Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10 - Inger Gammelgaard Madsen - E-Book + Hörbuch

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10 E-Book und Hörbuch

Inger Gammelgaard Madsen

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Beschreibung

10. Rolando-Benito-Krimi – fesselnd, packend und mitreißend.Eigentlich soll TV-Journalistin Anne Larsen in Kopenhagen von einer Demonstration gegen die Asylverschärfungen der Regierung berichtet. Doch schon bald bekommt sie anonyme Anrufe, in denen sie vor einem bevorstehenden Terrorangriff in Aarhus gewarnt wird. Schon bald gilt für Kopenhagen und Aarhus die höchste Terrorwarnstufe. Doch damit nicht genug: Zur gleichen Zeit werden in Aarhus mehrere Babys entführt und die Polizei sowie Ermittler Rolando Benito haben alle Hände voll zu tun. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Entführungen und den Terrorwarnungen? Ein spannender Wettlauf mit der Zeit beginnt."Ein fantastisches Buch. Man konnte es gar nicht weglegen, wenn man erst einmal mit dem Lesen begonnen hatte." – karina t 7 (https://www.saxo.com/dk/falkejagt_inger-gammelgaard-madsen_haeftet_9788799794430)-

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Seitenzahl: 524

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Zeit:12 Std. 9 min

Sprecher:Heidi Jürgens

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Inger Gammelgaard

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10

Saga

Falkenjagd - Roland Benito-Krimi 10Übersetzt vonKirsten Vesper OriginaltitelFalkejagtCopyright © 2019, 2019 Inger Gammelgaard Madsen and und SAGA EgmontAll rights reservedISBN: 9788711819999

1. Ebook-Auflage, 2019Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

„Menschen vergessen nicht.

Sie vergessen nicht, dass ihre Nächsten sterben.

Sie vergessen Folter oder Verstümmelung nicht.

Sie vergessen Unrecht nicht.

Sie vergessen Unterdrückung nicht.

Sie vergessen den Terrorismus nicht,

der von der Übermacht ausgeübt wird.

Nicht nur, dass sie nicht vergessen.

Sie schlagen zurück.“

Harold Pinter

Kapitel 1

Die Tür glitt mit einem sachten Zischen zu und brachte einen schwachen Dieselgeruch mit hinein. Die Leute rückten dichter zusammen, sodass Platz für die neuen Passagiere war.

Sie wich zurück für einen jungen Mann mit einem riesigen Rucksack, durch den er doppelt so viel Platz beanspruchte. Er stieß gegen alle anderen um ihn herum. Der Mann auf dem Sitz neben ihr zog die Beine an, als ob sie ihm einen Stromschlag verpasst hätte, als sie sich an ihn gelehnt hatte. Sie klammerte sich fest und rückte etwas für eine junge Frau, die nach der Haltestange dicht an ihrer Hand griff, als sich der Bus mit einem Ruck in Bewegung setzte und sie beinahe umkippte. Die junge Frau kaute Kaugummi. Ihr langer, blonder Pony fiel über die stark geschminkten Augen. Sie lächelte ein wenig unsicher und schaute schnell wieder weg, konzentrierte sich auf ihr Smartphone in der anderen Hand. Mit dem Daumen scrollte sie geübt durchs Menü. Sah nach Facebook aus. Diskret wurde die Hand an der Stange weiter hoch geschoben, sodass sie ihre nicht berührte. Sie betrachtete die langen, schlanken Finger, die das graue Rohr direkt vor ihren Augen umklammerten. Die polierten French Nails. Den Ring mit einem funkelnden Stein in Form eines kleinen Sterns. Die glatte, weiße Haut. Heute sah sie mehr Details als sonst. Alles war plötzlich so präsent und intensiv. Sie atmete tief ein und fing den weichen, blumigen Duft einer Handcreme auf, oder vielleicht war es das Parfüm der jungen Frau oder das Shampoo, das sich mit dem Duft von Minz-Kaugummi mischte. Wie in Trance starrte sie auf ihre eigene Hand im Vergleich zu dieser weißen. Die Haut war dunkel und rau, die Nägel gelblich.

Schnell blickte sie wieder auf. Ein Fahrgast hatte den Stoppknopf gedrückt und eine Mutter mühte sich damit ab, einen Kinderwagen mit einem schlafenden Kind in Richtung Ausgang zu schieben, wo der runde, blaue Punkt des elektronischen Ticketlesegeräts aufleuchtete. Sie wurden alle im Bus nach vorn geschleudert, als der Fahrer unnötig scharf bremste. Er hatte sie diskret im Rückspiegel gegrüßt, als er sie einsteigen sah. Sie wunderte sich immer noch darüber, dass er den Job als Busfahrer bekommen hatte. Soweit sie wusste, sprach er nicht besonders gut Dänisch. Vielleicht war das egal, wenn die Namen aller Haltestellen von einer Computerstimme durch den Lautsprecher angesagt wurden, und die Dänen waren ja auch nicht besonders redselig. Anders als zu Hause, wo es unmöglich war, Bus zu fahren, ohne sich mit anderen lautstark zu unterhalten. Auf jeden Fall wäre der Fahrer den größten Teil der Fahrt an den Gesprächen und Diskussionen beteiligt.

 Sie schaffte es nicht, sich auf einen der Sitze zu setzen, die plötzlich neben ihr frei wurden. Eine Frau mit einem Kind an der Hand war schneller. Wenn der Bus so voll war, wäre es nur natürlich, das Kind auf den Schoß zu nehmen, sodass es einen zusätzlichen Platz gab, aber das kleine Mädchen nahm den anderen Sitz sofort in Beschlag. Es war wohl ungefähr sechs oder sieben. Nun sah es sie unverwandt an mit von blonden Wimpern umkränzten blassen, blauen Augen. Die Augenbrauen waren auf der weißen Haut fast unsichtbar. Es sah aus, als hätte sie geweint. Die roten Lippen waren nass von Spucke und die Nase lief. Wie so viele andere dänische Kinder erinnerte sie an einen Albino.

„Hör auf zu starren, Schätzchen“, flüsterte die Mutter. Sie glaubte selbstverständlich nicht, dass sie Dänisch verstünde. Die unangenehmen Kommentare oder Fragen, die manchmal von Kindern kamen, blieben jedoch aus. Das Schätzchen starrte weiter. Sie hingegen schaute weg, in die Zeitung, die der Mann im Anzug vor ihr las, während er sich an der Deckenschlaufe festhielt.

„Die Dänen haben gesprochen!“, lautete die Überschrift. „Fremdenfeindliche DFD nach der Wahl im Aufwind.“ DFD stand für Dänemark Für Dänen. Aber wann war man Däne? Offenbar nicht mal, wenn man fließend Dänisch sprach, im Großen und Ganzen nur in Dänemark aufgewachsen war und einen Job hatte. Auch nicht, wenn man selbst sich als Däne fühlte. Sie war ausgegrenzt und fremd, besonders, wenn sie wie heute die Kleidung trug, die ihr Glaube und ihre Familie ihr zu tragen gebot. Sie beobachtete die anderen Passagiere. Zwei Teenagermädchen kicherten, während sie sich gegenseitig Fotos auf ihren Handys zeigten. Die eine trug einen kurzen Rock und so, wie sie saß, konnte man den Rand ihrer Unterhose sehen. Ein paar Jungs war das ebenfalls aufgefallen und sie warfen sich verschwörerische Blicke zu. Sie machten einem dritten mit Abiturientenmütze und roten Pickeln auf der Stirn, der schwankend neben ihr stand, unanständige Zeichen. Er roch nach Bier. Die Flasche hielt er in der Hand, halb unter der offen stehenden Jacke versteckt, damit der Fahrer sie nicht bemerkte. Als der Bus erneut bremste, wurde der junge Mann gegen sie geschleudert. Er musste um sich greifen, um das Gleichgewicht zu halten, und hätte beinahe ihren Niqab abgerissen.

„Pfui Teufel. Ab nach Hause mit dir“, murmelte der nach Bier Stinkende und wischte die Hand an seiner Jeans ab, als hätte er etwas Ekliges angefasst. Die anderen lachten. Er selbst grunzte triumphierend, als er mitbekam, wie sich die anderen amüsierten. Das Schätzchen starrte sie intensiv an und flüsterte ihrer Mutter etwas zu, die zurückflüsterte. Das Kind glotzte noch mehr, nun mit halb offenem Mund.

An der nächsten Haltestelle quetschten sich weitere Personen hinein. Sie drehte den Kopf weg und sah zu Boden, als einer aus der Buchhaltung den Bus betrat. Er würde sie kaum wiedererkennen, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Vielleicht verrieten ihre Augen sie. Neulich hatte er nämlich in der Kantine mit ihr geflirtet und gesagt, sie habe die schönsten braunen Augen, die er je gesehen habe. Sie wandte ihm den Rücken zu, aber das war unnötig. Er sah direkt an ihr vorbei und versuchte sich drum herumzuschlängeln, ohne mit ihr in Berührung zu kommen, obwohl das unmöglich war. Sie standen so dicht, dass sie kaum atmen konnte. Als er vorbei war, ergriff er eine Schlaufe an der Decke weiter hinten im Bus und schaute in die Metroexpress.

Sie atmete erleichtert auf, ließ die Haltestange los und bahnte sich den Weg nach vorn. Jetzt war es so weit.

Einige vor ihr, die sich nicht bewegten, musste sie ein wenig schieben. Sie spürte die Panik, als der untere Teil ihrer Abaya in dem Rad eines Buggys hängen blieb. Als sie sich vorbeugte, um sie loszumachen, sah sie ins Gesicht eines kleinen Kindes von ungefähr einem halben Jahr. Große, blaue Augen studierten sie neugierig; dann kam ein spontanes Lächeln und der Kleine fuchtelte begeistert mit den Armen. Die Frau, die neben dem Buggy stand, beugte sich herunter. Sie lächelte freundlich. Ihre Augen waren auch schön und blau. Nett anzusehen. Sie half ihr, den schwarzen Stoff aus dem Rad zu befreien. Plötzlich verspürte sie Zweifel und es gelang ihr nicht, das Lächeln zu erwidern.

„Verschwinde, du schwarzes Gespenst! Du gehörst nicht hierher!“

Sie bekam einen brutalen Stoß von hinten. Es war ein aufgepumpter Mann mittleren Alters mit Halbglatze und einer hässlichen Tätowierung am Hals. Er starrte sie böse an mit kleinen Schweinsäuglein, die fast im Gesichtsfett verschwanden. Sie richtete sich auf und drängte weiter in Richtung des vorderen Ausgangs, wo sie sich an der Wand zum Fahrersitz abstützte. Niemand durfte mitbekommen, dass sie ihre Hand zu ihm öffnete. Der Fahrer las die Nachricht und nickte ihr zu. Seine Augen waren dunkel und zornig und der Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Sie verstand ihn gut. Das Ganze hing jetzt von ihm ab. Abdul-Jabaar hieß er, erinnerte sie sich nun, und nickte zurück. Sie warf einen letzten Blick auf das Kind im Buggy, die Frau lächelte ihr wieder zu und es schmerzte tief unten in der Brust. Es war noch nicht lange her, dass ihr eigener Sohn in diesem Alter gewesen war. Aber jetzt gab es keinen Weg zurück. Sobald der Bus hielt, eilte sie hinaus.

Die Sonne schien auf den regennassen schwarzen Asphalt. Sie lief über die Straße, als die Autos bei rot stehen blieben, wurde aber beinahe von einem Radfahrer angefahren, als sie den Radweg kreuzte. Sie eilte ins Bushäuschen, während sie die Handfläche an der Abaya abwischte, sodass der Text, den sie darauf geschrieben hatte, verschwand. Der Plan im Häuschen zeigte, dass es eine Weile dauern würde, bis der Bus in die Gegenrichtung kam. Der Schweiß lief unter dem Niqab. Sie sah Abdul-Jabaars Bus nach, der zurück in den Verkehr glitt und weiterfuhr, nachdem sich noch mehr Menschen hineingezwängt hatten. Der Bus war brechend voll.

Jetzt war es vorbei. Sie hatte getan, was sie tun sollte. Die Beine gaben unter ihr nach und sie musste sich auf die Bank im Bushäuschen setzen. Dort wartete bereits ein weißhaariges Rentnerpärchen in beigefarbenen Windjacken. Sie rutschten etwas beiseite, taten aber sonst, als ob sie sie nicht sahen.

Plötzlich wurde der Verkehrslärm von schneidendem Sirenengeheul übertönt.

„Was zur Hölle ist da los?“, rief der Mann und deutete mit dem Stock auf die Fahrbahn, wo ein Polizeiauto in rasantem Tempo vorbeidüste und vor den Bus fuhr, aus dem sie gerade gestiegen war, sodass er zum Anhalten gezwungen war.

Die Frau umklammerte die Tasche auf ihrem Schoß, antwortete nicht und starrte dem Bus nach. Sie standen beide auf. Sie tat das Gleiche, da sie wegen des Paares sonst nichts sehen konnte, und schirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne ab. Der Bus hielt und zwei Beamte stiegen ein.

Völlig unvermittelt gab es einen ohrenbetäubenden Knall, der sie alle drei zusammenzucken ließ. Der Mann legte den Arm um die Schultern der Frau, um sie zu beschützen.

„Verdammt, die schießen!“, rief er.

„Wer schießt?“, jammerte die Frau.

War Abdul-Jabaar bewaffnet gewesen? Was war passiert?

Ihr Hals schnürte sich zusammen und der Puls pochte in den Ohren.

Ein Bus hielt in der Haltebucht vor ihr, sie sprang schnell hinein, obwohl es nicht der war, auf den sie gewartet hatte. Sie wollte nur weg. Der Fahrer war von dem Szenario hinter ihnen auf der Gegenfahrbahn gefesselt, beschloss aber, seinen Fahrplan einzuhalten. Kurz darauf ertönten die Sirenen erneut und weitere Krankenwagen rasten vorbei in die entgegengesetzte Richtung. Versteinert starrte sie vor sich hin und fing an zu zittern.

Kapitel 2

Die Stimmung war die gleiche wie auf dem Weg zu einem Fußballspiel im Park.

Anne Larsen beobachtete die kleine Gruppe Aarhuser, die mit nach Kopenhagen fahren sollte. Obwohl es kein Kriminalstoff war, hatte sie sich freiwillig als Reporterin gemeldet. Der Kameramann, den sie Flash nannten, war im TV2 Ostjütland-Auto mit der Kameraausrüstung gefahren und würde sich mit ihnen am Hauptbahnhof treffen, sodass sie gemeinsam zum Schlossplatz von Schloss Christiansborg fahren konnten, wo die Demonstration stattfinden sollte. Anne hatte darauf bestanden, mit den Demonstranten mit der Bahn zu fahren, damit sie unterwegs Interviews führen konnte. Nun gestand sie sich ein, dass der wahre Grund war, dass sie das Prickeln noch mal erleben wollte von damals, als sie als Teenager selbst aktive Demonstrantin und Hausbesetzerin in Nørrebro gewesen war. Es war viele Jahre her, seit sie zuletzt an einer Demonstration teilgenommen hatte, aber es dauerte nicht lange, bis sie wieder den Kick spürte und das Gefühl, die Ungerechtigkeit der Gesellschaft ändern zu können. Einen Unterschied zu machen und wenigstens ihre Meinungsfreiheit zu nutzen, auch wenn sie jetzt klüger war als damals. Es war doch super, dass man sich äußern konnte, aber was half es, wenn niemand zuhören wollte? Wenn die Politiker einen Beschluss gefasst hatten, war der beinahe unmöglich zu kippen. Doch es änderte nichts daran, dass die Dänen ihre Meinung zu Gehör bringen konnten und sie dachte, dass viele dieser jungen Teilnehmer heute sicher immer noch glaubten, dass es die Fahrt und den Kampf wert war. Diesen Glauben wollte sie ihnen nicht nehmen. Mit den Jahren würden sie es selbst merken und es war nur gut, dass es immer noch jemanden gab, der versuchte, Widerstand zu leisten.

Wenn sie auf den bunten Haufen sah, hatte sie keinerlei Zweifel, dass die meisten politisch der sozialistischen Linken angehörten. Als Journalistin bei TV2 Ostjütland durfte sie ihre eigene politische Haltung nicht äußern. Sie sollte neutral auftreten, daher beteiligte sie nicht an der heftigen Debatte, die immer intensiver geworden war, je näher sie dem Kopenhagener Hauptbahnhof kamen. Wie eine Sportmannschaft, die sich hochschaukelte, um ein wichtiges Spiel zu gewinnen. Die Transparente waren zusammengerollt und ragten aus ein paar Rucksäcken heraus, die die Hälfte des Mittelgangs ausfüllten. Sie lächelte beim Anblick eines ausgefransten, alten Atomkraft?–Nein danke-Aufnähers auf einer der Taschen. Der gelbe Sticker mit der viel zu glücklichen roten Sonne in der Mitte war auch mal auf alle ihre Besitztümer geklebt gewesen – und hinten auf der Jeansjacke hatte sie einen riesigen Aufnäher gehabt. Es wunderte sie, dass es die Dinger noch gab.

Sie saß bei dem älteren Teil der Teilnehmer, die nicht ganz so viel diskutierten. Sie lasen Zeitung oder schauten aus dem Fenster. Für sie war es nicht so aufregend, dass TV2 Ostjütland sie begleiten würde. Einige hatten sich sogar woanders hingesetzt, da sie es nicht an die große Glocke hängen wollten, dass sie auf dem Weg zu einer Demonstration waren. Die Jungen saßen weiter vorn. Anne beobachtete sie.

„Es gibt echt bald keine Mitmenschlichkeit mehr“, sagte ein junger, schlaksiger Kerl mit Ponyfransen, die über dem Brillenrand unter einer grauen Mütze hervorguckten, die bei der Sommerhitze fehl am Platz wirkte.

„Nein, diese verfickten Rassisten, die bald alles in diesem Scheißland bestimmen, sprechen ja überhaupt nicht für die gesamte dänische Bevölkerung!“, widersprach ein anderer, der seine staubigen Adidas-Schuhe auf den Sitz gegenüber geknallt hatte.

Eines der Mädchen, das mit seinem Smartphone dasaß, fing an zu lachen. „Aber jetzt werden die sehen, was wir anderen meinen. Es haben sich schon fast tausend Teilnehmer bei Facebook angemeldet!“

Die anderen lachten mit.

Es war das große Interesse für den Facebook-Beitrag, der zur Demonstration gegen Asylverschärfung aufrief, das den Nachrichtenchef auf die Idee gebracht hatte, TV2 Ostjütland über das Ereignis berichten zu lassen, wo doch der Veranstalter eine Gruppierung aus Aarhus war.

Anne wusste aus Erfahrung, dass die Anzahl der angemeldeten Teilnehmer nicht immer mit der tatsächlichen übereinstimmte. Einige hielten es für glorreich, auf der Liste zu stehen, aber wenn es darauf ankam, waren sie dann doch nicht willens, zu erscheinen und für ihre Haltungen einzustehen. Sie war gespannt, wie viele letztendlich mit Bannern und Sprechchören bei den Politikern vor der „Burg“ stehen würden.

„Dann werden sie ihre Politik halt ändern müssen. Wenn wir nicht den Menschen helfen, die vor Krieg und Armut fliehen, wer dann?“

Sie nickten alle in einhelligem Schweigen.

„Mein Vater ist einer von denen. Den Rassisten. Er sagt, dass wir es uns nicht leisten können, sie hier im Land zu haben, dass sie zu viel Geld kosten. Gleichzeitig sagt er, dass er viel zu viel Steuern bezahlt, also wie passt das denn bitte zusammen?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und hob gleichzeitig die gezupften Augenbrauen, während das Kaugummi mehrmals mit der Zunge umgedreht wurde. Sie war die Jüngste und Anne dachte, dass sie sicher von zu Hause abgehauen war, wie sie selbst mit vierzehn.

„Das sagen meine Alten auch. Die meinen, dass eine multikulturelle Gesellschaft nie funktionieren wird und nennen England, Frankreich und Schweden als Beispiele.“

Der Sitznachbar schnaubte. „Ich habe auch gehört, dass einige die Terroristen als Grund für ihre rassistischen Haltungen benutzen. Dass die Krieger des Islamischen Staats als Flüchtlinge getarnt nach Europa kommen, um uns zu bombardieren. Größeren Quatsch habe ich ja selten gehört. Es gibt doch selbstverständlich Kontrollen.“ Trotzdem sah er von einem zum anderen, als ob er nach Bestätigung für seine Behauptung suchte.

„Zum Glück sind meine Eltern nicht solche Nazis“, meinte eines der Mädchen. „Sie wären gerne mitgekommen, konnten heute aber nicht. Meine Mutter hat eine Flüchtlingsfamilie nach Schweden gefahren, weil sie lieber dort als hier in Dänemark wohnen wollten.“

„Kann ich total verstehen. Die DFD macht alles kaputt. Jetzt glaubt die ganze Welt, dass alle Dänen fucking fremdenfeindlich sind. Ich hoffe, die verstehen unsere Botschaft heute und sehen ein, dass wir nicht alle so sind.“

„Ja, es ist traurig, dass die DFD so viel Macht bekommen hat“, seufzte ein anderes Mädchen, das auf seinem Handy ebenfalls die Facebook-Anmeldungen mitverfolgte. Ihre Jacke hatte sie um den Bauch gebunden. „Gut, dass das Fernsehen dabei ist!“

„Wisst ihr, wofür DFD steht?“, fragte ein dicker Junge mit roten Wangen und Doppelkinn.

„Das steht für Dänemark Für Dänen“, belehrte ihn das Mädchen mit der Jacke.

„Nee, das steht für Die Fucking Dummen“, gab der Junge zurück und lachte selbst am lautesten über seinen Witz.

Anne hatte sie bereits dazu interviewt, was ihre Begründung für die Fahrt nach Kopenhagen und die Teilnahme an der Demonstration war, daher kannte sie die Meinung der meisten. Einer revolutionärer als der andere. Sie wünschte, Flash wäre dabei und könnte sie filmen, wie sie dasaßen und die Welt unter die Lupe nahmen. Das hatte etwas Erhebendes. Vielleicht waren das hier die sozialistischen Politiker der Zukunft, die dann herausfinden würden, dass es letzten Endes darum ging, Kompromisse einzugehen, wenn sie an die Macht kamen. Es ging nicht nur um eine einzelne Kernfrage wie Flüchtlinge, sondern um das Wohlergehen des ganzen Landes. In einer Demokratie konnte niemand allein entscheiden und im Parlament würde kaum die gleiche Einigkeit herrschen wie hier an dem kleinen Klapptisch, der vor Süßigkeitentüten, Butterbrotpapier, Handys, Zeitschriften und leeren Cola-Bechern überquoll.

Sie näherten sich der Endstation. Anne stand auf und half ihnen beim Tragen der Banner. Alle stöhnten ungehalten, als sie erfuhren, dass es angefangen hatte, heftig zu regnen. Bis nach Christiansborg war es eine Viertelstunde Fußweg und sie würden klitschnass sein.

Anne hielt vor dem Bahnhof vergeblich nach Flash und dem TV2 Ostjütland-Auto Ausschau. Die Leute verkrochen sich unter die bunten Sonnenschirme vor dem Eingang zum Tivoli. Die Gruppe der Demonstranten drängte sich beim Ausgang des Hauptbahnhofs dicht zusammen. Einige hatten die Transparente entfaltet, sodass Botschaften wie Ein gastfreundliches Dänemark – Danke!, ALLE Flüchtlinge willkommen! und Schämt euch, DFD! signalisierten, weswegen sie gekommen waren.

Es dauerte etwas, bis Anne die Stimme aus den Lautsprechern wahrnahm und viel Polizei im Gebäude und davor registrierte. Ein paar Beamte verscheuchten die Leute vor dem Tivoli und es entstand Panik. Sie sah sich wieder nach Flash um. Die Stimme bat in mehreren Sprachen, sich zum Ausgang zu begeben und das Gebäude ruhig zu verlassen. Der Hauptbahnhof wurde gerade evakuiert. Ein Beamter nahm Anne am Arm und wollte sie mit sich ziehen.

„Folgen Sie mir!“, befahl er.

„Nein! Ich warte auf meinen Kameramann. Ich bin Journalistin bei TV2 Ostjütland“, protestierte sie.

„Sie müssen raus! Und zwar sofort“, beharrte der Beamte.

„Warum? Was ist los?“

„Es gibt eine Bombendrohung. Folgen Sie den anderen. Da stehen Busse, die Sie von hier wegbringen werden.“

Anne entdeckte zwei Busse, in die die Demonstranten einstiegen. Die Transparente ließen sie auf dem Boden liegen. Eine Frau hatte ihres mitgenommen, doch ein Beamter nahm es ihr weg und trieb sie in den Bus zu den anderen eingeschüchterten Passagieren.

„Aber ich muss meinen Kameramann finden!“, insistierte Anne und riss sich aus dem festen Griff des Beamten los. Sie funkelte ihn an. Dann entdeckte sie das TV2-Auto, das Flash gerade vor dem Bahnhof parkte. Er stieg aus und sah sich nach ihr um. Die Beamten bedeuteten ihm hektisch, wieder einzusteigen und wegzufahren. Andere Beamte sperrten im strömenden Regen das Gebiet ab. Anne rannte zu Flash und riss die Beifahrertür auf.

„Was zum Teufel ist denn hier los?“, rief er.

„Es gibt wohl eine Bombendrohung. Die evakuieren den Bahnhof.“ Sie schaffte es nicht, sich anzuschnallen, bevor Flash einen scharfen U-Turn machte und den wegfahrenden Bussen nachfuhr.

„Sind alle Demonstranten mit dem Bus gekommen?“

„Weiß ich nicht. Einige sind trotz des Regens sicher auch zu Fuß gegangen.“

Einige Polizeiautos kamen ihnen mit Blaulicht und Sirene entgegen, dahinter ein paar Krankenwagen.

„Die ergreifen offenbar echt alle Maßnahmen“, murmelte Flash und folgte ihnen mit dem Blick im Rückspiegel. Er war nur vom kurzen Aussteigen aus dem Auto völlig durchnässt und seine Haare hingen ihm feucht in die Stirn. Anne zitterte vor Kälte in ihren durchweichten Klamotten. Sie erahnte das Gebäude der Kopenhagener Polizei hinter Flash, bevor sie in hohem Tempo auf die Kalvebod Brücke abbogen. Ein Speedboot sauste auf dem Wasser vorbei ins Meer, sodass es hinter ihm spritzte.

„Wo sind die Busse hin?“, fragte sie und wunderte sich über die Ruhe des Kameramanns. Dann erinnerte sie sich, dass Flash mal für Information gearbeitet hatte und an einigen der Brennpunkte der Welt gewesen war. Für ihn war eine Bombendrohung in einem Bahnhof sicher nichts allzu Ernstes. Konnte auch falscher Alarm sein. Das war schon vorgekommen.

„Irgendwo vor uns“, sagte er und schaltete.

Anne begriff nicht, was passierte. Urplötzlich gab es draußen einen unnatürlich lauten, klirrenden und grollenden Knall, gefolgt von einem riesigen Blitz. Vielleicht geschah das gleichzeitig. So einen, wie man ihn sonst nur in Katastrophenfilmen im Kino sieht. Sie wurde im Gurt nach vorn geschleudert, als Flash scharf bremste, um nicht in das Auto vor ihnen zu krachen, das auch bremste, genau wie der Rest der Schlange vor ihnen. Mit offenem Mund verfolgte Anne einen PKW mit den Augen. Er drehte sich einmal in der Luft ein Stück vor ihrem Auto und landete nicht weit davon. Dann ging ein Regen aus Glas und Metallteilen über dem Auto nieder. Sie duckte sich ganz unwillkürlich und hielt sich die Ohren zu, obwohl nach dem Knall alle Geräusche verschwunden waren. Vor ihren Augen spielte sich alles in unwirklicher, lautloser Zeitlupe ab.

Eine schwarze Rauchwolke rollte auf das Auto zu und hüllte es ein, sodass sie nicht aus dem Fenster schauen konnte. Sie hörte Leute hysterisch schreien.

Kapitel 3

In dem Raum war es still. Nur die Lüftungsanlage summte leise. Oder vielleicht war es auch eine der Thermoskannen mit Kaffee auf einem der Tische, die nicht ganz zu war. Es war dunkel, weil die Gardinen vor den Fenstern zugezogen waren. Die anderen an den Tischen um ihn herum wirkten wie dunkle Silhouetten. Nur die Lampe des Beamers leuchtete auf.

Roland Benito hob seine Tasse und nahm einen kleinen Schluck des seiner Meinung nach viel zu dünnen Kaffees. Neues Personal in der Kantine des Polizeipräsidiums? Oder waren das Sparmaßnahmen?

Er sah hoch zu der weißen Leinwand, wo Jørgen Lindt vom PET, dem dänischen Inlandsnachrichten- und Sicherheitsdienst, gerade mit der Fernbedienung zum nächsten Bild weitersprang.

„Diese Grafik zeigt, wie das Zentrum für Terroranalyse, CTA, die Terrorgefahr in Dänemark im Verhältnis zu verschiedenen Gruppierungen einschätzt“, erklärte Jørgen Lindt und ließ den kleinen, roten Lichtpunkt der Fernbedienung um die höchste Säule kreisen, unter der Militanter Islamismus stand. Sein ohnehin schon markantes, mageres Gesicht mit der hohen Stirn und den hervorstehenden Wangenknochen wurde durch das grelle Seitenlicht des Beamers, das auch in den Brillengläsern aufblitzte, noch schärfer.

„Wie daraus hervorgeht, schätzt man, dass die Terrorgefahr typischerweise von Personen und kleineren Gruppen mit einem militant islamistischen Hintergrund ausgeht. Nach deren Überzeugung steht der Islam unter starkem Angriff des Westens. Die Mohammed-Karikaturen, die Außen- und Sicherheitspolitik Dänemarks und das dänische Engagement in der internationalen Koalition gegen die militant islamistische Gruppe IS im Irak haben Dänemark in den Fokus gerückt, sie in ihrem Glauben bestärkt und den Hass und die Rachsucht weiter geschürt.“

„Wie verhält es sich mit Neu-Dänen mit dänischer Staatsbürgerschaft?“, fragte ein Teilnehmer, der am Tisch hinter Roland saß.

Jørgen Lindt richtete den Blick auf den Fragenden und wurde für einen kurzen Moment von dem Licht des Beamers geblendet. Er trat zur Seite.

„Neu-Dänen und Einwanderer der zweiten Generation, die im militant islamistischen Milieu verkehren und Propaganda ausgesetzt werden, stellen eine große Gefahr dar, da man davon ausgeht, dass sie gut in die dänische Gesellschaft integriert sind und sich überall aufhalten können. Wenn sie gleichzeitig Verbindungen zu kriminellen Milieus mit einer hohen Gewaltbereitschaft und Zugang zu Waffen haben, wird die Bedrohung natürlich verstärkt.“

„Wie verbreitet ist dieser Umstand?“

„Schwer zu sagen. Wir schätzen, dass die Propaganda besonders auf sozial ausgegrenzte Jugendliche, denen ein Platz in der Gesellschaft fehlt und die eine Identität suchen, einen radikalisierenden Effekt haben kann. Auch einige Gruppierungen können radikalisierend wirken, das kann ein Gefängnisaufenthalt sein oder Konfliktzonen und kriminelle Bandenmilieus. Radikalisierung findet nicht nur in den Moscheen statt. Sie geschieht überall. In Jugendclubs, Fitnessstudios, auf der Straße und in Cafés. Netzwerke wie die sozialen Medien sind das probateste Mittel, um Sympathisanten und Dschihadisten zu werben. Der IS benutzt das Internet in hohem Maße für seine Propaganda.“

„Gibt es einen Überblick darüber, wie viele ausreisen, um für sie zu kämpfen?“, fragte die weinerliche Stimme einer Frau, die vor Roland saß. Ihre Haare waren rotblond und wuschelig geschnitten. Er hatte sie bei mehreren Gelegenheiten getroffen, als er noch bei der Ostjütländischen Polizei angestellt gewesen war, aber sie hatte ihn heute nicht gegrüßt, sondern ignoriert. Viele der Anwesenden wunderten sich sicher darüber, weshalb Angestellte der Unabhängigen Polizeibehörde überhaupt zu der PET-Besprechung wegen der akuten Terrordrohung gegen Aarhus eingeladen waren. Tatsächlich wunderte Roland sich selbst. Die meisten wussten natürlich, dass die DUP im Falle des Beamten ermittelte, der die tödlichen Schüsse auf den Busfahrer in Aarhus abgegeben hatte. Obwohl noch nicht klar war, was an der Sache dran war, wurde der Beamte nach dem, was in Kopenhagen passiert war, als Held und nicht als Krimineller, gegen den man ermitteln musste, betrachtet. Wieder fühlte Roland sich als Feind abgestempelt und nicht wie ein ehemaliger, gleichwertiger Kollege, der immer noch für die Gerechtigkeit arbeitete.

„Wir schätzen, dass mindestens 115 Personen ausgereist sind, um zu kämpfen. Vielleicht mehr. Circa die Hälfte, meinen wir, schließt sich dem IS an. Meistens handelt es sich um junge, sunnitische Männer.“

„Nur Männer?“

Lindt schüttelte den Kopf und trank aus einem Glas Wasser, ehe er antwortete. „Eine geringere Anzahl Frauen ist ebenfalls aus Dänemark in das Krisengebiet gereist. Leider ist die Tendenz in den letzten paar Jahren gestiegen.“

„Wie viele kommen aus der Umgebung von Aarhus?“

„Wir nehmen an, dass es sich um knapp über dreißig Personen handelt, aber es kann auch jemand sein, den wir nicht kennen. Einige kehren nie zurück. Sie werden im Krieg getötet oder sie schließen sich wie gesagt dem IS an. Unseren Informationen zufolge wurden mindestens neunzehn dieser aus Dänemark Ausgereisten in Syrien oder dem Irak getötet. Die, die nach Hause kommen, behalten wir im Auge, da sie aufgrund des Kampftrainings, das sie möglicherweise absolviert haben, eine besonders große Terrorbedrohung für Dänemark ausmachen und äußerst radikalisierend sein können. Die Terrorgefahr steigt mutmaßlich mit der Anzahl von Personen, die mit Kampferfahrung aus dem Krisengebiet nach Dänemark zurückkehren.“

„Gibt es eine Zahl, um wie viele es geht?“

Jørgen Lindt wandte sich aufmerksam dem Fragenden zu.„Man geht davon aus, dass sich ungefähr die Hälfte der Personen, die ausgereist waren, jetzt gerade in Dänemark befindet.“

„Und wo halten die sich dann auf?“

Die Fragen kamen von verschiedenen Zuhörern. Roland schielte zu seinem Chef, Viktor Enevoldsen, der neben ihm saß, doch der war in das Gespräch vertieft und wartete, die Arme vor der Brust verschränkt, offensichtlich auf die Antwort. Er hatte seinen mittelgrauen, sportlich-eleganten Blazer mit Fischgrätmuster über die Stuhllehne gehängt. Roland hatte Lust, das Gleiche mit seinem nicht ganz so sportlichen zu tun. In dem Raum war es schwül. Er löste den Schlips.

Vor Viktor saßen der Chef für organisierte Kriminalität, Thor Dam, und Vizepolizeidirektor Anker Dahl vom Polizeipräsidium in Aarhus, dessen Gesicht im Licht des Beamers düster aussah. Die kalten, blauen Augen leuchteten. Er zeigte die gleiche reservierte Haltung wie Viktor Enevoldsen mit verschränkten Armen und heruntergezogenen Mundwinkeln. Roland hatte das Gefühl, dass er der Anlass für die Einladung der DUP war. Der Hintergrund könnte sein, dass sie nach den Informationen durch den PET, der vor der erhöhten Terrorgefahr warnte, von gewissen Details bei der Schießerei im Stadtbus absehen und zu dem Schluss kommen sollten, dass es keinen Grund gab, gegen ihren Beamten zu ermitteln. Zum Beispiel das Detail, dass der Busfahrer weder bedrohlich aussah noch bewaffnet gewesen war und Zeugen im Bus berichteten, der Beamte habe ohne Grund geschossen, sobald er eingestiegen war. Sein Kollege, der sich außerhalb des Busses befunden hatte, behauptete, nicht gesehen zu haben, was sich drinnen abspielte. Vielleicht stimmte es. Es half dem Beamten auch nicht gerade, dass er sich auf Facebook hasserfüllt gegen Einwanderer geäußert hatte und kundtat, die neue nationalistische Partei DFD zu unterstützen.

Vielleicht war es angesichts der Umstände nur natürlich, dass sie an der Besprechung teilnahmen. Roland dachte, dass es Anker Dahl dennoch irritiert haben musste, dass Viktor Enevoldsen entschieden hatte, ausgerechnet ihn mitzunehmen, da er sich aufgrund seiner früheren Verbindung zum Polizeipräsidium in Aarhus nicht an der Ermittlung gegen den Beamten beteiligen durfte. Ob es eine bewusste Provokation von Viktors Seite war oder die Tatsache, dass Roland der Einzige war, der im Augenblick keine anderen wichtigen Aufgaben hatte, war schwer zu sagen.

Jørgen Lindt schaltete den Projektor aus, und jemand zog die Vorhänge zurück, sodass das Tageslicht hineinströmte und die, die am nächsten an den Fenstern saßen, blendete. Lindt sah auf den Fragenden herab, der immer noch auf eine Antwort wartete.

„Sie fragen, wo sich die aufhalten, die mit Kampferfahrung zurück nach Hause gekommen sind? Leider geht man davon aus, dass mindestens die Hälfte in militant islamistische Milieus gehen, was eine größere Bedrohung ausmacht, da sie dort einen Sonderstatus erreichen können, der ausgenutzt werden kann, um Radikalisierung und Rekrutierung voranzutreiben. Aber wie gesagt behalten wir sie im Auge.“

„Aber war das dann nicht in Kopenhagen der Fall? Den Gerüchten in der Presse zufolge waren es ja zurückgekehrte Krieger, die die Bomben in den Bussen platziert haben.“

Jørgen Lindt räusperte sich und zog die Blicke auf sich.

„Die Ermittlungen des Vorfalls in Kopenhagen sind noch nicht abgeschlossen. Wir sind uns noch nicht vollständig darüber im Klaren, wer die Bomben gelegt hat und um welche Sprengstoffe es sich überhaupt handelt. Vielleicht war es ein Sprengstoffgürtel, aber wir haben noch nicht alle identifiziert und bisher keinen Täter gefunden. Aber ja, es handelte sich um professionell hergestellte Bomben, meinen unsere Experten.“

„Wie wurden sie in den Bussen platziert, die ja gerade Leute in Sicherheit bringen sollten?“, fragte eine andere barsche Stimme.

„Ich kann mich zu dem konkreten Fall nicht äußern. Wie gesagt sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen.“

„Hat die erhöhte Terrorgefahr konkret in Aarhus etwas mit heimgekehrten Kriegern zu tun?“, fragte Anker Dahl. Die blonden Augenbrauen waren zusammengezogen, sodass sie ihm in Kombination mit dem harten, eisblauen Blick einen bestimmten, beinahe grimmigen Ausdruck verliehen.

Ein Stück vor ihm saß der Bürgermeister. Roland konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er vermutete, es war mindestens genauso verkniffen wie das des Vizepolizeidirektors. Sie überlegten sicher beide, wie sie das hier der Bevölkerung erklären sollten. Da hatten sie jede Gelegenheit in den Medien genutzt, hervorzuheben und zu betonen, dass die Situation vollständig unter Kontrolle war, dass es einen guten Dialog mit dem muslimischen Milieu und den Imamen gab, und jetzt das. Ein Terroranschlag wie der in Kopenhagen, mit zehn Toten und sechsmal so vielen Verletzten war vielleicht kurz davor, auch in ihrer Stadt Wirklichkeit zu werden. Die Gefahr eines Terroranschlags auf die Stadt war erhöht. Das Aarhuser Modell bröckelte. Falls die Aarhuser etwas erfahren sollten. Die Besprechung mit dem PET ging in aller Heimlichkeit vonstatten, eben genau damit die Presse nicht davon Wind bekam und das Ganze zu etwas aufbauschte, was es vielleicht überhaupt nicht war. Die Panik war ohnehin schon groß genug. Der Anschlag in Kopenhagen und das, was im Aarhuser Stadtbus passiert war, hatten die Titelseiten erobert und das Thema ersetzt, das bisher für längere Zeit die Schlagzeilen beherrscht hatte. Was war schon ein gestohlener Kinderwagen mit einem Baby gegen einen möglichen Terroranschlag in einem proppenvollen Stadtbus mitten im schlimmsten Berufsverkehr in Aarhus?

„Wir wissen noch nicht, was in dem Stadtbus passiert ist und ob überhaupt die Rede von einem versuchten Terroranschlag sein kann. Aber falls es sich als ein solcher herausstellt, ist es doch naheliegend zu glauben, dass es einen Zusammenhang mit dem gibt, der zur selben Zeit in Kopenhagen verübt wurde. Terroranschläge und Angriffspläne in Europa wurden in den vergangenen Jahren typischerweise von ein bis zwei Personen ohne Erfahrung aus einem Kampfgebiet durchgeführt, die aus eigener Initiative planen, ein symbolträchtiges Ziel mit Schusswaffen anzugreifen. Aber jetzt haben wir ja in letzter Zeit gesehen, dass es Kapazitäten in Dänemark gibt, Terroranschläge mit leicht zugänglichen Waffen wie Stichwaffen, Brandbomben und selbst gemachten Bomben durchzuführen.“

Lindt setzte sich an den Tisch, der vor denen der anderen stand. Daran saß bereits John Stadil, Sektionschef für Terroranalyse beim FE, dem Militärischen Abschirmdienst. Er war während Jørgen Lindts Vortrag schweigsam gewesen und Roland dachte darüber nach, ob er aufgrund seiner militanten Erscheinung hier war, die ihn zu einer guten Rückendeckung machte, oder ob es für seine Anwesenheit in Wirklichkeit einen anderen Grund gab. Er wusste, dass der FE eng mit dem PET an den aktuellen Fällen zusammenarbeitete. Lindt schenkte Kaffee in seine Tasse ein.

„Die Anschläge können spontan oder nach nur kurzer Planungszeit durchgeführt werden. Quellen besagen jedoch, dass etwas Größeres und weitaus Professionelleres im Anzug ist und bald Dänemarks drei größte Städte, Kopenhagen, Odense und Aarhus treffen soll, vielleicht gleichzeitig“, fuhr er fort und stellte die Thermoskanne zurück auf den Tisch. „Ob das, was wir gesehen haben, nur ein einzelner Anschlag oder der Beginn von etwas Größerem war, ist eines der Dinge, die der PET untersucht.“

„Was ist mit chemischen Waffen?“, fragte der Bürgermeister.

„Es gibt Personen, die die Möglichkeit haben, simple Angriffe mit chemischen Stoffen auszuführen, das gilt auch für biologische. Die kann man ja leicht im Internet erwerben. Wir vermuten jedoch, dass Terrorgruppen nicht die Kapazität haben, Anschläge mit radioaktivem oder nuklearem Material in Dänemark durchzuführen.“ Es war John Stadil, der antwortete. Er saß unbeweglich in der gleichen Haltung wie die ganze Zeit. Wie aus Stein gemeißelt.

Eine heisere Stimme ganz hinten im Raum räusperte sich. Roland drehte sich um. Ein junger Mann mit dünnem, rötlichem Spitzbart und rotkariertem Holzfällerhemd mit hochgekrempelten Ärmeln hatte sich gemeldet, als ob er auf der Schulbank säße. Was sie im Augenblick selbstverständlich alle taten. Ein Lederarmband baumelte locker um sein Handgelenk.

„Sie haben vorhin erwähnt, dass fundamentalistische Milieus in steigendem Grad soziale Medien nutzen und gute IT-Kenntnisse haben. Ist unsere IT- und Telefoninfrastruktur in Gefahr? Ein Hackerangriff kann gesellschaftliche Konsequenzen für Dänemark haben.“

Der junge Mann war für eine ganz neu geschaffene Stelle als IT-Experte im Polizeipräsidium angestellt worden, kurz bevor Roland von dort weggegangen war. Es war eine klare Frage ausgerechnet von demjenigen, der im Nationalen Cyber Crime Center, kurz NC3, arbeitete. Sie beschäftigten sich mit Cyberkriminalität und waren eine Einheit der Reichspolizei. Es waren mehrere neue Stellen eingerichtet worden, als beschlossen worden war, dass aufgrund der ständig steigenden IT-Kriminalität jeder Polizeibezirk seinen eigenen lokalen IT-Experten haben sollte. Roland überlegte, ob der junge Mann früher wohl Hacker von Beruf gewesen war. Diese Art Leute brauchte die Polizei am allermeisten. Jemanden, der das Milieu kannte.

„Auch wenn militante islamistische Gruppen versuchen, sich Cyberkapazitäten anzueignen, gehen wir nicht davon aus, dass es Dänemark treffen wird“, beteuerte Jørgen Lindt und sah schnell nach unten, um aus seiner Kaffeetasse zu trinken.

Roland schielte wieder zu Viktor Enevoldsen. Wie konnte sich der PET da so sicher sein nach dem Skandal mit dem größten Hackerfall in der Geschichte Dänemarks letztes Jahr, wo das IT-System der staatlichen Polizei gehackt worden war, was Zugang zu Tausenden von Passwörtern und Login-Daten von Polizisten und den Informationen des Schengen-Systems über gesuchte Personen ermöglicht hatte. Doch Viktor verzog immer noch keine Miene. Eine Weile war es wieder still.

„Haben wir irgendwelche Anhaltspunkte?“, unterbrach Anker Dahl das gleichmäßige Summen der Lüftungsanlage.

„Wir haben einen Namen, aber ob es eine Person, eine Terrorzelle oder etwas völlig anderes ist, konnten wir leider noch nicht ermitteln. Es wird über ein geheimes Netzwerk kommuniziert. Der Name ist SAQR, und beim PET tun wir natürlich, was wir können, um herauszufinden, welche Verbindung zwischen dem Namen und der erhöhten Terrorgefahr besteht. Hierbei können alle Behörden behilflich sein. Wir wollen Sie jedoch alle bitten, aufmerksam zu sein und uns zu informieren, wenn Sie etwas Verdächtiges beobachten. Wir haben Maulwürfe im Milieu, und falls Sie ohne unser Wissen eingreifen, kann das die gesamte Operation gefährden.“

„Wir müssen das hier also ernst nehmen?“, fragte der Bürgermeister.

Jørgen Lindt nickte. „Leider. Wir haben ja bereits gesehen, wozu die Terroristen imstande sind.“

Der Bürgermeister begegnete Anker Dahls Blick und man konnte deutlich die Panik in seinen Augen erkennen.

Roland wollte aufstehen, da die Besprechung vorbei war und die anderen den Raum verließen, aber Viktor Enevoldsen legte eine Hand auf seinen Oberarm und hielt ihn zurück.

„Warte einen Moment, Roland“, flüsterte er und blieb selbst sitzen. Roland setzte sich verwundert.

Als alle anderen draußen waren, schloss Jørgen Lindt die Tür und bat sie, sich oben an den Tisch vor der Leinwand zu setzen, wo auch John Stadil, Thor Dam und Anker Dahl Platz nahmen.

„Na, das ist also der Mann deines Vertrauens“, stellte Lindt fest und reichte Roland die Hand. Stadil tat es ihm gleich. Er erwiderte die schnellen, festen Händedrücke und sah Anker Dahl fragend an, der ihm lediglich ein reserviertes Nicken schenkte.

Lindt setzte sich ihm gegenüber und leitete mit einer kurzen Pause ein, in der er aus seiner Kaffeetasse trank.„Im Lichte dessen, was in Kopenhagen passiert ist, müssen wir abteilungsübergreifend eng zusammenarbeiten. Die Unabhängige Polizeibehörde bekommt einen Sonderauftrag, der selbstverständlich äußerster Geheimhaltung unterliegt. Während der Terroranschläge in Kopenhagen haben zwei Beamte die Passagiere nach draußen in die Busse dirigiert. Niemand, weder bei der Polizei noch bei der Gemeinde, weiß von der Aktion, und die betreffenden Beamten haben wir anschließend nicht identifizieren können.“

„Vielleicht waren es falsche Beamte?“, schlug Roland vor.Lindt nickte und kratzte sich über dem Krawattenknoten am Hals.

„Das ist, was wir herausfinden müssen.“

„Das Busunternehmen muss doch wissen, wer sie angeheuert hat, um bei der Evakuierung zu helfen“, meinte Viktor Enevoldsen.

Jørgen Lindt zuckte bedauernd die Schultern.

„Keiner weiß davon. Wir untersuchen, wo die Busse hergekommen sind. Sie sind natürlich durch die Explosion beide sehr zerstört, aber die Rede ist von Touristenbussen älteren Modells mit Platz für ungefähr 53 Personen pro Bus. Glücklicherweise war keiner der Busse ganz voll. Sie haben wahrscheinlich zum Verkauf gestanden, nachdem sie beim TÜV beanstandet worden waren. Wer sie gekauft hat und von wem wird immer noch untersucht. Aber dass Polizisten – echte oder falsche – vor Ort waren und den Leuten in die Busse halfen, hat dazu beigetragen, dass mehrere sich freiwillig in den Tod haben transportieren lassen.“

Roland und Viktor Enevoldsen sahen sich lange an.

„Ja, Sie verstehen wohl, wie wichtig es ist, dass das nicht in die Medien kommt, solange wir nicht mehr wissen. Wenn niemand mehr wagt, der Polizei zu trauen, dann …“

Roland wurde an den Albtraum Norwegens im Sommer auf Utøya erinnert, wo der Täter eine Polizeiuniform getragen hatte, um Zugang zu der Insel zu erhalten, dicht an seine Opfer heranzukommen und es geschafft hatte, 69 unschuldige junge Menschen zu töten. Wenn es gang und gäbe wurde, Polizeiuniformen für Terror zu benutzen, würde das sowohl die Polizei als auch die Bevölkerung in ein fürchterliches Dilemma bringen.

„Aber wieso einige verhältnismäßig wenige Menschen in Busse führen und sie in die Luft jagen statt direkt in den Bahnhof zu gehen?“, fragte Anker Dahl.

„Gute Frage. Es ist ja jetzt nicht zur Stoßzeit am Hauptbahnhof passiert, aber mein Tipp ist, dass uns die Terroristen zeigen wollen, welche Macht sie haben. Sie haben es nicht eilig. Nächstes Mal wird es vielleicht direkt der Bahnhof oder der Flughafen sein. In Kopenhagen gibt es viele Ziele. Die Bombenexplosionen haben Schäden in Millionenhöhe verursacht. In den umliegenden Gebäuden auf der Kalvebod Brücke wurden mehrere Scheiben eingedrückt und es gab – außer den Verletzten und Toten in den Bussen – auch mehrere Verletzte in den Autos in der Nähe und unter den Passanten.“

John Stadil nickte zu jedem von Jørgen Lindts Worten.

„Diese Bedrohung zu bekämpfen, erfordert eine enge Zusammenarbeit“, fügte er hinzu.

Kapitel 4

„Ich habe Jørgen Lindt aus dem Polizeipräsidium kommen sehen“, informierte Flash und setzte sich neben Anne mit einer Zwei-Liter-Flasche Coca-Cola Zero, die ihn laut anzischte, als er den Deckel abschraubte.

„Den vom PET?“, nuschelte Ninna. Sie kaute auf einem Stück Orange, die die ganze Redaktion mehr nach Weihnachten als nach Juli duften ließ. „Was macht der denn in Aarhus?“

„Das ist wohl nicht so verwunderlich, dass er hier ist, genau nachdem das im Stadtbus passiert ist.“ Anne schaute von ihrem Computerbildschirm auf.

Das Erlebnis, so dicht an den gesprengten Bussen in Kopenhagen gewesen zu sein und nicht zuletzt der Gedanke, dass sie selbst in einem davon hätte sitzen können, hatte sie längst noch nicht abgeschüttelt. Selbst am helllichten Tag verursachte es ihr Albträume.

„Es ist ja nicht mal sicher, dass das etwas war“, meinte Flash mit einem schiefen Grinsen.

„Aber jetzt haben sie Kopenhagen zweimal angegriffen, daher ist es wohl nicht ganz abwegig zu glauben, dass es Terror sein könnte“, nuschelte Ninna weiter mit einem herausfordernden Blick zu Flash und einem besorgten zu Anne, während sie mit dem Kugelschreiber auf den Block tippte, auf dem sie gerade mögliche Locations für die Aufnahmen des nächsten Programms Samstagsthemen aus Ostjütland notierte, das den Bürgermeister im Fokus hatte.

„Sie haben Kopenhagen einmal angegriffen, Ninna. Ein einziges Mal. Ansonsten hat Dänemark bisher noch keinen richtigen, koordinierten Terroranschlag erlebt. Das beim Kulturcafé Krudttønden und bei der Synagoge war vielleicht nur das Werk eines Verrückten.“ Flash trank direkt aus der Colaflasche. „Wir wissen es ja nicht, da der mutmaßliche Täter von der Polizei erschossen wurde – genau wie unser Busfahrer. Keine Terrororganisation hat die Verantwortung übernommen, normalerweise sind die ja sehr schnell damit, ihre schwarze Flagge zu zeigen.“

„Ja, auch wenn sie es überhaupt nicht waren, sondern nur einer ihrer sogenannten Soldaten und die Organisation vielleicht nichts damit zu tun hat. Furcht schafft Macht! Hast du herausgefunden, wer dich kontaktiert hat?“, fragte Ninna und schaute Anne neugierig an.

Ninna war an dem Tag, als sie nach Kopenhagen mussten, mit im Auto, als Anne angerufen wurde. Die Stimme war verzerrt gewesen, sie hatte nicht einmal hören können, ob es ein Mann oder eine Frau war.

„Ich habe nicht mehr erfahren, seit ich darüber informiert wurde, dass es gefährlich sei, in Aarhus Bus zu fahren und dass sich derjenige noch mal melden wollte.“

Annes Stimme und Unterlippe zitterten. Wenn sie an die jungen Menschen dachte, die in der Bahn am Klapptisch gesessen und einen Schlachtplan für die Demonstration – und die Zukunft – geschmiedet hatten, bekam sie solche Bauchschmerzen, dass sie es nicht aushalten konnte. Vier von ihnen waren unter den Toten.

„Das war doch bloß ein Freak, der sich interessant machen wollte!“ Ninna schüttelte verärgert den Kopf. „Das ist echt ein übler Scherz! Stell dir mal vor, wie viele Einheiten unnötig ausrücken, wenn jemand mit einer falschen Bombendrohung kommt. Solche Menschen sind komplett krank im Kopf.“

„Aber was, wenn es kein Scherz war? Die Verzerrung klang ziemlich professionell, da hat sich einer nicht nur die Nase zugehalten.“

„Was hat die Polizei zu der Warnung gesagt?“, fragte Flash, der sich bequem auf dem Stuhl zurücklehnte, die Hände im Nacken verschränkt und die Füße auf der Tischkante. „Denn du hast ihnen ja sicher Bescheid gegeben?“

Anne schubste unsanft seine Füße vom Tisch und nickte.

„Selbstverständlich. Der Diensthabende hat es aufgenommen und sagte, er würde es weiterleiten, aber was können die tun? Alle Busse überwachen? Die Polizei ist so unterbesetzt, dass sie nicht mal Zeit hat, sich um Routineaufgaben zu kümmern.“

„Ja, wegen der Terrorgefahr wurden wohl alle Beamten nach Kopenhagen beordert“, nuschelte Ninna, die sich wieder ein Stück Orange in den Mund gesteckt hatte.

„Ja, oder an die Grenze“, meinte Flash. „Aber Aarhus ist doch genauso wichtig wie Kopenhagen, daher …“

„Ja, sind wir das wirklich? Wir haben ja nicht die Regierung und all die ‚wichtigen‘ Minister in der Stadt.“

„Wer hat eigentlich der Polizei den Tipp mit dem Bus gegeben, sodass er angehalten wurde?“, fragte Ninna.

„Soviel ich weiß, war es anonym.“

„Aber vielleicht war es doch deine Warnung, die die Polizei hat ausrücken lassen“, sagte Ninna eifrig.

„Habt ihr gehört, dass der PET im Polizeipräsidium war? Wisst ihr, worum es ging?“, unterbrach die Moderatorin Jytte Thomsen, die gerade von einer Besprechung im Büro des Nachrichtenchefs zurückgehuscht kam.

„Ja, Flash hat Jørgen Lindt von dort weggehen sehen. Aber nein, wir haben nichts darüber erfahren.“

„Ein geheimes Treffen, von dem nicht mal die Presse wissen soll, das klingt ernst.“

„Es geht natürlich um die Terrorgefahr. Und außerdem ist doch alles, was der PET macht, geheim“, schlussfolgerte Flash.

„Trotzdem.“ Jytte legte die Mappe, die sie unter dem Arm hatte, auf den Tisch und massierte ihre Schläfen. „Oh, zu viel Rotwein gestern Abend“, seufzte sie, als sie bemerkte, wie sie angeschaut wurde. „Ich rede mal mit Anker Dahl, der kann uns sicher irgendetwas sagen.“

Anne grinste hinter Jyttes Rücken besserwisserisch. Vizepolizeidirektor Anker Dahl sagte nichts, davon war sie überzeugt. Aber vielleicht konnte sie mit Roland Benito sprechen, der musste auf jeden Fall wenigstens etwas darüber wissen, was sich im Fall des Beamten tat, der den Busfahrer erschossen hatte, auch wenn er selbst nicht an den Ermittlungen bei der DUP teilnehmen durfte.

Nach ihrem gemeinsamen einschneidenden Erlebnis letzten Sommer, wo er sie ein weiteres Mal gerettet hatte, war er sehr umgänglich gewesen. Hatte sogar angerufen, als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, um zu hören, ob es ihr gut ging. Er hatte fürsorglich gewirkt. Ohne darüber nachzudenken, führte sie diskret den Handrücken unter die Nasenlöcher und starrte anschließend darauf. Eine Zwangshandlung, die sie nicht ablegen konnte. Die Ärzte wussten nicht, wie lange sie noch spontanes Nasenbluten bekommen würde, aber das sei völlig ungefährlich, versicherten sie. Trotzdem war sie erleichtert, dass kein Blut zu sehen war, und machte mit ihrem Nachrichtenbeitrag über den Terroranschlag weiter.

Sie schaute auf, als der Nachrichtenchef an ihren Tisch geeilt kam. Er bremste und kratzte sich am Nacken.

„Bist du gerade sehr beschäftigt, Anne?“

„Ich muss noch den Beitrag über den Busfahrer fertig machen.“

„Es ist schon wieder ein Kinderwagen mit einem Baby verschwunden“, unterbrach der Nachrichtenchef sie. „Dieses Mal aus einem Garten in der Risvang Allé. Nimmst du Flash mit? Ninna muss zu Außenaufnahmen mit Noa Marie.“

„Ja, aber …“

„Jytte kümmert sich um den Terroranschlag.“

Jetzt verstand Anne, worum es bei Jyttes Besprechung mit dem Nachrichtenchef gegangen war.

„Noch ein Baby?!“ Flash erhob sich einsatzbereit und Anne tat es ihm zögerlich gleich. Die Sache mit dem verschwundenen Baby, das in seinem Kinderwagen vor einem Gebäude im Åpark entführt worden war, war vor dem Terroranschlag in Kopenhagen die Topstory gewesen, aber es hatte keine Fortschritte in der Aufklärung gegeben, seit der Kindesvater in Untersuchungshaft genommen worden war. Er stand unter Verdacht aufgrund eines Scheidungsfalls, in dem die Mutter selbstverständlich das Kind haben sollte, was er mit allen Mitteln zu verhindern versucht hatte. Die Mutter des Kindes hatte ihn angezeigt. Er beteuerte seine Unschuld und seitdem war nichts weiter von Bedeutung herausgekommen. Doch nun war also ein weiteres Baby auf die gleiche Weise verschwunden.

Anne nahm ihre Jacke und folgte Flash in die Tiefgarage. Das Auto, mit dem er nach Kopenhagen gefahren war, befand sich wegen der Beulen von den Bombenexplosionen noch in der Werkstatt. Granatsplitter, wie Flash mit einem unpassenden schiefen Grinsen sagte. Er hatte ja auch nicht fast drei Stunden mit den Jugendlichen im Zug gesessen. Anne schauderte, wenn sie daran dachte, wie knapp sie der Katastrophe entronnen waren. Wäre das Auto näher an den Bussen gewesen, dann … Sie hatte Gerüchte gehört, dass sie Hautfetzen und Knochenteile im Kühlergrill des Autos gefunden hatten, wusste aber nicht, ob das stimmte. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, was sich wie eine rostfarbene Schicht auf die Windschutzscheibe gelegt hatte, bevor der Rauch sie eingehüllt hatte.

„Wo in aller Welt sind diese Babys abgeblieben?“, murmelte Flash heiser, als sie aus dem Randersvej mit der Baustelle für die neue Stadtbahn abbogen und den Vejlby Ringvej entlangfuhren. Es klang, als ob er nur irgendetwas sagen wollte, um die Stille zu durchbrechen. Es war das erste Mal, dass sie seit Kopenhagen wieder zusammen fuhren und Anne vermutete, dass sie an das Gleiche dachten. Sie behielt den Stadtbus vor ihnen jedenfalls genau im Auge, als ob das helfen würde; falls er explodierte, würden sie nichts ausrichten können. Sie spürte die Angst wie einen wachsenden Eisklumpen im Magen und hasste sie und die Unsicherheit.

„Vielleicht ist es Zufall, dass jetzt auch ein anderes Baby verschwunden ist.“

„Aber man weiß ja nicht, ob der Vater des ersten schuldig ist. Was, wenn nicht? Wenn nun ein Baby-Kidnapper unterwegs ist?“

Flash hielt vor einem Haus mit gelben Mauersteinen und rotem Ziegeldach, das im Gegensatz zu den beiden Dachbalken älteren Datums neu aussah. In den Fenstern spiegelten sich die Bahnen der weißen Wolken am blauen Himmel.

„Wofür in aller Welt sollte jemand kleine Babys brauchen?“

„Erpressung? Eine Frau, die selbst keine Kinder bekommen kann? Oder eine Familie vielleicht? Pädophile oder dergleichen mit abwegigen Fantasien und Vorlieben?“

Anne schnallte sich ab und stieg aus. Sie zuckte als Antwort die Schultern und öffnete das Gartentor, das in den Angeln quietschte, und hielt es für Flash auf. Sie stellte fest, dass keine Polizei da war. Die war sicher schon hier gewesen. Journalisten waren auch nicht zu sehen. Sie überlegte, wie lange es wohl her sein mochte, dass das Baby verschwunden war, und schaute in den Garten. Ein Ball mit gelben Punkten lag im Gras neben einem einsamen Schaukelgestell. Sie hatten offenbar mehrere Kinder. In dem Beet entlang des Gartenwegs steckten Fahnen und hellblaue Ballons, die mit Schnüren am Treppengeländer festgebunden waren, wehten leicht im Wind.

Eine festlich gekleidete Frau mit einer Brille in den glatten, grau melierten Haaren machte auf und musterte sie mit einem kritischen Blick. Er wurde nicht milder, als Anne sie vorstellte.

„Meine Tochter hat keine Kraft mehr. Also lassen Sie sie jetzt in Ruhe! Das Telefon hat ununterbrochen geklingelt, sodass wir den Stecker herausziehen und die Handys ausschalten mussten, und mein Schwiegersohn hat gerade einen Haufen aufdringliche Journalisten weggeschickt. Und das ausgerechnet heute! Gehen Sie jetzt bitte und nehmen Sie ein bisschen Rücksicht, ja!“

Die Frau wollte die Tür wieder schließen, aber ein kleines Mädchen stand wie aus dem Nichts im Weg. Es war ungefähr fünf, schätzte Anne. Ein hübsches, helllila Kleid mit Tutu ließ an eine kleine Prinzessin erinnern. Es krümmte die kleinen Zehen in der weißen Strumpfhose und schaute verlegen zu ihr hoch.

„Habt ihr meinen kleinen Bruder gefunden?“, fragte es altklug mit betretener Stimme und gerunzelter Stirn. Die Augen unter den feinen Augenbrauen waren tiefblau und ausdrucksvoll.

„Das ist nicht die Polizei, Schätzchen“, sagte die Frau und versuchte, das kleine Mädchen von der Tür wegzuziehen, aber Anne war in die Hocke gegangen und hatte die volle Aufmerksamkeit des Mädchens.

„Vielleicht können wir dabei helfen, deinen kleinen Bruder zu finden. Wenn wir im Fernsehen von ihm erzählen, kann sich vielleicht jemand daran erinnern, ihn gesehen zu haben.“

Die Frau zog das kleine Mädchen weg. Anne stand auf und begegnete ihrem vorwurfsvollen Blick.

„Wir bekommen genug Hilfe von der Polizei.“

„Vielleicht ist es eine gute Idee, das Fernsehen mit einzubeziehen“, unterbrach eine Stimme und eine junge, kräftige Frau mit wilden roten Haaren, die sie in einem buschigen Pferdeschwanz zu zähmen versuchte, kam heraus und reichte Anne die Hand.

„Ich heiße Karen und bin von der freiwilligen Organisation MCD, Missing Children Denmark. Wir helfen der Familie – und der Polizei natürlich – den kleinen Emil zu finden.“

„Ich habe von Missing People gehört, aber nicht Missing Children“, lächelte Anne und erwiderte den Händedruck.

Die Frau mit der Brille im Haar nahm das kleine Mädchen am Arm und zog sich einige Schritte zurück.

„Das ist auch eine relativ neue Organisation. Um verschwundene Kinder zu finden bedarf es anderer Werkzeuge als bei Erwachsenen. Ich habe zum Beispiel eine pädagogische Ausbildung und das ist ein großer Vorteil, um – ja, wie soll ich das ausdrücken -“ Karen schielte zu der Oma des verschwundenen Babys, die den ganzen Sermon sicher schon gehört hatte. „Ja, dass ich ein bisschen in den gleichen Bahnen denken kann wie das verschwundene Kind. Auf die Weise haben wir schon Kinder gefunden, die an Orten gelandet sind, die niemand vermutet hat.“

Anne sah zu Flash, der hinter ihr auf der Treppe immer noch von einem Bein aufs andere trat. Er hatte die Kamera nicht mitgenommen, da es wichtig war, vorher immer die Zustimmung der Betreffenden einzuholen. Ganz anders als damals, als sie bei der Zeitung gearbeitet hatte, wo fast das Gegenteil der Fall war. Dann wandte sie sich schnell wieder Karen zu.

„Dürfen wir Sie zu Ihrer Arbeit interviewen?“

Karen schaute zu der Frau, die immer noch mit dem Mädchen am Arm hinter ihr stand. Zögernd nickte sie. „Wenn Sie meinen, dass das helfen kann, meinen Enkel zu finden.“

Flash holte die Kamera und machte sie bereit, während Anne mit den anderen ins Wohnzimmer ging. Sie stoppte abrupt, als sie den geschmückten Esstisch mit hellblauen Tauben, kleinen Teddybären, Servietten und blauen Ballons passend zu denen im Garten sah. Es stand auch ein Foto von Emil auf dem Tisch. Er trug ein weißes Taufkleid und ein blaues Band mit seinem silbergestickten Namen. Er lag auf einem weißen Lammfell und sah ein wenig verdutzt aus.

„Emil wurde heute Vormittag getauft. Wir haben die Gäste nach Hause geschickt, als es passierte. Wenn sie ihn nur bald finden“, sagte die Großmutter resignierend, setzte das Mädchen auf dem Boden bei einigen Spielsachen ab und sich selbst an den Tisch neben eine dort sitzende Frau. Sie legte die Arme um ihre Schultern und drückte sie. Anne hatte keinerlei Zweifel, dass dies die Mutter der Kinder war. Es war so deutlich zu sehen an ihrem versteinerten, roten und geschwollenen Gesicht. Der Mann, der aus dem Fenster in den Garten starrte, musste der Vater sein. Er hatte sich nicht umgedreht, als sie hereingekommen waren, sondern stand nur da und starrte, als wartete er darauf, dass der, der seinen Sohn genommen hatte, bald mit ihm zurückkam.

Karen setzte sich an den Tisch den beiden Frauen gegenüber, wo schon eine hagere Frau mittleren Alters mit kurzen Haaren, beinahe einem Bürstenschnitt, saß. Wie Karen trug sie ein Sweatshirt mit dem „Missing Children Denmark“-Logo auf dem Rücken.

„Emil wurde draußen zum Schlafen hingelegt, als die Familie von der Kirche kam. Jemand hat wohl vergessen, das Tor zu schließen, sodass es freien Zugang zum Garten gab“, teilte sie Anne mit.

„Wir waren nicht aufmerksam genug!“, ertönte es zornig vom Fenster. Der Mann drehte sich um. Sein Gesicht wirkte älter, als Anne aufgrund der Frisur vermutet hatte. Oder vielleicht ließen auch die Umstände es so alt aussehen.

„Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, wie ich bereits sagte. Sie haben nichts falsch gemacht, sondern diejenigen, die auf die Idee kommen, ein Baby zu entführen“, sagte Karen mit sanfter Pädagogenstimme.

Der Mann kam eilig an den Tisch. Trotz seiner Machtlosigkeit wirkte er beinahe drohend.

„Ja, das sagen Sie! Aber wie habt ihr euch denn vorgestellt, ihn zu finden? Woher wisst ihr, wie Emil denkt? Und was bringt das? Er ist ja verdammt noch mal nicht selbst gelaufen, oder?“

„Nein, natürlich wissen wir nicht, wie Emil denkt, das ist klar. Bei größeren Kindern, die von zu Hause weggelaufen sind, ist das selbstverständlich leichter, aber es ist nicht so einfach, mit einem Kinderwagen zu verschwinden. Wir werden ihn schon finden.“

„Peder, jetzt sei nicht so unhöflich. Sie wollen doch nur helfen“, bat seine Frau ebenso verzweifelt und streckte eine zitternde Hand nach ihm aus. Er nahm sie und setzte sich neben sie.

„Entschuldigung, Tara, aber …“ Er schüttelte vor Hoffnungslosigkeit den Kopf.

Flash war startklar mit der Kamera und Anne setzte sich neben Karen. Zum ersten Mal sah sie der Mutter des Babys in die Augen. Sie schauten sie betrübt und flehend an. „Was können Sie im Fernsehen senden, das unseren kleinen Emil wieder zu uns nach Hause bringt?“, fragte sie, und es war deutlich zu sehen, dass sie sich gewaltig zusammenriss, um nicht wieder zu weinen.

Karen ergriff sofort das Wort: „Es gibt jetzt mehrere Möglichkeiten. Wir können an den Entführer appellieren, indem wir zeigen, dass Emil ein geliebter und vermisster kleiner Junge ist. Vielleicht können Sie als Eltern direkt zu dem Entführer sprechen und ihn darum bitten, dass Sie Ihren Sohn zurückbekommen.“

„Wirkt das nicht ein bisschen amerikanisch?“, fragte Peder skeptisch. „Wurden entführte Kinder je auf dieser Grundlage wieder zurückgebracht? Also außer in amerikanischen Filmen.“

Karen nickte überzeugt. „Es gibt mehrere Fälle. Zum Beispiel wurde mal ein Auto von einem Parkplatz gestohlen, wo der Dieb nicht wusste, dass ein Kind in einer Babyschale auf dem Rücksitz lag. Das Kind wurde zurückgebracht.“ Sie suchte nach weiteren Beispielen, aber offenbar fielen ihr gerade keine ein.

„Kann sein, dass der Dieb es nur auf den Kinderwagen abgesehen hat. Der war ja ganz neu, sagten Sie“, half die Frau mittleren Alters aus. „Vielleicht haben die gedacht, er sei leer, und wenn sie merken, dass ein kleines Kind drinliegt, kommen sie mit ihm zurück. Oder vielleicht finden wir Emil und den Kinderwagen irgendwo zurückgelassen …“

„Zurückgelassen …“, wiederholte Peder mit einem Ausdruck, als ob das Wort widerlich schmeckte.

„Sidse hat recht, das könnte sein“, pflichtete Karen bei.

„Hat die Polizei das andere entführte Baby gefunden?“, fragte Tara und wischte sich die Augen mit einer hellblauen Bärchen-Serviette trocken. Sie schaute wieder zu Anne.

Die schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Soviel wir wissen gibt es nichts Neues.“

„Kann es der gleiche Entführer sein?“, fragte Peder ängstlich. „Was will diese perverse Person mit unseren Kindern?“

„Sind Sie auch an diesem Fall dran?“, erkundigte Anne sich an die beiden von Missing Children gewandt.

Karen schüttelte den Kopf. „Die Familie hat unsere Hilfe nicht gewünscht, und dann greifen wir selbstverständlich nicht ein.“

„Das war sicher der Vater“, murmelte Sidse und sah entschuldigend zu Peder, in dessen Augen wieder der Zorn aufloderte, als ob er glaubte, sie meinte, dass das wohl auch ihm galt. Er sah aus, als könnte er jeden Moment zusammenbrechen.

Flash räusperte sich wieder. Er schaute auf die Uhr. Es war der Tag in der Woche, an dem er seine Kinder abholen sollte, erinnerte Anne sich, daher wurde er sicher allmählich ungeduldig.

„Ist es in Ordnung, wenn wir den Tisch filmen? Und wer von Ihnen möchte der Kamera erzählen, was passiert ist?“ Anne schaute von Tara zu Peder, aber beide schüttelten den Kopf.

Karen erhob sich bereitwillig. „Sie können mich interviewen. Es ist doch wohl okay, wenn Sie im Hintergrund am Tisch sitzen, oder?“

Die Eltern nickten.

„Die große Schwester soll auch ins Bild. Können Sie sie auf den Schoß nehmen?“

Die Großmutter hob das Mädchen, das gerade auf dem Boden mit einem der Ballons spielte, hoch und setzte es auf den Schoß seiner Mutter.

Anne nickte zufrieden. Sonst bestimmte sie normalerweise den Inhalt ihrer Beiträge und der Kameramann organisierte die Motive, doch Karen agierte sehr bestimmt und wusste sicher, was in so einer Situation wirkte. Jetzt ging es darum, Kontakt zum Zuschauer – oder dem Entführer – zu bekommen, und sie wirkte auch professionell, als sie sich vor der Kamera aufstellte und von der Taufe erzählte, die jäh abgebrochen worden war, als jemand entdeckte, dass der Kinderwagen mit dem Täufling aus dem Garten verschwunden war.

„Wir von Missing Children haben die erste Runde im Viertel übernommen und nach Spuren gesucht, später erweitern wir den Radius.“

„Falls der Entführer im Auto geflohen ist, gibt es doch nicht viel zu finden, oder?“, fragte Anne.

„In dem Fall können immer noch Spuren hinterlassen worden sein, die vielleicht zeigen, wo das Auto geparkt war und vielleicht hat irgendwo eine Überwachungskameraetwas Brauchbares eingefangen, sodass wir davon ausgehend leichter Zeugen finden.“