend mit jemandem ausgegangen ist?«

»Ist sie nicht. Wir waren gestern Nachmittag zusammen beim Spinning und da hat sie gesagt, dass sie sich einen ruhigen Abend machen und früh ins Bett gehen wollte. Wir hatten auch ein etwas wildes Wochenende.«

»Inwiefern wild?«, fragte Roland und hörte selbst, wie naiv das klang.

»Halt in der Stadt und so.«

Jetzt klingelte Rolands Telefon. Es war Niels, der wissen wollte, was er aus dem Mädchen herausbekommen hatte. Roland erklärte ihm, dass er auf Isabella warten müsse. In Majas Wohnung hatten sie keine Anzeichen für einen Einbruch oder Kampf gefunden, alles war in bester Ordnung und es sah nicht aus, als hätte sie Besuch gehabt. Aber das Schlafzimmer fanden sie etwas verwüstet vor, mit einem umgestürzten Nachttisch und einer zerbrochenen Lampe. Sowohl auf dem Boden als auch auf der Bettwäsche war Blut. Die Kriminaltechniker nahmen Proben, es handelte sich um Majas Blut. Roland bedankte sich für die Informationen und konzentrierte sich wieder auf Nanette.

»Hat sich Maja mit jemandem in der Stadt getroffen?«

Nanette schaute ihn beinahe beleidigt an.

»Nein, natürlich nicht. Sie ist verrückt nach Carsten, außerdem war der doch mit.«

Das klang fast, als wäre es etwas ganz anderes gewesen, wenn ihr Freund nicht dabei gewesen wäre.

»Wo haben Sie sie gefunden?«

»Im Bett. Sie hat nicht aufgemacht und ist nicht ans Handy gegangen. Ich hab’ einen Wohnungsschlüssel. Sie hat auch einen für meine, wenn wir uns mal ausschließen oder so, damit wir … als ich ’reingekommen bin war sie nicht da, und ich hab’ nach ihr gerufen. Aber dann, im Schlafzimmer …« Sie drückte zwei Finger gegen die Stirn und schloss die Augen fest, als ob sie so das Bild, das sie heraufbeschwört hatte, wieder verschwinden lassen könnte.

Roland gab ihr einen Moment, um sich zu sammeln.

»Sie sagen also, die Tür war abgeschlossen?«

Nanette nickte.

»Konnten Sie mit ihr reden?«

»Nein, ich dachte, sie wär’ tot. Ich hab’ sofort einen Krankenwagen gerufen.«

Plötzlich schaute sie zur Tür herüber. Er folgte ihrem Blick und stand sofort auf, als er Isabella mit der gleichen blonden Haarfarbe wie Nanette entdeckte. Man hätte sie fast für Schwestern halten können. Roland stellte sie einander vor.

»Ich unterhalte mich noch ein bisschen mit Nanette, während du mit Maja redest.« An Nanette gewandt fügte er hinzu: »Dann werden wir den, der das hier getan hat, bestimmt finden.« Ihre großen, braunen Augen waren voller Tränen. Mehrere ungeklärte schwere Vergewaltigungen in Aarhus – das würde einen Skandal geben. Das würde dem Bürgermeister garantiert nicht gefallen.

4

Pia hatte vollständig das Kommando übernommen. So hatte Andreas sie sehr gut in Erinnerung – herrschsüchtig und dominant. Er überlegte, wie wohl ihre Zusammenarbeit mit ihrem Vater gewesen war. Johan Spang tolerierte die Mitbestimmung der Frauen nicht. Wie es seine Mutter trotz allem so lange mit ihm ausgehalten hatte, begriff er nicht. Es hatte der Mann zu sein, der sowohl die Finanzen als auch die Arbeit steuert. Vielleicht war Pia ihm untertänig gewesen und revanchierte sich jetzt, indem sie ihren neuen Chef von Anfang an auf seinen Platz verwies. Der kleine Bruder, den sie immer hatte knechten können. Aber die unglückliche Frau auf dem Stuhl ihnen gegenüber sah diese Seite von ihr nicht. Er musste zugeben, dass Pia ihren Job verstand. Sie sprach beruhigend und verständnisvoll, zeigte Entwürfe für Anzeigen und Blumendekoration für die Kirche und schlug vor, die Beisetzung könne in der Kirche in Vejlby stattfinden. Die Frau nickte bloß, nahm ihre Brille ab und trocknete sich die Augen mit einem weißen, mit Spitzen besetzten Baumwolltaschentuch, das sie aus der Tasche gefischt hatte. Es war, als ob ihr erst jetzt aufging, dass sie ihren Mann nach 40 Jahren für immer verloren hatte, und Andreas fühlte einen starken Druck in der Brust, als er die Trauer so deutlich in ihrem Gesicht sah. Er schämte sich innerlich dafür, nicht die gleichen Gefühle gehabt zu haben, als sein Vater starb. Er hatte nicht eine einzige Träne vergossen, als er die Nachricht von seinem plötzlichen Tod erhalten hatte. Nun, wo er diese echte Trauer sah, überkam ihn der Drang zu weinen, obwohl er den Verstorbenen überhaupt nicht gekannt hatte. Eignete er sich für diesen Job, wenn es ihm so ging? Würde das mit der Zeit nachlassen?

Sie waren zu der Präsentation der Särge gekommen, als Pia in ihren Ausführungen abrupt unterbrochen wurde. Eine Frau in einem geblümten Sommerkleid trat plötzlich durch die Tür. Ihr Gesicht war vor Wut und Verzweiflung verzerrt. Anklagend deutete sie auf Pia.

»Wo ist er?«, schrie sie mit einer Stimme, die nicht klang, als ob sie von einem so schmächtigen Menschen käme.

Pia erwiderte ihren Blick ruhig und schien sie plötzlich wiederzuerkennen. »Was meinen Sie, Frau Iversen?« Schnell stand sie auf, führte die aufgewühlte Frau in den Vorraum und schloss die Tür hinter sich. Andreas war auf einmal mit der Kundin alleine und hatte keine Ahnung, was er sagen sollte oder was da vor sich ging. Die Frau schaute ihn nervös an, ganz offensichtlich interessierte sie das auch.

»Sollen wir uns jetzt die Särge ansehen?«, fragte er und öffnete den Katalog mit Bildern und Preisen des Sortiments. Er deutete auf einen ganz gewöhnlichen weißlackierten.

»Ja, der ist gut«, sagte die Frau, ohne das Bild richtig anzusehen und benutzte wieder das durchnässte Taschentuch. Sie schielte zu der geschlossenen Tür, durch die die lautstarke Stimme der Fremden drang, ohne dass sie jedoch verstehen konnten, was sie sagte. Er entdeckte jetzt auf der Preisliste, dass er auf den billigsten Sarg gedeutet hatte, aber das passte sicher gut zum Status der Witwe. Sie sah nicht wie jemand mit viel Geld aus.

Hinter der Tür wurde es still. Kurz darauf kam Pia zurück und lächelte entschuldigend.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung. Es hat sich als Missverständnis herausgestellt.« Sie setzte sich. »Wir sind sicher bei den Särgen angekommen, nicht?«

»Ich habe den ausgewählt, den ihr Kollege mir empfohlen hat«, sagte die Frau heiser. Ihre Augen hatten einen neugierigen Schimmer angenommen, und hätte die Trauer nicht gerade jetzt alles in ihrer Welt überschattet, hätte sie ganz sicher um eine Erklärung für die sonderbare Unterbrechung gebeten.

»Welcher ist das?«, fragte Pia lächelnd.

Andreas deutete auf die Abbildung und sie warf ihm sofort einen scharfen Blick zu.

»Den würde ich jetzt nicht gerade empfehlen, Frau Kjeldsen. Er ist von nicht so hoher Qualität wie zum Beispiel dieser hier.« Sie drehte den Katalog zu der Kundin um und zeigte ihr einen Sarg aus hellem Birkenholz. »Der soll doch auch präsentabel aussehen, wenn er in der Kirche steht, nicht? Das sind Sie Ihrem Mann doch wohl schuldig?«

Die Witwe nickte passiv und sank wieder traurig in sich zusammen.

»Okay, dann nehmen wir stattdessen die Variante aus Birkenholz«, korrigierte Pia mit einem tadelnden Blick in Andreas‘ Richtung. Der kostete fast siebentausend Kronen. Andreas wurde schlecht und er trank von dem kalten Kaffee in seiner Tasse, was ihm nur eine noch stärkere Übelkeit bescherte.

Pia besprach die letzten notwendigen Details der Beerdigung mit der Witwe, unter anderem, wann sie die Leiche ihres Mannes aus dem Krankenhaus abholen konnten, wo er nach kurzer Krankheit verstorben war. Pia begleitete sie zur Tür und verabschiedete sie. Versprach, dass alles genau nach Plan verlaufen würde. Andreas stand auf, um die Beine zu strecken. Während des gesamten Gesprächs hatte sich sein Körper verkrampft angefühlt und er zweifelte immer mehr daran, dass er mit dieser Arbeit würde umgehen können. Und er hatte bisher noch nicht einmal das Schwerste durchgemacht. Den Kontakt mit den Toten und den Särgen.

»Das lief doch prima«, meinte Pia, als sie zurückkam und die Tassen auf ein Tablett stellte.

Die Witwe hatte den Kaffee nicht angerührt, aber sie hatte das nasse Taschentuch auf dem Tisch liegen lassen. Pia warf es in den Papierkorb.

»Pia, ich weiß echt nicht, ob ich das hier schaffe.«

Sie stoppte ihn auf dem Weg in die Küche mit dem Tablett und schaute ihn vorwurfsvoll an.

»Was meinst du? Das lief doch prima, habe ich gesagt.«

»Ich merke, dass mir diese Art Gespräche nicht liegt. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Leute trösten soll, ich …«

Pia ging schnell in die Küche und stellte das Tablett ab, sodass die Tassen klirrten, dann kam sie zurück und stellte sich direkt vor ihn wie eine unüberwindbare Mauer.

»Du sollst nicht trösten, Andreas. Du sollst dafür sorgen, dass unsere Kunden nicht an all das denken müssen, was mit einem Todesfall einhergeht. Sie haben ohnehin schon genug im Kopf. Es ist allein schon ein Trost, dass wir uns um all das Organisatorische kümmern.«

»Vielleicht, aber …« Obwohl er versuchte, den Blickkontakt zu vermeiden, konnte er dem Blick ihrer scharfen, schwarzen Augen nicht ausweichen. Sie leuchteten so intensiv wie die seines Vaters und Großvaters auf den Porträts.

»Jetzt sei mal nicht so egoistisch, ja, Andreas! Denk an Gitta und Mathilde, die haben sich hier so gut eingelebt. Denk an Papa und Opa! Wenn du abspringst, zerfällt ihr ganzes Lebenswerk!«

»Ich bin mir recht sicher, dass du das hier gut im Griff hättest.«

»Wie sollte ich das? Und dann mit einem geistig behinderten Bruder als Teilhaber!«

»Nennst du Erling geistig behindert?«

»Ist er doch. Das weißt du genau. Ich könnte den Laden unmöglich alleine schmeißen.«

»Ach, und ob. Einen Sarg für siebentausend Kronen! Sind wir wirklich die Aasgeier, zu denen uns manche machen?« Seine Stimme war nun ein Knurren, das registrierte er selbst.

»Sie kann es sich leisten. Hast du nicht gesehen, in welchem Auto sie gekommen ist? Ein neuer Audi! Und weißt du, wer ihr Mann war?«

Andreas schüttelte den Kopf und setzte sich müde zurück auf den Stuhl, auch wenn sich seine Beine immer noch steif anfühlten.

»Ist es nicht egal, wer er ist?«

»Nicht ganz. Er hatte etliche Vorstandsposten in großen Unternehmen hier in der Stadt inne, weißt du nicht, was die verdienen? Die hat genug Geld!«

»Sie sah aber nicht so aus!«, verteidigte er sich.

Pia setzte sich geduldig auf den Stuhl ihm gegenüber und strich sich eine verirrte Locke hinters Ohr.

»So kann sich Trauer auch zeigen, Bruderherz. Sie hat es einfach nicht geschafft, das Betty Barclay Kostüm anzuziehen und die Gucci-Tasche rauszusuchen.«

Andreas starrte auf den blanken Tisch und schüttelte über ihre Bemerkung den Kopf.

»Und wer war diese Frau, die das Ganze mittendrin unterbrochen hat? Und von wem hat sie gesprochen? Wer war das, von dem sie glaubte du wüsstest, wo er ist?«

»Ach, die!« Pia winkte ab, als ob sie eine lästige Fliege verscheuchte. »Das ist eine andere Form, in der sich Trauer zeigen kann. Einige werden paranoid und glauben, wir hätten ihre Lieben gestohlen. Die wollen der Tatsache nicht ins Auge sehen, dass sie dahingeschieden sind.«

»Da kannst du es sehen! Mit so etwas würde ich überhaupt nicht klar kommen. Sie braucht doch Hilfe! Von einem Psychologen! Ich bin kein Psychologe!« Andreas gestikulierte wild.

»Das musst du auch nicht sein, kleiner Idiot. Du lernst eine Menge darüber, wie man so etwas meistert, in dem Kurs, in den du nächste Woche gehst«, beschwichtigte Pia und versuchte ihm durch die Haare zu wuscheln, wie sie es immer getan hatte, als sie Kinder waren, wenn er sich dämlich angestellt hatte. Unbewusst zog er sich vor ihrer Berührung zurück.

»Außerdem«, fuhr sie ungerührt fort, »kennst du Mama. Sie würde nie zulassen, dass ich hier die Leitung übernehme. Du warst immer ihr … Augenstern.«

Nun schaute er sie an, nicht nur aufgrund der Bitterkeit in ihrer Stimme.

»Was hat Mama damit zu tun?«

Pia erhob sich irritiert vom Stuhl und ging ans Fenster. Ihr Blick folgte einen Moment lang abwesend den Autos, die draußen auf der Straße vorbeifuhren.

»Ich habe ganz vergessen, dass du so lange weg warst. Sie ist natürlich wieder angekrochen gekommen. Sonderbarerweise hat Papa sie nicht aus dem Testament gestrichen, wie er es hätte tun sollen, nachdem sie … sie besitzt jetzt die Hälfte der Firma.«

Andreas wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er hatte mit seiner Mutter nur sehr wenig Kontakt gehabt, seit sie seinen Vater verlassen hatte. Ihr neuer Mann hatte all ihre Aufmerksamkeit beansprucht und sie wohnten einfach zu weit weg. Mathilde kannte ihre Oma kaum. Aber er hasste sie nicht, wie es seine Geschwister taten. Sie waren dichter dran gewesen.

»Dann seht ihr sie jetzt bestimmt oft?« Es überraschte ihn, eine zurückhaltende Hoffnung in seiner Stimme zu hören.

»Nicht, wenn wir es vermeiden können. Aber sie ist auch nicht clever genug, um ein Geschäft zu führen. Es reicht nicht, Inhaber zu sein. Halber Inhaber«, korrigierte sie, denn Andreas besaß ja die andere Hälfte. Irgendwie verstand er die Bitterkeit seiner Schwester gut. Sie hatte über Jahre hinweg zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder so viel Arbeit in das Bestattungsunternehmen gesteckt, während er einfach nach Seeland abgehauen war und sich geweigert hatte, mit dem Ganzen etwas zu tun zu haben. Jetzt war dieses blühende Geschäft seins und sie nur angestellt. Johan Spang hatte das in seinem Testament festgelegt und Andreas hatte keine Ahnung wieso. Sie hatten sich überhaupt nicht nahegestanden. Es wunderte ihn auch, wie es seine Mutter geschafft hatte, die Hälfte zu erben. Aber was wusste er schon darüber, was sein Vater für sie empfunden hatte. Er wusste nicht einmal, wie er die Scheidung aufgenommen hatte. Seine Mutter hatte ihn persönlich angerufen und ihm erzählt, dass sie einen anderen Mann getroffen habe und Johan verlassen werde, wie sie ihn gegenüber ihren Kindern immer genannt hatte, nie ›Papa‹. Mathilde war gerade erst geboren und er hatte sich um so viel anderes in seinem Leben kümmern müssen.

Pia drehte sich vom Fenster weg und sah in anklagend an.

»Ich finde, du solltest dich nützlich machen und den Pfarrer anrufen. Die Familie will ein schnelles Begräbnis. Es darf nichts schief gehen! Eine Beerdigung kann man nicht einfach an einem anderen Tag wiederholen.«

»Was soll ich ihm sagen?«

»Du machst bloß auf den Todesfall aufmerksam und beschreibst, wie die Angehörigen die Zeremonie wünschen, das, was wir gerade besprochen haben. Der Küster wird sich dann später melden und uns mitteilen, wann der nächstmögliche Termin frei ist und welcher Pfarrer die Trauerfeier abhalten kann. Erst danach kannst du die Urkunden für die Gemeinde fertig machen. Dann kannst du versuchen, den Steinmetz zu erreichen. Also, falls er nicht gerade in der Kneipe sitzt. Der Grabstein soll vorbereitet werden. Um Blumen und Schmuck für den Sarg werde ich mich wohl kümmern, und mit dem Ausfüllen diverser Unterlagen helfe ich dir natürlich jetzt beim ersten Mal. Sterbegeld muss in diesem Fall wohl nicht beantragt werden.«

Es zuckte leicht um ihren Mund, aber er konnte nicht erkennen, ob es wirklich ein kleines Lächeln war.

»Wenn du mit dem Pfarrer eine Vereinbarung getroffen hast, kannst du die Zeitungsredaktion kontaktieren und die Anzeige aufgeben. Das kriegst du sicher alleine hin? Der Text steht hier.« Sie deutete auf einen handgeschriebenen Zettel auf dem Tisch. »Zwei Spalten à dreißig Millimeter. Mehr konnte sie ihrem Ehemann trotz allem nicht opfern. Bis zur Beerdigung müssen wir dann die Leiche vorbereitet haben.«

Die Leiche! Andreas erschauderte. Dieses Wort klang so geschlechtslos und anonym. Der Text, auf den Pia gedeutet hatte, zeigte, dass es sich um einen Mann handelte. Unser geliebter Vater, Schwiegervater und Großvater, begann er. Ein Mensch mit Familie. Ein Mensch, der nicht mehr war, und den er nun auf diese letzte Reise schicken sollte. Er wusste immer noch nicht, ob er das hier fertig bringen würde.

5

Isabella wirkte erschüttert, als sie endlich aus dem Traumazentrum kam. Nanette bekam immer noch keine Erlaubnis, ihre Freundin zu besuchen, man sagte ihr, sie solle später wiederkommen.

Roland begleitete Isabella nach unten zum Parkplatz. Sie war still und leichenblass.

»Kann ich mit dir fahren? Kim hat mich bloß mit dem Dienstwagen hier abgesetzt.«

»Selbstverständlich.«

Roland öffnete ihr die Beifahrertür und setzte sich danach selbst ans Steuer.

»Hast du etwas aus ihr herausbekommen?«

Er betrachtete Isabellas versteiftes Profil und ließ das Auto an. Er hatte sie selbst während der schlimmsten Obduktionen noch nie so gesehen.

»Männer sind Schweine!«, sagte sie verbissen.

»Nicht alle. Mikkel ist doch ein feiner Kerl!«

Er wollte ein kleines Lächeln bei der Erwähnung ihres Freundes und Lebensgefährten sehen, der mal sein Partner gewesen war. Jetzt war er damit beschäftigt, eine Leiche zu finden, die vom Westfriedhof verschwunden war. Aber Isabella lächelte nicht.

»Der hier muss einfach schnell gefunden werden, Roland. Nicht auszudenken, wenn er wieder zuschlägt! Es ist außergewöhnlich makaber. Du hättest sie gerade sehen sollen. Sie wurde bis zur Unkenntlichkeit verprügelt, er hat sie so gefesselt, dass sie Fleischwunden an den Knöcheln und Handgelenken hat und sie …« Isabella schüttelte den Kopf, gab auf und starrte durchs Seitenfenster hinaus in den Verkehr. Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte und wartete geduldig. Sie hielten an der roten Ampel in der Nørreport, als sie sich gefangen hatte und mit heiserer Stimme fortfuhr.

»Sie hat ernste Verletzungen, sowohl anal als auch vaginal, sagt die Krankenschwester. Sie mussten sie operieren, er … sie …« Es war deutlich, dass Isabella nicht darüber reden wollte. »Er hat einen Gegenstand benutzt, von dem man noch nicht weiß, worum es sich handelt. Maja weiß es auch nicht. Sie ist ohnmächtig geworden, als … Sie mussten ihre Gebärmutter entfernen … sie ist erst 20, verflucht nochmal!«

»Hat sie ihn nicht gesehen? Kann sie nicht einfach eine simple Beschreibung geben? Was auch immer.«

»Nichts. Sie war ins Bett gegangen und eingeschlafen, als er sich plötzlich im Bett auf sie geworfen und ihr den Mund zugehalten hat. Er muss sich irgendwo in ihrer Wohnung versteckt haben. Unheimlich. Sie hatte keine Ahnung, dass er die ganze Zeit dort war und nur darauf gewartet hat, dass sie einschläft. Er hat ihr aufgelauert, während sie gebadet hat, und … aber mehr habe ich nicht aus ihr herausbekommen. Als ich sie gebeten habe, mir eine Personenbeschreibung zu geben, ist sie völlig in Panik geraten. Die Apparate fingen an zu heulen und die Krankenschwester kam hereingestürzt und hat mich rausgejagt. Maja war zu Tode erschrocken, das steht fest.«

»Und sie ist sich sicher, dass sie ihn nicht kennt? Sie hat ihn nicht selbst hereingelassen?«

»Das müsste sie doch verdammt nochmal wissen, wenn sie es getan hätte! Sie hatte keine Ahnung. Plötzlich war er einfach da.«

Roland bog auf den Polizeiparkplatz ein. Wie war der Vergewaltiger reingekommen, wenn sie nicht selbst aufgemacht hatte? Die Tür war ja abgeschlossen, hatte Nanette gesagt. Also, falls sie die Wahrheit sagte.

»Würdest du ihre Familie und Kommilitonen überprüfen? Ihre Freundin im Krankenhaus, die sie gefunden hat, darfst du auch gerne etwas näher unter die Lupe nehmen. Sie heißt Nanette Sunds. Wir müssen wissen, ob ihre Aussage korrekt ist. Du bekommst meinen Bericht über unser Gespräch im Wartezimmer so schnell wie möglich.«

»Aber Maja will nicht, dass ihre Familie informiert wird.«

»Hat sie das gesagt? Was ist das für ein Unsinn? Natürlich müssen sie erfahren, was passiert ist.«

»Ich habe es ihr versprochen, Roland.«

»So etwas kannst du nicht versprechen, Isabella. Wieso dürfen sie nichts davon wissen?«

»Sie sagte, dass sie bloß ihrem Freund die Schuld geben würden. Sie können ihn nicht ausstehen.«

»Und sie ist sich sicher, dass er es nicht war?«

»Ja.«

»Wie das, wenn sie den Vergewaltiger nicht gesehen hat?«

»So etwas weiß man wohl einfach. Sie ist mir ein paar Mal entglitten, also ohnmächtig geworden, und ich habe mich nicht getraut, sie zu sehr unter Druck zu setzen.«

Isabella schnallte sich ab und stieg aus dem Auto. Sie schwankte einen Augenblick, was Roland besorgt registrierte. War es verkehrt gewesen, diese junge Beamtin zu einer so traumatischen Vernehmung eines Opfers in beinahe ihrem eigenen Alter zu schicken? Aber Isabella war die einzige qualifizierte Beamtin, die gerade verfügbar gewesen war. Sie hatten keine andere Wahl gehabt. Sie musste auch lernen, mit so etwas umzugehen, sonst sollte sie sich lieber nach einem anderen Job umsehen.

»Diesen Freund sollten wir sehr gründlich überprüfen. Der Freundin zufolge wohnt er in Kopenhagen, ist aber auf dem Weg hierher.«

Isabella nickte und ging vor ihm zum Aufzug. Schweigend fuhren sie nach oben. Ihre Wangen hatten ein bisschen mehr Farbe bekommen, aber in ihrem Blick lag etwas verborgen, etwas, das eher nach Angst als nach Entsetzen über diesen brutalen Übergriff auf eine junge Frau aussah. Sobald die Aufzugtür aufgeglitten war, ging sie hastig ins Büro, ohne ihn anzuschauen.

»Ich sehe bald einen Bericht von dir, ja, Isabella?«, rief er ihr nach. Zur Antwort hob sie eine Hand.

»Die vom Kriminaltechnischen Zentrum haben angerufen«, sagte die Dame am Empfang, als er an ihr vorbeiging. Sie war bereits so lange dort, dass sie fast zum Inventar gehörte; keiner bemerkte sie. Sie war bloß immer treu zur Stelle in ihrem Bürostuhl, wenn sie nicht in der Kantine war, um für den Chef Kaffee zu holen.

»Irgendeine Nachricht?«

»Du sollst zurückrufen.«